Liebe führt, auch in Russland, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 16: Für dich -------------------- Kai   "Kai!" ... "Kai, hilf mir!" ... "Dimitrij und seine Bande sind gemein zu mir!"   Erschrocken riss Kai die Augen auf und musste sich erst einmal orientieren. War er tatsächlich eingeschlafen? "Kai!" Etwas genervt sah er nach unten zu dem Jungen, der unter dem Baum stand, auf dem er lag. Er hatte ein blaues Auge und sah blass aus. "Ist das mein Problem? Verschwinde!" Damit wandte er seine Augen wieder gen Himmel und schloss sie. Wenn er geschlafen hatte, dann hatte das sicherlich seinen Grund gehabt. "A... aber Kai!" Er schnaubte. Natürlich verschwand diese Nervensäge nicht. "Du kannst dich gut genug selbst verteidigen! Dann tu es auch!" Wie wollte er je alleine klar kommen, wenn er wegen jedem Problem zu ihm gerannt kam, statt sich selbst darum zu kümmern? "Ich..." Auch wenn er es nicht aussprach, wusste Kai, was er sagen wollte. Ich will niemandem weh tun. "Und wenn du mich auf sie hetzt, dann tut denen das weniger weh? Du solltest was gegen Doppelmoral haben." Das brachte den Kleinen wenigstens zum Schweigen. Kai jedoch war jetzt definitiv wach und er ertrug die Nähe von diesem Jammerlappen nicht. So sprang er von dem Baum und ging einfach wieder in Richtung des Hauptgebäudes. Es war sowieso bald wieder Zeit für den Unterricht. Natürlich nahm er den kürzesten Weg, schließlich wollte er nicht zu spät kommen. Die Abkürzung führte ihn aber an einer Gruppe Kinder vorbei, die ihm prompt den Weg versperrten. "Na na, wo willst du denn hin Kai?" Wann lernten diese Idioten denn endlich, dass sie sich nicht mit ihm anlegen sollten? Selbst zu fünft würden sie keine Chance haben. "Ihr steht mir im Weg." Die Gruppe lachte aber nur und begann langsam ihn einzukreisen. Danach ging alles recht schnell. Der erste schlug zu. Kai fing die Hand ab und wirbelte ihn herum, so, dass er gegen einen seiner Kameraden stieß und die beiden erst einmal zu Boden gingen. Unter dem nächsten Schlag duckte er sich weg, vollführte eine halbe Drehung und riss seinen Angreifer von den Füßen, der durch den Schwung halb über ihn fiel und so den Tritt einsteckte, der eigentlich von dem Vierten im Bunde an ihn gerichtet worden war. Nachdem er den nun Ächzenden wieder von sich geschleudert hatte und aufgesprungen war, stand er nun nur noch Zweien gegenüber, die ihn etwas unsicher ansehen. Dieses Zögern besiegelte ihren Untergang, denn sie reagierten zu spät auf seine Schläge, um sie noch abwehren zu können.   Gerade als er sich umwenden wollte, um sich mit den beiden zu beschäftigen, die er nur kurzzeitig ausgeknockt hatte, hörte er zwei Körper zu Boden fallen. Verwundert drehte er sich um und sah, wie Yuriy über den beiden stand und ihn musternd ansah. "Womit hatten Dimitrij und seine Gruppe das verdient?" Es lag reiner Spott in der Stimme des Russen, doch Kai ging einfach weiter Richtung Hauptgebäude: "Sie standen mir im Weg."   *   Ich habe dir vertraut.   Er versuchte seine Augen zu öffnen, doch es ging nicht. Um ihn herum war nichts weiter als Stille. Irgendetwas rauschte in seinen Ohren, doch es war nichts externes. Es war kalt und sein Körper fühlte sich merkwürdig an. Sein Körper schrie nach Sauerstoff, doch er konnte nicht Atmen. Nachdem dieser Zustand sich über Minuten nicht änderte und er noch immer nicht erstickt war, begann er langsam sich zu beruhigen.   Es ist nicht meine Schuld.   Warum konnte er die Augen nicht öffnen? Warum sich nicht bewegen? Er fühlte sich wie in eine Zwangsjacke gewickelt. Weit in der Ferne hörte er ein gleichmäßiges Piepen.   Ich habe nie jemandem etwas getan!   Ob er dieser Stimme zuhören sollte? Diesen Worten, die sich tief in sein Herz zu graben versuchten? Ob sie ihm helfen würde, würde er ihr Beachtung schenken? Es ist nicht meine Schuld. Es ist deine!   Es wurde hell hinter seinen Augenlidern, doch sehen konnte er immer noch nichts. Schemenhafte Schatten schienen vor ihm zu tanzen, doch er war nicht fähig seine Augen zu öffnen. Die Helligkeit bereitete ihm dennoch Kopfschmerzen. Wie lange war er schon hier?   Und deshalb...   Pure Kälte floss durch seine Adern, doch er konnte nicht einmal zittern. Bewegungsunfähig musste er das Kribbeln ertragen, das seinen ganzen Körper erfasste und ihn schier in den Wahnsinn trieb. Seine Muskeln schmerzten, sowohl von der Anstrengung die durch die Bewegungsversuche verursacht wurden, als auch von der Bewegungslosigkeit selbst.   ...deshalb ist es nur gerecht, dass du dafür büßt und nicht ich.   Plötzlich flogen seine Augen auf, als wäre ein Schalter umgelegt worden und er sah jemanden vor sich unter sich stehen. Die erhobene Position in der er sich selbst befand, ließ den anderen klein wirken. Nein... es war tatsächlich ein jugendlicher, noch nicht ausgewachsen und er sah ihn an. Genaues konnte er nicht erkennen, seine Augen schafften es nicht ihn zu fixieren. Wieder falsch... er konnte ihn nicht klar erkennen, weil die Flüssigkeit um ihn herum das Bild verzerrte. Erkennen tat er ihn trotzdem. Es war er selbst...   Ein Ohrenbetäubendes lachen hallte durch den Raum, was seinen ganzen Körper mit einer Gänsehaut überzogen hätte, wäre sein Hirn noch in der Lage gewesen, irgendwelche anständigen Signale zu senden. Das Lachen was er vernahm war nicht sein eigenes. Er wusste nicht wessen es war. Es hörte sich falsch an, schrill geradezu und wahnsinnig. Es war das Lachen eines vollkommen wahnsinnigen Menschen.   Du gehörst dort hin, nicht ich!   *   Kai riss die Augen auf und saß im selben Moment aufrecht im Bett. Für einen Moment atmete er einfach nur schwer und schnell, begrüßte den Sauerstoff, der ihm scheinbar Jahrelang gefehlt hatte und den sein Körper eigentlich gar nicht brauchte, weil er ihm in Wirklichkeit nie verwehrt geblieben war. Ihm wurde schwindelig noch bevor er erkannte, dass er hyperventilierte. Die Bilder seines Traumes verblassten nicht und in einem Anflug von Übelkeit griff er nach dem Eimer, den Yuriy ihm besorgt hatte, um sich zu übergeben. Schon seit Tagen hatte er keine Nahrung mehr zu sich genommen und nur wenig getrunken, weshalb außer etwas Speichel nichts in dem Behälter landete. Stattdessen schmeckte er saure Galle und fühlte das gewohnte Brennen von Magensäure in seiner Brust.   Als er sich aufrichtete, spürte er den kühlen, feuchten Lappen auf seiner Stirn, den er ebenfalls schon gewohnt war. Yuriy war nachts immer da, wenn er aufwachte und das passierte oft. Wenn sie beide nicht endlich etwas Schlaf fanden, dann würden sie noch daran zugrunde gehen. Er beruhigte sich nur langsam wieder und schloss die Augen, um sich der sanften Liebkosung der so wohltuenden Kühle auf seiner erhitzten Haut hinzugeben. Nachdem sein Gesicht von sämtlichem Schweiß befreit war, ließ er sich sogar in eine Umarmung ziehen. Das war neu, aber nicht unwillkommen. Was allerdings ebenfalls neu war, war der Geruch der ihm jetzt in die Nase stieg und ihn dazu veranlasste, verwirrt die Augen aufzureißen. Das war nicht Yuriy.   Rei   Es hatte einige Tage gedauert, bis er sich tatsächlich zusammen gerissen hatte. Yuriy hatte tatsächlich irgendwo recht gehabt, als er sagte, er würde ihn nicht zu Kai lassen, ehe er sich wieder beisammen hatte. Spätestens heute Nacht hatte er den Grund gesehen. Wenn er selbst nicht gefestigt in sich selbst wäre, würde ihn dieses Bild fertig machen, dabei musste er stark für Kai sein. Er wusste jetzt zumindest, warum selbst Yuriy so furchtbar müde aussah. Er würde auch nicht schlafen können, wenn sich jemand in seinem Zimmer ständig herum wälzte, wimmerte und teilweise schrie.   Rei konnte nicht genau sagen, was ihn ausgerechnet heute hergeführt hatte, doch Yuriy musste etwas in seinen Augen gesehen haben, denn er hatte ihn herein gelassen. Es war nicht so, als wäre er mit sich im Reinen oder würde sich weniger Gedanken darüber machen, warum Kai nichts mit ihm teilte, aber er fühlte sich ruhiger und mehr bereit dazu, seinen Freund zu unterstützen. Jetzt lag dieser leicht zitternd in seinen Armen.. nun, so halb zumindest. Er schien verwirrt ihn zu sehen. "Hi", sagte er etwas unsicher und er flüsterte, weil er Yuriy nicht wecken oder irgendwelche andere Aufmerksamkeit auf sie ziehen wollte. Kai sank nur zurück in seine Arme, offenbar zu müde zum Protestieren, was an sich schon mehr als Besorgniserregend war. Er strich ihm leicht über den Rücken und überlegte fieberhaft, was er tun oder sagen konnte. Kai schien sich nicht wirklich zu beruhigen, aber es war ihm schleierhaft, wie er ihm helfen konnte. Eigentlich war er ja her gekommen, um ihn ein Stück weiter zu bringen, aber in diesem Zustand, konnte er es vergessen, mit Kai auch nur irgendetwas zu machen.   Kai   Er war zu kraftlos um Rei weg zu schicken und zu traumatisiert um nicht zu genießen, dass er da war. Er hatte eigentlich nicht gewollt, dass sein Freund ihn so sah. Niemand sollte ihn so sehen, niemand wissen, dass er so schwach war. Schlimm genug, dass Yuriy es wusste, doch jetzt auch noch Rei? Das ertrug er fast nicht, doch sein Körper zwang ihn förmlich dazu, diesen Umstand zu akzeptieren, denn er brauchte die Nähe des anderen, um sich wenigstens ein bisschen zu beruhigen. Er war froh, dass Rei da war, aber gleichzeitig wollte er nichts lieber, als ihn von sich zu stoßen.   Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er aufhörte zu zittern, bis er verarbeitet hatte, was er gesehen hatte, was er gefühlt hatte. Warum konnte er es nicht einfach wieder vergessen? Warum konnte er die Erinnerungen nicht wieder verdrängen und so weiter machen wie bisher? Aber es ging nicht. Er bekam Yuuyas Stimme nicht mehr aus dem Kopf. Er hörte ihn immer wieder. Es waren Erinnerungsfetzen und manchmal etwas, was er sich selbst erdachte, wie in dem Traum in dieser Nacht. Oft ging es darum, dass er ihm vertraute, dass er auf ihn baute und ihn mochte. In Alpträumen ging es dann um das Gegenteil. Er wusste beim besten Willen nicht, wie er ihn wieder aus seinem Kopf bekam. Wenn er weiterhin nichts aß und alle Flüssigkeit sofort wieder erbrach, würde er zugrunde gehen. Langsam und qualvoll... wie er es verdient hatte.   "Kai?" Reis Stimme riss ihn sofort wieder in die Realität zurück und er genoss die kurze Sekunde, in der er nicht an die Vergangenheit dachte. "Hm?" Er war nicht wirklich in der Lage mehr zu sagen, ganz davon abgesehen, dass er nicht gewusst hätte was. "Du vertraust mir, richtig?" Er nickte noch ehe er wirklich verarbeitet hatte, was Rei ihn gefragt hatte. Vertraute er ihm wirklich? Im Grunde schon, doch allein die Tatsache, dass er Geheimnisse vor ihm hatte, große Geheimnisse, zeigte doch eigentlich, dass er das nicht wirklich tat. Warum aber hatte sein Körper automatisch reagiert? Er war nicht der Typ, der log, weil er anderen nicht weh tun wollte. Aber in gewissem Sinne vertraute er Rei wirklich. Er hatte ihm viel erzählt und er wusste, dass er ihn niemals hintergehen würde. Dass er ihm nicht alles erzählte, hatte einen anderen Grund. "Ich will die etwas zeigen." Die Stimme seines Freundes, riss ihn erneut aus seinen Gedanken. Etwas zeigen? Jetzt? Wie kam er auf diese absurde Idee? "Vertrau mir, Kai." Hatte er denn eine Wahl? Er war sich nur nicht ganz sicher, ob er es bis zu dem ominösen Ort schaffte, zu dem Rei ihn führen wollte. Er war schon lange nicht mehr länger als einige Sekunden auf den Beinen gewesen. Dennoch nickte er und löste sich leicht von Rei, der daraufhin aufstand und ihm eine Hand hin hielt, um ihn beim Verlassen des Bettes zu unterstützen. "Es dauert nicht lange.", versicherte er ihm, als er bemerkte, dass er leicht schwankte. Das war wirklich peinlich, aber nur logisch. Er hatte im Prinzip seit Tagen nichts gegessen, dass sein Körper da nachgab, war wirklich kein Wunder.   Zusammen mit Reis Hilfe stolperten sie die Flure entlang. Sie beide mussten nicht wirklich angst vor Wachen haben, das wussten sie. Volkov konnte keinen Finger an sie legen, denn sie waren keiner seiner Schützlinge. Als sie schließlich nach draußen kamen, wurde die Frage, was Rei vor hatte, immer drängender, doch er fragte nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt auf den Beinen zu bleiben, um noch die Kraft aufbringen zu können, seinen Mund zu bewegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieben sie dann endlich stehen. Sie befanden sich an einer der äußersten Ecken der Mauer, die das Internat umgaben. Mühsam drehte er den Kopf und suchte nach dem Grund, warum Rei ihn hier her geschleppt haben könnte, doch hier war nichts außer der Steinmauer. "Es ist... nicht viel....", hauchte es plötzlich neben ihm. Die Stimme klang schon fast schuldbewusst und schüchtern. Etwas, was er von Rei eigentlich gar nicht kannte. Aber was meinte er eigentlich? Als er zu ihm sah, bemerkte er, dass er zu Boden schaute. Im ersten Moment dachte er, es wäre aus Scham, doch dann sah er, dass Rei etwas fixierte. Er folgte seinem Blick und fast sofort schnürte sich ihm die Kehle zu.   Für dich, mein Freund   Es war ein Stein und auf ihm standen diese Worte geschrieben. Nur ein Stein, nur diese Worte. Niemand der ihn je finden würde, würde wissen, was es damit auf sich hatte. Aber Kai wusste es. Er wusste es und es zerriss ihm fast das Herz. Er ließ sich auf den Boden gleiten, etwas weg von Rei, und starrte auf den winzigen Grabstein, der eigentlich nicht mal einer war, denn was war ein Grabstein schon ohne Grab? Fassungslos starrte er auf diese Geste. Warum hatte Rei das getan?   Eine Weile schwiegen beide, ehe Rei noch einmal die Stimme erhob: "Ich dachte... ich dachte du brauchst etwas, um dich verabschieden zu können." Ungläubig ruhten seine Augen auf dem Stein und nur Augenblicke später, spürte er wie heiße Tränen seine Wangen hinab liefen. Er wusste nicht wieso, denn eigentlich fühlte er sich leer. Sein Körper schien auf Automatik umgestellt zu haben, denn als er sich zusammen kauerte, Hände und Stirn auf dem Boden, entfleuchten ihm die Worte ganz von alleine:   Es tut mir leid...   Es tut mir leid...   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)