Zum Inhalt der Seite

Liebe führt, auch in Russland, zu Dummheiten

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Versehen


 

Kai

 

"Was meinst du mit 'behandeln wie alle anderen'?"

Volkovs Stimme wirkte aufgesetzt freundlich und geradezu schleimig. Der Kerl war wirklich widerlich, aber er war nun einmal der Schulleiter. Wenn er herausfinden wollte, was hier los war, musste er das hier durchsetzen.

"Alle hier schleichen um mich herum, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Ich bin nicht dumm, Volkov. Ich habe hier eine Sonderstellung und unter normalen Voraussetzungen würde ich das durchaus willkommen heißen, aber ich habe nicht so viel Geld auf den Tisch, um dann hier ausgeschlossen zu werden."

Er konnte genau sehen, wie sich die Miene seines Gesprächspartners verhärtete. Natürlich würde er das nicht so einfach machen, aber wie brachte er ihn dazu? Was würde einen Mann wie ihn dazu zwingen können, sich selbst zu verraten?

Das war schwer. 

"Kai,...", begann Volkov und ihm lief dabei ein kalter Schauer den Rücken herab. Jedes Mal wenn er ihn so ansprach passierte das. Dieser spezielle Klang in seiner Stimme löste Übelkeit in ihm aus.

"... die Kinder hier vertrauen niemandem so schnell. Sie haben ihre Eltern verloren. Viele haben lange Zeit auf der Straße gelebt, bevor wir sie gefunden haben. Das ist alles nicht so einfach und du bist erst ein paar Tage hier. Kümmert sich Yuriy nicht gut genug um dich?"

Ja, natürlich lag es daran. Die Kinder waren einfach nur schüchtern. So ein Unsinn! Sie sahen ihn an, als wäre er die Pest. Sprangen aus dem Weg, wenn er auch nur in ihre Nähe kam. Dafür, dass die kleinen Bälger sich untereinander enorm aggressiv verhielten, war das ein äußerst ungewöhnliches Verhalten. 

Es lag ganz sicher nicht daran, dass sie ihm nicht trauten. Sie hatten angst vor den Konsequenzen, wenn sie sich mit ihm abgaben. Und Yuriy? Der konnte ihm wirklich gestohlen bleiben.

"Hör zu Kai. Ich werde mit Yuriy reden, er wird dich mit den anderen bekannt machen. Ganz so, wie es sich für einen anständigen Mitbewohner gehört. Und dann bin ich mir sicher, wirst du sehr schnell in die Gemeinschaft hier aufgenommen."

Aber darum ging es ihm doch gar nicht! Es ging ihm nicht um eine gefakte Gemeinschaft, die man ihm vor spielte, weil der Schulleiter angst hatte, er würde sonst irgendetwas tun. Wovor genau der Angst hatte, konnte er nicht einmal ausmachen. Vielleicht wollte er nicht, dass er sein Geld zurück verlangte. Wäre ihm jedenfalls zuzutrauen. 

"Ich will wenigstens in den echten Profikurs."

"Was meinst du mit 'echt'?"

Dieses Spielchen wurde allmählich wirklich mehr als ermüdend. War der Kerl tatsächlich so dumm, oder tat der nur so?

"Ich will in den Kurs von Yuriy und den anderen. In den echten Profikurs eben. Nicht den Kurs, den sie der Welt da draußen vor gaukeln und in den sie begabte Außenseiter stecken."

Er wollte nicht speziell Rei erwähnen, das war zu riskant. Momentan war er in dem gleichen Kurs wie er, nur, dass Rei noch nicht wieder trainieren durfte. Da Yuriy und sein Team nie dort aufgetaucht waren, lag die Vermutung nahe, dass es noch einen anderen Kurs gab. Den richtigen Profikurs eben.

"Nun, normalerweise steht dieser Kurs nur all jenen offen, die auch garantiert für uns kämpfen und hier bleiben wollen. Aber ich denke, ich kann eine Ausnahme machen."

Wenigstens etwas, aber damit war sein Problem immer noch nicht behoben. Vielleicht würde es ihn aber einen Schritt näher bringen. Wenn Volkov die Kinder hier wirklich misshandelte, würde er das sicherlich niemanden erfahren lassen, der das der Außenwelt mitteilen könnte. Kai hielt ihn für dumm, aber nicht so dumm.

*

Er lag auf seinem Bett und las, wie eigentlich jeden der letzten Abende, da er hier kein Klavier oder sonstige Möglichkeiten zur Individuellen Entfaltung hatte, als Yuriy herein kam.

Er bewegte sich ein wenig merkwürdig, doch es wunderte ihn nicht weiter, kam er schließlich gerade vom Training. Wahrscheinlich hatte er einen harten Schlag abbekommen und bewegte sich deshalb etwas ungelenk. Es war erstaunlich wie viel er trainierte, es war immerhin Sonntag, aber ein Weltmeister musste seine Leistung eben halten oder gleich steigern. Wenn er ihn schlagen wollte, musste er ganz schön an Kraft und Technik zulegen. Er hoffte wirklich, dass Rei bis dahin fit war, damit er ihn unterstützen konnte. Er war definitiv besser ausgebildet als er.

Als Yuriy sich dann aber angezogen aufs Bett legte, wurde er doch stutzig. Wenn er eines in den letzten Tagen gelernt hatte, dann, dass hier alles strikte Regeln und Abläufe gab und damit auch gewisse Gewohnheiten einher gingen. Eine dieser Gewohnheiten war, dass Yuriy nach dem Training ins Zimmer kam, sich umzog und dann ins Bett legte. 

Er wusste nicht genau, warum ihn das besorgte, aber er wollte das nicht auf sich beruhen lassen. Irgendetwas stimmte nicht:

"Was ist los Ivanov? Plötzlich angst, ich könnte dir was wegschauen?"

Da kam erst einmal nur ein abfälliges Schnauben zurück, während sich angesprochener demonstrativ mit dem Rücken zu ihm drehte:

"Wohl eher davor, dass du mich anspringst, wenn du meinen geilen Körper siehst."

Das hatte sehr wenig Effekt, wenn er mit der Wand sprach. Merkwürdig. Yuriy mochte zwar ziemlich einen an der Waffel haben, aber auf diese Art sonderbar verhielt er sich normalerweise nicht. Nicht, dass er groß eine Ahnung hatte, wie sich der Russe normalerweise benahm, aber das fiel gerade wirklich ziemlich aus dem Rahmen.

"Hast wohl deine Tage, was?"

Normalerweise wäre der rote Teufel jetzt aufgesprungen und hätte ihm mit irgendwas gedroht. Aber er rührte sich nicht, was Kai dazu veranlasste sich stirnrunzelnd aufzusetzen.

"Was ist los?", hakte er deshalb noch einmal nach, doch es kam wieder keine Antwort und er bezweifelte, dass der andere schlief. Wenn er das richtig mitbekommen hatte, hatte der nämlich seit seiner Ankunft hier, fast gar nicht geschlafen. Das würde sich jetzt nicht plötzlich ändern.

Deshalb stand er auf und ging zu dem anderen Bett. Als er allerdings seine Hand auf die Schulter seines Zimmergenossen legen wollte, drehte der sich plötzlich um, schlug besagte Hand weg und knurrte ihn förmlich an:

"Fass mich nicht an!"

Verwundert und schockiert taumelte Kai leicht zurück, nahm so Abstand. Was war jetzt auf einmal los? Überfordert mit der Situation, tat er das einzige, was er gut konnte: Angreifen.

"Beruhig dich du Weichei! Was zum Teufel ist eigentlich dein Problem?"

Einen Augenblick später lag er unter ihm auf dem Bett und konnte noch immer nicht sagen, wie er das machte. Er hasste es, allein schon, weil es ihm zeigte, wie weit ihre Fähigkeiten auseinander lagen. Ja, er brauchte wirklich Rei, um das zu schaffen. Das war jetzt aber mehr als nebensächlich, denn die Augen, die ihn zu durchbohren versuchten, ließen ihn tatsächlich unangenehm erschauern. Diesmal ließ er ihm keine einfache Möglichkeit zur Flucht, so wie gestern Mittag. Diesmal war es ernster. 

"Mein Problem bist du, Arschloch!"

Das kam hart und irgendwie unerwartet. Was nur, war passiert? War doch raus gekommen, dass er sich weg geschlichen hatte? 

"Ich kann mich nicht daran erinnern, dir irgendetwas getan zu haben!"

Natürlich würde er nicht klein beigeben. Warum sollte er auch? Egal was passiert war, er war maximal passiv daran Schuld.  Wenn, dann waren es Volkovs Taten, die den anderen verletzt hatten oder was auch immer passiert war.

Doch seine Worte schienen die Wut in dem Anderen nur zu steigern.

"Ignorante Schwuchtel!"

Kai spannte sich an. Eine Vorsichtsmaßnahme, falls Yuriy gleich zu einem Schlag ausholen würde und es sah sehr danach aus, dass er das gleich tun würde. Sich wehren würde schwer werden, aber er würde sich hier sicherlich nicht verprügeln lassen.

Doch es kam anders als erwartet. Yuriy richtete sich auf, so dass nur noch sein Becken ihn auf dem Bett hielt. Jetzt würde er sich befreien können, doch erst einmal wartete er ab. Wenn sie das jetzt nicht klärten, würde das ewig zwischen ihnen stehen und das konnte er nicht gebrauchen.

"Du willst wissen, was los ist!?"

Und damit riss er sich förmlich sein Oberteil vom Körper. Nicht wortwörtlich natürlich, aber es hatte einen doch recht beeindruckenden Effekt.  

Kai riss die Augen auf, als er sah, was darunter hervor kam: Blutige, teilweise schon verschorfte Striemen und ansonsten enorme Rötungen, wo die Haut nicht aufgeplatzt war.

 

Ehe er näher darüber nachdenken konnte, traf aber direkt neben ihm eine Faust auf die Matratze. Erschreckt konnte er das Zusammenzucken seines Körpers nicht verhindern. Angst zu zeigen, könnte allerdings ein fataler Fehler sein.

"Ich helfe dir hier raus und du schwärzt mich an!?", fauchte Yuriy ihm hasserfüllt entgegen. Er hatte in seinem Leben nie so viel Hass gesehen. Verachtung, ja.. aber Hass?

"Ich habe dich nicht angeschwärzt!" Bei wem auch? Und warum? Der Russe hatte ihm ja nie etwas getan, was sollte er da anbringen? Und überhaupt, bei wem denn? Der einzige mit dem er geredet hatte war....

Geschockt riss er die Augen leicht auf. 

"Nein! Yuriy, das ist ein Missverständnis! Ich..."

Doch er kam gar nicht so weit sich zu erklären, der Andere gab ihm einfach nicht die Möglichkeit:

"Das hier nennst du ein Missverständnis? Sieht das für dich wirklich wie ein verdammtes Missverständnis aus?"

Yuriy schrie nicht, was Kai nur im ersten Moment verwunderte. Irrationalerweise analysierte er die ganze Situation weiterhin nebenher, obwohl er sich auf sein Gegenüber konzentrieren sollte, was den Augenblick merkwürdig unrealistisch erscheinen ließ. Fast so, als würde er gleichzeitig noch neben dem Bett stehen und sie beide beobachten.

Yuriy schrie nicht, weil er nicht wollte, dass irgendwer sie hörte und er noch einmal bestraft wurde. Er war sich sicher, dass es dem Anderen verboten war, ihn anzugreifen. Hier war es einem also nicht einmal gestattet, seiner Wut ordentlich Luft zu machen. Kein Wunder, dass man Rei angegriffen hatte. So viel Frust und Wut über die eigene Hilflosigkeit und die endlose Ohnmacht musste irgendwo raus und er wusste aus eigener Erfahrung, dass Sport allein da oft nicht reichte. 

"Ich habe einmal einen Vogel zu Tode gequält...", gestand Kai dann plötzlich und ohne ersichtlichen Zusammenhang. Es reichte aber aus, um Yuriy dazu zu bringen, sich aufzurichten und ihn leicht fragen und irritiert anzusehen. Er nutzte die Chance.

"Ich bin irgendwo hier in Russland aufgewachsen. Ich weiß nicht wo, ich kann mich nicht erinnern. Als mein Großvater mich  hier gefunden hat und mit nach Japan genommen hat, ging es mir nicht gut. Ich weiß nicht warum, das wusste ich damals schon nicht, aber ich war wütend und wollte zurück, während ich gleichzeitig Angst davor hatte, her zu kommen. Ein Jahr lang habe ich mich ständig geprügelt, aber als ich von der Schule geflogen bin, hat das nicht mehr gereicht. Bevor ich angefangen habe mich selbst für meine Unfähigkeit zu bestrafen, habe ich meinen Frust an diesem Vogel ausgelassen..."

Wachsam lagen die eisblauen Augen auf ihm. So eine unnatürliche Augenfarbe. Noch so viel unnatürlicher als seine eigene, die wenigstens durch eine Pigmentstörung zu erklären war. Das tiefe Eis, was er da vor sich sah, war keine menschliche Augenfarbe, aber wenigstens hatte sie aufgehört vor Wut zu glühen. Das Eis wirkte wieder starr und leblos und er wusste nicht so recht, ob er das gut fand.

"Ich habe ihn gefunden als ich durch einen Wald gelaufen bin. Weit weg vom Grundstück meines Großvaters. Ich lief einfach und lief und lief und lief... einfach weg. Weg von allem, was ich nicht beeinflussen konnte. Weg von allem, was fremdbestimmt wurde. Weg von mir selbst, weil ich nicht einmal über mich selbst irgendwelche Macht hatte. Und dann fand ich diesen Vogel, der am Straßenrand lag und sich aus irgendeinem Grund den Flügel gebrochen hatte. Mein erster Impuls war, ihm zu helfen. Deshalb ging ich zu ihm, bewegte vorsichtig den Flügel. Aber als ich ihn daraufhin schreien hörte... diesen grässlichen Ton, den ein Tier von sich gibt, wenn es denkt, dass es in Lebensgefahr ist... da hatte ich zum ersten Mal wirklich Macht über etwas. Ich hab angefangen ihm die Federn auszureißen, so lange, bis er vor Stress und Angst gestorben ist."

Das hatte er noch nie jemandem erzählt. Niemals. Dieses Geheimnis hatte er mit in sein Grab nehmen wollen, genauso wie den Rest seiner dunklen Seite. Der Kontrollsucht und dem Vergnügen daran, andere vor sich betteln zu sehen und ihnen ihren Wunsch dann doch nicht zu gewähren. 

Warum er das ausgerechnet jetzt vom Stapel ließ, konnte er nicht genau sagen, aber es hatte Yuriy wenigstens aufgehalten und schien ihn irgendwie beruhigt zu haben. Das Eis in seinen Augen wurde allerdings noch ein wenig kälter.

"Du bist widerlich!"

Kai schnaubte, statt das auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag. Das sagt der richtige, geisterte es ihm dennoch zumindest durch den Kopf. 

"Ich weiß.", war die schlichte, desinteressierte Antwort. In Wirklichkeit war er nicht desinteressiert. Es war schwer genug sich zu öffnen, dann auch noch derart abgewiesen zu werden, tat wirklich weh. Ein Gefühl, dass ihn erstaunte, denn eigentlich sollte ihm die Meinung eines nahezu Fremden vollkommen gleichgültig sein. Er schob es auf die Tatsache, dass er durch die Selbstoffenbarung verletzlicher war. Ein Umstand der ihm nur bewies, dass er das bleiben lassen sollte. Aber das war nicht der Punkt.

"Trotzdem würde ich niemals absichtlich veranlassen, dass so etwas gemacht wird. Der Vogel war ein Tier, kein Mensch und selbst bei dem Vogel habe ich es direkt danach bereut."

Oh und wie er das hatte. Das hatte erst aufgehört, nachdem er sich das erste Mal geritzt hatte. Danach hatte er sich nur sehr allmählich damit abfinden können, dass er eine sehr dunkle Seite besaß, die unter bestimmten Umständen zum Vorschein kam. Irgendwann hatte er das aber als Teil von sich selbst akzeptiert und konnte mittlerweile einigermaßen damit umgehen. 

"Ich wollte nicht, dass dir etwas passiert, klar? Was bringt es mir denn auch? Wenn ich will, dass du leidest, würde ich mich schon selbst darum kümmern." 

"Als würdest du so nah an mich heran kommen!"

Das kam nicht abweisend sondern absichtlich übermütig, er schien ihm also zu glauben. Das erleichterte Kai, hielt ihn aber nicht davon ab, ihre Position mit ein paar geschickten Griffen zu tauschen. Statt Yuriy aber anständig fest zu nageln, setzte er ein Knie auf eine der Wunden und verlagerte den Großteil seines Gewichtes darauf. Er hätte sich als überlegen gefühlt, wenn sein Gegner wenigstens auf gekeucht hätte... oder sein Gesicht in irgendeiner Art und Weise gezuckt hätte. Anmerken ließ er sich diese Kränkung seines Stolzes natürlich nicht:

"Bin ich doch schon längst"

Das fast schon sanfte Säuseln verklang im leeren Raum zwischen ihnen, ohne, dass irgendwer reagierte. Frustrierend langweilig, aber es war wahrscheinlich besser, dass Yuriy sich nicht wehrte. In seinem jetzigen Zustand, würde Kai nicht mithalten können. Noch eine Kerbe, die sich tief in seinen Stolz bohrte. Er hasste es nicht die Oberhand zu haben!


Nachwort zu diesem Kapitel:
So.. das kam ein wenig anders als erwartet, ehrlich gesagt. Ich hatte eine andere Art ernstes Gespräch vor.. das hat sich jetzt eventuell verschoben. Und ich habe gelernt, dass Kai (und auch Yuriy), wenn sie angegriffen werden, aber sich eigentlich nicht ernsthaft bedroht fühlen, erstaunlich passiv in einem Konflikt sein können. Irgendwie passt es zu ihrer kühlen Gelassenheit, ist aber widersprüchlich zu ihrem eher hitzigen Gemüt. Sagt mir gerne mal, wie ihr das wahrgenommen habt. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück