Moonlightsonata von Crimson_Butterfly (Ein ewig währendes Versprechen) ================================================================================ Kapitel 1: Geschichten, die unser Leben schreiben ------------------------------------------------- England, London 27. Juni 1905   „Miss Jones, Lord Allan wünscht Euch seine Aufwartung zu machen.“   Elizabeth wandte sich vom Fenster ab, straffte würdevoll die Schultern und drehte sich um. Mit einem leeren Gesichtsausdruck sah sie zu dem, in der Tür stehenden Butler. William Browning, der schon seit mehreren Jahrzehnten im Dienste dieses Hauses stand, hielt ihr eine abgegriffene, alte Papierkarte entgegen. Die darauf befindliche, verwässerte Schrift war kaum noch zu entziffern. Bebend holte sie Luft, bevor sie den in blauen Farben gehaltenen Raum durchquerte.   Das verführerische Rascheln von Seide verfolgte ihre unsicheren Schritte. Ihre behandschuhten Finger zitterten, als sie die Karte stumm an sich nahm. Nur, um sie ungelesen in eine teure Porzellanschüssel fallen zu lassen. William, der sich selbst für die höchste Aristokratie unter den arbeitenden Dienstboten hielt, ignorierte ihr Verhalten absichtlich. Stattdessen nickte er ihr schweigsam zu, wandte sich um und schloss leise die geöffneten Flügeltüren.   Leise seufzend, setzte sie sich langsam in einen saphirblauen Ohrensessel, die Hände züchtig im Schoß zusammengefaltet. Obwohl sie mit seinem übereilten Eintreffen rechnete, übertraf sein abscheuliches Benehmen ihre Vorstellungen. Der Beerdigung ihres Vaters beizuwohnen, erschien ihm die Mühe nicht wert zu sein. Es gab keine letzten Worte, keine unbedachten Versprechungen, nur den leeren Platz in der Mitte der trauernden Gäste.   Ihre trüben Gedanken schweiften ab, verließen heimlich den Salon, verloren sich in eine weit entfernte Vergangenheit. Es gab einmal eine Zeit, in der sie geglaubt hatte, einer wundervollen Zukunft entgegen zu sehen. Nun wusste sie, dass sie sich schmerzlich irrte. Der Fassung beraubt, ihr Puls raste, fasste sie behutsam nach dem Unterteller einer Teetasse, die auf einem niedrigen Tisch, neben dem hüfthohen Fenster stand. Ihre weißen Zähne gruben sich in ihre Lippe.   Der Klang seiner entschlossenen Schritte hallte von der Decke der Empfangshalle wieder, wühlte das angespannte Mädchen innerlich auf, holte ihre Gedanken ruckartig zurück. Ihre Finger wurden unter dem Stoff der Handschuhe feucht. Seine melodische Stimme, der sie in Kindertagen voller Begeisterung lauschte, drang gedämpft durch die geschlossenen Türen. Der Magen zog sich ihr zusammen, ihr Herz begann nervös zu flattern. Erschöpft schüttelte sie den Kopf.   Nicht ausgerechnet er, der in diesem Hause stets ein willkommener Gast gewesen war, ließ sich einfach die Tür weisen. Türen, die er ungefragt öffnete, die er ungebeten durchschritt. Elizabeth brauchte ihren ganzen Mut, um nicht wie ein verschrecktes Rehkitz vor ihm zu fliehen. Auf weichen Knien erhob sie sich auf ihre Füße, knickste und sah streng an ihm vorbei. Ein Ausdruck, der hinter ihrem schwarzen Trauerschleier vermutlich an Wirkung verlor.   Wie es ihm der Anstand gebot, verneigte er sich formvollendet, wartete auf ein Zeichen ihrerseits und trat gleichgültig über die in Gedanken gezogene Linie, die diesen Mann aus ihrem Leben verbannte, die sie schützen sollte, die ihn zu einem Eindringling in ihrer Welt machte. Ihre Finger verkrampften sich fest in den Unterteller, als würde sie daran Halt finden. Die Teetasse klapperte. Elizabeth wagte es nicht seinen Blick mit dem ihren zu kreuzen.   Die Wunden der Vergangenheit hatten noch immer keine Zeit gefunden, um zu heilen. Eine einzelne Träne rollte über ihre blasse Wange. Sie musste ihre Haltung bewahren. Auch, wenn ihre gegenwärtige Situation zunächst ausweglos erschien, durfte sie sich in die Grausamkeit des Lebens nicht kampflos fügen. Die Augen auf den Teppichboden gerichtet, durchquerte sie den Raum, reichte ihm die Hand und fühlte sich wie ein naives Kind heftig erröten.   Nur das Ticken der Wanduhr durchbrach die anhaltende Stille. Lynn folgte der Etikette seiner eigenen Zeit, hauchte einen ergebenden Kuss auf ihre Fingerspitzen und seine grauen Augen, mit den Ansätzen eines strahlenden Blau, lagen fest auf ihrem verschleierten Gesicht. Ihre Beine zitterten. Er wollte, dass sie zuerst das Wort ergriff. Sein Verhalten war ihr so schmerzlich vertraut, dass es ihr Herz zu zerreißen drohte. Wann immer sie ihm begegnete; sie verlor den Halt.   Wie konnte er sich in ihrer Gegenwart nur so unbeteiligt benehmen? Seine Anwesenheit, wenngleich ihr schlagendes Herz vor Aufregung raste, war ihr höchst unwillkommen. Vermutlich war er sich dessen durchaus bewusst. Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe, bot ihm stumm einen Platz an und stützte sich auf zitternden Knien gegen die Lehne eines Sofas. Die in der Luft hängende Anspannung, die hinter ihr liegende Beerdigung, ihre tobenden Gedanken lagen ihr wie Steine im Magen.   Als er den Raum durchquerte, um die geschlossenen Vorhänge zu öffnen, grub sie in einem Anflug von Zorn die Finger in den Stoff ihrer schwarzen Röcke. „L-Lasst I-Ihr mir nicht e-einmal die Z-Zeit, um den V-Verlust meiner E-Eltern zu b-betrauern, Lord A-Allen“, erkundigte sie sich deutlich verärgert. „G-Geht … b-bitte.“   „Ihr haben mein aufrichtiges Beileid, Miss Jones“, entgegnete Lynn mit zur Eis erstarrten Stimme. Mit zwei ausholenden Schritten überwand er den zwischen ihnen liegenden Abstand, ergriff Elizabeth am Ellenbogen und führte sie zu den hüfthohen Fenstern. „Ich kann Euch versichern: Euer Vater war mir ein teurer Freund. Ich stehe tief in seiner Schuld. Auch den Verlust Eurer Mutter bedauere ich wirklich zutiefst. Sie war eine erstaunliche Frau.“   Wütend wandte sie den Blick ab, stemmte die Füße gegen den Boden und entwand sich seinem festen Griff. Sie fühlte sich versucht, den doch noch sehr jungen Lord Allan für seine dreiste Unverschämtheit zu ohrfeigen. Wie konnte er es wagen, ihr so unverblümt ins Gesicht zu lügen? Ihre schmalen Schultern bebten, ihr Herz raste. Haltung bewahren, Gefühle unterdrücken. Es waren die Worte, mit denen ihre Mutter den abscheulichen Klatsch der hochgestochenen Londoner Gesellschaftsschicht ertrug.   „Ihr... v-vergesst E-Eure gute E-Erziehung, L-Lord Allen“, warf sie ihm empört an den Kopf, ihre Finger abermals in den Stoff der Röcke verkrampft. „N-Nehmt bitte E-Eure H-Hände von m-mir.“   Lynn trat einen höflichen Schritt zurück, sein gedankenverlorener Blick streifte das im Garten angelegte Blumenbeet. Seine grauen Augen blieben an den ersten Knospen der englischen Rose hängen. Es war eine edle Pflanze. Charme verband sich mit Anmut und Grazie. Ihr betörender Duft, die ebenmäßige Form, die zarte Beschaffenheit ihrer weichen Blätter rundeten das Gesamtbild ab. Es war die passende Blume für eine perfekte Frau.   Er holte seine abschweifenden Überlegungen in den kleinen Salon zurück, begab sich schweigsam zu dem im Zimmer befindlichen Bücherschrank und fasste nach einer Glasvitrine, auf dessen Deckel ein goldener Löwenkopf thronte. Lynn ergriff eine Brandy Flasche am Hals. Er goss sich einen schwindend geringen Teil der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ein bereitstehendes Glas. Elizabeth verfolgte seine wohl durchdachten Bewegungen mit Skepsis.   „Miss Jones“, begann er erstaunlich ruhig, nahm einen Schluck und das angesprochene Mädchen fuhr heftig zusammen. Lynn durchstreifte das Zimmer, wobei er einen kleinen Tisch umrundete, um neben dem Kamin stehen zu bleiben. „Ich werde Euch selbstverständlich die von Euch gewünschte Trauerzeit einräumen. Aber nicht in diesem Haus, ganz alleine. Ich bin der von Euren Eltern gewählte, gesetzliche Vormund. Ich habe Eurem Vater versprochen, dass ich Euch mit meinem Leben beschützen werde und dieser Pflicht leiste ich Folge.“   Elizabeth verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. Ein Schraubstock spannte sich um ihre Brust. „W-Wie überaus h-heldenmütig. I-Ich kann n-nur h-hoffen, dass Ihr an E-Eurer u-unausstehlichen A-Arroganz nicht e-erstickt.“ Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Plötzlich war ihr eiskalt. „D-Dann seid I-Ihr wohl ein M-Mann, der z-zu seinem W-Wort steht“, fragte sie zornig. Lynn sah sie ruhig an. „U-Umfasst Euer P-Pflichtbewusstsein jeden B-Bereich Eures L-Lebens oder nur d-diesen E-Einen?“   Lynn bot ihr auffordernd seinen Arm, mit einem Lächeln, das seine grauen Augen nicht zu erreichen imstande war. Ihr wurde flau im Magen. „Nun, Miss Jones, ich widme jedem Bereich meines Lebens größte Sorgfalt und Hingabe. Es gibt keine Ausnahmen“, erklärte er ihr sachlich. „Auch, wenn ich gegen Euren Willen handle. Ihr werdet Euch meinen Wünschen fügen. Heute und auch in Zukunft.“   Elizabeth biss sich auf die Lippe, senkte den Blick zu Boden und fühlte ihr Herz vor Furcht rasen. Welche ungewisse Zukunft mochte sie in seinem Haus erwarten? Es war eine Frage, auf die sie keine Antwort fand. Das Mädchen wollte nach seinem Arm greifen, ließ ihre zuvor erhobene Hand jedoch wieder an ihre Seite sinken. Still begleitete sie ihn aus dem Salon, den Blick weiterhin von ihm abgewandt. Es war eine Verhaltensweise, die ihm vertraut war.   Lynn begab sich mit ihr in den hauseigenen Garten. Aus seinem Blick war jede Güte gewichen. Er war nicht mehr der Mensch, den sie zu kennen glaubte. Was hatte sich während der vergangenen vier Jahre wohl ereignet? Elizabeth hörte den Kies unter ihren Schuhen knirschen, rang die Hände im Schoß und versuchte sich durch seine unleugbare Anwesenheit nicht beirren zu lassen. Annabell, die von ihrem Vater bestimmte Anstandsdame, folgte ihnen mit wenigen Metern Abstand.   Erst, als sie auf die Köchin traf, eine freundliche, alte Frau, blieb sie kurz stehen, um sich in eine rege Unterhaltung zu vertiefen. „Annabell scheint mir wohl zu misstrauen“, hörte sie Lynn, ganz dicht neben ihrem Ohr, mit gedämpfter Stimme sagen. „Sie behält mich im Auge. Wie ein Fuchs seine Beute.“   Eine Spur von Belustigung begleitete seine Worte, gemischt mit den Anzeichen für unterdrückte Wut und das Mädchen hob ihren zuvor gesenkten Kopf. „G-Glaubt Ihr d-denn w-wirklich, E-Eure f-frivole L-Lebensweise bleibt u-unentdeckt, Lord Allen“, fragte Elizabeth distanziert. Sie löste sich von ihm, setzte sich auf eine gusseiserne Bank und bedeckte mit dem Stoff der Röcke ihre Füße. „A-Auch, wenn L-Lady B-Blair Euren Namen v-verschweigt, weiß j-jeder um i-ihre A-Affäre.“   Lynn wirkte überrascht. Er näherte sich dem auf der Bank sitzenden Mädchen, lehnte sich mit einem wölfischen Grinsen über ihre Gestalt und seine Augen funkelten im letzten Licht des Tages wie das sprichwörtliche blaue Feuer. Elizabeth drückte sich gegen die Rückenlehne, zog den Kopf ein und wagte es kaum, Lynn direkt ins Gesicht zu sehen. Er war furchteinflößend. Wie ein Dämon, versteckt in einer menschlichen Hülle.   Plötzlich, ohne jeden erkennbaren Grund, verschwand das unnatürliche Leuchten und machte dem allbekannten, wohl vertrauten Schiefergrau Platz. „Wenn ganz London, über meine Liaison mit Lady Blair Kenntnis hat, ist es scheinbar kein wohl gehütetes Geheimnis mehr. Oder sehe ich das falsch, Miss Jones?“   Elizabeth schüttelte den Kopf, wich seinem intensiven Blick aus und entschied, das Gesprächsthema in eine andere Richtung zu lenken. „W-Werdet Ihr…“, begann sie verunsichert, holte Luft und jeder Muskel in ihrem Körper war zum Bersten angespannt. Ihre Kehle schnürte sich enger. „…in d-der d-diesjährigen B-Ballsaison nach einer p-passenden G-Gemahlin suchen, L-Lord Allen?“   Lynn belächelte den unerwarteten Themenwechseln, seine Finger schlossen sich warm um die ihren und er zog sie mit einem Ruck auf die Füße. „Die wahre Liebe …“, erklärte er ihr amüsiert, führte das Mädchen über die Wiese und blieb mit ihr in der Nähe des Springbrunnes stehen. „ …findet immer einen Weg.“   Er sollte sie nicht anfassen, doch die Worte wollten ihren Mund nicht verlassen. „L-Liebe? I-Ihr wollt a-aus L-Liebe h-heiraten?“   Hatte er die wahre Liebe gefunden? Den Weg, der ihn schlussendlich zu ihr führte? Ein Gedanke, der sie zutiefst betrübte. Natürlich war sie noch ein Kind. Nur ein kleines Mädchen, das vermutlich durch den ihr anhaftenden Makel, die bürgerliche Herkunft ihrer Eltern und das unüberhörbare Stottern, auf keine gute Partie zu hoffen brauchte. Die alberne Vorstellung, er könnte noch immer Interesse an ihr haben, glich einem erträumten Luftschloss.   Er war ein Lord. Sie stand weit unter ihm. Elizabeth war ihm vermutlich so nahe wie ein König seinem Stallburschen. Das geerbte Vermögen, die Anteile an verschiedenen Maschinenfabriken und ihre von Geburt bestimmten Verbindungen reichten nicht aus, um ihr die ehrliche Sympathie eines Adligen zu sichern. Elizabeth dachte unwillkürlich an ihre flatterhafte Freundin, die mit einem Baron verheiratet in Frankreich lebte. Paris war wahrhaftig eine schöne Stadt.   „… interessiert Euch das?“   Sie zuckte zusammen, landete hart in der Realität und wandte sich ihm überrascht zu. Er hatte ihr eine Frage gestellt. Lynn wartete auf eine Erwiderung, sein geduldiger Blick lag auf den Fenstern der Veranda. Elizabeth durchsuchte mit einem aufgesetzten Lächeln fieberhaft ihren Verstand. Sie musste ihm antworten. Aber was sollte sie sagen, ohne sich wie eine Närrin an den Pranger zu stellen? Das Mädchen spielte mit ihren Fingern, seufzte, suchte nach den richtigen Worten.   Der Drang, die Hände hilflos in die Luft zu werfen, war stark. Stattdessen zuckte sie so anmutig, wie ihr das unter den gegebenen Umständen möglich war, die Schultern, schlang die Arme um ihre schmale Mitte und gab sich erschöpft. Seine Worte zogen ungehört an ihr vorbei. Heiß schoss ihr das Blut in die Wangen. Natürlich hatte sie sich in eine peinliche Lage manövriert. Gleichzeitig wusste sie, dass sie sich erneut durch seine Nähe hatte verzaubern lassen.   „Ich bin vermögend und verfüge über einen Titel, Miss Jones“, widerholte er sich selbst, mit der gleichen klaren Samtstimme, die sie von ihm gewohnt war. „Ich befinde mich durchaus in der Situation, eine Ehe ohne jede Vernunft einzugehen. Doch die viel wichtigere Frage: Warum interessiert Euch das?“   Elizabeth blickte ihn an, studierte seine glatten, aristokratischen Gesichtszüge und ihre braunen Augen blieben auf seinen fein geschwungenen Lippen haften. Dieser verführerische Mund, der sich mit einer Bestimmtheit auf den Ihren legen konnte, dass sie innerlich vor Verlangen erbebte. Wenn ihre Gefühle ihn zu erreichen doch nur imstande sein könnten. Aber Lynn wollte heiraten. Eine Vorstellung, die ihr den Boden unter den Füßen wegriss.   Wie sollte sie die Gegenwart seiner Gemahlin überstehen? Es konnte sich nur um eine junge, schöne Frau handeln. Eine Person, die zu ihm passte. Sie musste beliebt sein, begehrenswert und war gewiss geistreich, mit einem hohen Maß an Charme. Elizabeth versteifte sich, das Herz trommelte ihr in einem Akkordtempo gegen die Rippen. Sie fühlte sich wie betäubt, verfluchte ihre empfindsame Seele, mit Ausdrücken, die eine junge Dame nicht kennen sollte.   „Meine M-Mutter … S-Sie war … v-verzweifelt“, erzählte Elizabeth bedrückt. Lynn hob eine seiner nachtschwarzen Brauen an. „U-Um unsere g-gesellschaftliche S-Stellung zu s-sichern, w-wollte sie mit f-finanziellen M-Mitteln einen T-Titel e-erwerben.“   Lynn hüllte sich für einen Moment in Schweigen. Er sah sie an, lächelte höflich und zupfte behutsam ein Blatt aus ihren langen, blonden Haaren. Auch wenn sie es genoss, mit ihm allein zu sein, schien seine bloße Gegenwart ihr Herz entzwei zu reißen. Ein Empfinden, das für ihn wohl nur zu offensichtlich war. Der Lynn, den sie während ihrer Kinderzeit lieben gelernt hatte, war nicht der Mann, der in dieser Sekunde genau vor ihr stand.   Er war fraglos weiterhin freundlich, aufmerksam, nachsichtig. Aber er hatte sich verändert. Es war ein Wandel, den zu greifen ihr verwehrt blieb. Ob gut oder schlecht konnte sie nicht sagen. Sein Aufenthalt im Ausland, die Ablehnungen gesellschaftlicher Zusammenkünfte und sein plötzliches, verschlossenes Verhalten, war monatelang das Wasser auf den Mühlen der Londoner Klatschbasis gewesen. Sein guter Ruf nahm erheblichen Schaden, aber Lynn schien sich nicht einmal daran zu stören.   Elizabeth begann sich zu fragen, wieso er London verließ? Jedes Jahr, wenn die ersten Schneeflocken fielen, kehrte er der Stadt den Rücken zu. Das Mädchen setzte sich auf den Rand des ausgedorrten Brunnens, strich mit den Fingern zerstreut über die seidenen, schwarzen Röcke und betrachtete das durch das Blätterdach der Bäume fallende Sonnenlicht. Er blieb für sie auf ewig unerreichbar. Sein Leben war ihr ein einziges Rätsel.   „Diese verarmten Aristokraten, die ihre völlig wertlosen Titel gegen die Mitgift junger, unverheirateter Damen tauschen“, durchbrach er die eingekehrte Stille. Elizabeth fand verwirrt blinzelnd in die Realität zurück, sah ihn zum ersten Mal an und er nahm unaufgefordert neben ihr Platz. „Miss Jones, ich führe Euch unter meinen Namen in die Gesellschaft ein. Ich gebe Euch mein Wort, dass es Euch an Bewerbern um Eure Hand nicht fehlen wird.“   Sie senkte die Lider über ihre Augen. „Also w-wollt I-Ihr es mir e-ermöglichen, eine V-Verbindung zu s-schließen, die meine e-ethischen W-Wünsche schützt?“   Er schüttelte seinen Kopf, seine grauen Augen erstrahlten und er fasste nach ihrer Hand, nur um sie einen Moment länger zu halten, als es schicklich war. „Nein, eine Ehe, die sowohl auf Euren als auch den Gefühlen Eures zukünftigen Gatten basiert“, korrigierte er sie sanft. „Weder die Vernunft noch die Moral spielen eine entscheidende Rolle. Es geht nur um euch beide.“   Elizabeth entzog sich ihm mit einem verdrossenen Lächeln, erhob sich schweigend auf ihre Füße und kehrte ihm sogleich den Rücken zu. Ihre, in schwarzen Spitzenhandschuhen steckenden Finger gruben sich abermals in den Stoff ihrer Röcke, ihre schmalen Schultern bebten. Sie fühlte sich wie ein in die Falle getretenes Reh. Obwohl seine gewählten Worte einen kleinen Funken Hoffnungen in dem Mädchen entflammten, erloschen ihre Träume wie eine Flamme im Wind.   „L-Lord Allen …“, begann sie beunruhigt, sog die warme Abendluft zitternd in ihre Lungen und ihr Herz drohte vor Kummer zu brechen. Sie machte einen Schritt. „A-Auch, wenn Ihr m-mich unter E-Euren N-Namen in die G-Gesellschaft e-einführt, wird sich k-kein r-respektabler M-Mann j-jemals zu mir u-umdrehen. E-Es werden G-Glücksritter und z-zweitgeborenen Söhne s-sein, die um m-meine G-Gunst k-konkurrieren. Z-Zudem will ich n-nicht h-heiraten.“   Lynn, der ihre letzten Worte wissentlich ignorierte, legte die Stirn in Falten, folgte ihrem Beispiel und stand auf. Er kam ihr näher, sodass sie vor ihm flüchtete. „Was führt Euch zu der Annahme, Eure Gunst könnte unter der Beliebtheit anderer Debütantinnen leiden“; fragte er sichtlich verblüfft, überwand mit zwei ausholenden Schritten, den zwischen ihnen liegenden Abstand. Behutsam fasste er nach ihrer nackten Schulter; zumindest, soweit es das überaus schickliche Kleid zuließ. „Lasst mich bitte an Euren Gedanken teilhaben.“   Sie drehte sich abrupt um, verschränkte die Arme vor der Brust und ihre gefühlvollen, großen Augen schimmerten im letzten Licht des Tages feucht. Es war selbst durch den Schleier erkennbar. Auch, wenn er sie leise schluchzen hörte, blieb ihr Gesicht erstaunlich ebenmäßig. Der Drang, das vor ihm stehende Mädchen näher zu ziehen, hämmerte ihm wie der Widerhall seines eigenen Herzschlages laut in den Ohren. Er musste seine ganze Willenskraft aufbringen, um seine Sehnsucht zu unterdrücken.   „I-Ihr k-kennt meine M-Makel“, erinnerte sie ihn mit geflüsterter, heiserer Stimme, wandte den Kopf ab und Lynn presste die Lippen zusammen. „M-Mein S-Stottern und meine H-Herkunft … G-Glaubt I-Ihr w-wirklich E-Eurer Name t-tröstet über diesen S-Schandfleck h-hinweg?“ Elizabeth schritt mit geradem Rücken über die Wiese, setzte ihre Füße auf den Kiesweg und betrachtete die vor ihr liegenden Rosensträucher. „E-Eine U-Unterhaltung mit m-mir zu f-führen, i-ist für m-meinen G-Gesprächspartner und f-für mich s-sehr a-anstrengend.“   Lynn begab sich an ihre Seite, folgte ihrem ausdruckslosen Blick und ein Grinsen zuckte um seine Mundwinkel. „Verzeiht mir bitte meine Offenheit, aber das Stottern, gehört zu Eurem bezaubernden Charakter, Miss Jones“, gab er mit distanzierter Höflichkeit zu. Dem Mädchen schoss sogleich das Blut heiß in die Wangen. „Es macht Euch einzigartig.“ Er begab sich in die Knie, pflückte eine der zahlreichen englischen Rosen und schob ihr die Blume zärtlich in die langen, seidigen Haare. „Zudem verdient die Herkunft Eurer Eltern keinerlei Beachtung. Glaubt Ihr nicht auch?“   Ihre Mundwinkel begannen zu zucken, eine unerträgliche Nervosität machte sich deutlich in ihrer Magengegend bemerkbar. Elizabeth senkte den Blick auf den Kiesweg, spielte deutlich verlegen mit ihren schwarzen Handschuhen und sog die frische Luft leise stockend in ihre Lungen. Sie war fröhlicher gestimmt, als es die Situation zuließ. Mit seinem Charme, der bemerkenswerten Offenheit, seiner Ausstrahlung brachte Lynn ihr junges Herz zum Rasen.   Wann immer sie der Kummer zu überwältigen drohte … er fand die richtigen Worte, um ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern. Ein Charakterzug, der ihm die Frauenwelt zu Füßen legte. Lynn war keiner dieser albernen Gecken, die sich mit geschmacklosen Liebesgedichten, peinlichen Anekdoten über die Vorzüge des weiblichen Geschlechtes und einer unbestimmbaren Anzahl von zweifelhaften Lügen durch die Betten der Gesellschaft bewegte.   Er sprach seine weltfreien Gedanken offen aus, stand fest zu seiner Meinung und gestattete ihr eine Freiheit, die in der Gesellschaft als undenkbar galt. Elizabeth setzte sich erneut in Bewegung, schritt in Schweigen gehüllt durch den dunkler werdenden Garten, begleitet von dem verführerischen Rascheln ihrer Röcke. Lynn folgte ihr mit einem höflichen Abstand. Sein funkelnder Blick ruhte auf ihrer grazilen Gestalt, wanderte von ihren blonden Haaren tiefer. Unerwartet blieb er stehen.   Das aus schwarzer Seide gearbeitete Kleid, mit der weißen Spitze am Rocksaum, dem dreiviertel langen Ärmeln, schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihre sanft gerundeten Hüften und unterstrich mit dem gekonnten Faltenwurf ihre zierliche Figur. Lynn spürte, wie ein bekanntes Gefühl in ihm erwachte, ihn in die Zeit vergangener Tage zurückwarf. Elizabeth war zu einer jungen Frau herangewachsen. Es war eine Tatsache, der er nur wenig Beachtung zu schenken versuchte.   Ein hoffnungsloses Unterfangen. Lynn wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er einen schwarzen Haarschopf entdeckte. Annabell trat still an die Seite ihres Schützlings, die Hände vor ihrem flachen Bauch ineinander verschränkt. Sie begleitete Elizabeth in das Innere der Villa zurück. Aus dem Schatten einer unübersichtlichen Ecke, nahe der Treppe löste sich eine leicht buckelige, rundliche Gestalt, fasste unbeholfen nach einer auf dem Boden liegenden Hacke und ein leises Rülpsen erfüllte die Luft.   Der Mann wandte sich kichernd in die entgegen gesetzte Richtung, stolperte über seine eigenen Füße und fiel der Länge nach auf den Kiesweg. Ein wütender Fluch, von der Stärke eines Droschkenkutschers im frühmorgendlichen, Londoner Verkehrsgedränge, zerriss die Stille, eine Schar Vögel brach aus dem Geäst eines Baumes. Lynn wusste genau, dass er betrunken war. Zumindest bewirkte das unerwartete Auftauchen des Gärtners die Zerstreuung seiner unangebrachten Gedankengänge.   Kopfschüttelnd setzte sich Lynn in Bewegungen, half dem alten Mann beim Aufstehen und brachte ihn vorsorglich zu einer leeren Bank. Er schien jedoch nicht verletzt zu sein. Zumindest war oberflächlich keine gröbere Wunde zu erkennen. Der Gärtner lehnte sich dankbar zurück. Sein Lächeln offenbarte eine Reihe schiefer, gelber Zähne. Der beißende Geruch von billigem Whiskey vermischte sich mit dem von Tabak. Ein seltsames Leuchten durchzog plötzlich den Garten.   „Ihr seid wirklich sehr freundlich zu einem ungeschickten Mann, junger Lord“, sagte er ungewöhnlich heiter. Lynn ahnte, dass sein von der Gesellschaft verspottetes Verhalten, Dienstboten mit den ihnen zustehenden Respekt zu behandeln, bereits an die Ohren der restlichen Dienerschaft dieser Stadt gedrungen war. „Verzeiht, dass Euch ein alter Dummkopf Unannehmlichkeiten bereitet hat.“   „Eurer Gesundheit zuliebe, solltet Ihr dem Whiskey nicht länger Beachtung schenken, Mr. Morrison.“   Der alte Mann grinste breit, erhob sich unsicher auf die Füße und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. „Es geht mir gut“, erwiderte er mit einem leisen Kichern, drehte sich ganz langsam um und verschwand in der heraufziehenden Nacht. „Macht Euch keine Gedanken, mein Junge.“   Lynn legte die Stirn in Falten, drehte sich um und warf noch einen letzten, forschenden Blick über seine Schulter. Mr. Morrison war eigenartig, wenn nicht sogar überraschend weitsichtig. Dieser alte Mann verfügte über eine Raffinesse, die seinem Alter in jeder erdenklichen Weise gerecht wurde. Als er sich vor fast dreißig Jahren in die Dienste des verstorbenen Hausherren stellte, nannte er eine Gabe sein Eigen, die über das Verständnis der Menschen weit hinausging.   Er stand des Öfteren völlig reglos im Garten, sah mit einem freundlichen Lächeln in den Himmel und führte Selbstgespräche. Natürlich glaubten die in diesem Haus arbeitenden Bediensteten, er verfiel nach dem tragischen Verlust seiner jüngsten Tochter dem Wahnsinn. Doch die Wahrheit war eine gänzlich andere. Lynn schüttelte seine Überlegungen ab, bevor er sich auf dem Absatz umdrehte. Ohne weitere Umwege begab er sich direkt ins Haus.   Elizabeth befand sich im Arbeitszimmer. Das Mädchen saß nur wenige Meter vom Kamin entfernt, auf einem kleinen Hocker, in ihren Händen hielt sie eine, mit blauen Schnörkeln verzierte Teetasse. Sie starrte, wohl in ihre eigene Gedankenwelt vertieft, ins Feuer. Lynn machte mit einem gekünstelten Hüsteln auf sich aufmerksam, trat an ihre Seite und sie hob den Kopf. Elizabeth wirkte überrascht. Wie ein Kind, das bei etwas verbotenem ertappt wurde.   Zwischen ihren Augenbrauen zeichnete sich eine steile Falte ab. Gelehrter Höflichkeitsfloskeln folgend erhob sie sich auf die Füße. „W-Welchem Anlass v-verdankt Ihr E-Euren v-verlängerten A-Aufenthalt im G-Garten, Lord A-Allen“, erkundigte sie sich mit einer deutlich erkennbaren Spur von Argwohn. „I-Ich h-habe Euch mit j-jemanden s-sprechen g-gehört.“   Lynn grinste breit. „Ich bin auf Mr. Morrison gestoßen …“, gab er ihr die von ihr geforderte Auskunft und das Mädchen erblasste sichtlich. Die Tasse entglitt ihren Fingern. „… und habe mich zu einem kurzen Gespräch hinreißen lassen, Miss Jones.“   „M-Mr. M-Morrison“, widerholte sie ganz langsam. Ihr Gesichtsausdruck wechselte von Verblüffung zu ehrlichem Entsetzen. Er hatte bereits eine ähnliche Reaktion erwartet. „I-Ich f-fürchte, ich k-kann E-Euch nicht f-folgen, Lord Allen.“   Seiner guten Laune tat ihre Erschütterung keinen Abbruch. „Vermutlich.“ Er zog eine silberne Uhr aus der Taschen seiner aus Wildleder gearbeiteten Weste, drückte auf den oberen Knopf und der Deckel sprang auf. „Es ist spät und Ihr seid sicherlich erschöpft. Ihr solltet nun zu Bett gehen.“   Das Mädchen, noch immer so kreideweiß wie ein Leichentuch, stolperte einen Schritt zurück, sank auf einen gepolsterten Sessel nieder und biss sich fest auf die Lippe. Wie konnte er Mr. Morrison begegnet sein? Der alte Mann war bei der Ausübung seiner täglichen Pflichten tödlich verunglückt. Er fiel im Garten über seine Füße. Mit einer Hacke hatte er sich den Hals aufgerissen. Der Vorfall ereignete sich vor mehr als zwei Jahren. Somit war ein Treffen völlig ausgeschlossen.   „Ihr b-beliebt zu S-Scherzen, L-Lord Allen“, fragte sie hoffnungsvoll, zugleich mit einer tief sitzender Furcht. Ihr Puls raste. „I-Ihr macht E-Euch über m-mich l-lustig, r-richtig?“   Lynn blieb ihr eine Antwort schuldig. Seine grauen Augen ruhten auf ihrer bebenden Gestalt, sein Schweigen schien sie zu erdrücken. „Ich werde Euch am folgenden Tag eine Kutsche schicken. Packt bitte Eure Habseligkeiten zusammen, Miss Jones“, fuhr er fort, ohne seine Begegnung im Garten näher zu erläutern. „Findet Euch pünktlich zur Mittagszeit in der Empfangshalle ein.“   „L-Lord Allen…“   Seine zu einem Flüstern gesenkte Stimme, erschien ihr plötzlich so bedrohlich, wie das Leuchten der Blitze vor einem heraufziehenden Unwetter und strafte seine höfliche Miene Lügen. „Befolgt meine Wünsche“, sagte er warnend, mit einem Hauch von Tadel. Sie musste ein weiteres Mal erkennen, dass er die Position ihres Vormundes bezog. Somit waren sie keine Freunde. „Ich empfehle mich.“   „I-Ihr h-habt Recht“, erwiderte sie so kalt, wie ihr das die Etikette des allgemeinen Formgefühls noch erlaubte. „E-Es w-war ein a-anstrengender T-Tag.“   Er sah ihr schweigend entgegen, ergriff ungebeten ihre Hand und hauchte einen raschen Kuss auf ihre Stoff bedeckten Fingerknöchel. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, kehrte er ihr den Rücken zu. Seine zielstrebigen Schritte führten ihn aus dem Haus. Ein Zeichen für seinen unterdrückten Zorn. Elizabeth konnte nicht anders, als der in ihrem Herzen lodernden Wut nachzugeben. Kreischend fasste sie nach einer Blumenvase, holte aus und warf.   Das Porzellan zerschellte lautstark an der Eingangstür, noch bevor ihn das Gefäß am Kopf hätte treffen können. William, der stets wie ein Schatten durch das große Haus schlich, rief sogleich nach einer noch recht jungen Magd. Soweit Elizabeth wusste, arbeitete sie weniger als zwei Wochen im Dienste ihrer Familie. Das Mädchen eilte in die Halle, besah sich die verursachte Unordnung und machte sich auf den Weg, um einen Eimer zu holen.   „A-Annabell, ich m-möchte, d-dass I-Ihr mit M-Mr. Browning das H-Haus d-durchsucht. E-ein F-Fremder h-hält sich auf d-dem G-Grundstück auf.“   Die angesprochene Anstandsdame trat aus dem Schatten eines schmalen Seitenganges, verschränkte die Hände ineinander und schüttelte mit einem ergebenden Seufzen den Kopf. Auch der Butler, der sämtliche Arbeiten des Hauspersonals streng überwachte, sah ratlos zu Elizabeth. Sie hatte sich bereits in früher Kindheit von Lynn ängstigen lassen. Scheinbar setzte er seine Geistergeschichten fort. Keine geeigneten Voraussetzungen für das Heranwachsen einer jungen Dame.   „Miss Jones, ich bin mir sicher, dass sich Lord Allen nur wieder einen geschmacklosen Scherz erlaubt hat. Ihr solltet seinem albernen Geschwätz kein Gehör schenken“, riet ihr Annabell so beruhigend wie möglich, ihr Blick wanderte zu Willam. „Zudem gibt es niemanden, der unbeobachtet in das Haus eindringen könnte. Seid unbesorgt. Es ist alles in Ordnung.“   Elizabeth nickte, streifte die Handschuhe von ihren Fingern und setzte ein Lächeln auf. Eines, von dem sie hoffte, dass es Annabell versöhnlicher stimmte. „I-Ich w-würde mich d-dennoch w-wohler f-fühlen, w-wenn I-Ihr meiner B-Bitte n-nachkommt.“   Annabell knickste. „Sehr wohl, Miss Jones.“   ***   „Glaubt Ihr, sie wird sich Euren Wünschen fügen, mein Junge“, erklang eine amüsierte Stimme aus dem im Schatten liegenden Teil der Kutsche und Lynn schloss mit einem verächtlichen Schnaufen die offen stehende Tür. „Elizabeth war schon als Kind recht eigensinnig.“   Lynn warf sich zähneknirschend auf die mit Samt überzogene Sitzbank, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte mit einem finsteren Gesichtsausdruck, auf das hell erleuchtete Anwesen der Familie Jones. Nein, sie schien nicht geneigt zu sein, seinem Willen zu folgen. Zum Teufel! Erlag sie wirklich dem aberwitzigen Irrglauben, er sehnte sich nach dem frühen Tod ihrer Eltern? Die ihm zur Last gelegte Position als Vormund, diente ihrem eigenen Schutz.   Es waren Worte, die ihr zu sagen ihm jedoch verwehrt bleiben würden. Das plötzliche Knallen der Zügel durchbrach seine rasenden Gedanken, die Pferde wieherten und mit einem sanften Ruck setzte sich der Wagen im gemächlichen Tempo in Bewegung. Die Räder hüpften über das Kopfsteinpflaster der Auffahrt, die Kutschfedern protestierten. Mit dem Durchschreiten des Tores, nahm der auf den Straßen von London vorherrschende Geräuschpegel beträchtlich zu.   Ein Seufzen erfüllte die Stille, seine Fingerspitzen trommelten ungeduldig auf seinen Oberschenkel und seine grauen Augen lagen auf den an ihm vorbeiziehenden Straßenbeleuchtungen. „Ich hoffe auf ihre Einsicht“, sagte er gedehnt, ein amüsiertes Glucksen erreichte seine Ohren. „Mir liegt nichts ferner, als den Missmut der Dienerschaft auf mich zu ziehen. Zudem erscheint mir eine Entführung des Mädchens keine überlegte Lösung der Problematik zu sein.“   „Ihr habt die Verlobung erst vor wenigen Wochen gelöst, mein Junge. Ihre Wunden sind tief. Sie hat Euch geliebt, deswegen ist es umso schmerzlicher, Euch zu sehen. Das Herz einer Frau ist wahrlich ein unerschöpflicher Quell voller Geheimnisse.“   Leichter Tadel vermischte sich mit einem unausgesprochenen Vorwurf und Lynn ballte die Hände fest zu Fäusten. Er wusste um sein unergründliches Verhalten, den damit zusammenhängenden Kummer nahe stehender Menschen, dass sein überstürztes Handeln Elizabeth das Herz gebrochen hatte. Sein Benehmen war unentschuldbar. Doch sein zwiespältiges Betragen fand einen berechtigten Grund. Ein weiteres Geheimnis, das er ihr unmöglich anvertrauen konnte.   Er war erschöpft, die Anstrengungen des Tages schlugen ihm aufs Gemüt. Durch das sanfte Schaukeln der Kutsche vermochte er kaum die Augen offen zu halten. Lynn lehnte sich entkräftet zurück, das in ihm aufsteigende Gähnen unterdrückend. Seinem Gesprächspartner blieb er eine Antwort zunächst schuldig. Der Weg in die dunklen Abgründe des Wahnsinns war angefüllt mit Bildern, die ihn in einen Zustand permanenten Zorns stießen.   Alles, was ihm wichtig war, trug ihr Gesicht, ihren Namen, den betörenden Geruch ihres Parfüms. Sie war ein Mädchen, das ihm durchaus aus den gewohnten Bahnen zu werfen schaffte. Wann immer er auch über sie nachzudenken begann … Er musste sich der Wahrheit stellen. Elizabeth war kein Kind mehr, das nachts die Geborgenheit in seinen Armen zu finden erhoffte. Innerhalb der vergangenen vier Jahre wuchs sie zu einer jungen Frau heran.   Sie sehnte sich nach der Zukunft, die nur er ihr zu geben vermochte. Aber selbst, wenn er den Willen aufbrächte, um ihren Wünschen Gehör zu schenken, hielt ihn sein Ehrgefühl zurück. Sollte er lachen oder lauthals fluchen? Elizabeth war ihm viel zu nahe und gleichzeitig entzog sie sich ihm auf eine fast beängstigende Weise. Ein Gedanke, der ihn zusehends beunruhigte. Ihre Abneigung war ein Spiegelbild ihrer verletzten Empfindungen.   Lynn spürte die leichte Berührung einer Hand auf seiner Schulter, fuhr erschrocken hoch und presste Daumen und Zeigefinger gegen seinen Nasenrücken. „Verzeiht“, flüsterte er kopfschüttelnd. „Ich muss eingeschlafen sein. Das Treffen mit Miss Jones hat mich …“   Er hörte ein weiteres Lachen, sah sich rüde unterbrochen und richtete seinen verdrießlichen Blick auf die gegenüberliegende Sitzbank. „ … schwer getroffen …“, ergänzte sein Gesprächspartner von der Schwere der Situation offensichtlich belustigt. „Verständlich. Liz kann selbst Euch den Kummer einer zurückgewiesenen Liebe nahebringen.“   Lynn verengte seine grauen Augen zu zwei schmalen Schlitzen, schnaufte abfällig und schlug die Beine übereinander. Er fühlte sich versucht, die Mutmaßungen eines alten Freundes sogleich in der Luft zu zerschlagen, doch ihm lag nichts ferner als mit Lügen seinen verletzten Stolz zu retten. Obwohl sich sein Gesprächspartner stets unbeteiligt gab, ließ ihn die Tatsache, dass auch Lynn unter einem seinem gebrochenen Herzen litt, nicht unberührt.   Eine Tatsache, die unausgesprochen in der Luft hing. Diese unglückselige Angelegenheit entwickelte sich zu einer Katastrophe, deren Ausgang niemand zu kennen schien. Seine Ziele gerieten schneller als zunächst erwartet in arge Bedrängnis. Lynn griff ärgerlich nach dem Kragen seines Hemdes, lockerte den Knoten des schwarzen Halstuches und öffnete die ersten Knöpfe seiner schwarzen Weste. Die von der Gesellschaft bestimmte Männermode war wirklich schrecklich.   Sie ließ kaum Platz für die von ihm gewünschte Bewegungsfreiheit. Im gleichen Moment durchbrach ein vernehmliches Krachen seine Überlegungen. Der Wagen stoppte abrupt, bevor er sich mit einem leichten Knirschen zur linken Seite bog. Die Hufe der Pferde schlugen lautstark auf den Boden nieder, ihr Schnaufen erfüllte die Stille. Lynn öffnete überrascht die Tür. Er sah sich um, trat auf die Straße und begab sich zu dem vom Kutschbock gesprungenen Dienstboten.   Der Mann beäugte die Räder, begab sich in die Knie und strich mit den Fingern über die gebrochene Achse. „Verzeiht, Mylord“, sagte er in einem unterwürfigen Tonfall. „Ich fürchte, die unebene Straße hat Eurer Kutsche erheblichen Schaden zugefügt.“   Lynn klopfte dem Kutscher auf die Schulter, drehte sich um und seine Augen wanderten schweigend über die dunklen Fenster der Häuser. „Macht Euch keine Gedanken, Mr. Hoskins“, äußerte er ruhig, setzte ein Lächeln auf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Euch ist nicht entgangen, dass es sich nicht um Euren Fehler handelt. Also müsst Ihr Euch nicht entschuldigen. Nur die Pferde wirken aufgebracht.“   „Ich werde Euch umgehend eine Droschke mieten, Mylord.“ Mr. Hoskins verbeugte sich wie es ihm der Anstand gebot, wandte sich auf dem Absatz um und fixierte ein nahegelegenes Gasthaus. „Ich bitte Euch nur einen Moment zu warten.“   „Das wird nicht nötig sein. Es ist alles in Ordnung. Ein Spaziergang an der frischen Luft wird meiner Gesundheit nicht abträglich sein. Ihr braucht Euch nicht zu bemühen. Jedoch wäre ich Euch zu Dank verpflichtet, wenn Ihr einen Schmied findet, der den Schaden repariert.“   ~Fortsetzung folgt~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)