Counting Crows von Ixtli ================================================================================ Tsubaki -------   HIS DESTINY WAS IN HER HANDS ֍     Three for a girl Four for a boy   Das war also alles? Mehr als ein ziemlich förmlich wirkendes Auf Wiedersehen mitsamt der Ermahnung, auch lieb zu sein und keinen Unfug anzustellen, war nicht drin gewesen? Mit offenem Mund starrte Daisuke die Tür an, die sich hinter seiner Familie geschlossen hatte, gleich nachdem seine paar Habseligkeiten im Kofferraum des wartenden Autos verschwunden waren. Dafür, dass er gerade mal zehn Jahre alt geworden war und man ihm seit er denken konnte, schon eintrichterte, dass er ab dann eine der wichtigsten Aufgaben seines Lebens übernehmen musste, war man bei seiner Verabschiedung ganz schön schnell wieder zu Alltäglichem übergegangen. Wussten sie nicht, dass er das hören konnte? Das flinke Schaben des Besens im Hof direkt hinter dem Eingangstor, vor dem er noch immer stand, obwohl der Fremde, der heute morgen in aller Früh bei ihnen aufgetaucht war, um ihnen zu verkünden, dass heute der besagte Tag war, bereits so langsam ungeduldig wurde. Er hörte seine Mutter mit jemandem über das Essen diskutieren, während etwas zischend im heißen Fett landete. Ausgerechnet sein Lieblingsessen... Nicht einmal Onkel Seiichiro war wie versprochen gekommen. Und auf ihn hatte er sich blind verlassen. Enttäuscht ballte Daisuke seine Hände zu Fäusten. Na schön, dann war das hier sein vorläufiger Abschied. Er wandte sich von dem Ort ab, an dem er seine bisherige, sichere Kindheit verbracht hatte und bestieg den Wagen, der ihn in eine ungewisse Zukunft bringen würde, von der er überhaupt nicht abschätzen konnte, wie sie verlaufen würde. Daisuke konnte nur mit Mühe seine Aufregung unterdrücken, während sich der Wagen mit ihm durch den Stadtverkehr quälte. Sie hielten auf einen Gebäudekomplex zu, den Daisuke noch nie im Leben gesehen hatte. Das Haus mit dem stufenförmig nach oben hin spitz zulaufenden Dach stach aus seiner Umgebung hervor und eigentlich fand es Daisuke sogar fast schön, auch wenn er sich das Heim einer Prinzessin ganz anders vorgestellt hatte. Prunkvoller. Wie ein Schloss sah das Gebäude, auf dessen Parkplatz sie in diesem Moment einbogen, nicht gerade aus, da halfen auch die riesigen Steinsäulen am Eingang nichts. Aber das einzige, was ihn wirklich störte, war das winzige Detail, dass er hier ab sofort ganz alleine ohne seine Familie und Freunde wohnen sollte. Daisuke seufzte kaum hörbar. Er stieg aus dem Auto und wartete geduldig darauf, dass man ihm sein neues Zimmer zeigte. Der Fahrer, der ihn Zuhause abgeholt und hierher gebracht hatte, führte ihn zu einem vom normalen Personenverkehr abgelegenen Aufzug. Er schien gefühlte zehn Stockwerke tief nach unten zu fahren. Wieder etwas, was bei Daisuke noch mehr Fragen aufwarf. Warum versteckte man die Prinzessin so tief unter der Erde? Aber natürlich, korrigierte er sich selbst. Wahrscheinlich war es für die Prinzessin sicherer, so lange er noch ein kleines Kind war. Später, wenn er so stark und talentiert wie sein Onkel Seiichiro war, durfte sie bestimmt wieder mit nach oben. Aber warum hatte man dann nicht gleich seinen Onkel zum Schutz der Prinzessin hergebracht, sondern ihn? Sie verließen den Aufzug und schritten einen scheinbar endlosen Flur entlang. Doch gerade, als Daisuke dachte, das Labyrinth als Gängen nehme kein Ende mehr, standen sie vor einer schlichten Holztür, die sein Begleiter nun aufschloss. „In einer Stunde wirst du zu Prinzessin Hinoto gebracht“, erklärte ihm der Mann. „So lange hast du Zeit, dich frisch zu machen und deine Sachen einzuräumen.“ Er verbeugte sich förmlich vor Daisuke und ließ diesen dann in seinem neuen Zuhause alleine zurück. Daisuke kam sich in dem Zimmer verloren vor, das fast so groß war wie alle Zimmer bei sich zuhause zusammengenommen. Müde ließ er sich auf einer gepackten Kiste nieder und stützte sein Kinn auf einer Hand ab. „Hat man dir erklärt, wie du dich vor Prinzessin Hinoto zu benehmen hast?“ Der Fremde, der sich ihm mittlerweile als Herr Harada vorgestellt hatte, war tatsächlich genau eine Stunde nach seinem Weggang wieder vor Daisukes Zimmer aufgetaucht und hatte den Jungen mit sich genommen. Keine Minute zu spät hatte es an der Tür geklopft und Daisuke geweckt, der erschöpft auf dem Bett eingeschlafen war. „Ja“, antwortete Daisuke höflich. Er trug seine besten Kleider und war bis in die Haarspitzen angespannt. Hoffentlich hatte er nichts von den ganzen Umgangsformen vergessen. Onkel Seiichiro hatte ihm jeden noch so unwichtigen Schritt, den Abstand, den er zu ihr halten musste und jedes einzelne Wort, das er an die Prinzessin richten durfte, bis zum letzten Tag Zuhause eingetrichtert. Es durfte einfach nichts schiefgehen. Er durfte seiner Familie keine Schande machen. Nicht, wenn er nicht wollte, dass er nie wieder zu ihnen zurück durfte. Daisuke schrak aus seinen Gedanken auf, als Herr Harada vor einer Schiebetür, die mit blickdichtem Papier bespannt war, auf die Knie ging. Schnell tat es ihm der Junge gleich und nur wenige Augenblicke später schoben sich die beiden Türen auseinander. Der Mann erhob sich und betrat den Raum dahinter. Daisuke folgte ihm und staunte nach einigen Schritten nicht schlecht. Der Raum war riesig, nicht nur in der Länge und Breite. Die Decke war so hoch, dass er den Kopf in den Nacken legen musste, um sie zu sehen. Was er nach einem strengen Blick von Herrn Harada lieber sein ließ, obwohl es genaugenommen nicht einmal ein strenger Blick war, sondern lediglich eine kurz zuckende Augenbraue, aber das alleine schien Daisuke bereits streng genug. Beinahe hätte er vor lauter Staunen vergessen, wo er eigentlich hingebracht werden sollte. Er senkte den Kopf etwas und gab sich Mühe, mit Herrn Harada Schritt zu halten. Ihre Schritte über den blankpolierten Holzboden verklangen nahezu lautlos in dem hohen Raum, als sie sich einer Art Bühne in der Mitte des Zimmers näherten. Der quadratische Bau erinnerte Daisuke an ein Kabukitheater, nur dass die Bühne hier kleiner war und alle vier Seiten mit bis zum Boden herabgelassenen Bambusrollos verschlossen war. Herr Harada ging gemessenen Schrittes auf die Bühne zu. Zwischen zwei Kerzenleuchtern ging er wieder auf die Knie. Artig folgte Daisuke seinem Beispiel. Die Hände auf den Oberseiten seiner Beine ruhend, wartete er gespannt auf das Erscheinen der Prinzessin, die, wenn er richtig lag, hinter dem Bambusrollo saß. Eine Weile verging, ohne dass etwas geschah. Die flackernden Flammen in den beiden Leuchtern knisterten. Ihr angenehmer Schein tanzte als Kreis auf dem Boden zu Füßen der Leuchter, blähte sich mal auf oder wurde gleich darauf wieder zu Ovalen, je nachdem, aus welcher Richtung ein Luftzug sie in Bewegung versetzte. Daisuke spürte jeden noch so winzigen Hauch, der durch den Raum ging, selbst wenn er zu schwach schien, auch nur ein einziges Blatt in Bewegung versetzen zu können. Ihre Familie sei damit gesegnet worden, hatte Onkel Seiichiro es ihm eines Tages erklärt. Es sei eine wertvolle Gabe, die er jeden Tag üben sollte, damit er ihrer würdig sei. Und wie er geübt hatte. Während seine Freunde in Schulclubs Baseball spielten oder ein Musikinstrument lernten, hatte er alles über den Wind und seine Beherrschung gelernt, was er nur in seinen Kopf hineinbekommen konnte. Angefangen beim einfachen Rufen kleiner Böen, bis hin zu komplizierteren Windmanipulationen. Und auch wenn er nie ein so guter Windmagier wie sein Onkel Seiichiro sein würde, war er der Jüngste ihrer Familie, der je in den Dienst der Prinzessin getreten war. Jener Prinzessin, von der er wenig gehört und bisher noch weniger gesehen hatte. Seine Beine fingen langsam an, unangenehm zu kribbeln und Daisuke verlagerte vorsichtig sein Gewicht. Ein Blick aus den Augenwinkeln von Herrn Harada genügte und Daisuke saß wieder so unbewegt da, wie zuvor. Er traute sich kaum, tiefer ein und auszuatmen, aus Angst, wieder einen dieser eiskalten Blicke dafür zu ernten. Wie machte der Mann das nur? Daisuke sah auf seine Hände hinab. Wollte die Prinzessin sie nicht empfangen? Oder war sie vielleicht krank? Das leise Zischen der sich öffnenden Schiebetüren war wieder zu hören und am liebsten hätte Daisuke sich umgedreht und nachgesehen. Endlich! Ein Schatten, der sich auf ihn und Herrn Harada zubewegte. Daisuke wurde noch nervöser als auch so schon. Seine eingeschlafenen Beine waren vergessen, er wolle endlich die Prinzessin treffen! Herr Harada wandte sich dem Schatten entgegen und Daisuke dachte darüber nach, es ihm gleichzutun, als ihm einfiel, dass das nicht zu den gelernten Etiketten gehört hatte. Was, wenn es ein Test war? Daisuke blieb unbeweglich auf seinem Platz und starrte die tanzenden Lichtkreise auf dem Boden an. Er hörte eine leise Stimme und wie Herr Harada etwas entgegnete, dann entfernte sich der Schatten und gleich darauf hörte Daisuke zu seinem Entsetzen wie sich die Schiebetüren wieder schlossen. Jetzt war sie weg, ohne dass er sie getroffen hatte. Keinen einzigen Blick hatte er auf die Prinzessin werfen können, die er so lange er lebte, vor Schaden bewahren sollte. Daisuke zuckte kurz zusammen, als er die Hand an seiner Schulter spürte. „Komm, die Prinzessin ist zur Zeit unpässlich“, sagte Herr Harada zu dem Jungen, der ihn mit riesigen Augen ansah, die dem Mann eine weitere Erklärung abpressten. „Es geht ihr gut, aber sie hat gerade zu tun. Du wirst ihr ein andermal vorgestellt.“ Tapfer nickte Daisuke. Er erhob sich von seinem Platz und folgte Herrn Harada wie er es schon seit Jahren zu tun schien. Erst als er am Abend alleine in seinem Bett lag spürte Daisuke das erste Mal was Heimweh bedeutete. Er war ja kein Baby mehr, auch wenn er von älteren Kindern schon mal so genannt worden war, aber trotzdem fing er an, seine Familie zu vermissen und sich nach ihr zu sehnen. Kleinigkeiten, wie die Art wie seine Mutter das Essen anrichtete, fielen ihm jetzt besonders stark auf. Hier hatte man ihm heute Abend ein Tablett mit Schüsseln auf den kleinen Esstisch gestellt und Daisuke ging jede Wette ein, dass das mit den anderen Mahlzeiten auch nicht anders aussehen würde. Er war ab jetzt alleine und er würde auch nie mehr wieder in seinem alten Zuhause wohnen, das hatte man ihm bereits gesagt. Er lebte ab sofort hier unter dem Regierungsgebäude, ohne seine Familie und ohne Fenster, das man öffnen konnte, um wenigstens etwas Luft hineinzulassen oder um Nachrichten zu versenden, die nur andere Windmagier verstanden. Sein Onkel etwa. Hastig wischte Daisuke die Tränen von seiner Wange. Er zog sich die Decke bis zu den Ohren hoch und schloss die Augen, damit auch keine einzige Träne mehr entweichen konnte. Die Prinzessin schien längere Zeit unpässlich zu sein, wie Herr Harada es ausgedrückt hatte. Daisuke war nun schon drei Tage hier und man hatte ihn bisher nicht mehr wieder durch den langen Flur in den Raum mit der Bühne in der Mitte gebracht. Er machte sich wirklich langsam Sorgen. Vielleicht war er ja nicht der richtige Beschützer für die Prinzessin und man hatte es erst jetzt gemerkt? Sein Heimweh war auch schon fast völlig verschwunden. Den Teil des Geländes, den er betreten durfte, kannte er auch schon in und auswendig. Besonders den kleinen Park. Er begann sich langsam wirklich zu langweilen. Daisuke, der auf der niedrigen Mauer hockte, in die ein hoher Eisenzaun eingelassen war, streckte seinen Zeigefinger aus und malte einige kleine Kreise in die Luft, die er dann mit Zeigefinger und Daumen wegschnipste. Die Krähen in den Bäumen vor Daisuke erschraken, als ein kleiner plötzlicher Windstoß quasi aus dem Nichts kommend ihr Gefieder aufrüttelte. Schimpfend erhoben sich die Vögel in die Luft. Sie drehten eine Runde um den Baum und ließen sich dann wieder darin nieder. Den grinsenden Jungen nicht weit von ihrem Schlafplatz entfernt, sahen sie nicht. Der hob gerade wieder die Hand und malte Kreise in die Luft. Vielleicht noch ein paar mehr, dachte Daisuke und tat dann genau das. Die Krähen empörten sich weiter lautstark, kehrten aber immer wieder auf ihren Baum zurück, dessen Blätterkrone nun hörbar rauschte. Daisukes Lachen klang höhnisch zu den schwarzen Vögeln, die Mühe hatten, auf den Ästen zu landen, so sehr schwankten diese nun. Ohne auf seine Umgebung zu achten, streckte Daisuke noch einmal den Finger in die Luft. Ein paar größere Kreise wären sicher lustig. Der Staub um Daisukes Füße erhob sich in die Luft und begann, um den Jungen herum zu kreiseln, der nichts von alledem mitbekam. Er sah erst auf, als er Herrn Harada mit seltsam langsamen Schritten auf sich zukommen sah. Der hielt sich eine Hand schützend vors Gesicht, als wehre er etwas ab, und schien mit der anderen wie ein Seiltänzer die Balance zu halten. „Was denkst du, was du hier tust?“, rief Herr Harada und seine Stimme klang dabei wie von weit weg. Verblüfft hielt Daisuke inne. „Ich ärgere nur die Krähen mit etwas Wind“, gestand der Junge. „Mit ein bisschen Wind?“, spie Herr Harada verärgert aus, der nun einige Meter an Daisuke herangekommen war. Im gleichen Moment, in dem der Junge die Hand sinken gelassen hatte, war auch der Sturm, den der Kleine mit seiner Spielerei heraufbeschworen hatte, abgeklungen. Herr Harada strich sich ordnend durch sein durcheinandergeratenes Haar und richtete schnell seine Kleidung. Er hatte sich ganz schön durch das bisschen Wind der Stärke 7 kämpfen müssen. Fünf Minuten hatte er für die Strecke benötigt, die man im normalen Schritt in noch nicht einmal zwei Minuten bewältigt hatte. „Dein bisschen Wind hat riesiges Chaos angerichtet, schau dich doch einmal um!“ Peinlich berührt ließ Daisuke seine Blicke durch den Park schweifen und sah schockiert, was Herr Harada meinte. Die Wege waren voller Laub. Viele Äste in den Bäumen waren abgeknickt und lagen am Boden verstreut herum. Nicht ein einziger Vogel zwitscherte mehr. Da hatte er ja was angerichtet... „Na wenigstens wissen wir jetzt, dass du offensichtlich doch der Richtige für deinen Posten bist“, stieß Herr Harada zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Daisuke errötete unwillkürlich. „Los, komm mit, Prinzessin Hinoto möchte dich sehen.“ Mit diesen Worten machte Herr Harada kehrt und stapfte wütend zurück zum Gebäude. Zum zweiten Mal kniete Daisuke neben Herrn Harada vor dem Podest mit den heruntergelassenen Bambusrollos. Sie warteten seit nahezu zehn Minuten und wie beim ersten Mal, war auch heute kein Lebenszeichen der Prinzessin zu sehen oder hören. Er fühlte, wie seine Beine wieder taub zu kribbeln begannen, doch dieses Mal würde er keinen Blick von Herrn Harada ernten, weil er versuchte, seine Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Dieses Mal würde er so lange sitzen bleiben, bis entweder seine Beine tot waren oder man ihm sagte, dass er sich erheben durfte. Herr Harada saß wie eine Statue neben Daisuke und würdigte ihn keines Blickes. Welche Strafe er nun zu erwarten hatte? Auf dem Weg nach unten hatte er die Verwüstungen gesehen, die der Sturm angerichtet hatte, als er durchs Gebäude fegte und es sogar bis nach unten auf ihre Ebene geschafft hatte. Ein leises Rascheln unterbrach Daisukes stumme Vorwürfe. Zuerst dachte er, dass das Geräusch wieder von der Schiebetür kam, die jemand öffnete, um ihnen auszurichten, dass sie morgen wiederkommen sollten. Heute wäre das sogar seine liebste Variante, aber ausgerechnet heute hob sich der Bambusrollo auf der Vorderseite der Erhöhung. Zentimeter um Zentimeter wurde der Rollo hochgezogen und Zentimeter um Zentimeter senkte Daisuke den Kopf so weit wie möglich, um ja nicht der Prinzessin frech in die Augen zu schauen., was er ohnehin nie wieder zustande bringen würde. Nicht nach dem Sturm heute. Ob sie sich verletzt hatte? Atemlos sah Daisuke zu, wie der Lichtstreifen, der unter dem Bambsrollo hervorkam, auf ihn zuwanderte. Gleich würde er seine Hände erreicht haben, die er vor seinem Kopf auf dem Boden ausgestreckt hatte. Sein Kopf hatte unterdessen den Boden erreicht. Er spürte bereits das kalte Holz auf seiner Stirn. Doch statt des Lichts, legte sich Herrn Haradas Hand in Daisukes Nacken und er fühlte, wie er nach oben gezogen wurde. „Willst du unter dem Holzboden verschwinden?“, flüsterte Herr Harada kaum hörbar. Nur zu gerne hätte Daisuke mit Ja geantwortet. Am liebsten würde er hier unter dem Boden verschwinden. In der Zwischenzeit hatte man den Rollo vollständig gehoben und Daisuke tat nun doch, was er eigentlich hatte vermeiden wollen. Er starrte die Prinzessin an, die Puppengleich in der Mitte des Podests in einem kaum entwirrbaren Kleiderberg thronte. Nur ihr Kopf war zu sehen. Der Rest schien nur aus Stoffbahnen, Bändern und den längsten Haaren, die er je gesehen hatte, zu bestehen. Daisuke spürte Herrn Haradas Blicke auf sich. Sofort senkte der Junge den Blick. Amüsiert hatte Hinoto die Szene vor sich wahrgenommen. Das war also der Junge, der sie ab sofort beschützen sollte? Sie spürte seine entsetzliche Angst, vor dem, was ihm nun bevorstand, dabei wusste er überhaupt nicht, was ihm alles bevorstand. Hinotos Mundwinkel bogen sich zu einem gütigen Lächeln, das von einem Paar schüchtern zwischen Haarsträhnen hervorblinzelnden Augen gesehen wurde. Am liebsten hätte sie ihn weggeschickt. Hinotos Lächeln verlor sich auf ihrem Gesicht und nun war sie es, die die Lider senkte. Er sollte aufstehen und wegrennen, sich nie mehr wieder umschauen oder gar zurückkommen. Daisuke, der reglos auf die ersten Worte der Prinzessin wartete, fühlte einen Schauer seine Arme hinaufkriechen. Dann nahm er die Stimme der Prinzessin wahr, die in ihm drin erklang wie ein von der Luft angestoßenes Windspiel. Wie Wellen, die über Wasser zogen wurde ihre Stimme zu ihm gespült, ohne dass sie überhaupt den Mund öffnete, wie Daisuke nach einem erneuten schnellen Blick feststellte. „Du bist also Daisuke Saiki, der kleine Windmagier?“ Ratlos sah Daisuke zu Herrn Harada hinüber. Musste er seine Antwort laut geben oder verstand sie ihn auch so? Warum sah Herr Harada nicht zu ihm? Ausgerechnet jetzt? Hinotos Lachen perlte in seine Gedanken und Daisuke fürchtete, dass er sich gerade furchtbar lächerlich machte. „Ganz und gar nicht“, versicherte ihm Hinoto heiter. Eine kleine Pause entstand, die sich wie Windstille anfühlte. Dann ertönte die Stimme der Prinzessin erneut. „Du hast dich verletzt. Lass es nachher von Herrn Harada behandeln.“ Woher wusste sie das nur? Daisuke hob den Kopf. Nicht einmal Herr Harada hatte etwas davon gemerkt, so gut hatte Daisuke den Schnitt in seinem Nacken unter seiner Kleidung verborgen. Er hatte nicht einmal das Gesicht verzogen, als Herr Harada ihn genau an der Stelle gepackt hatte, um seinen Kopf anzuheben. „Werde ich tun, Hoheit“, stotterte Daisuke hilflos und verstummte gleich darauf wieder. „Es freut mich, dich kennenzulernen“, fuhr Hinoto fort. „Vielen Dank für dein Geschenk.“ Sie hob die Hand und Daisuke erstarrte. Wie meinte sie das mit dem Geschenk? Er hatte ihr keines gemacht. Meinte sie das etwa nicht ernst? Hinoto drehte ihre geschlossene Faust mit der Handfläche nach oben und öffnete ihre Hand. Darin lagen die weißen Blütenblätter einer Kamelie. „Ich hatte noch nie eine Blüte in der Hand“, setzte Hinoto ihre Rede fort. „Sie sind so weich und duften so herrlich. Und durch dich haben sie ihren Weg bis hierhin zu mir gefunden. Ich bin dir sehr dankbar, mein kleiner Beschützer.“ Daisuke hatte verblüfft geschwiegen. Sein Kopf war vollkommen leer. Er bemerkte nicht einmal Herrn Haradas irritierte Blicke. Daisuke kam sich vor, wie in einer parallelen Welt. Irgendwo auf dem Weg nach unten zu Prinzessin Hinoto musste er in ein Kaninchenloch gefallen und in irgendeinem seltsamen Land gestrandet sein. Und er wollte hier nie wieder weg. „Ich habe dich schon erwartet.“ Hinotos Stimme klang nach einer Mischung aus Belustigung und Aufregung. Aufgeregt war sie in der Tat. Immer zur gleichen Zeit im Jahr. Und belustigt war sie, weil der Windmagier vor ihr auf dem Boden kniete, als wäre es sein erster Tag hier, statt das siebte Jahr. „Warum so förmlich?“, hakte sie nach und lachte über Daisukes prompt errötende Wangen. Ein Vorgang, den er sich nie hatte abgewöhnen können, egal wie lange und gut sie sich nun auch schon kannten. Insgeheim erleichtert erhob sich Daisuke aus seiner Position. Er hatte ständig den Eindruck, alles, was er besonders gut machen wollte, besonders treffsicher zu verhauen. Vor allem in Hinotos Nähe und sei es nur in seinen Gedanken. Daisuke trat näher zu Hinoto, die auf ihrem Podest saß und ihm erwartungsvoll ihre Hände entgegenstreckte. Er hob die Hand und legte den mitgebrachten Zweig in ihre ausgebreiteten Hände. Sofort schloss sie ihre zarten Finger um die Pflanze, ohne auch nur ein Blatt zu krümmen. Ihre behutsamen Fingerspitzen tasteten jeden Millimeter des dünnen Astes ab, an dem sich mehrere in verschiedenen Stadien aufgeblühte Blüten und ein paar geschlossene Knospen befanden. So sachte, als könne ihre Berührung ihnen wehtun, strichen Hinotos Finger über jede einzelne Blüte, deren Blätter so samtig weich waren, wie es nicht einmal die beste Seide schaffte. „Letztes Jahr hast du mir gelbe Kamelien gebracht. Welche Farbe haben sie dieses Jahr?“ Hinoto lächelte. Sie wollte es unbedingt aus Daisukes Mund hören, auch wenn seine Seele es ihr schon längst in dem Moment, als er den Zweig pflückte, verraten hatte. Daisuke schwieg kurz nachdenklich. Sollte er es ihr wirklich sagen? Sie kannte die Antwort doch schon. Wenn er es aussprach wusste er, dass er diesen Augenblick nie mehr wieder rückgängig machen würde. Sein Herz machte einen aufgeregten Sprung, als sie den Zweig vor ihr Gesicht hielt, an den Blüten roch und sie an ihre Wange schmiegte. Sie waren rot. Rot wie ihre Lippen. Rot wie jeder einzelne Tropfen Blut, den er für sie vergießen würde, um sie zu beschützen, selbst wenn es seinen eigenen Tod bedeuten würde. „Rot“, entgegnete Daisuke schließlich mit fester Stimme. Ein liebevolles Lächeln war die Antwort, die er bekam. „Ich finde auch, dass es dieses Jahr Zeit für rote Kamelien ist.“ Ihre Hand ergriff zielsicher Daisukes Hand, den bei dieser Berührung ein heftiger Schmerz durchfuhr, so sehr hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt. Widerstandslos ließ er sich von Hinoto auf das Podest ziehen, bis er neben ihr saß. Ihre kleine schmale Hand, die nun über seine Wange glitt, strich mit jeder einzelnen Berührung sämtliche seiner Ängste hinweg und ließ sie unumkehrbar verschwinden. Und ihre Lippen, die sich sachte und warm wie der erste Frühlingswind nach einem strengen Winter auf seine legten, heilten jeden einzelnen Zweifel.   ֍ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)