Liebe führt, wie zu erwarten, zu Dummheiten von Lyndis ================================================================================ Kapitel 1: Rote Augen --------------------- Es war Reis erster Schultag, seine erste große Pause und schon jetzt musste er sich vor einer Traube Mädchen in Sicherheit bringen. Innerlich seufzte er, als er endlich eine ruhige Ecke gefunden hatte, in der er durchatmen konnte. Es war doch immer das selbe! Manchmal hatte er wirklich das Gefühl, dass nur diejenigen, die keine Beziehung wollten, bei Mädchen wirklich landen konnten. Echt merkwürdig und es war wirklich überall das selbe. Hier in Japan genau wie vorher in China und Amerika. Langsam sollte er sich eigentlich daran gewöhnt haben, sollte es eigentlich sogar erwarten, aber es überraschte und überrumpelte ihn immer wieder. Er war eigentlich eher der stille Typ und konnte so viel Trubel eigentlich gar nicht gebrauchen Es war schön in eine Klassengemeinschaft aufgenommen zu werden, aber er brauchte zu seinen Mitmenschen einfach ein wenig Abstand und so viel Aufmerksamkeit wollte er auch nicht. Wahrscheinlich würden seine Eltern sowieso bald wieder umziehen. Normalerweise hatte er nicht wirklich mehr als ein Jahr Zeit um sich hier wohl zu fühlen. Enge Freundschaften oder sogar Liebschaften wollte er da gar nicht erst anfangen. Zumindest nichts, was tiefer ging. Jetzt aber schien er erst einmal seine Ruhe zu haben, warum auch immer. Denn außer einem Baum, war hier nichts, was die anderen davon abgehalten haben könnte, ihm nicht mehr nach zu laufen. Egal. Hauptsache erst mal allein. So ließ er sich an der Seite des Baumes herab, von der aus man ihn vom Schulhof aus nicht sehen konnte und packte sein Frühstück aus. Er machte sich sein Frühstück für gewöhnlich selbst und versuchte sich an die Gepflogenheiten in der Gegend anzupassen. Ein richtiges chinesisches Frühstück war zwar nicht zu überbieten, aber ein japanisches Bento kam dem schon nahe genug. In Amerika war es schlimm gewesen. Schulbrote... urg. Am Anfang hatte er sich wirklich daran gehalten um nicht auf zu fallen, aber nach zwei Wochen belegtem Brot und vielleicht einem Apfel, hatte er aufgegeben. Jetzt verspeiste er erst einmal freudig sein mitgebrachtes Essen, wurde dabei aber von einem Geräusch über sich aus seinen zufriedenen Gedanken gerissen. "Hm?" Erstaunt hielt er in seinem tun inne und starrte nach oben. Da lag ein Kerl auf einem Ast. War das erlaubt? Wer war das überhaupt? Wohl jemand der Ruhe genauso gerne wie er selbst genoss. Er schluckte seine Neugierde herunter. Wenn der andere auch seine Ruhe wollte, sollte er ihn nicht stören. Er würde schon ein Gespräch anfangen, wenn er eins führen wollte, schließlich war der wahrscheinlich schon länger da oben. Er selbst hätte bemerkt, wenn der andere neben ihm den Baum empor geklettert wäre. Kurz stocherte Rei etwas in seinem Frühstück herum. Warum wohl kein Lehrer dafür sorgte, dass dieser Kerl vom Baum kam? Das war doch gefährlich und deshalb wahrscheinlich innerhalb des Schulgeländes untersagt. Kurz lugte er hinter dem Stamm hervor auf den Schulhof. Das war doch ein wenig verwunderlich... jeder schien einen großen Bogen um diesen Teil des Geländes zu machen. Rei legte die Stirn in Falten. War das eine verbotene Zone? Aber dann würde ihn ein Lehrer doch darauf aufmerksam machen, oder? Aber selbst die Aufsichtspersonen schienen einen weiten Bogen um den Baum zu machen. Noch einmal wanderte Reis Blick nach oben. Ob das an diesem Kerl lag? Was war das nur für ein Junge, wenn er sogar Lehrer dazu brachte ihn zu meiden? Irgendwie gruselig... aber auch interessant. Wer das wohl war? Gerade als sich Rei wieder seinem eigentlichen Tun zuwenden wollte, nahm er eine Bewegung wahr. Der Junge über ihm schwang sich von seinem Ast und landete genau neben ihm. Mit eiskalten Augen sah er den Sitzenden an, durchbohrte ihn förmlich mit seinem Blick. Und was für Augen! Reis helle, fast gelbe Augen, waren schon sehr außergewöhnlich, aber die Augen dieses Kerls waren feuerrot! Nur brannte in ihnen nicht das erwartete Feuer. Die Farbe war stumpf, leblos und kalt. "Verschwinde!" Die Stimme des Fremden war genauso schneidend wie sein Blick. Rei erschauerte unangenehm. Der Typ war wirklich angsteinflößend. Er schien nicht besonders groß zu sein, aber er hatte breite Schultern und muskulöse Arme. Die Selbstbewusste Haltung vervollständigte das Bild und ließ ihn eine unglaubliche Autorität ausstrahlen. Aber so schnell ließ Rei sich nicht einschüchtern. Warum auch? Er würde sich wohl kaum hier mit ihm prügeln... oder? "Ist wohl kaum dein Baum." Reis sonst so sanfte Stimme hatte ebenfalls einen kühlen Unterton angenommen. Was der konnte, konnte er auch. "Oh doch. Und jetzt hau ab, sonst werde ich ungemütlich!" Belustigt konterte Rei sofort: "Und dann? Dann fliegst du von der Schule, weil du 'deinen Baum' beschützen wolltest. Sehr erstrebenswert." Aber die erhoffte Aufgabe seitens des anderen blieb aus. Stattdessen verzogen sich dessen Lippen zu einem übermütigen, kalten Lächeln: "Lehrer interessieren sich für keine Straßenköter." Zuerst wollte Rei aufbegehren wegen dieser Beleidigung, doch er hielt inne. Das hatte der andere nicht auf ihn, sondern auf sich selbst bezogen, oder? Die Lehrer gingen ihm ja tatsächlich aus dem Weg und die Schüler wohl auch, aber warum bezeichnete er sich selbst als 'Straßenköter'? Warum setzte er sich selbst so herab? "Lebst du etwa auf der Straße?", rutschte es dem Chinesen versehentlich raus. Im nächsten Moment fühlte er sich am Kragen gepackt und grob hoch gehoben. Der andere presste ihn so fest gegen den Baumstamm, dass er kaum noch Luft bekam. Verdammt, der sah nicht nur so aus als hätte er mehr Kraft als ihm gut tat. Rei ächzte kurz, erwiderte den lodernden Blick seines Peinigers aber weiterhin. Eigentlich wollte er sich an seinem ersten Schultag nicht gleich mit irgendwem anlegen, aber wenn der Idiot weiter so fest zudrückte, blieb ihm keine Wahl. "Hör zu, Schlitzauge!" Erst jetzt fiel Rei auf, dass der andere ganz und gar nicht asiatisch aussah. Sein sonst so auffälliges Aussehen hatte irgendwie von seinem Gesicht abgelenkt. Er sah eher europäisch aus. "Du kannst von Glück sagen, dass du neu hier bist. Aber noch so ein scheiß Spruch und es setzt was! Und jetzt verschwinde endlich!" Er zog Rei leicht an sich nur um ihn dann unsanft von sich und in Richtung Schulhof zu stoßen. "Mann Rei, da hast du aber echt Glück gehabt." Ein Mädchen war sofort zur Stelle gewesen und hatte den etwas verdutzten Neuzugang wieder eingesammelt und führte ihn jetzt von dem Baum weg. "Glück?", fragte Angesprochener etwas dümmlich, noch immer verwirrt über seine Schultern sehend. Der Fremde Junge sprang mit einer fließenden Bewegung wieder auf den Ast und verschwand somit aus Reis Blickfeld. "Ja! Das war Kai. Er ist ein ganz übler Schläger. Hat dich denn niemand gewarnt?" Offensichtlich nicht, dachte Rei nur bei sich und seufzte. "Ich wär' im Notfall schon mit ihm fertig geworden.", versuchte er das Mädchen zu beruhigen. Das war's dann wohl mit dem Abstand. "Er soll mal einen Sportlehrer Krankenhausreif geschlagen haben.", whisperte das Mädchen jetzt verschwörerisch, was Rei nur dazu veranlasste eine Augenbraue zu heben. "Aha.", machte er ungläubig. "Und warum soll er das gemacht haben?" Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern und sagte in einem viel zu desinteressierten Tonfall: "Angeblich soll der Lehrer ihn unter der Dusche angefasst haben nach dem Sportunterricht." Rei wusste nicht, was er dazu sagen sollte, warf aber noch einmal kurz einen Blick zurück zu dem Baum. Das waren interessante Neuigkeiten, wenn auch nicht minder bedrückend. Dennoch sagte es, dass Kai wirklich Kraft haben musste, wenn er sich mit einem Lehrer anlegen konnte. Vielleicht sollte er sich doch von ihm fern halten, auch wenn er zu gerne wüsste, ob die Gerüchte stimmten. Er war von Natur aus neugierig. Wie eine Katze, sagte man ihm oft nach. Aber Neugierde war hier eher zweitrangig. Er hatte das Gefühl, dass mehr dahinter steckte und wenn die Geschichte stimmte, dann hatte sich Kai nur gewehrt, sonst nichts. Dann war er kein Schläger sondern nur ein missverstandener Junge dem übel mitgespielt wurde. "Schau nicht so Kon, der ist eh schwul. Selbst wenn der Lehrer das gemacht hat, war das sicherlich freiwillig." ... Was war das denn für eine Begründung bitte? Und Rei hatte immer geglaubt, dass er selbst mit beschränkten Vorstellungen aufgewachsen war und deshalb heute noch vieles als komisch erachtete. Seine Eltern waren beide, auch wenn sie fast nie da waren, sehr streng in ihrer Erziehung. Zudem waren sie recht.. wie nannte man das?... konservativ. Sie würden niemals erfahren, dass Rei bisexuell veranlagt war, lieber würde er sterben. Dennoch.. er wusste genau, dass solche dummen Aussagen nur dazu führten, dass Missverständnisse aufkamen und Gerüchte wie eben dieses eben. Es gab nur eine handvoll Fälle in denen sich Schüler wirklich freiwillig auf Lehrer einließen und unter diesen Beziehungen gab es einen noch viel geringeren Prozentsatz, die gleichberechtigt abliefen. In Amerika hatte er viel darüber gelernt. Rei wusste noch immer nicht was er sagen sollte und schwieg lieber. Bei Gelegenheit würde er sich diesen Kai mal näher ansehen. Jetzt aber läutete die Schulglocke und sie mussten zum Unterricht. Kapitel 2: Kaltes Feuer ----------------------- Es war schwierig in dieser Klasse mal seine Ruhe zu haben. Oder eher in dieser ganzen Schule. Umso erstaunter war er immer wieder, dass dieser Kai es so gut schaffte sich von den anderen abzukapseln. Mittlerweile wusste er, dass er in einer der Parallelklassen war, die untereinander auch sehr viel miteinander zu tun hatten. Der Junge mit den roten Augen ging ihm auch die restliche Woche nicht aus dem Kopf, er versuchte aber, sich das nicht anmerken zu lassen. Er war nicht scharf darauf, dass durch eine Dummheit heraus kam, dass er auch durchaus etwas mit Männern anfangen konnte und Menschen merkten erstaunlich schnell den Unterschied zwischen normaler Neugierde oder normalem Interesse und dem Wunsch einem anderen näher kommen zu können. Er wollte sicherlich nichts von Kai, aber er bemerkte selbst, dass der andere ihn auf gewisse Art und Weise faszinierte. Das konnte unglaublich schnell zu Missverständnissen führen. Glücklicherweise erfuhr er auch so genug von dem Anderen, wenn auch nur Gerüchteweise und enorm oberflächlich. Wenn er die Informationsstückchen die er so aufschnappen konnte, weil sich jeden Tag ein anderer über den stillen Jungen und dessen Verhalten aufregte, zusammensetzte, dann war der mal ein ganz übles Mobbingopfer gewesen, nachdem er aus Russland her gekommen war, bis er irgendwen mal krankenhausreif geschlagen hatte. Seitdem wurde er wohl in Ruhe gelassen. Die Angaben zu diesem Opfer waren dabei aber komplett unterschiedlich und so musste Rei vermuten, dass nicht nur einer dran hatte glauben müssen. Insgesamt war er sich nicht ganz sicher, was nun wirklich stimmte. Vielleicht war Kai auch nie gemobbt worden, vielleicht war er tatsächlich nur ein Schläger. Man sagte ihm sogar nach, er würde sich Ritzen, weil man wohl mal einige Narben an dessen Armen gesehen hatte. Aber jeder Besitzer von Tieren wie Katzen wusste, dass das nicht unbedingt von Selbstverletzendem Verhalten herstammen musste. Alles in allem hatte er also viel gehört, wusste aber noch immer gar nichts. Nun ja. Wahrscheinlich sollte er sich da auch raus halten. Das ging ihn nichts an und in einem Jahr würde er hier sowieso nichts mehr mit zu tun haben, also sollte er es dabei belassen. Bei diesem Gedanken musste Rei seufzen. Dummerweise war er unglaublich neugierig und hatte sich schon immer für Außenseiter und allgemein auffällige Verhaltensweisen interessiert. Er würde sich nicht von ihm fern halten können und irgendwie musste er sich das eine Jahr über ja auch beschäftigen, nicht? Jetzt stahl sich ein kurzes Schmunzeln über seine Lippen. Das war die hellere Seite der Medaille: Da er sowieso nur eine begrenzte Zeit hier war, konnte er eigentlich tun was immer er wollte. Er war nicht an soziale Zwänge gebunden und nutzte diese Tatsache gerne mal für sich. Ein paar Monate später wäre er in einem anderen Land, weit weg von allen Problemen die er provoziert hatte. Er versuchte das eigentlich zu vermeiden, aber manchmal wie im Moment, juckte es ihm in den Fingern damit anzuecken, sich einfach für diesen Jungen zu interessieren. Aber noch traute er sich nicht wirklich und wusste eigentlich auch gar nicht, wie er das überhaupt anfangen sollte. Aber es war ja erst eine Woche um, es war noch Zeit. Es war Samstag als er die Wohnung verließ, in der er derzeit mit seinen Eltern wohnte, und sich daran machte die Stadt zu erkunden. Sie waren zwar schon über einen Monat hier, aber die Stadt war groß und in der Wohnung fiel ihm so allein die Decke auf den Kopf. Er war schon immer ein Mensch gewesen, der gerne draußen war, gerne neue Orte erkundete und so war es zu einem regelmäßigen Hobby geworden. Wie immer hatte er sich zwei Bücher, etwas zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen mitgenommen um, wenn er einen schönen Platz gefunden hatte, dort ein wenig zu verweilen. Er wanderte erst eine ganze Weile durch die Stadt selbst, ehe es ihn dann doch eher nach außerhalb zog. Den Kern kannte er schon recht gut, es war endlich an der Zeit, die äußeren Viertel zu erkunden. Nachdem es ihn erst in einen wohl recht alten, etwas heruntergekommenen Stadtteil verschlagen hatte, in dem er sich gar nicht wohl fühlte, fand er sich irgendwann in einer recht noblen Gegend wieder. Es waren keine sündhaft teuren Villen zu sehen, aber doch durchaus gehobenere Familienhäuser. Es hatte einen leichten Vorstadtflair, schien aber weitaus anonymer und weniger Klischeehaft zu sein. Keine gerade angelegten Straßen mit immer den gleichen Häusern und immer den gleichen Vorgärten wie man es typischerweise aus Amerika kannte. Nein, es wirkte eher wie ein größeres 'natürlich gewachsenes' Dorf nur bestehend aus noblen, gut gepflegten Häusern. Sehr interessant. Neugierig sah er sich etwas um. Die Atmosphäre hier schien angenehm, er fühlte sich keinesfalls beobachtet und wenn mal ein Mensch seinen Weg kreuzte, beachtete der ihn nicht. Ganz das Gefühl einer Großstadt also. Sehr angenehm, wie er zugeben musste. Er war sicherlich eine Stunde durch diesen Teil seines neuen Wohnortes geschlendert, als er einen großen Park entdeckte. Sofort ergriff ihn eine angenehme Aufregung, die er immer empfand, wenn er einen potentiellen neuen Lieblingsplatz entdeckte. Er liebte Stadtparks in solchen Vierteln. Meistens sahen sie sehr natürlich aus, waren einladend mit vielen Möglichkeiten sich an einem versteckten Plätzchen nieder zu lassen und einfach die Seele baumeln zu lassen. Hoffentlich war das hier auch so ein Park! Mit schnellen, fast schon ungeduldigen Schritten betrat er das Stück Natur, die kleine Oase mitten in der Asphaltwüste. Sofort fühlte er sich wesentlich wohler! Er war in einem winzigen Dorf in China aufgewachsen, immer umgeben von purer Natur, da war so ein Fleckchen wie der Himmel für ihn. Hoffentlich hielt der Ort, was er versprach. Auch nach fast einer halben Stunde stellte sich kein bisschen Enttäuschung bei dem Schüler ein. Der Park schien riesig, sehr weitläufig und er würde sicherlich einige Tage damit zubringen können ihn näher zu erkunden. Sicherlich würde es einige hervorragende Plätze geben, an die er sich zurück ziehen konnte. Jetzt aber gab er sich damit zufrieden sich an ein Geländer zu lehnen und von einem kleinen Vorsprung aus einen Garten zu betrachten, der mitten in dem eher natürlich gewachsenen Terrain extra angelegt worden war. Kurz stahl sich ein eher trauriges Lächeln über Reis Gesicht, als ihm ein Zitat in den Sinn kam, dass sich wie automatisch aus seinem Mund stahl: "Wir müssen die Natur nicht als unseren Feind betrachten, den es zu beherrschen und überwinden gilt, sondern wieder lernen, mit der Natur zu kooperieren." Er zuckte zusammen als er nur unweit neben sich eine Stimme hörte, die sich ihm auch noch langsam näherte: "Sie hat eine viereinhalb Milliarden lange Erfahrung. Unsere ist wesentlich kürzer." Verwundert wandte er sich zu der Stimme um und erstarrte regelrecht. Er hätte mit vielen Menschen gerechnet, aber nicht mit ihm: Kai. Der Junge lehnte sich neben ihn an das Geländer und schaute nun seinerseits nach unten über den Garten. "So ernste Worte, bei einem so schönen Anblick." Die Worte kamen kühl und überlegt über die Lippen des anderen und verwirrten Rei damit endgültig. Abschätzend musterte er den Neuankömmling, der im Gegensatz zu der Begegnung vor einer Woche diesmal ganz ruhig schien. Er strahlte immer noch eine gewisse Autorität und Kühle aus, wirkte aber so viel entspannter, dass sich Rei kurz nicht sicher war, ob das die selbe Person war. Er wusste nicht genau was er tun sollte, allerdings war das wohl die einzige Gelegenheit die sich ihm in nächster Zeit bieten würde. So verdrängte er die finsteren Gedanken und den Ärger darüber, dass Kai sich gerade ganz normal verhielt, obwohl er ihm vor ein paar Tagen noch mit Prügel gedroht hatte. Er sah wieder hinunter als er bedacht antwortete: "Aber es ist doch wahr, nicht? Die Menschen müssen immer allem eine Form verleihen, müssen die Natur mit in diese Formen zwängen, statt ihr einfach freien Lauf zu lassen. Ich finde diesen Anblick nicht besonders schön, auch wenn er eine gewisse Ästhetik mit sich bringt. Es ist der Versuch die Welt und besonders die Natur nach einem System zu ordnen, in das sie einfach nicht hinein passt. Und wie du so schön ergänzt hast, bilden wir uns auch noch ein etwas schöneres aus Bestehendem zu kreieren, das wesentlich mehr Erfahrung hat als wir." "Hm." ... Rei hatte mehr als eine solche Antwort erwartet, wenn der Andere schon ein Zitat von ihm vervollständigte und mit sogar einem zusätzlichen Satz ein Gespräch anfing. Er legte die Stirn etwas ratlos in Falten, konnte aber nicht verhindern, dass Kai nur immer interessanter für ihn wurde. Er wäre wohl ein wenig enttäuscht gewesen, wenn der ihm jetzt sein Herz ausgeschüttet hätte. "Es gibt nicht viele, die dieses Zitat einfach so vervollständigen können." Aus den Augenwinkeln sah Rei, wie der Andere nur die Schultern zuckte. "Kennst du sonst noch was von Hans-Peter Dürr?", versuchte er es weiter. "Nur das Zitat über Materie." Reis Augen weiteten sich: "Auswendig?" Wieder ein Schulterzucken, doch diesmal antwortete Kai: "Schon." Nein, besonders gesprächig war der wirklich nicht, aber die Antwort war mehr als erstaunlich. Er kannte das Zitat auch, nur nicht auswendig. Irgendwas von Materie und dass es die eigentlich gar nicht gab, sondern nur ein Konstrukt aus Beziehungen... oder so ähnlich. "Interessierst du dich für Physik?", fragte Rei deshalb verwundert. "Ein wenig." Rei schwieg eine Weile, weil er nicht genau wusste, was er sagen oder wie er weitermachen sollte. Doch gar nichts mehr zu sagen kam nicht in Frage, denn vielleicht ergab sich das hier nie wieder. Er wollte Kai besser kennen lernen, aber wie? Nachdenklich betrachtete er die Menschen unter sich und dachte nach. Kai sprach kaum, wie konnte er ihn also aus der Reserve locken? Und das ohne ihn gleich wieder zu verschrecken? Rei war sich sicher, dass erauf die Frage, warum er denn plötzlich geradezu freundlich war, nicht antworten würde, ja, wahrscheinlich sogar einfach wieder gehen würde. Aber was sonst? Es fiel ihm schwer an etwas anderes als diese Frage zu denken. Vielleicht sollte er es aus einem anderen Blickwinkel versuchen und ein wenig provozieren: "Du verscheuchst mich ja diesmal gar nicht." Er bemerkte wie Kai leicht den Kopf in seine Richtung drehte und ihn aus den Augenwinkeln prüfend ansah, also weiter. "Ist wohl nicht 'dein' Park." Er betonte das 'dein' absichtlich ein wenig, versuchte so zu provozieren ohne den anderen gleich in eine Ecke zu drängen. Er stichelte nur ein wenig. "Nein", kam die trockene Antwort und Kai wandte sich wieder ganz dem Treiben unter sich zu. Rei musste wirklich fast lachen, verkniff es sich aber extra, damit er nicht den Eindruck erweckte, sich über ihn lustig zu machen. Er mochte diese trockene, direkte Art und empfand sie je nach Situation als sehr erheiternd. Das hier war so eine Situation. Dennoch war er leider nicht weiter gekommen. Sollte er noch weiter gehen? Dann würde er sich aber gefährlich nahe an einer Grenze bewegen, die er eigentlich auf keinen Fall überschreiten wollte. Er wollte nicht verletzend werden, aber dennoch kribbelte es ihm so sehr in den Fingern.. oder eher der Zunge. "Wohnst du etwa hier?" Damit spielte Rei eindeutig auf die Frage von vor einer Woche an, die ihm versehentlich heraus gerutscht war. Die Frage danach, ob er auf der Straße lebte und sich deshalb selbst als 'Straßenköter' bezeichnete. "Ja." "Was? Hier... hier im Park?" Ein knurren drang an sein Ohr, als er sich verwundert zu Kai umwandte, ihn mit großen, verwirrten Augen ansah. Lebte der Junge etwa tatsächlich auf der Straße? Nach dessen Reaktion hatte er das eigentlich nicht mehr erwartet gehabt. Feuerrote Augen trafen ihn wie zwei Blitze. Es war nicht wie in der Schule. Sie sahen anders aus. Wut brachte sie zum lodern, auch wenn es noch immer kalte Flammen waren, sie waren vorhanden. War das vielleicht doch nicht Kai? "Ich hab dir doch gesagt du sollst mit diesen dummen Behauptungen aufhören! Willst du doch noch Ärger? Der Welpenschutz ist langsam ausgeschöpft!" Wie so oft in letzter Zeit, war Rei sich nicht sicher, was er sagen sollte. Er war sich auch nicht sicher, ob Kai das jetzt sagte, weil er es verleugnen wollte, oder weil er tatsächlich nicht obdachlos war. Der Blickkontakt dauerte aber nur einige Sekunden, ehe Kai wohl zufrieden wieder über die Brüstung blickte. Das musste man nicht verstehen, oder? "Hör auf so dumm zu grinsen." Rei stutzte ehe ihm auffiel, dass er den anderen immer noch ansah und dabei wohl angefangen hatte zu schmunzeln. Schnell wandte er den Blick wieder ab, zurück auf die Blumenbeete und versuchte, das Lächeln aus seinem Gesicht zu bekommen. Das wollte ihm aber nicht so recht gelingen. Nicht mehr jetzt, wo ihm klar war, dass er einen Menschen getroffen hatte, der weitaus interessanter war, als die meisten anderen seiner Bekanntschaften. Sie standen einfach nur da, sahen sich das Treiben unter ihnen an, bis die Sonne sich langsam dem Horizont zuwandte. Es war angenehm einfach neben Kai zu stehen. Es war keine unangenehme Ruhe, die der Junge ausstrahlte. Nicht hier. Nicht außerhalb der Schule. Die Frage, warum er hier so viel netter war, war zwar immer noch nicht geklärt, aber Rei hatte beschlossen, es erst einmal einfach so hin zu nehmen. Auch wenn das ein merkwürdiges Gefühl war. Er hatte noch nie jemandem verziehen ohne, dass der sich nicht wenigsten entschuldigt, oder zumindest Reue gezeigt hatte. Kai nahm es einfach als selbstverständlich hin zu ihm zu spazieren und ein Gespräch zu beginnen. Das passte nicht zu Reis Moralvorstellungen und erst recht nicht in seine Vorstellung von anständigem Sozialverhalten. Deshalb einigte er sich auch darauf, dem Anderen nicht zu verzeihen, aber den Groll ob seiner Tat erst einmal fallen zu lassen. Es war ein kleiner Vertrauensvorschuss und er würde sehen, ob er den eines Tages bereuen würde. Jetzt im Moment war es ganz friedlich. "Es wird bald dunkel", kam es überflüssigerweise von seinem stummen Gesprächspartner. "Und?" Aber eine Antwort bekam Rei nicht mehr. Seltsamer Kauz, aber er schien nicht der Typ zu sein, der etwas ohne jeglichen Hintergrund einfach so sagte. Was also konnte er gemeint haben? "Ich muss nicht heim.", meinte Rei dann aber nachdenklich und schien die Absichten des Anderen getroffen zu haben. Der sah ihn kurz von der Seite aus an. "Meine Eltern kommen erst in ein paar Tagen wieder nach Hause. Es wartet also niemand mit Essen oder so." Wieder herrschte Schweigen. Wieder wandte sich der andere Junge von Rei ab. Das war wirklich schwer. "Was ist mit dir?", fragte er dann. "Du scheinst es auch nicht eilig zu haben. Wartet auf dich auch niemand?" Nun, wenn Kai tatsächlich im Park lebte, war das wohl eine logische Schlussfolgerung, aber letztendlich war es ein weitere kläglicher Versuch von Rei, irgendwelche Informationen zu bekommen. "Nicht hier.", war die trockene Antwort. "Wo dann?" "Moskau." Bei dem dunklen Tonfall iwurde es dem Chinesen richtig flau im Magen. Warum? "Warum bist du dann nicht dort?" Kai antwortete nicht mehr. Kapitel 3: Stumpfe Leere ------------------------ Schnell hatte Rei heraus gefunden, dass Kai immer samstags in dem schönen Park war. Aber eben nur samstags, was darauf schließen ließ, dass der andere doch irgendwo eine Wohnung oder etwas ähnliches hatte. Das beruhigte den jungen Chinesen ungemein, hatte er sich doch wirklich etwas Sorgen gemacht. Sie trafen sich jetzt schon fünf Wochen jeden Samstag in dem kleinen Stückchen Himmel und unterhielten sich sporadisch. Es ging nie wirklich um etwas persönliches, was Rei bedauerte, aber es blieb ja noch Zeit. Meist nahm er selbst sich ein Buch mit oder Sachen zum Lernen und teilte sein mitgebrachtes Essen mit dem anderen. Schmunzelnd erinnerte sich Rei an das erste Mal, dass er Kai etwas davon angeboten hatte. Der Junge hatte ihn angesehen, als würde er erwarten, man wolle ihn vergiften. Als er angefangen hatte deshalb zu lachen, hatte Kai sich eines der Sandwiches geschnappt und hatte sich beleidigt auf einen Ast geschwungen. Der Russe saß gerne auf Ästen, wie ein Vogel, und beobachtete von seinem erhabenen Platz aus abwechselnd den Himmel über und die Erde unter sich. Rei hatte versucht Kai dazu zu bringen ihm eine Stadtführung zu geben, doch der war gar nicht darauf eingegangen, wie bei allem, was ihm wohl unangenehm war zu beantworten. Dann sagte er einfach gar nichts mehr. Das war eine Verhaltensweise, an die man sich einfach gewöhnen musste und das tat Rei, schließlich wollte er Kai nicht verändern, sondern ihn einfach nur kennenlernen. So war dieses Treffen einmal die Woche jedes mal wieder ein kleines Highlight, denn, auch wenn sie eigentlich kaum miteinander redeten, war die einvernehmliche Stille zwischen ihnen doch sehr angenehm. Eines verstand Rei nur noch immer nicht. In der Schule war Kai wirklich komplett anders. Er konnte das gar nicht richtig nachvollziehen. Es gab eigentlich nur eine, für ihn logische, Erklärung: Kai wollte sein Image als Bad Boy aufrecht erhalten. Nur einmal hatte Rei es gewagt, nach ihrem dritten oder vierten Treffen außerhalb der Schule, während der Pause zu dem jungen Russen zu gehen, ihn kurz freundlich zu grüßen und sich dann unter dessen Baum zu setzen. Großer Fehler. Kai hatte ihn grob wieder auf die Beine gerissen, ihn angeschrien und wie am aller ersten Tag von sich und wieder auf den Schulhof geschleudert. Rei hatte sich nichts getan, aber er war doch mehr als schockiert gewesen und ganz schön sauer. Eigentlich war er am nächsten Samstag in den Park gekommen um den anderen zur Rede zu stellen, aber als er ihn in der Sonne auf einer Wiese hatte liegen sehen, mit einem Grashalm im Mund und geschlossenen Augen, ganz entspannt.. da hatte er es einfach nicht mehr übers Herz gebracht. Er konnte nicht sagen was ihn davon abhielt den anderen endlich die Konsequenzen seines Handelns spüren zu lassen, aber da war eine innere Stimme die ihm sagte, dass Kai nicht anders konnte, dass es einen Grund hatte. Schließlich und endlich hatte er sich mit einem 'Hey Kai' zu ihm gesetzt und den gegrummelten Gegengruß mit einem Schmunzeln hingenommen. Rei hatte wirklich kurz geglaubt sich auf eine merkwürdige Art und Weise in den anderen verliebt zu haben ohne es wirklich zu merken, aber den Gedanken hatte er schnell wieder verworfen. Er war schon das ein oder andere mal verliebt gewesen, aber das war anders gewesen. Liebe hatte bei ihm nichts mit blinder Vergebung zu tun, sondern mit purer Zuneigung, das war ein großer Unterschied. Zu Kai empfand er in dem Sinne keine Zuneigung, allerdings konnte er auch nicht beschreiben was genau er empfand. Er mochte die Ruhe die der andere Junge ausstrahlte und er wollte wissen, was hinter dieser Maske steckte, die er immer so massiv zur Schau trug. Ob es wirklich nur reine Neugierde war? Nein, ein wenig Faszination war ebenfalls dabei. Ja, dieser Junge war durchaus faszinierend und er war sich sicher, was immer er zu verbergen hatte, es würde sich lohnen dieses Geheimnis zu lüften, auch wenn sich Rei manchmal nicht ganz sicher war, ob er die Wahrheit wirklich hören wollte. Dadurch, dass sie manchmal beieinander lagen, hatte er gesehen, was dieses Mädchen ihm vor einigen Wochen offenbart hatte: Die Narben. Er hatte sich nicht getraut Kai darauf anzusprechen, aber es war klar, dass die nicht von einem Haustier stammten, dafür waren sie einfach zu tief. Das war nichts oberflächliches, das sah man. Während sich in der Beziehung zwischen ihm und Kai langsam Routine einstellte, war sein Schulleben sehr turbulent. Ständig bekam er Anfragen von Mädchen, ob man nicht einmal miteinander weggehen wolle oder er erhielt sogar Liebesbriefe. Er verstand das nicht. Die kannten ihn doch gar nicht. Sie sahen offenbar nur den immer freundlichen, gutgelaunten Jungen, der sich mit jedem gut verstand. Man fragte ihn oft über Oberflächlichkeiten aus, aber niemand gab sich wirklich Mühe, ihn näher kennen zu lernen und er fand auch kaum jemanden, der eine ordentliche Konversation zustande brachte. Kurz: Die meisten hier langweilten ihn. Bei dem Gedanken musste Rei allerdings schmunzeln. War er nicht genau wie all die anderen? Schmiss er sich nicht auch demjenigen an den Hals, der mit ihm am wenigsten zu tun haben wollte? Blieb er mit Kai nicht auch nur bei Oberflächlichkeiten? Ging er nicht auch jenen aus dem Weg, die zu offensichtlich etwas mit ihm zu tun haben wollten, weil es ihn langweilte? Schlussendlich war er wohl auch einfach ein Mensch mit den gleichen Fehlern wie sie jeder andere auch hatte. Eine interessante Erkenntnis, wie er zugeben musste. Er kam nicht. Natürlich tat er das nicht. Es war bereits die sechste Woche und sie hatten bisher kaum miteinander gesprochen, natürlich war ihm das auf Dauer zu langweilig. Er hatte schon wieder einen Fehler gemacht, hatte schon wieder Hoffnung gefasst, hatte sich überlegt, ob er sich nicht ein wenig öffnen sollte, vorsichtig, nur ein Stück. Wie dumm er gewesen war. Es war immer das selbe, Menschen waren immer die selben, warum fühlte er sich selbst nur immer wieder als die große Ausnahme? War er der einzige Mensch mit Geduld? Mit Verstand? Oder war er der dumme unter den Millionen, nur, weil er sich nicht anpassen wollte? Er verstand diese Welt nicht, er verstand die Menschen nicht, er verstand niemanden, wohl nicht einmal sich selbst. Vielleicht war er wirklich ein absolutes Individuum und nicht einmal ein ruhiger Chinese, der es mit jedem sonst bestens aushielt, schaffte es, sich soweit zu gedulden, dass er selbst es schaffte, sich ein wenig zu öffnen. All die Hoffnung war verschwendet. Er würde allein bleiben, das hatte er doch eigentlich schon vor so langer Zeit beschlossen. Er würde die Firma seines Großvaters übernehmen, sich irgendwann eine Frau suchen mit der er einen Nachfolger zeugen konnte und das wäre es dann. Er würde seine Zeit nicht mehr damit verschwenden auf Freundschaften zu hoffen, es war ja doch sinnlos. Ob Rei einfach nur etwas dazwischen gekommen war? Kai seufzte innerlich, als er kalt über die Brüstung blickte, hoch in den Himmel. Kurz hallte ein kaltes, freudloses Lachen durch den Park, ehe Kai sich umwandte und verschwand. Er würde keine Kraft mehr darauf verschwenden auf Zufälle zu hoffen. Er hatte diese Kraft einfach nicht mehr. Es war zudem so viel einfacher die Wut in sich zu schüren. Rei war sich nicht sicher, ob das seine Schuld war. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es tatsächlich so war, aber irgendeine Stimme in seinem Hinterkopf flüsterte ihm zu, dass es sehr wohl sein konnte. Während man die letzten Wochen von Kai eigentlich nichts mitbekommen hatte, wurde die Situation jetzt unerträglich. Wenn er das richtig mitbekommen hatte, hatte es begonnen, als Kai einmal aus dem Klassenzimmer geflogen war, weil er den Lehrer beschimpft hatte. Etwas, was Rei sich bei dem sonst so ruhigen und besonnenen Jungen nicht vorstellen konnte, aber er hatte es von so vielen in exakt der gleichen Version gehört, dass er diesem Gerücht glauben schenken konnte. Danach war eine Art Kettenreaktion losgebrochen. All der Frust und Ärger, der sich auf beiden Fronten aufgestaut hatte, schien sich mit einem mal zu entladen. Es war wie im Krieg, nur, dass die Verhältnisse ungleicher nicht hätten verteilt sein können. Die eine Front bildete Kai, die andere die restliche Stufe. Nun, bis auf Rei, der panisch versuchte sich aus der Sache heraus zu halten. Das gelang aber nur mäßig. Es gab kaum noch ein anderes Gesprächsthema als den 'eiskalten Schläger' und so sehr Rei auch versuchte den Einzelkämpfer zu verteidigen, es gelang ihm nur schwer. Ob es wirklich nichts mit seinem Fehlen vor zwei Wochen zu tun gehabt hatte? Es hatte nahezu direkt danach angefangen, als sei Kai sauer auf ihn, weil er nicht da gewesen war. Aber seine Eltern waren an diesem Samstag ausnahmsweise mal zu Hause gewesen, es war ein Zufall gewesen und Rei hatte da ausnahmsweise einmal nicht raus gewollt. Er hatte kein wirklich schlechtes Gewissen deshalb, sie waren nicht wirklich befreundet oder verabredet, aber irgendwie machte er sich doch sorgen. Ob Kai gewartet hatte? Das konnte er sich kaum vorstellen, aber wenn es doch so war... Rei schluckte. Es tat ihm wirklich leid, dass es so gekommen war, was sollte er machen? Seine eigene Familie hinter einen Fremden stellen? Nein, das wäre wirklich Unfug gewesen. "Hey, Rei!" Angesprochener drehte sich herum zu einem Mädchen das auf ihn zukam. "Hallo, Ai." Er lächelte ihr freundlich entgegen. Sie war eine Klassenkameradin und sie redeten manchmal miteinander. Eigentlich eine ganz angenehme Person. "Sag mal..." Oh nein... sie auch? Das durfte doch nicht wahr sein! "...würdest du vielleicht mal mit mir weggehen wollen?" Innerlich seufzte Rei frustriert, behielt aber äußerlich seine freundliche Miene bei. Dennoch zögerte er. Er redete öfter mit Ai und es würde auffallen, wenn sie zusammen weg gingen. Hier auf dem Flur Richtung Ausgang der Schule war genug los, dass es irgendwer aufschnappte, der es rumerzählen würde. Und wenn er dann weiterhin normal mit Ai umgehen würde, vielleicht würden ihn dann die anderen Mädchen in Ruhe lassen, weil sie dachten, dass er und sie etwas am laufen hätten. Das war schon reichlich gemein, aber er traute ihr zu, dass sie verstehen würde, dass er nur freundschaftliche Gefühle für sie hegte und er glaubte auch, dass sie das verkraften würde. Sie war intelligent, vielleicht auch intelligent genug, um das zu verstehen. Und vielleicht konnte er das ganze auch ein wenig drehen... "Ich weiß nicht", meinte er etwas unsicher, dabei absichtlich leicht zu Boden sehend. "Nur freundschaftlich natürlich", meinte Ai daraufhin prompt und lächelte ihm aufmunternd zu. Das war schneller gegangen als erwartet. So sah er zu ihr: "Bist du dir sicher?" Das Mädchen nickte eifrig und grinste leicht: "Klar! Ich weiß doch, dass du es nicht so mit .. na ja.. Mädchen hast." Ein Zwinkern folgte dieser Aussage was Rei verwirrte. "Was?" Ai verdrehte nur leicht die Augen: "Denkst du es bemerkt keiner, dass du jedes Mädchen bisher abgewiesen hast, obwohl so gut wie alle auf dich fliegen?" Oh ha, ging etwa das Gerücht herum er sei schwul? Das wäre aber nicht gut. "So ist das nicht...", begann er prompt sich zu verteidigen. "Ich weiß", erwiderte Ai darauf nur lächelnd und Rei war sich plötzlich nicht mehr sicher, was das Mädchen sich wirklich dabei gedacht hatte ihn einzuladen. "Also?", hakte sie nach und da wurde Rei erst bewusst, dass er noch gar nicht zugesagt hatte. "Ehm ja... klar, warum nicht? Was willst du denn machen?" Kurz dachte Ai nach, ehe sie sich ihm wieder zuwandte und lächelte: "Wie wär's wenn wir nach der Schule morgen in die Nachmittagsvorstellung im Kino gehen und danach noch was essen?" Das klang wirklich entspannend, das musste er zugeben. "Ja, klingt gut", und er schenkte ihr tatsächlich ein ehrliches Lächeln. Der Nachmittag verlief gut. Sie hatten sich auf eine Komödie geeignet, damit niemand einen Kompromiss eingehen musste. Sie hatten Spaß gehabt und saßen jetzt zusammen in einem kleinen Bistro und aßen gemeinsam. Es war eine ausgelassene Stimmung und Ai strahlte richtig, was Rei zunehmend besorgte. Erst wollte er die Atmosphäre nicht kaputt machen, aber irgendwann musste er dann doch fragen: "Das hier ist doch wirklich nur freundschaftlich, oder?" Zuerst stutzte Ai, lächelte dann aber aufmunternd: "Sicher, das habe ich doch gesagt." Er war sich wirklich nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagte, denn irgendwas machte ihn stutzig. Vielleicht war es dieser merkwürdige Glanz in ihren Augen. "Du bist wirklich schwul, hm?" Er verschluckte sich heftig bei der direkten und vollkommen trocken ausgesprochenen Frage. Entgeistert sah er sie an, doch sie lächelte immer noch ihr ruhiges, freundliches Lächeln. Was sollte er denn davon halten? "Nein.", antwortete er dann aber wahrheitsgemäß, was ihm einen skeptischen Blick einbrachte. "Schau nicht so, das ist die Wahrheit. Ich gehe nur nicht mit Mädchen aus, weil ich keine Beziehung will." Der Blick von Ai wurde nachdenklich und vorsichtig. "Enttäuscht worden?" Er schwieg kurz und war sich nicht sicher, wie er darauf antworten sollte. "Nicht von meinen Partnern..." Er sagte absichtlich nicht 'Partnerinnen', denn er wollte nicht lügen, musste so aber aufpassen, dass es nicht zu auffällig war und sie doch noch glaubte, er hätte sie eben angelogen. "Nur von meinen Eltern. Wir bleiben nie lange an einem Ort... meistens nur ein Jahr. Für mehr als was kurzes ohne Gefühle reicht es also nie. Und das will ich keinem Mädchen antun, was sich eindeutig mehr erhofft." "Du hattest also schon Sex?", fragte Ai mehr als neugierig und Rei musste schmunzeln. Hier in Japan war es ein wenig ungewöhnlicher so 'früh' damit anzufangen. In Amerika hatte er dafür als Spätzünder gegolten. Er nickte aber nur etwas verhalten, über so was sprach man hier nicht in der Öffentlichkeit. "Wow.", machte Ai nur und trank einen Schluck Tee. Damit war das Thema dann auch soweit abgeschlossen und sie widmeten sich wieder normalen und alltäglichen Sachen. Der Nachmittag verflog regelrecht und es wurde dunkel. Erst als der Besitzer des Bistros ankündigte, dass sie bald schließen würden, wurde Ai auf die fortgeschrittene Uhrzeit aufmerksam. "Ah, verdammt! Ich müsste längst zu Hause sein!" Rei vergaß oft, dass Eltern normalerweise auf ihre Kinder warteten, wenn diese nach Hause kamen und es bestimmte Uhrzeiten und Tageszeiten gab, zu denen sie daheim sein mussten. Jetzt war es bereits dunkel draußen und Ais Eltern wären sicher böse, wenn sie jetzt heim kam. Das war eine Eigenart von Eltern die er nicht so ganz verstand. Wenn sie wollten, dass ihre Kinder überhaupt nach Hause kamen, sollten sie nicht böse sein, wenn sie es dann taten, oder? Denn dann würden die Kinder doch viel eher nach Hause kommen, als wenn sie Ärger erwartete. Nun, wie auch immer, Ai musste nach Hause, das war jetzt wichtiger. "Ich bring dich heim. Geh schon einmal die Jacken holen, ich zahle noch." Etwas verwundert aber lächelnd bedankte sich Ai und stand auf. Er ging zu dem Mann an der Kasse, bezahlte für sie beide und folgte seiner Schulfreundin dann. Sie wohnte nicht weit und so hatte er sie bald abgesetzt und ging mit einem guten Gefühl nach Hause. Er hatte sich wirklich ausgesprochen gut unterhalten und Ai schien auch nicht so oberflächlich wie die anderen. Es war wirklich eine gute Idee gewesen etwas mit ihr zu machen, vielleicht könnte man das sogar mal wiederholen. So in seinen zufriedenen Gedanken vertieft, bemerkte er erst relativ spät das leise, aber deutlichen Maunzen einer Katze. Es klang kläglich und hilfesuchend, aber Rei zwang sich dazu weiter zu gehen. Er konnte das nicht wieder machen. Er konnte nicht wieder einer streunenden Katze nachgeben und sie aufpäppeln. Nach dem fünften verzweifelten Laut blieb er stehen, nach dem siebten drehte er sich langsam um und nach dem zehnten ging er langsam zu der Gasse, aus der er die Geräusche hörte. Verdammt! Die Wohnung war vielleicht nur noch 200 Meter weit weg, fast hätte er es geschafft! Als er dann aber um eine Ecke bog, und die Katze endlich fand, erstarrte er. Die Katze hatte um Hilfe gerufen, ja, aber nicht für sich, sondern für einen Jungen, dessen Augen stumpf und leblos ins Leere starrten. Sein Gesicht war leicht geschwollen, die Haltung so unnatürlich, dass er sie wahrscheinlich nur eingenommen hatte um Schmerzen zu vermeiden. Der Anblick war grausam und hätte Rei nicht gesehen wie sich der Brustkorb des Anderen angestrengt hob und wieder senkte, er hätte angenommen, dass er nicht mehr leben würde. Die Katze schmiegt sich hilflos und nach einer Reaktion suchend an die Seite des Verletzten. Doch es gab keine Reaktion. Vollkommen lethargisch starrte Kai einfach ins Leere. Als hätte er aufgegeben und überlasse nun irgendeiner höheren Macht sein Schicksal. Kapitel 4: Vorsichtiges Misstrauen ---------------------------------- "Kai?", es hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert bis Rei sich so stark zusammengerissen hatte, dass er wenigstens den Namen des Jungen rufen konnte, der da verletzt vor ihm in einer Gasse lag. Aber er reagierte nicht. Warum nicht? Er war doch bei Bewusstsein, warum reagierte er nicht? Sorgenvoll und auch mit einer gewissen Angst, trat er auf Kai zu. Ihm war nicht wohl dabei. Er kniete sich vor ihn, rüttelte leicht an seinen Schultern, doch er reagierte noch immer nicht. "Hey", hauchte er, während die Angst um seinen Bekannten immer weiter stieg. Was war nur passiert? "So kann ich dich nicht in Sicherheit bringen... du musst mir schon ein wenig helfen." Kurz spielte Rei mit dem Gedanken den Krankenwagen zu rufen, aber er hatte das Gefühl Kai damit nur mehr Probleme zu machen statt ihm zu helfen. Es sah nicht so aus als bräuchte er ärztliche Unterstützung, zumindest nicht für die körperlichen Belange. Als Kai immer noch nicht reagierte, war Rei wirklich kurz davor zu verzweifeln. Was sollte er denn jetzt machen? Vielleicht, wenn er seine Kraft richtig einsetzte könnte es klappen, einen Versuch war es zumindest wert. Eine gute Viertelstunde später hatte er es endlich geschafft Kai hoch zu hieven, der sogar halbwegs selbstständig jetzt stand. Wenigstens stand er nicht komplett neben sich, auch wenn der Ausdruck in seinen Augen immer noch kein Stück lebhafter war. So schleppten sie sich die nun endlos erscheinenden Meter bis zu der Wohnung, in der Rei derzeit lebte. Glücklicherweise war in dem Haus ein Aufzug vorhanden. Dennoch brauchten sie insgesamt eine Ewigkeit, bis er den Verletzten endlich auf sein Bett ablegen konnte. Teilnahmslos ließ Kai alles mit sich geschehen und Rei hoffte, dass er sich nach einer Mütze Schlaf wieder erholen würde. Nachdem er die Decke über ihm ausgebreitet hatte, seufzte er noch einmal: "Was ist nur mit dir passiert?" Dann verließ er den Raum, in der Hoffnung, dass Kai wenigstens etwas seine Ruhe finden konnte. Wie immer war sonst niemand im Haus, doch ausnahmsweise war die Stille wirklich bedrückend. So beschloss er kurz eine CD in die kleine Anlage einzulegen und sich mit einem Buch aufs Sofa verziehen. Zum Glück war morgen keine Schule, denn er ahnte, dass er kein Auge zumachen würde diese Nacht. Begleitet von leisen, typisch chinesischen Klängen, vertiefte er sich schließlich in das Buch, dabei immer in die sonstige Stille lauschend um ja nicht zu verpassen, wenn Kai erwachte. Hätte er gewusst, wie schwer der junge Russe zu überhören war, hätte Rei sich vielleicht dazu hinreißen lassen zu schlafen. So schreckte er nur vollkommen übermüdet aus den Tiefen des nun schon dritten Buchs, als plötzlich die Tür seines Schlafzimmers aufflog und sein Patient eiligen Schrittes versuchte die Flucht zu ergreifen. "Kai!", stieß Rei erschreckt aus und sprang sofort von dem Sofa. Aber Kai reagierte nicht einmal. Etwas ziellos versuchte er die Ausgangstür zu finden. Da ihm das aber nicht gelang, war es für den jungen Chinesen ein leichtes ihn endlich am Arm zu erwischen und zurück zu halten. "Kai! Jetzt beruhig dich doch endlich! Du kannst nicht weg, du musst dich ausruhen!" Wie zur Salzsäule erstarrt stand Kai einfach da und Rei musste mit Erschrecken feststellen, dass er leicht zitterte. "Hey, Kai", fuhr er deshalb mit wesentlich sanfterer Stimme fort. "Du brauchst keine Angst haben, du bist hier bei mir. Ich bin's, Rei. Ich tu dir schon nichts." Das schien den anderen endlich zu erreichen, denn er entspannte sich. Etwas zu sehr wie ihm schien, denn dem Russen brachen die Beine weg. Nur weil Rei schon da war, konnte er ihn gerade noch davon abhalten zu Boden zu sinken. "Was ist denn passiert?", fragte Rei nachdem er seinen Patienten auf die Couch gesetzt und ihm eine Tasse Kaffee zugeschoben hat. Der Junge sah furchtbar aus. Seine Augen waren gerötet, die Haut darum herum blau, ansonsten war die Haut aschfahl und teilweise übel geschwollen. Der Körperhaltung nach zu urteilen hatte er noch immer Schmerzen, weshalb er ihm auch eigentlich Tabletten geben wollte, aber Kai hatte abgelehnt. "Nichts besonderes.", murmelte Kai in seine Kaffeetasse und zuckte leicht mit den Schultern. "Hab mich geprügelt." "Und verloren?" Das leichte Schmunzeln auf dem Gesicht seines Gegenübers verriet ihm, dass dem wohl nicht so war. Eine Antwort bekam er aber nicht. "Warum hast du dich geprügelt? Hat dich jemand angegriffen?" Plötzlich entkam ein Lachen dem anderen, dass Rei zusammenzucken ließ. Es war freudlos, vollkommen kalt und absolut fehl am Platz. Dunkle, stechende Augen, sahen ihn an: "Bist du einer von den Naivlingen die glauben, dass ich mich nur schlage um mich zu wehren?" Nein, ehrlich gesagt kam ihm Kai schon lange nicht mehr vor, wie der missverstandene Junge, den er anfangs in ihm vermutet hatte. Dennoch konnte er sich nicht vorstellen, dass er Spaß daran hatte oder so was. "Nein", antwortete er deshalb wahrheitsgemäß, "aber ich bin sicher, du machst so was nicht einfach so." Durchdringend sah Rei sein Gegenüber an, was diesen dazu brachte den Blick wieder auf die braune Flüssigkeit in seinen Händen zu wenden. Volltreffer! "Was weißt du schon.", kam es nur gegrummelt zurück. Kai wirkte so unglaublich verloren in diesem Moment, dass es Rei weh tat. Und der Vorwurf in der Stimme von ihm, schürte nur das schlechte Gefühl, was er die ganze Zeit schon hatte. "Es tut mir leid", platzte es plötzlich aus Rei heraus, ohne, dass er es kontrollieren konnte. Kai reagierte kaum, was ihn doch sehr verwunderte und irgendwie auch ärgerte. Jetzt rang er sich schon durch den ersten Schritt zu machen und dann wurde er auch noch ignoriert? Langsam reichte es ihm wirklich! Er konnte mit vielem umgehen, aber ganz sicher nicht mit Undankbarkeit! "Hör mal", begann er mit tiefer, gezwungen ruhiger Stimme, doch er kam nicht weiter. "Ich weiß." Diese zwei Worte reichten aus, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, der gerade angefangen hatte ein Sturm zu werden. Was war nur mit diesem Kerl? "Was weißt du?" Er hatte eine gewisse Verwirrung nicht unterdrücken können. "Ich weiß, was du jetzt sagen willst." Er verstand immer noch nicht ganz. "Es ist in Ordnung.", setzte der Russe dann fort. "Ich verstehe das." Er pausierte kurz wieder. "Ich würde es mit mir selbst auch nicht aushalten." Wumm. Das schlug erst einmal ein und Rei wusste nicht genau, was er sagen sollte. Einerseits empfand er unbändige Wut über so einen Schwachsinn und andererseits Mitleid. Er konnte sich nicht recht entscheiden was er nun tun sollte. Sein erster Instinkt war, den anderen anzuschreien und ihm vorzuwerfen, wie undankbar er denn sei, schließlich hatte er ihn sogar von der Straße aufgelesen und hier aufgenommen. Aber das war nicht seine Art. Er hatte ein ziemlich heißblütiges Temperament, aber er trat nicht auf geschlagene Hunde ein. Straßenköter... dieser Ausdruck kam ihm ungewollt wieder in den Sinn. Ja, vielleicht war Kai das tatsächlich, ein reudiger Straßenköter der um sich biss, weil er Angst vor allem und jedem hatte. Vielleicht war das des Rätsels Lösung auf die Frage, was an dem anderen so interessant war. Er hatte zu einem verletzten, verwahrlosten Tier noch nie nein sagen können. Innerlich seufzte Rei als er aufstand und seine eigene, bereits leere Tasse aufnahm und in Richtung der Küche ging. "Denk was du willst." Das war die beste Antwort die ihm einfiel. Manchmal war Teilnahmslosigkeit das beste, was man einem anderen Menschen entgegenbringen konnte. Wäre er auf die Provokation eingegangen, egal in welche Richtung, hätte das nur wieder fehlinterpretiert werden können. Er würde sich nicht weg beißen lassen, aber der andere musste selbst merken, dass es durchaus auch Menschen gab, die einfach nur hilfsbereit waren, auch ohne etwas zu erwarten. "Du solltest was essen, auf was hast du Lust?" Er bekam keine Antwort, hörte aber, wie Kai aufstand und zu ihm in die Küche kam. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass er mit vorsichtigem Misstrauen in den Augen im Türrahmen lehnte. "Warum tust du das?" Rei fragte sich was dem anderen passiert war, dass es ihm derart schwer fiel einfach mal Hilfe anzunehmen. Aber er bekam nichts weiter als ein Schulterzucken von ihm: "Weil ich es will." Natürlich war das keine zufriedenstellende Antwort, aber was hätte er auch sonst sagen sollen? Es gab keinen schlichtweg keinen anderen Grund. "Hm." Rei wandte sich daraufhin dem Herd zu und begann einfach etwas typisch japanisches zuzubereiten. Er kannte sich mit russischem Essen leider nicht aus, sonst hätte er seinem Besucher etwas aus seinem Heimatland zubereitet. "Meine Eltern waren da... am Samstag meine ich." Begann er dann. Nicht, um sich zu rechtfertigen oder sich noch einmal dafür zu entschuldigen. Nein, einfach nur, weil er wollte, dass Kai wusste was los war. "Du weißt, dass meine Eltern nicht oft da sind und ich wollte es genießen, dass sie es ausnahmsweise mal sind und das auch noch am Wochenende. Ich hab kurz an dich gedacht, wusste aber nicht, wie ich dir Bescheid geben soll." Schließlich hatte er keinerlei Kontaktdaten. Kai kam zu ihm, sah ihm kurz über die Schultern und schnappte sich danach ein Messer um das bereitgelegte Gemüse zu putzen und zu zerkleinern, als wüsste er genau, was Rei vor hatte. "Du hast mir gegenüber keinerlei Verpflichtungen.", tat der Russe das Thema ab. "Ich weiß." So kochten die beiden in stummer Eintracht zusammen und Rei musste gestehen, dass es wirklich gut tat, mal wieder nicht allein zu sein. Manchmal war er so sehr damit beschäftigt anderen aus dem Weg zu gehen, dass er vergaß, dass auch er ab und zu Gesellschaft brauchte. Und Kai war wirklich eine ausgesprochen angenehme Gesellschaft, wenn auch nicht unkompliziert zu handhaben. Dennoch schienen es teilweise ähnliche Regeln wie bei einem traumatisierten Tier zu sein. Beispielsweise das Verhalten kurz zuvor: Verhielt man sich ganz normal, als wäre es nichts besonderes, dass das Tier da war und schenkte man ihm vor allem keine besondere Aufmerksamkeit, verlor es irgendwann seine Scheu und machte den ersten Schritt. Es war genauso wie damals im Park gewesen, als Kai plötzlich bei ihm gewesen war. Er hatte den ersten Schritt gemacht und das schien im Umgang mit ihm wichtig zu sein. Jetzt hatte er ihn wieder ganz normal behandelt, ihn nicht weiter beachtet und er hatte ihm sogar beim Kochen geholfen. Nebenbei war zu erwähnen, dass Rei wirklich erstaunt darüber war, dass Kai kochen konnte. Irgendwie hatte er dem das nicht zugetraut, ganz zu schweigen davon, dass er nicht erwartet hatte, dass der ihm helfen würde. Kais Kochkünste stellten sich im Nachhinein auch als eher begrenzt heraus, was Rei bemerkte, als der Andere sich in den Finger schnitt. Doch er selbst reagierte darauf nicht weiter, außer kurz Pflaster aus einer Schublade zu fischen und ihm zu geben. Er war sich sicher, dass das die richtige Entscheidung war, wollte er den Stolz des anderen doch nicht verletzen und ihn ob seines Missgeschicks belächeln. Das passierte Anfängern und auch fortgeschrittenen Köchen eben ab und an, nichts Besonderes also. Und so machten sie kurz danach auch einfach weiter. Als sie dann stumm beim Essen saßen, überlegte Rei fieberhaft, wie er ein Gespräch beginnen könnte. Bisher hatte es immer hervorragend funktioniert Kai ein wenig zu provozieren, aber ihm fiel es schwer ständig irgendwelche Dinge aus der Luft zu greifen, die den anderen anspornten, aber nicht verschreckten. Nach einer Weile hatte er aber einen Ansatzpunkt gefunden: "Es gibt da was, was ich dich schon eine ganze Weile fragen wollte.", begann er absichtlich etwas ungenau und sah erstaunt, wie die Stäbchen in der Hand seines Gesprächspartner zum Stillstand kamen und sogar leicht zu zittern begannen. Was erwartete der denn, was er fragen würde? Egal... das musste er jetzt ignorieren. "Ist die Augenfarbe eigentlich echt?" Jene Farbe konnte er jetzt wieder einmal genau betrachten. Fast geschockt, aber eher erstaunt, lag der Blick Kais plötzlich auf ihm. Es waren nur ein paar Sekunden, ehe er sich wieder verschloss und das Feuer wieder kalt und stumpf wurde. "Pigmentstörung.", war das einzige, was er als Antwort bekam, aber immerhin bekam er eine. Das erklärte wohl auch die enorm blasse Haut und die grauen Haare. "Mich würde ja brennend interessieren, was du dachtest, dass ich dich frage." Er stichelte absichtlich etwas, doch Kai wandte nur seinen Blick wieder ab und dem Essen zu. Seine ganze Körperhaltung stand auf Abwehr, als würde er vermuten, jeden Moment angegriffen zu werden. Dieser Junge war so unglaublich kaputt. Dennoch wirkte er zu keinem Moment traurig oder einsam. Nur eben verschlossen. Seine Körperhaltung drückte selbst jetzt, wo er eindeutig Schmerzen hatte, noch Stolz und Selbstsicherheit aus. Nur der fehlende Augenkontakt zeigte die eigentliche Verunsicherung und Rei vermutete, dass Kai derzeit einfach nicht die Kraft aufbringen konnte, auch noch dieses Merkmal zu verbergen. "Das was sie alle fragen.", kam dann doch noch die eiskalte Antwort, mit der der Asiate gar nicht mehr gerechnet hatte. Von einer neuen Welle der Neugierde gepackt, versuchte er nachzuhaken: "Was fragen sie denn?" Eigentlich konnte er es sich schon denken. Er kannte die Gerüchte um den ominösen Jungen vor ihm sehr gut. Da gab es eine Menge unangenehme Fragen, die gestellt werden könnten, aber Rei interessierte sich für die Fragen, die der andere als derart störend empfand. "Hm." Mehr kam nicht mehr, verdammt. Kurz stocherte er in seinem Essen herum, bis er sich traute, die Worte auszusprechen, die ihm schon sehr lange im Kopf herum spukten: "Du musst ganz schön einsam sein." Wieder blieb das Esswerkzeug des anderen mitten in der Luft hängen, aber wenigstens zitterte er diesmal nicht. "Ich meine.. es muss doch schlimm sein, wenn man mit niemandem über das reden kann, was einen bedrückt, oder?" Er schien damit ins schwarze getroffen zu haben, denn Kai ließ die Stäbchen jetzt langsam sinken und schien zu versuchen, diese Situation einfach tot zu schweigen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Warum sagte Rei so etwas? Warum konnte er es nicht einfach dabei belassen? War es nicht schon schlimm genug, dass er wie ein geschlagenes Tier hier saß und alle Mühe hatte, nicht zusammen zu klappen? Die Idioten gestern Nacht hatten ihn ziemlich übel erwischt, auch wenn er es schließlich gewesen war, der sie in die Flucht geschlagen hatte, bevor ärgeres geschehen war. Aber ehrlich gesagt hätte er sich jetzt gerade lieber noch einmal geprügelt, als dieses Gespräch weiter mit zu machen. Konnte er nicht einfach die Klappe halten und essen? Stattdessen spürte er, wie die Augen des anderen auf ihm ruhten, ihn neugierig hoffend anstarrten und wohl nicht locker lassen würden, bis er nachgab. Aber er wollte nicht. Wollte auf diese verdammte Frage nicht Antworten. Was wusste er denn schon! Was wusste denn überhaupt jemand!? Nichts wussten sie! Und sie sollten ihn einfach in Ruhe lassen! "Wir sind doch Freunde, Kai, oder?" Sein Herz krampfte sich bei diesen Worten schmerzhaft zusammen. Wollte dieses Schlitzauge sich etwa über ihn lustig machen? Reichte das alles denn nicht schon? War es noch nicht demütigend genug? Würde er jetzt auch anfangen wie all die anderen? Sich über ihn lustig machen? Eigentlich traute er ihm das ja nicht wirklich zu. Nicht ihm... nicht diesem sanften Wesen. Dennoch war er misstrauisch. Diese ganze Situation machte ihn misstrauisch. Warum sollte es mit ihm anders sein, als mit irgendwem anderes? Kai schloss kurz die Augen um eine Panikattacke zu unterdrücken. Er fühlte bereits jetzt die Schwere die sich auf seine Brust legte, ja, schon den ganzen morgen versuchte, ihn niederzudrücken. Als er erwacht war, hatte sie ihn innerhalb von Sekunden fest im Griff gehabt. Er hasste es in unbekannten Umgebungen aufzuwachen, die Fluchtwege nicht zu kennen und keine Kontrolle mehr über die Situation zu haben. Wut über die eigene Angst hatte sich mit eben jeder Panik vermischt und er hatte nur blindlings versucht, aus diesem Käfig wieder auszubrechen. Nur die besorgte und gleichsam sanfte Stimme von Rei hatte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit geholt und ihn sich beruhigen lassen. Er hätte einfach gehen sollen, denn das hier war schlimmer als allein zu sein. Er fühlte sich so unsagbar schwach und schutzlos. In diesem Zustand wollte er keine Gespräche führen. Vor allem nicht solche. Egal was er jetzt antwortete, es wäre immer falsch. Würde er 'Nein' antworten, würde er den anderen verletzen, würde er 'Ja' antworten, würde er dem anderen offene Angriffsfläche bieten und er war heute nicht wirklich dazu im Stande sich zu verteidigen. Es blieb ihm eigentlich keine andere Wahl, als nicht zu antworten und das tat er auch, indem er kalt sagte: "Denk was du willst." Damit sollte das Thema vorerst erledigt und der andere dermaßen beleidigt sein, dass er erst mal seine Ruhe hätte. Aber als er den Blick kühl hob um sich eine Schimpftirade gefallen zu lassen, blickte er nur verwundert in sanfte, zufriedene Augen. Dieser Typ war einfach unmöglich und das meinte er so wie er es sagte und nicht, wie es die meisten Menschen verwendete. Er war unmöglich! Einen Menschen wie ihn gab es einfach nicht! Wie konnte er nur so ruhig sein? Den ganze Morgen und Vormittag versuchte er schon ihn zu vergraulen, doch er ließ es einfach nicht zu! Alles was er ihm an den Kopf warf, nahm er einfach so hin. Unmöglich! Und er nahm es nicht einfach nur hin, nein, er war auch noch freundlicher zu ihm, als es seit ewig langer Zeit jemand zu ihm gewesen war. Unmöglich! Spontan erinnerte sich Kai an das Erlebte von eben, beim Gemüseschneiden. Er war tatsächlich nicht besonders geübt darin zu kochen oder andere Hausarbeiten zu erledigen, aber er wollte sich von seinem Gastgeber nicht einfach bedienen lassen. Er wollte ihm nichts schuldig sein, auch wenn ihm bewusst war, dass er die Schulden die er bei ihm hatte, damit nicht einmal im Ansatz abtragen konnte. Dennoch sollte ihm keiner vorwerfen faul zu sein. So hatte er ihm geholfen oder eher helfen wollen. Es gestaltete sich mehr schlecht als recht und er hatte schon das Gefühl, ständig den tadelnden Blick von Rei auf sich zu spüren, empfand seine Belustigung über seine Unfähigkeit als nahezu greifbar und als er sich dann auch noch geschnitten hatte, rechnete er felsenfest mit einem Lachanfall oder einem spitzen Kommentar oder sogar noch schlimmerem, aber es blieb alles aus. Nicht einmal Besorgnis oder Mitleid zeigte er ihm gegenüber, sondern gab ihm einfach die Pflaster, als wäre es das normalste auf der Welt. Als wäre es ganz normal zu versagen. Als wäre es ganz normal einfach so normal zu sein wie jeder andere auch. Ihm war bewusst geworden, dass die negativen Gefühle die er vorher geglaubt hatte spüren zu können, nur Einbildung und eine Projektion seiner eigenen Ansprüche gewesen war, nichts davon kam auch nur im Ansatz von Rei. Unmöglich. Kapitel 5: Eisige Flammen ------------------------- Das Essen war ansonsten schweigend verlaufen, aber Rei war mehr als zufrieden. Sie waren nun so was wie Freunde, ein wirklich großartiger fortschritt! Natürlich war das bisher nur ein Wort, nur ein Begriff ohne weitere Definition, aber immerhin kam etwas wie Verantwortung und Verbundenheit mit diesem Wort. Es war ein Anfang, etwas, auf das man aufbauen konnte. Sehr gut! Bevor Kai noch auf die Idee kam ihm beim Aufräumen zu helfen, scheuchte er ihn unter die Dusche, mit dem Kommentar, ihm nachher noch Kleidung hinzulegen. Eine gute Idee, wie Rei feststellte, denn so was wie Dankbar flirrte kurz durch den Blick seines Gastes. Langsam bekam er wirklich Übung darin, diese kleinen Gefühlsregungen zu sehen. Kai war wirklich ein einmaliger Junge. Ein kurzes Kribbeln erfasste Rei bei diesem Gedanken, doch er ignorierte es gekonnt. Er konnte sich nicht in diesen verschlossenen Jungen verlieben, das ging einfach nicht und damit war die Sache für ihn auch gegessen. Es würde Monate dauern überhaupt eine freundschaftliche Bindung aufzubauen, eine Liebschaft war da wirklich nicht drin und das wollte er Kai auch ehrlich gesagt nicht zumuten. Der hatte genug Probleme mit sozialem Umgang, ein Junge der mehr als Freundschaft für ihn empfand, würde ihn wahrscheinlich komplett überfordern. Nein, so interessant Kai auch war und so gerne er seine harte Schale auch komplett knacken wollte, das war eine Sache die viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde, auch wenn es ein wenig schade war. Kurz trat etwas Wehmut auf seine Züge. Nur noch ein paar Jahre, dann konnte er sich endlich von seinen Eltern abkapseln und ein eigenes, ein beständiges Leben führen. Er liebte seine Eltern, keine Frage und er wusste, dass die beiden in dem Leben das sie führten ihre Erfüllung gefunden hatten, aber er konnte das nicht auf Dauer. Er musste sesshaft werden können, musste eine Partnerin oder einen Partner finden können, mit dem Wissen, auch bei demjenigen bleiben zu können. Es war interessant durch die Welt zu reisen, aber er wollte nicht immer wieder Menschen die er liebte zurücklassen müssen. Man sah ja, wohin es ihn gebracht hatte. Er war nicht einmal dazu im Stande sich jemandem zu Nähern, den er begann wirklich gern zu haben. Vielleicht war er selbst gar nicht so anders wie sein Besucher. Beschließend die trüben Gedanken sein zu lassen, räumte Rei die restliche Küche auf und ging dann in sein Zimmer um Kleidung zu suchen, die Kai auch passen würde. Das war ein wenig schwer, weil der Russe deutlich breiter gebaut war als er selbst. So wählte er nach kurzem Zögern für ihn 'gemütliche' Sachen, in der Hoffnung, dass sie weit genug waren. Als er zum Bad ging, öffnete sich gerade die Tür und im nächsten Moment stand Kai vor ihm, nur mit einem Handtuch bekleidet. Er spürte selbst, wie ihm leichte Röte bei dem Anblick in die Wangen stieg. Er war niemand der leicht rot wurde, aber das war selbst für ihn zu viel. Der Russe war mehr als nur gut gebaut und die noch immer leicht feucht glänzende Haut tat ihr Übriges. Allerdings verging diese Bewunderung schnell wieder, als er die blauen Flecken bemerkte. Das sah wirklich nicht gut aus. "Genug gestarrt?", kam es kühl von Kai, der ihn mit einer Mischung aus Kälte und einer Warnung ansah. Um die Situation einigermaßen zu überspielen, lächelte Rei nur vorsichtig. "Komm mit.", war das einzige was er sagte, ehe er sich abwandte und ins Wohnzimmer ging. Der andere hatte keine Wahl als ihm zu folgen, schließlich hatte er noch immer die Kleidung. "Setz dich." Kai schien wieder enorm angespannt und langsam beschlich ihn Sorge, dass die Gerüchte um den sexuellen Missbrauch wahr waren. Er hoffte wirklich, dass dem nicht so war, auch wenn es viel erklären würde. Eigentlich hätte er ihn als nächstes dazu aufgefordert sich hin zu legen, aber das brachte er nicht über sich. "Hey, Kai.", meinte er stattdessen sanft. Er wartete, bis er sich sicher war, dessen Aufmerksamkeit zu haben. "Ich tu dir nichts, ja? Entspann dich, ich will nur eine Salbe auf die blauen Flecken auftragen." Das schien zumindest einigermaßen zu wirken, denn Kai entspannte sich, soweit er es mit diesen Prellungen konnte. Dennoch sah man, dass er sich nicht wohl fühlte. Ein paar Augenblicke später hielt er Kai eine Tube Salbe hin, auf den verwunderten Blick hin lächelte er selbst nur. "Wenn dir das lieber ist, kümmer' dich selbst um die Verletzungen soweit du kannst und ich widme mich denen auf deinem Rücken." Ja, mit ein wenig Beobachtungsgabe und Empathie konnte man mit Kai auch ein Gespräch führen ohne viel zu sagen. Natürlich sahen das die meisten jugendlichen nicht, aber Rei war lange genug Situationen ausgesetzt in denen es von großem Vorteil war die Mimik und Gestik anderer interpretieren zu können, ohne, dass man sie näher kannte. Beispielsweise wenn er mal wieder auf eine neue Schule gekommen war. Als ihm Kai die Tube aus der Hand nahm, berührten sich ihre Finger kurz. Mist, das war nicht gut. Noch einige Sekunden danach kribbelte seine Haut an den Stellen, die der andere gestreift hatte. Er musste wohl den Rest des Jahres damit leben, dass er scharf auf den verschlossenen Russen war. Es gab schlimmeres, denn wenn er eins gelernt hatte, dann, dass diese kribbelnde Aufregung auch durchaus seinen Reiz hatte. Es war nicht immer schlimm seine Bedürfnisse nicht befriedigen zu können und er würde es einfach genießen. So, wie er es schon das ein oder andere Mal einfach genossen hatte, schließlich war man nicht immer scharf auf jemanden, der auch an einem interessiert war. Es gab wirklich Schlimmeres. In der Zeit in der sich sein Gast selbst verarztete, verschwand er noch einmal in der Küche und setzte Tee auf. Ein warmes Getränk konnte wunder gegen Anspannungen wirken und er wollte schließlich, dass sich Kai wenigstens ein wenig wohl fühlen konnte. Außerdem hatte er so eine Ausrede ihn allein zu lassen, damit er sich nicht am Ende bedrängt oder angestarrt fühlte. Als er wieder kam hatte sich Kai bereits eine Hose angezogen und sah ihm mit seinem typischen ruhig, kalten Blick entgegen. Dennoch entging ihm das vorsichtige Mustern nicht. Er ignorierte es und stelle das Tablett ab, reichte dem anderen eine Tasse, der nach kurzer Skepsis das Getränk probierte und es dann offensichtlich für gut genug erachtete. "Dreh dich am besten ein bisschen zur Seite, dann muss ich dir nicht so auf die Pelle rücken." Plötzlich lag flammendes Eis in dem Blick von Kai. Seine Augen verengten sich leicht und schienen sich zu verdunkeln. "Hör auf damit." Etwas verwirrt hielt Rei inne: "Was meinst du?" "Hör auf mich zu behandeln, als wäre ich krank, in welcher Hinsicht auch immer. Mir geht es gut und ich werde nicht gleich in Panik verfallen, nur, weil du mir den Rücken mit etwas Salbe beschmierst." Im ersten Moment wusste Rei nicht so recht, was er darauf sagen sollte. Natürlich sollte er nicht übervorsichtig sein, aber das war schwierig, wenn man davon ausgehen musste, dass der Interaktionspartner vermutlich einmal sexuell missbraucht wurde. "Das ist nicht so einfach für mich.", versuchte Rei es dann und setzte sich Kai gegenüber. "Es gehen da gewisse Gerüchte um. Normalerweise glaube ich nichts, was ich nicht aus erster Hand weiß, aber... du bist nicht das, was man gesprächig nennen kann und so was fragt man auch nicht einfach. Ich will nicht, dass du dich unwohl fühlst oder schlimmeres." Kurz legte sich angespannte Stille über das Zimmer. Hatte er es übertrieben? Hätte er das vorsichtiger formulieren sollen? Der stechende, durchdringende Blick seines Gegenübers machte ihn nervös. Es wirkte, als würde er etwas in seinen eigenen Augen suchen. "Du denkst also, ich bin zu schüchtern um zu protestieren, wenn mir was nicht passt?" Einerseits traf Rei diese Aussage, andererseits musste er schmunzeln, da ihm kurz das Bild eines schüchternen Kais in den Sinn kam. Jemand, mit hängenden Schultern, gebeugter Haltung und verängstigtem Blick. Nein, Kai war nicht schüchtern, nur verschlossen. "Wer weiß denn, ob es dein Stolz nicht verbietet, diese Art der Schwäche zu zeigen? Ich will nicht, dass du glaubst dich zu etwas zwingen zu müssen, nur, damit mir nicht auffällt, dass du ein Problem mit irgendwas hast." Kai schmunzelte darauf hin leicht, sein Blick änderte sich aber immer noch nicht. Eisige Flammen schienen ihn verschlingen zu wollen. Ein wohliges Schaudern ergriff Rei. "Warum fragst du nicht einfach?" Diese Antwort überrumpelte Rei derart, dass er kurz sprachlos war, was Kai dazu nutzte um weiter zu machen. "Seit Wochen tanzt du um mich herum und versuchst Zeug aus mir raus zu kriegen, ohne, dass du direkt danach fragst." Jetzt war es an Rei seinen Blick etwas zu verdunkeln. Er war sich nicht sicher, wohin das hier führen würde, aber der Russe redete, das war ein wichtiger Fortschritt. "Du antwortest ja nicht mal, wenn ich vorsichtig frage. Warum sollte ich dann davon ausgehen, dass du das tust, wenn ich genauer nachfrage?" Ein Schnauben und ein anderes abfälliges Geräusch entkam der Kehle seines Gegenübers, was Rei mehr als irritierte. "Denkst du, ich antworte jemandem, der mich als pures Forschungsobjekt betrachtet? Hältst du mich für so bescheuert, dass mir das nicht auffällt? Du gibst dich mit mir ab, weil ich anders bin. Nicht so langweilig wie die anderen, nicht wahr? Du hast keine Tendenz dazu, dich wirklich mit mir anzufreunden, du willst mich nur kennen lernen, mich studieren. Du bist ein netter Kerl, aber ehrlich gesagt macht dich das nicht besser als die anderen, die nichts mit mir zu tun haben wollen, weil ich anders bin." Er war geschockt über diese Aussage, das konnte er nicht leugnen. Genauso wenig wie er leugnen konnte, dass der andere recht hatte. Er hatte ihn einfach nur interessant gefunden. Kurz kam so etwas wie Reue und Scham in ihm auf, bis er stutzte. Eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er inne halten und nochmal über das Gesagte nachdenken sollte. Er nahm sich die Zeit, war seine Intuition doch eine seiner größten Stärken. Ja, er hatte einfach nur Interesse an ihm gefunden. Rei lachte plötzlich auf, konnte einfach nicht anders. Fast hätte er ihn gehabt! "Bei wie vielen hat das bisher funktioniert?", fragte er den anderen und musste sich kleine Tränen aus den Augen wischen. "Eins muss ich dir ja wirklich lassen. Mit deiner Haltung und deiner Stimme zu spielen beherrschst du mehr als perfekt. Und zwar so gut, dass ich fast über den Inhalt hinweg gesehen hätte." Er nahm einen Schluck seines Tees und sah in das undurchdringbare Gesicht Kais. "Natürlich habe ich mich dir nur genähert, weil ich dich interessant fand. Das tue ich bei jedem anderen Menschen aber auch. Jeder Mensch tut das. Man nähert sich keinen Leuten, die man nicht interessant findet." Zufrieden konnte er beobachten, wie die Miene von Kai sich ein wenig lockerte und sich so was wie ein Schmunzeln auf seine Lippen stahl. Nun nahm auch der sich das heiße Getränk wieder und nippte kurz daran. "Ich meine es trotzdem ernst. Wenn du was wissen willst frag, aber hör auf dich so komisch zu benehmen." "Botschaft angekommen.", antwortete Rei leicht lächelnd, entspannte sich jetzt auch wieder und überlegte kurz. "Stimmt es, dass du von einem Lehrer angefasst worden bist?" Jeder andere Mensch hätte ihn jetzt wohl schockiert angesehen ob dieser Direktheit, aber nicht so Kai. Der setzte nur sein bekannt hochmütiges Lächeln auf und ließ sich sogar zu einer Antwort herab. "Er hat's versucht, da hab ich ihm das Handgelenk gebrochen. Seitdem kann er richtigen Sport vergessen.. und wahrscheinlich auch schweres heben." Etwas in der Stimme des anderen ließ Rei erschauern und es war sicherlich nicht diese Gleichgültigkeit die der da zur Schau trug. Es war vielmehr die Genugtuung, die fast schon wie Freude wirkte, die dieses merkwürdige Gefühl in ihm auslöste. Kai war ein Alphatier, auch wenn er nicht immer so wirkte. Kam man in sein Revier, kam man ihm zu nahe, wurde kurzer Prozess gemacht. Das gefiel ihm, er mochte dominante Männer, denn nur die schafften es, dass er tatsächlich mal die Führung abgab und seinen Kopf ausschalten, ja, entspannen konnte. "Also ist das Gerücht vom sexuellen Missbrauch wirklich nur ein Gerücht?" Kai nickte und das beruhigte Rei ungemein. Dennoch war da was. Der andere benahm sich nicht umsonst so komisch, seit er hier war. Da waren immer wieder diese kurzen Momente in denen er verloren und ängstlich wirkte. "Was ist es denn dann? Irgendwas ist doch mit dir." "Ja.", war der einzige Kommentar Kais dazu, dann kehrte kurz Stille ein. "Aber was ist mit dir, Rei? Du trägst auch ein dunkles Geheimnis mit dir herum, nicht wahr? Du lässt auch niemanden an dich heran." Das Lächeln des Asiaten nahm eine traurige Komponente an und kurz trank er noch einen Schluck Tee. Wäre es Alkohol hätte er gesagt, er wolle sich noch Mut antrinken, aber vermutlich war es nur der Versuch, ein wenig Zeit zu schinden. "So dunkel ist das Geheimnis gar nicht. Eigentlich ist es gar nicht dunkel. Meine Eltern bleiben nie länger als ein Jahr am gleichen Ort. Vielleicht auch mal eineinhalb. Es bringt mir nichts Freundschaften zu knüpfen oder irgendwas, was tiefer geht." Kais Augen schienen noch etwas durchdringender zu werden und allmählich fühlte sich Rei ganz und gar nicht mehr wohl. "Und deshalb bist du zu jedem kotzfreundlich und versuchst es allen recht zu machen. Natürlich Rei, ich glaube die sofort, dass das nur daran liegt, dass du keine sozialen Bande knüpfen willst. Wer hat dir so weh getan, dass du es nicht erträgst dich offen mit anderen anzulegen, aber du dennoch nicht erträgst, wenn man dir zu Nahe kommt?" Jetzt war es Rei, der nicht mehr wusste, was er sagen sollte. Kapitel 6: Ungläubige Belustigung --------------------------------- "Weißt du...", begann Rei leise, dabei auf seine Tasse sehend. "Da.. da war dieses Mädchen.. und..." Er stockte als seine Schulter zu beben begann. Kurz darauf verließ ein heiteres Kichern seine Kehle. Es dauerte kurz, bis er sich gefangen hatte. "Ich kann das einfach nicht", fuhr er, immer noch kichernd, fort. Er begegnete dem stechenden Blick von Kai mit Lachtränen in den Augen, die er sich erst einmal fort wischte. "Sorry... Es ist nur... muss es denn immer ein furchtbares Ereignis oder eine bestimmte Person sein? Es war nicht nur eine.. es waren alle. Alle Freunde die ich bisher zurück lassen musste. Alle Liebschaften die deshalb zerbrochen sind. Außerdem bin ich von Natur aus jemand, der nur wenige wirkliche Freunde hat. Es liegt nicht an jemand bestimmtem oder einem Ereignis, das mich traumatisiert hat. Dieses Vorgehen hat sich im Laufe der Zeit einfach als das Beste heraus gestellt. Nicht mehr und nicht weniger." Kais Blick war noch immer skeptisch, aber er schien zufrieden damit zu sein. Rei wurde wieder ruhiger, wieder ernster. Er musterte seinen Gegenüber kurz. "Bei dir ist das aber nicht so, oder? Bei dir gibt es was.. ein Ereignis oder eine Person, die dich so gemacht hat..." Kai zuckte nur wieder mit den Schultern, schien aber kurz nachzudenken, ja, abzuwägen, ehe er antwortete: "Ja. Und irgendwie ist es beides." Mehr Informationen wollte er ihm wohl nicht geben und so beließ es Rei auch dabei. Stattdessen nahm er sich endlich die Tube mit der Wundcreme und setzte sich zu Kai um ihm endlich den Rücken zu behandeln. Allerdings zog er schon nach kurzer Zeit die Stirn kraus, als ihm feine, weiße Linien auffielen, die sich über den ganzen Rücken zogen. Er konnte wegen der zahlreichen Hämatome nicht allzu viel erkennen, aber es reichte durchaus, um das als Narben zu identifizieren. Sorge, gepaart mit Ekel erfassten Rei, denn ihm war bewusst, dass sich das niemand selbst zufügte. Das mussten saubere Wunden gewesen sein, denn die Überbleibsel waren tatsächlich zu fein, um von Selbstgeißelung oder so was zu kommen. Diese Narben wurden wulstig und verblassten nur sehr schwer. Wie konnte ein Junge nur so voll mit Narben sein? Was hatte Kai durchmachen müssen in seinem so jungen Leben? "Ignorier's einfach.", kam es plötzlich von seinem Patienten und sorgte dafür, dass Rei den Blick vom Rücken des anderen hob ihm direkt in die Augen sah. Er hatte sich umgewandt um ihn prüfend zu mustern. "Ich tu's auch. Also ignorier's einfach. Das ist Vergangenheit." Rei hätte gerne nachgefragt, war sich aber bewusst, damit nicht weiter zu kommen. So lächelte er etwas gequält und versuchte den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, wieder hinunter zu schlucken. "Fällt mir schwer, wenn ich ehrlich bin." "Dann lern's" Und damit wandte sich der Russe wieder um und wartete offenbar darauf, dass die Behandlung abgeschlossen wurde. Einmal nur hob Rei die Hand und fuhr eine der feinen Linien nach. Er konnte deutlich spüren, wie Kai erschauerte, doch der sagte dazu nichts mehr. Danach beeilte sich Rei diese Prozedur zu beenden. "Die haben dich echt ganz schön erwischt. Ich frage mich, wie du sie dann trotzdem noch in die Flucht geschlagen hast." Das typische Schulterzucken fehlte auch hier nicht, ehe Kai antwortete: "Das ist doch nichts." "So sahst du gestern aber nicht aus." Kai sah in den Becher, in dem der nun eher kalte Tee noch immer verweilte. "Es war nicht geplant, dass mich jemand findet..." Rei schnaubte daraufhin nur: "Und was dann? Wolltest du da die ganze Nacht liegen blieben?" "Hm" Typisch. Natürlich ließ Kai sich nicht auf solche Fragen ein, natürlich bekam er keine ordentlichen Antworten! Wie sollte man denn so einen anderen Menschen kennen lernen? "Du machst es dir ganz schön einfach, weißt du das?" Rei war aufgestanden um sich wieder auf den Sessel gegenüber der Couch zu setzen, auf der sein Gast noch immer saß. "Hm", vernahm er nur wieder und drehte sich mit wütend funkelnden Augen auf halbem Wege wieder um. Kai lächelte. Es war einen hauch herablassend, aber hauptsächlich amüsiert und plötzlich musste Rei lachen. "Du bist echt unmöglich!", rief er aus und vergaß den vorigen Ärger bald wieder. Kai hatte ihn sowieso nur absichtlich provozieren wollen. Er ließ sich locker auf den Sessel fallen und fixierte ihn wieder. Das Lächeln, trotz der eher negativen Konnotation, hatte Kai wirklich unglaublich attraktiv gemacht. Er stand auf solche Typen. "Unglaublich.", wurde er dann aber korrigiert. "Unmöglich bist nur du." Rei hob skeptisch und fragend eine Augenbraue, doch er sollte keine Antwort auf die Stumme Frage bekommen. "Natürlich kriegst du keine anständige Antwort auf solche Fragen. Ich muss doch erst einmal herausfinden, ob du es wert bist, dass ich so offen mit dir reden." Das herausfordernde Glitzern in den Augen des Anderen, machte Rei klar, dass der sich wohl erholt hatte. Seine Haltung hatte sich etwas geändert, wirkte weniger verkrampft, er sah wieder selbstsicherer aus und dieses typische Glänzen in seinen Augen sagte ihm deutlich, dass er sich für etwas Besseres hielt. In diesem Moment wurde Rei auch wieder vollkommen bewusst, warum dieser Kerl derart gemieden und geschnitten wurde: Er war eben einfach ein arroganter Scheißkerl. Aber dieser Fakt brachte Rei nur zum Schmunzeln, was noch etwas breiter wurde, als er sah, wie sich daraufhin die dunklen Augen kurz verwundert weiteten, ehe sie wieder die normale Arroganz annahmen. Kai hatte einen sehr interessanten Kern unter seiner Schale aus Adamantium, aber leider war die Mauer schon wieder komplett aufgebaut. Machte aber auch nichts, denn das raue Äußere der Fassade war auch durchaus interessant. "Na hör mal!", empörte sich Rei gespielt. "Ich bin schließlich der, der dich von der Straße aufgelesen hat! Da habe ich es ja wohl verdient Rede und Antwort zu bekommen!" Natürlich war das nicht ernst gemeint, aber eine kleine verbale Kabbelei war jetzt sicherlich auch nicht schlecht. "Du hast mich nur wegen der Katze gefunden, also gebührt ihr mein Dank, nicht dir. Sie hat dich nur dazu gebracht zu tun, was sie wollte." Kurz flackerte Verwunderung durch Reis Blick. Kai hatte also doch etwas mitbekommen gestern Abend? Irgendwie war er davon ausgegangen, dass der geistig wirklich nicht mehr anwesend gewesen war. Umso beunruhigender, dass der so enorm abwesend gewirkt hatte. So verloren.. so weltfern. "Das war sicherlich nur mein Schutzgeist, der mir treu gedient hat.", konterte er sofort. Und plötzlich schlug ihm eine Welle von ungläubiger Belustigung entgegen. Er kannte solche Blicke, aber sie machten ihm schon lange nichts mehr. Ihm war klar, dass Kai niemand war, der an solche 'Ammenmärchen' glaubte. Diese neumodischen Westler, wie Amerikaner, Europäer und anscheinend auch Russlen verstanden nichts von östlicher Tradition. Aber das war ihm herzlich egal. "Willst du ihn sehen?" Noch ehe Kai verneinen konnte, war Rei aufgesprungen. Nein, das würde er sich jetzt nicht nehmen lassen. "Komm", sagte er einfach nur und führte Kai in sein Zimmer. Es gab nicht viel, was er von Stadt zu Stadt und von Land zu Land immer mitnahm. Letztendlich war eigentlich nichts mehr wirklich originaler Besitz aus seiner Heimat, nur diese eine Sache. Stolz lächelnd präsentierte Rei das riesige Gemälde, welches gegenüber seines Bettes an der Wand prankte und diese nahezu komplett einnahm. Auf diesem zeigte sich ein majestätischer, riesiger, weißer Tiger, der sich brüllend und von Blitzen umgeben, auf einer Klippe dem dunklen Himmel entgegen reckte. Deutlich sprachlos stand Kai einfach nur da und starrte dieses unglaubliche Kunstwerk an, was diesmal Rei dazu brachte etwas überheblich zu grinsen. "Da staunst du, was? Das hat mir unser Dorfältester gegeben, als meine Eltern damals mit mir das erste Mal umgezogen sind. Normalerweise bekommt es immer der erste männliche Nachkomme, aber unser Weiser hatte keine Kinder. Er meinte, dass es an der Zeit wäre, dass ich unseren Schutzgeist auf meiner Reise besser gebrauchen könne, als das Dorf, dem er schon so viele Jahrhunderte gedient hat." ... "Ich sag doch du bist unmöglich.", kam es nur gemurmelt von der Seite, was Rei kurz wieder die Stirn runzeln ließ. "Hör auf mich so zu bezeichnen. Das ist erstens nicht wahr und zweitens ist das irgendwie gruselig wenn du so was sagst." "Wie soll ich dich denn sonst bezeichnen? Außerdem stimmt es. So ein Mensch wie du ist komplett unmöglich." "Dann würde ich nicht existieren. Das ist Unsinn." "Das kommt ganz darauf an..." "Auf was?" "Darauf, was du dann bist." Und damit wandte Kai sich um und verließ das Zimmer wieder. Er hatte immer noch kein Oberteil an und plötzlich fühlte er sich ohne Kleidung schutzlos. Diese ganze Situation war so absurd, aber egal was er auch versuchte, Rei war genauso schwer aus der Reserve zu locken wie er selbst. Er fand einfach keinen Schwachpunkt. "Was wollen wir heute eigentlich machen? Es ist Samstag, da treffen wir uns normalerweise im Park. Was machen wir stattdessen?" Kai wandte sich verwundert wieder ihm zu. "Ich hatte nicht vor, dich noch länger mit meiner Anwesenheit zu beglücken..." Prüfend musterte Rei ihn, war sich nicht sicher, was er jetzt tun sollte. Sollte er Kai einfach so gehen lassen? Diese Chance verstreichen lassen? Er war sich unsicher, wollte den Anderen auch zu nichts drängen. Andererseits würde es wohl auch falsch rüber kommen, wenn er sich jetzt gar nicht gegen die Aufbruchsstimmung wehrte. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, Kai loswerden zu wollen oder gar von seinem Gast gestört zu werden. Also stand die Entscheidung wohl fest: "Das fände ich aber schade. Musst du noch wo hin?" Das konnte ja sein, schließlich hatten sie sich im Park nicht mehr getroffen, seit diesem einen Samstag, an dem Rei nicht gekommen war. Er selbst war in der nächsten Woche kurz da gewesen, war aber wieder gegangen, als er Kai nicht finden konnte. Vielleicht hatte der Russe diesen Termin jetzt anders verplant. Kais Blick musterte ihn unschlüssig, das sah er. Es war erstaunlich wie viel seine Augen verrieten, wenn man die feinen Nuancen nur erkennen konnte. Äußerlich blieb er total kühl und gelassen wie immer, nur seine Augen funkelten leicht unsicher. So interessant. "Ich wüsste nicht, was wir gemeinsam machen sollten.", kam dann die eher defensive Antwort. Rei zuckte nur die Schultern bei dieser Anmerkung. "Als wäre das sonst irgendein Problem gewesen. Wir haben sonst auch immer nur beieinander gesessen und haben maximal ein wenig geredet." Der Blick Kais verschloss sich wieder, er antwortete aber nicht, was Rei leicht zum schmunzeln brachte. "Aber wenn du gerne was machen möchtest, könnten wir doch versuchen uns endlich etwas näher kennen zu lernen, wie wär's?" Kais Blick huschte unruhig kurz zu einer Uhr, die an der Wand hing, was Rei kurz wirklich verwirrte. Hatte er doch noch was vor? "Wenn du weg musst, sag es. Ich werde dich sicherlich nicht zwingen, bei mir zu bleiben." Sein Gegenüber schien kurz mit sich zu ringen, schüttelte dann aber den Kopf. "Noch nicht." Seltsam. Hatte Kai ihm nicht einmal gesagt, dass niemand hier auf ihn warten würde? Und jetzt benahm er sich so merkwürdig. "Wo wir gerade beim näheren Kennenlernen sind... willst du mir nicht verraten, warum du so nervös bist? Liegt es an mir?" "Ja." Autsch. So viel Direktheit war er nicht gewohnt, wenn er ehrlich war und merkwürdigerweise verunsicherte ihn die Antwort enorm. Was hatte er falsch gemacht? "Aber dafür kannst du nichts." Wieder einmal zog Rei die Stirn kraus. Das wurde in der Nähe seiner neuen Bekanntschaft wirklich zu einer neuen Angewohnheit und er war sich noch nicht ganz sicher ob ihm das gefiel. Er mochte Rätsel, ja, aber er war sich nicht sicher ob er es mochte, immer dann, wenn er einen Schritt vor gemacht hatte, wieder zwei zurück zu gehen. Kai ergab einfach so was von überhaupt keinen Sinn. "Und du nennst mich unmöglich, ja? Du bist einfach nur unlogisch." Das kam ein wenig genervter aus seinem Mund als beabsichtigt, aber es ärgerte ihn einfach so sehr, dass Kai nicht einmal mit der Sprache rausrückte, sondern einfach immer nur den mysteriösen, unnahbaren Kerl gab. Die Ursache seines Frustes starrte ihn indes einfach nur mit undefinierbarem, starren Blick an. Hmpf. "Ich will dich doch nur kennenlernen! Wovor hast du Angst? Dass ich es in der Schule herum erzähle?" Keine Reaktion. "Dass ich dich auslache?" Keine Reaktion. "Dass ich dich alleine lasse?" Der leichte Glanz in den Augen Kais begann merkwürdig zu flimmern. "Dass ich danach das Interesse an dir verliere?" Und das traf. Plötzlich verdunkelte sich der Blick wieder, auch wenn Kai selbst weiterhin einfach nur Ausdruckslos ins Leere starrte. Rei schnaubte. "Und warum sagst du mir das nicht? Vorhin noch hast du mir gesagt ich solle einfach fragen wenn etwas wäre. Warum fragst du mich nicht, ob ich mich nur mit dir abgebe, solange ich nicht weiß wer du bist!" "Es geht doch gar nicht darum!", zischte Kai plötzlich in schneidend kaltem Tonfall. "Worum denn dann, zum Teufel? Erklär's mir!" Natürlich ließ sich Rei nicht einschüchtern. Selbst wenn Kai wieder gewalttätig werden würde, der war so schwer verletzt, dass er selbst spielend leicht mit ihm fertig werden würde. Rei schnaubte, zwang sich aber zur Ruhe, als er bemerkte, wie abwehrend die Haltung von Kai plötzlich wieder wurde. "Kai. Ich hab viel Erfahrung mit Menschen aller Art und auch wenn ich bei dir Anzeichen sehe, die mich erahnen lassen, was los ist, kann ich dir trotzdem nicht in den Kopf sehen. Ich bin in spätestens einem Jahr wahrscheinlich wieder weg, ja. Aber du bist der Einzige hier in der Umgebung der mich interessiert und das wird sich innerhalb dieses einen Jahres nicht ändern, denn jemanden wie dich vollständig kennen zu lernen, geht nicht in den paar Monaten und schon gar nicht, wenn wir uns im Prinzip nur einmal die Woche sehen. Und selbst wenn ich dich vollständig kennenlernen sollte... dann wärst du der erste Mensch bei dem ich das schaffen würde, seit ich aus meinem Dorf weg bin und wärst damit für mich etwas ganz Besonderes. Erklär mir was in deinem Kopf vorgeht. Ich wäre echt gerne mit dir befreundet und würde dir gerne auch Sachen von mir erzählen. Also sag mir wovor du angst hast, damit ich die Zeit die ich hier habe, mit dir nutzen kann." Kais Miene war unbeschreibliches Schauspiel. Tausend Emotionen schienen gleichzeitig durch seine Augen zu flattern. Er schien überfordert, aber Rei würde jetzt sicherlich nicht locker lassen. Er gab ihm die Zeit die er brauchte, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Minuten verstrichen, ohne, dass auch nur irgendwer etwas sagte. Schließlich sackten die Schultern Kais leicht nach unten, als hätte er aufgegeben, als wäre ein Kampf beendet worden. Er wirkte nicht entspannt, sondern eher unsicher. "Ich will mich nicht derart... verletzbar machen." Rei atmete erleichtert aus, lächelte dann aber sanft. Das war doch wirklich schon ein Anfang. "Mal abgesehen davon, dass ich nicht vorhabe, die Infos die du mir gibst auszunutzen, in welcher Weise auch immer, heißt 'sich kennenlernen' ja nicht, dass du mir gleich deine Lebensgeschichte offen legen musst. Außerdem.. habe ich durchaus auch vor dir einiges von mir zu zeigen, was mich angreifbar macht. Das heißt, selbst wenn ich die Informationen mal ausnutzen sollte, wirst du mindestens genauso viele haben, die du gegen mich verwenden kannst." Kai schien noch immer nicht ganz überzeugt davon zu sein, deshalb ging er sogar noch einen Schritt weiter: "Mach wir doch ein Spiel daraus. Immer wenn ich dich etwas frage und du mir antwortest, darfst du mich auch etwas fragen auf das ich Antworten muss. Und damit du mir keinen Vertrauensvorschuss geben musst verspreche ich, mit harmlosen Dingen anzufangen, während du keine Einschränkungen berücksichtigen musst. Wie klingt das?" Doch statt endlich eine positive Reaktion zu erhalten, wurden die misstrauischen Augen nur noch dunkler. "Warum tust du das? Warum schenkst du mir so viel Vertrauen? Ich könnte das genauso ausnutzen!" Doch Rei lächelte nur besonnen: "Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass du das tun würdest, wenn du es für nötig befinden würdest." "Warum tust du das dann!?" Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, lächelte nur sein unbekümmertes Lächeln und antwortete, wie selbstverständlich: "Weil ich im schlimmsten Fall nach ein paar Monaten sowieso wieder verschwunden bin." Kapitel 7: Neugieriges Interesse -------------------------------- Scheinbar hatte Kai das als Argument ausgereicht um sich auf das Spiel einzulassen. Um es nicht zu ungemütlich und wie ein Verhör wirken zu lassen, hatten sie es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Rei hatte die Musikanlage wieder an gemacht, hatte Kai auf die Bücherregale losgelassen und sich selbst mit seinem angefangenen Buch quer über den Sessel gelegt und schmökerte nun erst einmal weiter. Kai überließ er gerne die Couch, denn die etwas unbequeme Position die er nun einnahm hielt Rei wach. Langsam merkte er die Auswirkungen der durchgemachten Nacht, versuchte aber weiterhin wach zu wirken, nicht gewillt Kai eine Fluchtmöglichkeit zu geben oder ihm den Eindruck zu vermitteln, er würde ihn nur aus Höflichkeit nicht bitten zu gehen. Sein Gast ließ sich schließlich auf dem größeren Möbelstück nieder und Rei erkannte aus dem Augenwinkel, dass er eines der Astronomiebücher seines Vaters gewählt hatte. Hmm... Astronomie und Physik. Das war eine interessante Kombination. "Willst du später mal in die Raumfahrt oder so was?" Das war doch eine wirklich schöne Frage zum Einstieg. Persönlich aber nichts kritisches, begleitet von den sanften chinesischen Klängen und der entspannten Atmosphäre sicherlich keine schlechte Strategie. "Nein." Hmm, ob er ihn irgendwann dazu bringen könnte nicht ganz so einsilbig zu antworten? Vielleicht, aber das würde sich noch zeigen. Jetzt herrschte erst einmal Schweigen und er erwartete mit Spannung die Gegenfrage. Das machte jetzt schon unglaublichen Spaß und war aufregend. "Warst du schon mal richtig verliebt?" Kam es dann nach einer halben Ewigkeit von Kai und Rei wunderte sich etwas darüber, dass es ausgerechnet eine Frage in diese Richtung war. Aber er verstand schon irgendwie warum. Liebe war bei vielen ein wunder Punkt. "Kommt ganz drauf an, was du als 'richtig' empfindest..." Wieder herrschte kurz Schweigen. Kai schien wirklich jemand zu sein, der jedes seiner Worte genau abwägte. Das musste ziemlich anstrengend sein. "Nun ich denke, wenn du davon ausgegangen bist, dass du mit deiner Partnerin alt wirst und ihr schon lange genug zusammen wart, dass das nicht nur die erste Verliebtheit war." War er schon einmal so sehr verliebt gewesen? Hatte er schon mal richtig geliebt? Er war sich nicht sicher. "Da gab's mal ein Mädchen in meinem Heimatdorf. Wir haben heute noch losen Kontakt, aber ich denke, ich war zu jung um da wirklich schon richtig 'lieben' zu können. Und danach hatte ich nie die Möglichkeit herauszufinden ob sich die Verliebtheit in was Richtiges entwickelt." Mao, ja. Sie waren wie Geschwister füreinander gewesen, aber Rei war sich sehr sicher, wäre er in dem Dorf geblieben, hätte er sie eines Tages geheiratet. Ob es nun gut oder schlecht war, dass es nicht so gekommen war, konnte er nicht wirklich sagen. Das würde wohl einzig die Zeit zeigen. Jetzt war er also wieder dran und es war gut um zu vergessen, wen er schon alles zurückgelassen hatte. Daran wollte er wirklich nicht denken. "Was willst du später mal machen?" Er stellte absichtlich eine Frage, die man nicht nur mit 'Ja' oder 'Nein' beantworten konnte, in der Hoffnung, den anderen damit etwas zum Reden bekommen zu können. "Ich übernehme die Firma meines Großvaters." Huh, das war wirklich interessant und er wusste jetzt schon, was er als nächstes für eine Frage stellen würde. "Du warst mal in ein Mädchen verliebt, also bist du Hetero?" Beinahe hätte Rei die Augen verdreht. Warum waren alle immer nur so besessen von Sexualität? Aber das war hier in Japan wohl noch ein Punkt, mit dem er ihn angreifen konnte. Er hatte ja an der Schule mitbekommen, dass Japaner nicht so tolerant waren, wie sie gerne mal taten. Ehrlich gesagt war er in noch keinem Land gewesen, in dem Homosexualität kein Problem war. Nur war es manchmal eben weniger ein Problem. Hier in Japan war das irgendwie seltsam Zwiegespalten. "Nein.", antwortete er nur wahrheitsgemäß und damit sollte wohl mehr oder weniger klar sein, wie er gepolt war. Es fiel ihm auch heute noch schwer das wirklich auszusprechen, deshalb hoffte er, dass Kai sich denken konnte, was er meinte. "Was macht die Firma deines Großvaters?" "Ausbildung von Profisportlern und deren Vermarktung." Das klang aber gar nicht nach dem, was Kai interessierte. Das klang selbst für ihn ziemlich langweilig und öde. Aber vielleicht hatte Kai ja wirklich Spaß daran. "Hattest du schon mal was mit einem Kerl?" War irgendwie klar gewesen, dass das jetzt kam, aber gut, er hatte dieses Spiel schließlich vorgeschlagen. "Ja, schon mehr als einmal. Freust du dich darauf, die Firma zu übernehmen?" Kai schwieg wieder sehr lange. Außergewöhnlich lange. "Das ist nicht relevant. Ich werde sie übernehmen, das steht fest." Oh ha, das klang nicht sehr positiv. Aber er hörte keinerlei Bitterkeit oder Unbehagen aus der Stimme heraus. Vielleicht war Kai ja ganz zufrieden damit ein festes Ziel vor Augen zu haben. Aber irgendwie hatte sich Rei immer vorgestellt, dass er ein Freigeist sei. Lag er wirklich so daneben? "Wann war dein erstes Mal?" Uff, das wurde echt immer persönlicher, aber so war es ja im Prinzip auch gedacht gewesen. Das war dennoch anstrengend. Er war offen, ja, aber er hatte noch nie wirklich darüber geredet und es fiel ihm doch etwas schwer. "Vor etwa eineinhalb Jahren. Da war ich zum ersten Mal in Amerika und hab mich da etwas von der Kultur mitreißen lassen. Da ist man mit 16 schon 'spät' dran und da war dieses unglaublich hübsche Mädchen. Wir waren danach auch noch kurz zusammen, aber es war schon vorbei lange bevor ich wieder weg gegangen bin." Jetzt war er wieder dran, aber er war sich nicht sicher, was er fragen sollte. Letztendlich entschied er sich erst einmal wieder für eine harmlose Frage und erwartete eigentlich sogar, dass sie mit 'Nein' beantwortet werden würde: "Spielst du ein Instrument?" "Ja." Verwirrt sah er zu Kai. Das hatte er jetzt wirklich nicht erwartet. "Was für eins?" Doch er bekam keine Antwort darauf. Logisch, der Andere war jetzt mit fragen an der Reihe. "Wann hast du raus gefunden, dass du auch auf Kerle stehst?" Hach, auf was hatte er sich da nur eingelassen? Und schon wieder war er gezwungen an Menschen zu denken, die er zurück gelassen hatte. Wehmütig hob er den Blick nicht eine Sekunde lang von dem Buch. Es war gut, sich dahinter verstecken zu können. "Da waren wir in England. Er war etwas älter und wesentlich erfahrener als ich. Ich war da gerade zwölf oder dreizehn, weiß nicht mehr genau. Bis dato wusste ich gar nicht, dass ein Junge auch einen Jungen lieben kann. Aber nachdem wir viel Zeit miteinander verbracht haben und er mir gesagt hat, dass er mich mag, hab ich oft von ihm geträumt. Und... als wir dann wieder umgezogen sind und ich mich von ihm verabschiedet habe, hat er mich geküsst und...." Er musste abbrechen und kurz zu Atem kommen. Es war schwer darüber zu reden. Nicht nur, weil es ihm irgendwie peinlich war, sondern auch, weil es einfach weh tat sich wieder daran zu erinnern. Er wäre so gerne da geblieben, so gerne bei ihm. Er hätte ihn gerne so viel gefragt, weil er so wenig verstanden hatte von dem was er fühlte. Er war so verwirrt gewesen nach diesem Kuss. Nach diesem Ereignis hatte er eine furchtbare Selbstfindungsphase durchgemacht. Er hatte niemanden zum Reden. Seinen Eltern konnte er das unmöglich sagen und es hatte Monate gedauert, bis er Freunde gefunden hatte, denen er so sehr vertraute, dass er sich ihnen offenbarte. Aber daran wollte er auch auf keinen Fall denken. "... danach konnte ich es dann nicht mehr verleugnen. Der Kuss war so schön gewesen und mein Herz hat so stark geklopft. Ich wollte es nicht wahr haben, aber in dem Moment ist es mir eigentlich klar geworden." Er schwieg danach, weil er das selbst erst einmal wieder verdauen musste. Eine der Dinge, die gut am ständigen umziehen war, war definitiv, dass man sehr gut vor seiner Vergangenheit davon laufen konnte. Es war einfach die guten und damit wehmütigen Dinge im Kopf zu behalten und die Ereignisse, die nicht so toll waren, einfach zu vergessen. "Ich spiele Klavier." Rei schreckte aus seinen Gedanken und sah Kai erstaunt an. Für einen Moment glaubte er wirklich, sein Gast hätte ganz freiwillig mit ihm gesprochen, doch dann wurde ihm klar, dass er auf die Frage von vorhin geantwortet hatte. Klavier also. "Passt irgendwie zu dir." Ja, das einsame Instrument, das wunderbar auch alleine Klang, niemand anderen brauchte, aber dennoch auch wunderbar mit anderen Instrumenten zusammen wirken konnte. Das passt wirklich gut, wie er zugeben musste. "Willst du es dir einmal anhören?" Reis Augen weiteten sich vor Erstaunen. Er konnte nicht anders als Kai anzustarren als wäre er ein Außerirdischer. Hatte er ihn das wirklich gerade gefragt? Kai selbst starrte einfach nur in sein Buch und tat so, als würde er lesen. Die fehlende Pupillenbewegung bewies aber, dass dem nicht so war. "Ja.. ja, gerne!" Rei rechnete jetzt mit einer CD oder einem Hinweis auf ein kleines Konzert, aber es kam viel überraschender: "Ich hab immer Sonntags Unterricht. Du kannst ja vorbei kommen." Und damit war Rei offiziell zu Kai Hiwatari nach Hause eingeladen! Kapitel 8: Rubinrote Leidenschaft --------------------------------- Der restliche Tag verging ruhig, es wurden keine Fragen mehr gestellt und sie verbrachten den Samstag wie sonst auch. Nur Rei war unruhig und aufgeregt gewesen, die Müdigkeit plötzlich wie weggefegt. Kai war kurz nach Sonnenuntergang dann gegangen, hatte ihm nur noch seine Adresse mitgeteilt. Er lebte in einem sehr gehobenen Viertel der Stadt, war Rei etwas wunderte, besonders wenn man bedachte, dass er ihn vor kurzer Zeit noch für einen Straßenjungen gehalten hatte. Kai lief wirklich nicht herum, als hätte er Geld, aber das machte ihn in Reis Augen eher sympathisch. Dennoch war es ungewöhnlich, aber vielleicht kam er ja irgendwann hinter sein Geheimnis. Als Rei letztendlich zu Bett gegangen war - so aufgeregt er auch gewesen war, irgendwann musste er schlafen - fand er zu seiner großen Überraschung einen kleinen Zettel mit einer zwölf stelligen Zahlenfolge darauf. Er hatte schmunzeln müssen. Ja, jetzt konnte er auch absagen, wenn ihm etwas dazwischen kam. Gerade in diesem Moment stand er jedenfalls mit ziemlich heftig klopfendem Herzen vor einer ziemlich großen Villa. Darin wohnte Kai? Kein Wunder, dass er Samstags draußen war, in so einem riesigen Gebäude würde Rei auch wahnsinnig werden. Noch einmal überprüfte er, ob die Adresse richtig war und zum wiederholten male überlegte er, ob er Kai nicht einfach anrufen sollte um ihn zu bitten, ihn am Tor abzuholen. Aber je öfter er darüber nachdachte, desto lächerlicher erschien ihm dieses Vorgehen. Nein, so feige war er nicht. Er hatte in seinem Leben schon wesentlich Schlimmeres durchgemacht als an dem Tor einer sündhaft teuren Villa zu klingeln. Er stieß noch einmal einen Seufzer aus, nahm seinen Mut zusammen und drückte den Kopf. Dann wartete er angespannt. Er mochte Gegensprechanlagen nicht, besonders nicht in einem Land, in dem er die Sprache nicht vollkommen fließend sprach. Man verstand die Personen am anderen Ende einfach wesentlich schlechter. Bei dieser Anlage wurde er aber überrascht. Eine vollkommen klare, weibliche und überaus höfliche Stimme meldete sich: "Wen darf ich melden?" Das war eine merkwürdige Frage. Hatte er sie vielleicht doch falsch verstanden? "Eh... ich... Rei Kon. Ich bin ein Freund von Kai. Ehm.. aus der Schule." Oh Mann war das peinlich! "Herzlich willkommen Kon-san! Master Kai erwartet Sie bereits. Folgen Sie bitte dem Weg bis zur Tür, das Tor ist jetzt offen." Das war unkomplizierter als gedacht und die Frau klang wirklich ganz sympathisch. Vorsichtig versuchte Rei das Tor auf zu drücken und schritt dann einen gepflasterten Weg bis zur Eingangstür entlang. Er versuchte sich wirklich nicht anzumerken wie beeindruckt er von all dem war, versuchte so zu wirken, als wäre das für ihn ganz normal, aber das gelang ihm ganz und gar nicht! Dieses Gebäude war einfach riesig, der Garten war einfach gigantisch und das alles machte so einen unglaublich imposanten Eindruck, wie konnte man da nicht staunen!? Er hatte so was noch nie gesehen, musste er sich deshalb jetzt schämen? Eigentlich ja nicht. An der Tür angekommen wollte er schon nach einer weiteren Klingel suchen, als die Tür ganz von alleine aufschwang. Oder nicht ganz so alleine, wie er dann feststellen durfte, denn so etwas wie ein Butler machte ihm die Tür auf. "Willkommen Kon-san! Wenn Sie mir bitte folgen möchten? Ich bringe Sie zu Master Kai." Unsicher nickte Rei und folgte dem etwas älter wirkenden Butler durch das riesige Gebäude. Er hatte so was in Filmen schon ab und an gesehen, aber in Natura war das alles noch viel beeindruckender. Dennoch noch immer kein Wunder, dass Kai regelmäßig flüchtete. Das alles erschlug einen ziemlich, wirkte irgendwie kühl und streng und einfach viel zu groß. Man verlor sich richtig in dem Haus und das war kein angenehmes Gefühl. Ganz und gar nicht. Nach einer riesigen Treppe und zwei langen Gängen kamen sie dann auch endlich vor einer Tür zum stehen. Der Butler klopfte, es ertönte ein gedämpftes 'Hm' und die Tür wurde geöffnet. "Master Kai, ihr Gast ist da." Woah, sogar mit richtiger Ankündigung und allem. Rei hatte bisher immer gedacht, das gäbe es nur in Filmen. "Lass ihn rein und dann bring bitte den Tee." Der Butler verneigte sich leicht, schritt etwas zur Seite, verneigte sich nochmal vor Rei und ließ ihn dann an sich vorbei in eine Art Esszimmer hinein. Rei vermutete einfach mal, dass das ein kleineres Esszimmer war, da es so abgelegen war. Dennoch war es immer noch mindestens halb so groß wie die Wohnung seiner Eltern. Wie klischeemäßig. Er musste schmunzeln. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel beendete er erst einmal das mustern des Zimmers und schritt auf Kai zu, der ihn aufmerksam beobachtete. Was er wohl erwartete? Misstrauen lag wie meistens in seinem Blick und vorsichtige Abweisung. Als würde er erwarten, dass Rei ihm jetzt mitteilte, dass er seine Handynummer verbrannt hatte und jetzt doch noch absagen wollte. Oder als warte er auf irgendeinen dummen Spruch, was seinen offensichtlichen Reichtum betraf. Rei hatte nichts von beidem vor, aber er wusste sonst irgendwie nichts zu sagen. Die Eindrücke waren so intensiv, dass er sie unmöglich aus seinem Kopf bekam, wie sollte er da locker bleiben? "Na, da lag ich mit meiner Vermutung du würdest auf der Straße leben ja ziemlich weit daneben.", versuchte es Rei möglichst locker, doch die Miene von Kai blieb steinern. "Aber hätte ich mir ja eigentlich denken können, wenn man bedenkt, dass dein Großvater eine Firma hat." Zumindest eine, die es wert war übernommen zu werden. Kai zuckte daraufhin nur mit den Schultern, was für Rei das Zeichen war, dass das Eis gebrochen war. Der junge Chinese setzte sich also seinem Gastgeber gegenüber und sah sich noch einmal in dem Raum um. "Dass du es hier drin erträgst erstaunt mich ein wenig..." Es rutschte Rei eher raus, als dass er das wirklich absichtlich sagte. Ja, er provozierte schon mal gerne, aber das Heim von jemand anderem zu beleidigen lag ihm fern. Glücklicherweise war Kais Blick eher verwundert als verärgert. "Na ja, ich meine, es ist so groß und so kühl. Total unpersönlich.", fuhr er dann vorsichtig fort. "Ich könnte mich hier auch nicht wirklich wohl fühlen..." Kai schnaubte darauf hin nur, eine Antwort gab er aber nicht ab. Stattdessen ging die Tür auf und der Butler kam wieder herein, diesmal mit einem Tablett auf dem zwei Tassen und eine Teekanne platziert waren. Das musste ziemlich teures Porzellan sein. Mit geübten Griffen wurde ihnen der Tee eingeschenkt, dann verschwand der Mann wieder. Rei wollte ihm noch schnell 'Danke' sagen, aber er reagierte nicht schnell genug. Diese Situation überforderte ihn einfach irgendwie. So beschränkte er sich erst einmal darauf, den Tee zu probieren. "Wow, der ist gut." Kai schmunzelte nur leicht, sagte dazu aber nichts, trank selbst einen Schluck. "Übrigens danke für die Einladung, das hab ich ganz vergessen! Ich find's wirklich cool, dass ich hier sein kann." "Ich war ja schließlich auch bei dir zu Hause.", kam nur die ruhige Antwort. Irgendwie machte sich jetzt doch etwas Enttäuschung bei ihm breit. Rei hatte wirklich angenommen, dass ihn sein Gastgeber eingeladen hatte, weil er ihn bei sich haben wollte. Jetzt hatte er das Gefühl, dass Kai sich dazu gezwungen gefühlt hatte um eine Schuld zu begleichen. Vielleicht aber schob der den Grund auch einfach darauf, um nicht zugeben zu müssen, dass er ihn bei sich haben wollte. Das würde ehrlich gesagt auch wesentlich besser zu dem Russen passen. Also nahm er das einfach so hin und trank weiter diesen köstlichen Tee. "Die Klavierstunde ist in etwa einer dreiviertel Stunde, wir gehen dann in das Musikzimmer. Da kannst du dich dazu setzen. Erwarte aber nicht zu viel, es ist ja nur eine Unterrichtsstunde." Kai wirkte kühler und distanzierter als gestern, was daran liegen könnte, dass er wieder erholter war oder aber, weil ihm die Situation unangenehm war. Ob er bereute ihn eingeladen zu haben? Er wirkte doch sehr verspannt. Rei lächelte möglichst aufmunternd: "Ich bin sicher, dass du das gut machen wirst und es mir gefallen wird. Mach dir darum mal keine Sorgen." "Ich mache mir keine Sorgen." Jetzt konnte sich Rei ein leicht spöttisches Lächeln nicht verkneifen: "Natürlich nicht." Daraufhin kam nur noch ein Schnauben von seinem Gegenüber, danach kehrte erst einmal wieder Ruhe ein. "Wie kommt es eigentlich, dass du Klavier spielst?", fragte Rei irgendwann in die Stille hinein. Irgendwas musste er doch wenigstens sagen und es interessierte ihn ja wirklich. Er wusste immer noch viel zu wenig über seinen Freund. "Ich habe es schon sehr früh angefangen. Ich weiß nicht mehr warum genau." Kurz wirkte Kai so, als wolle er ihm noch etwas sagen, doch er schwieg nach dieser kurzen Erklärung einfach wieder. Das war so eine Situation in der Rei nicht wusste, ob der Andere darauf hoffte, dass er weiter nachfragte oder ob er besser die Klappe hielt. Aber was sollte schon passieren? Er hatte nicht wirklich das Gefühl, dass sein Gastgeber ihn plötzlich raus werfen würde, wenn er eine Frage stellte, die ihm unangenehm war. Über die Phase waren sie wahrscheinlich schon lange hinaus. Es wurde Zeit, dass er selbst begann darauf zu vertrauen, dass Kai ihm schon sagte, wenn ihn etwas störte. Das war ein fast erwachsener, junger Mann... oder? Wie alt war Kai eigentlich? Aber da er mit ihm in derselben Stufe war, musste er auch so um die 16 oder 17 Jahre alt sein. Aber das war jetzt erst mal unwichtig, das konnte man auch später noch klären. "Wenn dir was auf der Seele lastet, kannst du es mir ruhig sagen. Was wolltest du gerade noch sagen? Sprich dich aus, das tut dir sicher mal gut." Nervös und unruhig lagen die Augen seines Gastgebers auf ihm. Hier in seinen eigenen vier Wänden schien Kai doch ein klein wenig offener zu sein, auch wenn er sich anscheinend nicht wohl fühlte. Er konnte das verstehen. In dem eigenen Terrain herrschte immer trügerische Sicherheit und das Gefühl, alles Negative einfach aussperren zu können. Es war wirklich nur ein Trugschluss, denn einmal in das Haus eingelassen, bekam man Unheil nur schwer wieder heraus. Dennoch schien Kai hier seine Fassade ein wenig zu lockern, was ihm das Gespräch wesentlich erleichterte. Am Ende dieser wirren Gedanken, war genug Zeit vergangen, dass derjenige um den sich seine Welt augenblicklich drehte, sich sammeln konnte. Er schien einen Entschluss gefasst zu haben: "Nachdem meine Eltern verstorben sind, habe ich das Klavierspiel etwas vernachlässigt... ich hätte am liebsten ganz aufgehört. Seit ich hier bei meinem Großvater lebe, habe ich es wieder intensiver aufgenommen." Wieder war sich Rei nicht sicher, wie er jetzt reagieren sollte. Kai selbst sah ihn vollkommen teilnahmslos an, als würde er gerade über das Wetter reden. Er hatte schon vermutet, dass etwas mit den Eltern seines Gastgebers wäre, hatte aber irgendwie gehofft, dass sie es waren die in Moskau auf ihn warteten. Rei hatte es sich gedacht, weil Kai bisher nur seinen Großvater erwähnt hatte und er auch dessen Firma und nicht die seines Vaters übernehmen wollte. Dennoch... wurde jetzt Mitleid erwartet? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Kai hatte so lange gezögert und war von seinem Naturell her so stolz, dass er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass der mit Mitleid mehr als pure negative Gefühle verband. Hmm... "Ich finde es schön, dass du wieder damit angefangen hast. Ein Instrument spielen zu können, ist eine sehr wertvolle Fähigkeit und hält den Kopf wach." Kurz huschte so etwas wie Erstaunen durch den Blick des anderen, dann nickte er. "Und du? Spielst du ein Instrument oder tust du was anderes kulturelles?" Rei freute sich insgeheim über das Interesse des anderen und lächelte deshalb, als er erwiderte: "Kein Instrument nein. Und was wirklich kulturelles eigentlich auch nicht. Ich bin eher der Kampfsportler und Kampfkünstler." "Was für Kampfsportarten und -künste?" Logisch, wenn sein Großvater eine Firma führte die Sportler ausbildete, würde Kai sicherlich auch Grundkenntnisse oder mehr über diverse Sportarten haben. "Von vielem etwas. Ich muss oft die Arten wechseln, weil es nicht in jedem Ort ein Dojo oder eine Schule gibt. Judo, Aikido, Capoeira, Martial Arts, Kickboxen. So was eben." Ein Grinsen bildete sich zu Reis Erstaunen auf Kais Gesicht und er schien sogar kurz zu glucksen. "Dann hatte ich ja Glück, dass ich dich bisher nur ein bisschen 'rumgeschubst habe. Das hätte wohl auch böse für mich ausgehen können." Da sprach er allerdings etwas an, was für Rei eher ein heikles Thema war. Sie hatten das immer noch nicht geklärt und jetzt gerade war absolut nicht der richtige Zeitpunkt um tiefer gehend darüber zu reden. Also versuchte er das Gespräch etwas um zu lenken, ehe das hier noch von seiner eigenen Seite aus eskalierte. Das wollte er nicht, dafür hatte er sich viel zu sehr auf diesen Tag heute gefreut. Dennoch vermerkte er sich, dass das in naher Zukunft unbedingt endlich aus der Welt geschafft werden musste. "Na komm, red' nicht! So muskulös wie du bist, machst du doch auch irgendwas, oder? Lass mich raten, Boxen?" "Du hast ein gutes Auge. Ja, ich trainiere einmal die Woche. Allerdings ist es Kickboxen." "Deshalb hast du die Typen letztens also trotzdem noch fertig machen können. Hätte ich mir auch gleich denken können." Ja, das war doch viel angenehmer. Sie unterhielten sich noch einige Minuten über verschiedene Techniken und Übungen, bis der Butler dann wieder kam und ihnen Bescheid gab, dass die Klavierstunde jetzt beginnen würde. So machten sie sich auf in das Klavierzimmer. Die Stimmung zwischen ihnen war angenehm entspannt. Sie hatten endlich ein Thema gefunden, über das sie sich ganz normal unterhalten konnten. Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Das Musikzimmer war nicht ganz so beeindruckend, wie Rei angenommen hatte. Auch wenn er nicht genau sagen konnte, was er sich denn überhaupt vorgestellt hatte. Es war recht schlicht, wobei der riesige Flügel natürlich beeindruckend war. Ansonsten war es noch mit einem Schlagzeug bestückt und Rei fragte sich, ob Kai das auch spielen konnte. Es würde auch irgendwie ziemlich gut zu ihm passen. Zusätzlich stand eine kleine Gruppe gemütlich aussehender Sessel im Raum, in deren Mitte ein kleiner Tisch. Abgerundet wurde das Bild durch das ein oder andere Bücherregal und große Fenster, die viel Licht herein ließen. Es war gemütlich, aber nicht beeindruckend. Vielleicht gewöhnte er sich auch einfach langsam an das Anwesen. Alles in Allem fühlte er sich recht wohl in dem Zimmer. Es war ruhig und die Atmosphäre angenehm. So sollte ein Zimmer für ein Hobby sein. Der Butler öffnete die Fenster und ließ so zusätzlich noch frische Luft herein. Eine leichte Brise erfasste Reis Haare und auch Kais Schal. Hmm.. den Schal hatte der Andere vorgestern auch angehabt, als er ihn gefunden hatte und wenn er sich recht erinnerte, hatte das Stück Stoff bei ihren gemeinsamen Treffen an Samstagen auch nie gefehlt. In der Schule trug er ihn nicht, aber soweit er wusste, war das außerhalb von kalten Tagen auch verboten. Ob er am Hals auch Narben hatte und die bedecken wollte? Die Schuluniform gab nicht viel vom Hals frei, aber irgendwie konnte er sich das nicht vorstellen. Vielleicht war es einfach nur ein Accessoire oder eine Art Schutz? Vielleicht würde er ihn das irgendwann einmal fragen, aber nicht jetzt. Kai wies ihn an sich auf einen der Sessel zu setzen, was er auch prompt tat. Das war eine interessante Position. Er konnte Kai gut beobachten, war sich aber sicher, dass er nicht direkt in seinem Sichtfeld saß. Allerdings musste der nur ein wenig den Kopf drehen, um ihn ansehen zu können. Ob das Absicht war? Möglich wäre es, denn es war die perfekte Position, dass der Spielende nicht von Besuchern abgelenkt wurde und sie dennoch beobachten konnte. Doch er konnte seine Überlegungen nicht weiter ausführen, denn der Lehrer kam herein. Ein imposanter Mann mit sehr strengen Gesichtszügen. Das war kein freundlicher Zeitgenosse, das sah man sofort, aber Rei hoffte, dass es eine positive Strenge war, die er mitbrachte. So stellte er sich Lehrer vor, denen auch mal die Hand ausrutschte, wenn sie ungeduldig wurden. Die entspannte Atmosphäre war gleich wieder etwas gedrückt, das war schade. Kai war anscheinend unverändert. Ob er wegen dem Lehrer diese Grundanspannung heute hatte? Das wäre wirklich schade. Die Unterrichtsstunde verlief allerdings erstaunlich ruhig. Kai und sein Lehrer schienen sich gegenseitig in gewissem Sinne zu respektieren, auch wenn ihre Beziehung zueinander ansonsten auf rein geschäftlicher Kühle beruhte. Der Lehrer war wirklich gut, genauso wie Kai. Es fehlte dem Schüler ein wenig an Gefühl, wie Rei fand und der Lehrer sah das wohl genauso, dennoch war es unbeschreiblich schön dem jungen Russen zuzuhören. Bald schon erwischte er sich selbst dabei, wie er die Augen einfach nur schloss und sich zurücklehnte. Die oft wiederkehrenden Unterbrechungen für Verbesserungsvorschläge, störten dabei nicht einmal so sehr und am Ende wurde ein Stück sogar einmal komplett gespielt. Es war herrlich! So sehr in Gedanken versunken bemerkte er gar nicht, dass der Lehrer sich verabschiedete und er öffnete auch erst seine Augen, als ein Schatten sich über sein Gesicht legte. Es war Kai, der zwischen ihm und seiner Lichtquelle stand. In seinen Augen lag etwas Abwartendes, Vorsichtiges. Dieser Kerl war so unglaublich unsicher, das war echt kaum zu fassen. Wieder einmal stellte Rei fest, dass nur seine bisherige Lebenserfahrung ihn dazu befähigte, überhaupt zu erahnen, was in Kai vor ging. Ein Umstand, der ihm merkwürdigerweise wirklich gefiel. "Das war wirklich toll! Ehrlich. Richtig angenehm. Gibst du auch mal Konzerte oder so was? Ich würde mir gerne mal mehr von dir anhören." Ein wenig schien Kai sich zu entspannen, aber Rei war sich da nicht so ganz sicher. Er wirkte noch immer merkwürdig, als hatte es definitiv nicht an dem Lehrer und nicht einmal daran gelegen, dass Rei zugehört hatte. Woran dann? An seiner allgemeinen Präsenz hier? Vielleicht sah sich Kai wirklich gezwungen wieder gut zu machen, was er vorgestern für ihn getan hatte und wollte ihn eigentlich gar nicht hier haben. Das sollte er auch einmal klären. So lief das bei ihm nicht. "Nein, noch nicht. Sensei ist der Meinung, dass ich dafür noch nicht bereit bin." "Das ist schade. Aber ich glaube, du kannst dem Urteil von deinem Lehrer vertrauen, auch wenn ich selbst nicht so viel Ahnung davon habe. Er scheint auf jeden Fall Ahnung davon zu haben. Ich bin sicher, irgendwann spielst du auf einer Bühne. Und wenn es soweit ist, will ich gefälligst eingeladen werden!" Das entlockte Kai tatsächlich ein kleines Schmunzeln und er nickte. "Versprochen." Rei musste den Blick kurz von Kai abwenden. Dieses Lächeln und dieses eine, so sacht ausgesprochene Wort... ein Schauer lief Rei den Rücken hinab. Dieser Junge machte ihn fertig, auf eine angenehm gute Art und Weise. Als er seinen Blick schweifen ließ, fiel sein Blick erneut auf das Schlagzeug. "Spielst du das eigentlich auch?" "Ja, aber ich habe erst vor Kurzem angefangen. Da kann ich dir noch nicht viel zeigen." Das war schade, aber er verstand auch, dass der stolze Russe ihm nichts halbfertiges zeigen wollte. "Ich bin immer fasziniert davon, wie genau Schlagzeuger den Takt treffen können und dann auch noch mit allen vier Gliedmaßen einen unterschiedlichen Takt spielen können." "Ist gar nicht so unterschiedlich zum Sport. Da muss man auch oft Beine und Arme unterschiedlich bewegen. Das ist einfach nur noch eine Erweiterung." "Du bist nicht gut darin, einfach Komplimente anzunehmen, oder? Spiel dich selbst doch nicht ständig so runter." Dazu sagte Kai nichts mehr, schien sich bei der aufkommenden Stille aber wieder zu verspannen. Was war nur los? Rei beschloss, einfach mal abzuwarten, was passierte. Kurz streifte der Blick des jungen Russen unruhig und ziellos durch den Raum, ehe er ihn wieder auf ihm zur Ruhe kommen ließ. "Ich habe noch deine Sachen. Sie sind gewaschen und ich würde sie dir gerne wieder geben." Irgendein merkwürdiger Unterton lag in der Stimme seines Gegenübers. Irgendwas war definitiv seltsam abstrus an dieser Situation. Aber er verstand es noch nicht ganz. "Klar, gerne." Und damit stand Rei dann auch auf. Kai musterte ihn kurz noch einmal, wandte sich dann aber ab und ging voraus. Sie durchquerten gefühlt das ganze Haus einmal. Es war nicht irgendwie verwinkelt gebaut oder so etwas, es war einfach nur verdammt groß. Wahrscheinlich wechselten sie gerade vom Ost- in den Westflügel oder so. Schon nach einer Minute hatte Rei komplett die Orientierung verloren. Wofür brauchte man so viele Zimmer? Das war ihm unbegreiflich. Letztendlich hielten sie vor einer großen Tür inne, die Kai mit einem Schlüssel, den er aus der Hosentasche angelte, aufschloss. Merkwürdig. Hinter dieser Tür lag ein Zimmer, das unglaublich hell und freundlich wirkte. Ähnlich, wie das Musikzimmer, nur mit noch mehr und noch größeren Fenstern. Neben einem Klavier, einem Schreibtisch und einem Bett fanden sich auch unglaublich viele Bücher und entsprechende Regale. An der einzigen Wand, die keine Fenster beherbergte, hing ein riesiges Whiteboard auf dem allerlei Dinge zu finden waren. Das ging über kleine Modelle von Sonnensystemen. - oder waren das Atome? - über Skizzenhafte Musikfetzen aus Noten bis hin zu kleinen Zitaten, die sich mit Naturwissenschaft, Sport oder Musik beschäftigten. Als er das sah, wurde ihm schlagartig klar in wessen Zimmer er sich gerade befand. Er schluckte und sein Herz begann aufgeregt zu klopfen. Das war ein gewaltiger Schritt in ihrer Freundschaft, ein unglaublicher Vertrauensbeweis und Rei war definitiv nicht darauf vorbereitet gewesen. Das überforderte ihn kurz, wenn er ehrlich war. "Tja, ich habe keinen riesigen Tiger in meinem Zimmer hängen." Kai hatte sich neben ihn gestellt und war ihm ungewöhnlich nah. Ein Schauer erfasste seinen sowieso schon aufgeregten Körper. Irgendwas an dieser Situation war merkwürdig surreal. "Rei?" "Hm?", mehr brachte er gerade nicht mehr heraus. Die ungewohnte Sanftheit, mit der Kai seinen Namen aussprach, ließ seine Kehle trocken werden. Er konnte den Blick nicht von der Tafel abwenden. Irgendwas war mehr als merkwürdig... Plötzlich wurde Rei am Handgelenk gepackt, umgedreht und an den muskulösen Körper seines Freundes gezogen. Bevor er reagieren konnte, spürte er fordernde Lippen auf den seinen, während er in halb geschlossene, aber nicht minder vor Leidenschaft lodernde, rubinrote Augen sah. Einen absurden Moment lang fiel Rei auf, dass die Augen des anderen trotz des darin lodernden Feuers noch immer irgendwie stumpf wirkten. Nach diesem Moment kam sein Geist zurück in die Realität und er drückte den Russen von sich. "Kai!", zischte er in einer Mischung aus Wut und vollkommener Irritation. "Was...?" Er war nicht einmal in der Lage diese Frage komplett auszusprechen. Er war einfach viel zu überfordert. Gestern noch hatten sie sich kaum gekannt und jetzt machte Kai so was! "Was?", fragte Kai kühl. Er war wieder so angespannt. Seine Augen wirkten noch etwas stumpfer als zuvor. "Wag' es nicht zu behaupten, dass du nicht auch schon daran gedacht hast. Ich hab' gesehen, wie du mich gestern angesehen hast." Und plötzlich ergab so vieles einen Sinn. Die Angespanntheit, die Einladung, die Stimmung zwischen ihnen die zeitweise sehr absurd wirkte, weil er sie nicht hatte einordnen können. Kai hatte versucht ihn zu verführen! Rei schluckte trocken, als Kai ihn wieder näher zu sich zog. Kurz streifte ihn seine Hand an der Wange. Sein Blick lag intensiv auf ihm. Rei erschauerte. "Du bist bi, du stehst auf mich und ich wette du hast hiervon schon geträumt. Wo ist das Problem? Kein Mensch wird hiervon je erfahren." Irgendwie wusste Rei beim besten Willen nicht, was er darauf erwidern sollte. Er war so unglaublich überrumpelt und überfordert. "Schlaf mit mir, Rei.", wurde ihm leise und sanft entgegen gehaucht. Und Rei schmolz, einfach so, ganz plötzlich. Er war nicht mehr in der Lage ein Gegenargument zu finden, obwohl er sich sicher war, dass es ein paar tausend gab. Ihm fiel kein einziges ein. Seufzend ergab er sich dem nächsten Kuss und ließ sich mit in Richtung des großen Bettes ziehen. Er war einen Augenblick lang ziemlich verwirrt, dass Kai sich zuerst auf die Matratze sinken ließ, nahm es aber einfach so hin. Eigentlich fühlte er sich gerade beim ersten Mal in der passiven Rolle wohler, aber prinzipiell sprach nichts dagegen, ab jetzt die Führung zu übernehmen. Es wunderte ihn nur, weil er Kai das definitiv nicht zugetraut hätte. Als der ihn zu sich runter zog, verflogen diese kurzen, klaren Gedanken aber sofort wieder. ~~~ Heiß prasselte das Wasser auf den immer noch verspannten Körper. Es half nichts. Es half kein Stück. Er fühlte sich schmutzig, fühlte sich benutzt. Er fühlte sich benutzt von sich selbst, was für ein absurdes Gefühl. Es war so einfach gewesen. So unglaublich einfach. Er hatte erwartet, dass es mehr Überzeugung brauchte. Ein Kuss, ein paar sanfte Worte... Rei war so einfach zu lesen. Der junge Chinese war intelligent, hatte viel Erfahrung, aber er war genauso einfach zu manipulieren, wie er kompliziert war. Er hatte ihn absichtlich überrumpelt, denn er hatte geahnt, dass er nur so an ihn heran kam. Es war so einfach gewesen... Er stellte das Wasser noch ein wenig wärmer, langsam färbte sich seine Haut rot, doch die Hitze tat gut. Er konnte seine eigenen Gedanken nur nicht damit fort waschen, genauso wenig, wie das Gefühl schmutzig zu sein. Nein, er war noch längst nicht bereit gewesen diesen Schritt zu gehen. Eigentlich hätte es noch Monate gedauert, bis er sich auf den Chinesen eingelassen hätte, aber dann wäre es für ihn zu spät gewesen. Nicht, weil Rei dann vielleicht schon weg gewesen wäre, sondern, weil er sich selbst gefühlsmäßig dann zu weit geöffnet hätte. Jemandem derart Vertrauen zu schenken, der danach für immer aus seinem Leben verschwinden würde, hätte ihm den Boden unter den Füßen entrissen. Er kannte das schon... er hatte das schon einmal mit gemacht. Deshalb war er zu dieser Maßnahme über gegangen, als ihm gestern aufgefallen war, wie Rei ihn ansah. Sein Blick hatte sich im laufe des Tages verändert. Er kannte diesen Blick so gut. Daraufhin hatte er selbst seine Strategie geändert. Er hatte dem Chinesen wirklich eine Chance geben wollen, um eine lose Freundschaft aufzubauen, die hauptsächlich daraus bestand, dass sie sich Samstags im Park trafen. Das wäre kein Problem gewesen und unglaublich angenehm, aber durch diesen Blick, war das schwierig geworden. Ihm war bewusst, dass er sich irgendwann auf Rei eingelassen hätte, wenn der nur energisch genug versucht hätte an ihn heran zu kommen und Kai zögerte nicht zu glauben, dass der die Ausdauer dafür hatte. Er zögerte nicht mehr, seit er bemerkt hatte, wie viel Mühe sich Rei mit ihm gab und wie schwer es gewesen war, ihn davon abzubringen, sich mit ihm zu beschäftigen. Da hatten andere Methoden her gemusst. Er hatte sich nicht nur versichert, dass der andere wirklich auch auf Männer stand, nein, er hatte auch so viel über ihn heraus gefunden, dass er sich sicher sein konnte, dass er niemals etwas von dem eben Geschehenen ausplaudern würde. Niemand durfte einen Beweis dafür finden können, dass er wirklich schwul war. Sein Großvater würde ihn sofort verstoßen und er ertrug den Gedanken nicht, noch mehr seiner Familie zu verlieren. Sein Großvater, so streng er auch manchmal war, war sein letzter, ihm bekannter Verwandter. So abgesichert, hatte nichts mehr schiefgehen können. Nur Rei selbst war eine Unbekannte gewesen, die es zu handhaben galt. Es war wirklich einfacher gewesen als gedacht. Menschen waren so einfach gestrickt, es war erschreckend. Kai war etwas unsicher gewesen, wie der andere auf seinen Reichtum reagierte. Es gab Menschen die sich davon abschrecken ließen, aber auch solche, die davon angezogen wurden, wie Motten vom Licht. Beides wäre nicht vorteilhaft gewesen, doch Rei hatte so reagiert, wie er es sich erhofft hatte. Er hatte es als normal hingenommen. Danach war es unproblematisch und simpel gewesen. Er hatte Tee kommen lassen, obwohl er selbst eher Kaffee mochte, doch ihm war bekannt, dass der Chinese einen guten Chai vorzog. Danach hatte er auf eine Gelegenheit gewartet, ihn auf Sport ansprechen zu können. Durch seinen Großvater hatte er erfahren, dass ein neuer, aufstrebender Junge sich in zwei Dojos angemeldet hatte. Es war nicht schwer herauszufinden gewesen, dass Rei derjenige war. Damit hatten sie eine Gemeinsamkeit gehabt, über die sie hatten reden können. Die Musikeinlage war dann nur noch pro Forma gewesen und das zeigen seines Zimmers hatte ihm eindeutig den Rest gegeben. Er hatte ihn manipuliert, von der ersten Sekunde an, die er dieses Grundstück betreten hatte. Es war ein wenig heikel gewesen, ja, aber es hatte funktioniert. Natürlich hatte es das, schließlich hatte er es geplant. Dennoch war er selbst noch lange nicht dazu bereit gewesen, aber es war nötig gewesen. Dass er sich hatte beschlafen lassen, war ein weiterer Trick gewesen, um Rei nicht nervös zu machen. Zum Einen gab es viele Männer, er schloss sich da selbst mit ein, die ein Problem damit hatten unten zu liegen und der junge Chinese war stolz genug, dass er unter die Kategorie fallen könnte, zum Anderen war die Gefahr von Zweifeln in der passiven Rolle wesentlich höher, weil man die Verantwortung abgab und damit mehr Kapazitäten zum Nachdenken hatte. Das hatte er nicht riskieren wollen, war schließlich der Überraschungseffekt Dreh- und Angelpunkt seines Plans gewesen um den ausgeprägten Verstand des anderen komplett abzuschalten. So hatte er ihm andere Sachen zum nachdenken gegeben und es hatte hervorragend funktioniert. Und nun stand er hier und ekelte sich vor sich selbst. Am liebsten hätte er sich die Haut vom Fleisch geschrubbt, aber er wusste, dass das nichts brachte. Er stellte die Dusche noch ein wenig wärmer. Rei würde sich jetzt von ihm fern halten. Er hatte sich zu einem Großteil offenbart und der Chinese hatte oft genug betont, dass er keine engeren Bindungen wollte. Es war jetzt alles geklärt. Ab morgen würde er sein Leben wieder normal weiter führen. Kapitel 9: Kreisende Rätsel --------------------------- Ihm war heute nicht nach raus gehen. Normalerweise fühlte er sich nur draußen wirklich wohl, aber heute war das nicht so. Er wollte sich verstecken, vor allem und jedem und ganz besonders vor einer Person, wobei er an die sowieso nicht heran kam, weil sie wahrscheinlich wie immer auf 'ihrem' Baum saß. Er seufzte schwer. Schon nach dem Sex war er wieder in der Wirklichkeit angekommen und war daraufhin recht fluchtartig verschwunden. Das war ein Fehler gewesen. Ein großer Fehler und er wusste nicht, wie er das wieder gut machen sollte. Also versteckte er sich. Er versteckte sich unter hunderten von anderen Schülern. Am liebsten wäre er gar nicht erst her gekommen. Es war, als wäre er aus einer Traumwelt aufgewacht. Dieses ganze Wochenende schien ihm plötzlich unglaublich surreal und er wusste wirklich nicht, wie er damit umgehen sollte. Vom nachdenken hatte er jetzt bereits brüllende Kopfschmerzen, Schule half dabei leider auch nichts. "Hey, weißt du schon das Neuste?" Ein Junge mit blauen Haaren setzte sich zu ihm. Takao, aus seiner Klasse. Rei stöhnte genervt auf. Takao war ein Klatschmaul und der einzige Klatsch, der derzeit herum ging, war der über Kai. "Takao, nicht jetzt. Bitte." Noch mehr Gerüchte konnte er nicht gebrauchen und er wollte es auch nicht mehr hören. Konnten sich die Schüler nicht über wen anderes das Maul zerreißen, oder es gleich ganz bleiben lassen? Er verstand diese Abart des sozialen Gefüges sowieso nicht. Es war einfach nur furchtbar. "Hä? Warum denn nicht?" Seit wann war er eigentlich so dick mit Takao, dass der mit ihm redete? "Ich hab Kopfschmerzen." "Aber das passt doch perfekt zu meinen Neuigkeiten! Wir haben eine neue Krankenschwester, vielleicht solltest du dich von der mal behandeln lassen." Das darauffolgende Zwinkern sollte Rei wohl darauf hinweisen, dass diese Krankenschwester äußerst attraktiv war. Moment mal: "Du willst mir nichts über Hiwatari erzählen?" Das.. wäre aber äußerst ungewöhnlich. Takao lachte aber nur und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Warum sollte ich? Der Miesepeter interessiert mich nicht." Das war... eine unglaublich angenehme Abwechslung und genau das was er jetzt brauchte! Takao hatte ihn in ein ungezwungenes etwas oberflächliches Gespräch verwickelt, stellte sich aber als wirklich freundlich und in dieser Situation als sehr angenehme Gesellschaft heraus. Ja, der gebürtige Japaner war in Ordnung und so verbrachte er die nächsten Tage mit ihm. Er lenkte ihn ein wenig ab, sogar nach der Schule. In kurzer Zeit freundeten sie sich an. Erstaunlich wie schnell so was gehen konnte. Takao war ein interessanter Junge und so ziemlich exakt das Gegenteil von Kai. Aufgeschlossen, redselig, gutgläubig, ein wenig naiv und wohl der gutmütigste Mensch, den er jemals gesehen hatte. Er war rundum ein guter Kerl. Bald wusste Rei ziemlich viel über ihn. Er lebte in einem Dojo, von dem er sogar schon gehört hatte. Kendo war nur nie Seins gewesen, deshalb hatte er sich da nicht angemeldet. Er bevorzugte, wenn eine Waffe, dann den Stock, zudem war Kendo sowieso eine reine Wettkampfsportart soweit er wusste. Das Dojo leitete sein Großvater, bei dem Takao auch lebte. Was mit seinen Eltern war erzählte er nicht und Rei fragte auch nicht, das ging ihn nichts an. Es war dennoch seltsam, dass er ständig nur Jungen näher kennenlernte, die nicht von ihren Eltern sprachen. Erst Kai, jetzt Takao.. nun, er selbst war da wohl auch nicht anders. Seine Eltern waren auch nie da. Im Prinzip lebte er alleine. Der junge Japaner beschwerte sich in einer Tour über das harte Training seines Großvaters und, dass es nicht das war, was er mal machen wollte. Takao sehnte sich nach Abenteuer, aber das konnte ein Kendo-Dojo ihm natürlich nicht bieten. Dennoch bezweifelte Rei schon nach kürzester Zeit nicht mehr, dass er tatsächlich mal das Training des Nachwuchses übernehmen würde, denn, so oft er sich auch beschwerte, er redete tatsächlich über fast nichts anderes. Irgendwie war das wirklich süß. Jeder hatte eben seine ganz eigenen Probleme in seinem Leben und selbst jemand wie Takao schaffte es eine Leidenschaft vor sich selbst zu verleugnen. Es war immer wieder erstaunlich so etwas mit zu bekommen. Er selbst war sich aber sicher, dass Takao das Abenteuer im Ausbilden von jungen Menschen noch finden würde und ihn das sicherlich zufrieden stellen würde. Oder vielleicht fand er irgendwann auch noch seine richtige Leidenschaft. Takao war definitiv einer der Menschen, die einmal großes in ihrem Leben leisten konnten. Vielleicht musste er selbst sich wieder angewöhnen seine Umgebung näher zu beleuchten. Im Nachhinein wäre es wirklich schade gewesen, wenn er den Japaner nie wirklich kennengelernt hätte. Auch wenn der ein tierisches Plappermaul war, war seine Gesellschaft irgendwie angenehm. Sie vermittelte ihm, dass alles in Ordnung war. Zu Hause allerdings, war dann gar nichts mehr in Ordnung. Sobald er alleine war, kam alles wieder. Er wurde es einfach nicht los und eine Lösung war auch absolut nicht in Sicht. Immer und immer wieder fragte er sich, was er tun sollte und der Samstag, an dem sie sich ja normalerweise trafen, rückte schnell und unaufhaltsam wieder näher. Was hatte er da auch nur getan? Gut, er gab sich nicht allein die Schuld, schließlich war es Kai gewesen, der angefangen und ihn regelrecht verführt hatte. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass das ein riesiges Problem war! Was erwartete Kai jetzt? Der hatte sich auch nicht bei ihm gemeldet, also schien es für ihn ja in Ordnung zu sein, oder? Irgendwas an der ganzen Geschichte war merkwürdig, er konnte nur nicht einordnen was. Obwohl, doch! Kai hatte sich immer von ihm fern gehalten, war immer auf Abstand geblieben und jetzt urplötzlich schlief er mit ihm, ohne, dass Rei selbst Anzeichen gegeben hatte, dass er das wollte! Er war nämlich eigentlich noch nicht bereit dafür gewesen. Noch längst nicht, wenn er genau darüber nachdachte. Es war ihm zu schnell gegangen, auch wenn er durchaus Interesse an dem Russen hatte, er kannte ihn einfach zu wenig. Klar versuchte er sich selbst ständig einzureden, dass sie große Fortschritte machten, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Kai kaum mit ihm redete. Es war wirklich zum Haare raufen! Da schaltete er einmal seinen Verstand ab und dann passierte so was! Und wenn er bei diesem Gedanken angekommen war, begannen die Gedanken wieder am Anfang. So spielte er fünf Tage lang, jede Nacht Gedankenkarussell und kam doch keinem Ergebnis. Freitags war er dann so übermüdet und so fertig, dass es selbst Takao auffiel. "Hey Rei. Was ist denn los mit dir? Geht's dir nicht gut? Du verhältst dich die ganze Woche schon so merkwürdig und bist ständig abwesend. Rei seufzte. Er hatte das Bedürfnis mit jemandem über alles zu reden, aber er war sich wirklich nicht sicher, ob Takao der Richtige dafür war. Der wirkte so unbedarft und naiv.. der hatte sicherlich noch nie Probleme dieser Art gehabt. Ehrlich gesagt traute Rei ihm nicht einmal zu, schon mal eine Freundin gehabt zu haben. Takao war, was das anging, ein klassischer Spätzünder. Dennoch war im Laufe der Woche, der Drang darüber zu reden, so enorm geworden, dass er jetzt kaum mehr anders konnte. Dummerweise brach aber zuerst das aus ihm raus, was er eigentlich unbedingt hatte für sich behalten wollte: "Ich hab mit Kai geschlafen..." Takao verschluckte sich an seinem Essen vor Überraschung und Rei wäre am liebsten im Boden versunken. Nein, so war das eigentlich nicht geplant gewesen. Vielleicht konnte er das ja noch retten: "A.... also... nicht so wie du denkst.. ich meine..." Nein.. da war nichts mehr zu retten. War das peinlich! "Vergiss es einfach wieder! Ich hab nie was gesagt!" Takao brauchte eine ganze Weile, bis er sich wieder beruhigte und starrte ihn dann ungläubig an. "Du bist doch letztens mit Ai ausgegangen, dachte ich." Es hatte also doch funktioniert. Rei hätte das wohl interessant gefunden, wenn er nicht damit beschäftigt gewesen wäre, sich zu wünschen, sich in ein Loch zu verziehen. "Also bist du doch schwul?" "Nein! Und hab ich nicht gesagt, du sollst vergessen was ich gesagt habe?" Warum nur war es hier allen so wichtig zu erfahren, zu welchem Geschlecht er sich hingezogen fühlte? Musste das denn immer so ein großes Thema sein? "Mann Alter, mach dir doch nicht gleich ins Hemd." Takao grinste sein typischstes Grinsen und zuckte dann die Schultern. "Ist doch egal eigentlich und es belastet dich, also reden wir darüber!" Wieder einmal war Rei überrascht über Takaos offene Art. Er hatte irgendwie eher damit gerechnet, dass der Japaner sehr konservativ eingestellt war. Nun, vielleicht war er das tatsächlich, aber er war wohl in der Lage zu akzeptieren, dass es auch eher weniger traditionelle Formen der Liebe gab. Vielleicht war es Takao aber auch einfach tatsächlich egal. "Also... du hast.. mit Kai geschlafen. Dachte nicht, dass der einfach so mit Kerlen ins Bett springt. Ich meine, da gibt's natürlich die ganzen Gerüchte, aber er wirkt immer so kalt und abweisend, dass ich ihm das nicht wirklich gegeben hätte." Rei nickte leicht. Er wusste nicht wirklich, was er dazu sagen sollte. Er wollte nichts ausplaudern von dem, was Kai ihm erzählt hatte. Aber er brauchte auch gar nichts zu sagen, denn Takao redete munter weiter: "Echt krass, dass du ihn dann wohl in so kurzer Zeit geknackt hast! Das verdient eigentlich einen Preis. Aber.. warum genau geht es dir deshalb denn jetzt schlecht?" Rei stieß wieder ein Seufzen aus. Wie erklärte er das denn am Besten? "Das war... eigentlich viel zu früh für uns, verstehst du? Ich war noch nicht so weit und eigentlich hätte ich Kai das auch nicht zugetraut. Ich versteh's nicht. Er hat das angefangen und irgendwie habe ich nicht nachgedacht und jetzt treffen wir uns morgen wieder und ich weiß einfach nicht, was ich machen soll!" Irgendwas in Takaos Augen glänzte plötzlich. Eine komische Situation um sich zu freuen, fand zumindest Rei. "Das ist das erste Mal, dass du so offen und ehrlich über was ganz persönliches von dir redest!" Rei stutzte. Das erste Mal? Er legte die Stirn in Falten und musste daran denken, was er Takao die letzte Zeit so von sich erzählt hatte. Oder, was er vor einem anderen Klassenkameraden von sich erzählt hatte. Ai hatte er ein bisschen was erzählt... und Kai... und Takao?... dem hatte er eigentlich nur zugehört. Er schluckte kurz. Irgendwie... war er wohl kein Stück besser als Kai. Warum nur lernte er die letzte Zeit so unglaublich viel über sich selbst? Japan war eigenartig... Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie alle langsam erwachsen wurden. Wer wusste das schon? "Jedenfalls...", setzte Takao dann fort und störte sich offensichtlich nicht an dem Schweigen seines Gegenübers: "Finde ich nicht, dass du dir darum so viele Sorgen machen solltest." Eh.. bitte? "Hast du mir gerade zugehört Takao?" "Klar! Aber es gibt doch eine super einfach Lösung für das Problem." Jetzt war Rei überfordert. Hatte er was übersehen? Vielleicht hatte er nicht genau genug erzählt? Fehlten dem Japaner Informationen? "Red' mit ihm darüber. So wie ich das sehe, trifft dich eh nicht wirklich viel Schuld, wenn Kai das angefangen hat. Der wird schon gewusst haben, was er da tut, oder? Ist schließlich auch schon ein großer Junge und wenn er sich ausnahmsweise mal dazu entschieden hat, nicht der eiskalte Miesepeter zu sein, dann wird er sich schon was dabei gedacht haben." Im ersten Moment war Rei sprachlos. Okay... gut... konservativ war Takao anscheinend wirklich nicht, aber Rei war sich immer noch nicht sicher, ob der die Situation richtig verstand. "So einfach ist das aber nicht. Warum hat Kai das gemacht? Was erwartet er jetzt von mir? Was, wenn er eine Beziehung will!?" Takao nahm noch einen großen Bissen seines Mittagessens, ehe er nachdenklich fortfuhr: "Ja, Rei, was ist, wenn er eine Beziehung will?" Forschend lag der Blick seines Gesprächspartners auf ihm und Rei schluckte erneut. Ja.. was war, wenn es tatsächlich so kommen würde? Kurz gab er sich einem Tagtraum hin, in dem sie beide wirklich zusammen waren. Es war ein schönes, angenehmes, ruhiges Bild, aber er schlug es sich schnell wieder aus dem Kopf. Das ging nicht! "Und wie stellt er sich das bitte vor!?", platzte es aus ihm heraus. Plötzlich hatte er das Bedürfnis hysterisch zu werden, aber er zwang sich wieder zur Ruhe. Eins... zwei... drei... vier... fünf... sechs... sieben... acht... neun... zehn! Ja, so war das schon besser. "Ich meine, wir kennen uns kaum. Und wir haben miteinander geschlafen, noch bevor wir uns irgendwie anders näher gekommen sind. Wir haben da eine ganze Ecke Phasen übersprungen, die man erst mal durchlaufen sollte! So was wie vorsichtige Annäherung, mal einen Kuss, ein bisschen Fummeln und ordentliche Dates und so. Aber doch nicht das! Das kann doch so gar nicht funktionieren! Besonders nicht mit jemandem wie Kai. Der braucht Beständigkeit und lässt so schnell doch keinen an sich ran. Außerdem bin ich in einem Jahr wieder weg! Nichtmal in einem Jahr. Ich bin ja schon 14 Wochen hier!" Ja... er zählte die Wochen. Das hatte er sich irgendwann einmal angewöhnt, weil es ihn genervt hatte, immer schätzen zu müssen, wie lange er noch hatte. "Woher weißt du das alles? Woher willst du wissen, dass es Kai langsam und beständig braucht? Vielleicht ist das ja genau seine Art. Nicht erst umeinander 'rum tänzeln sondern sofort das volle Programm. Schön direkt. Also ich finde, das passt viel besser zu ihm." Takao nahm noch einen großen Bissen, während Rei über das gesagte nachdachte. Dann fuhr er fort, noch ehe er zu Ende gekaut hatte: "Ich denke, die Frage ist, ob du bereit für eine Beziehung bist. Vor allem für so eine. Ist schon ein hartes Stück Arbeit jemanden richtig kennen zu lernen während man in einer Beziehung ist. Denke ich zumindest. Aber egal wie du dich entscheidest, du musst erst mal mit ihm reden. Und bis dahin solltest du dich mal fragen, was DU denn eigentlich willst. Kai muss letztendlich entscheiden ob er sich auf dich einlassen willst. Die Entscheidung kannst du ihm schlecht abnehmen. Aber genau das versuchst du. Also red' mit ihm und entscheidet dann gemeinsam oder so. Du kannst ja schlecht in seinen Kopf sehen." War das denn wirklich so einfach? Aber Rei fand keinen Grund, der dagegen sprach. Mit ihm darüber reden. Hmpf... "Wenn er denn mit sich reden lässt. Der Gesprächigste ist er ja nicht gerade." Takao schluckte sein Essen herunter und grinste dann: "Tja, ich an deiner Stelle hätte mir auch wen ausgesucht mit dem es einfacher ist. Aber das hast du jetzt davon, da musst du durch." Leicht grinsend hob Rei daraufhin eine Augenbraue. "Ach, und an wen hast du da gedacht?" Das Grinsen von Takao wurde noch breiter und leicht übermütig. "Na, mich zum Beispiel! Ich finde ich bin hervorragend dazu geeignet, dass man auf mich steht!" Nur zwei Sekunden später prustete der Japaner los: "Alter, deinen Gesichtsausdruck müsstest du sehen! Keine Angst, ich bin nicht an Männern interessiert, aber den Spaß musste ich mir jetzt erlauben." Rei lockerte seine verspannte Haltung wieder und brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. Takao war wirklich ein Knallkopf. "Aber wenigstens lächelst du jetzt wieder! Pünktlich zum Gong. Komm, wir wollen ja nicht zu spät kommen, oder?" Reden also. Vielleicht war das der einzige Weg und Takao hatte recht. Er hatte gerade Beziehungstipps von Takao bekommen... gruselig. Es würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als es zu versuchen, denn eine bessere Idee hatte die letzte Woche nicht hervor gebracht. Dennoch würde das mal wieder eine schlaflose Nacht geben, schließlich musste er selbst sich erst einmal wirklich darüber im Klaren werden, was er eigentlich wollte. Kapitel 10: Flammende Wut ------------------------- Er war nicht gekommen. Natürlich war er nicht gekommen. Er wäre nicht Kai gewesen, wenn er tatsächlich aufgetaucht und sich einmal einem Problem gestellt hätte! Dennoch war Rei stinksauer! Was sollte das nun wieder? Kai hatte das doch alles angefangen und jetzt hatte er nicht einmal den Arsch in der Hose sich dem unausweichlichen Gespräch zu stellen!? Wofür hatte er sich denn jetzt die ganze Woche über den Kopf zerbrochen? Es war alles sinnlos gewesen! Alles! Graaa! Mehrmals an diesem Samstag hatte er sein Handy in die Hand genommen, hatte die Nummer angestarrt, die Kai ihm gegeben hatte. Er hatte das Bedürfnis ihn anzuschreien. Aber er tat es letztendlich nicht. Das war nicht seine Art, auch wenn die Alternative genauso beschissen war. Die Wut einfach schon wieder in sich hinein zu fressen, kam für ihn eigentlich nicht in Frage. Letztendlich hatte er ihm, als die Sonne dabei war unterzugehen, nur eine SMS geschrieben. Er wollte nicht schon wieder so wirken, als würde er alles mit sich machen lassen. Er war doch keine billige Schlampe mit der man schlief und sich danach nicht mehr bei ihr meldete! Das bekommst du zurück! Das war eigentlich nichts, was in irgendeiner Weise förderlich war. Drohungen waren nie förderlich, aber Kai musste endlich einsehen, dass er sich nicht benehmen konnte wie ein Trampel, ohne, dass das Konsequenzen hatte! So geduldig Rei auch war, irgendwo war einfach Schluss! Und hier gab es eindeutig eine Grenze, die der Russe übertreten hatte! Das würde er nicht auf sich sitzen lassen. Und so sendete er die SMS, diesen einen Satz, auch ab. Sollte Kai doch von ihm denken was er wollte. Rei war auch nur ein Mensch! An Schlaf war diese Nacht schon wieder nicht zu denken. Den Sonntag verbrachte er dann damit, noch immer wütend durch die Stadt zu stapfen und sich zu überlegen, wie er es dem Russen heimzahlen konnte. Nein, eigentlich wollte er das so gar nicht. Rache war nicht seine Art. Dennoch musste dieses Verhalten Konsequenzen haben. Keine Rache, aber irgendwas in diese Richtung. Er konnte ihn bloßstellen, aber das erschien ihm zu heftig. So was Privates sollte man nicht in die Öffentlichkeit ziehen. Obwohl... warum denn eigentlich nicht? Natürlich nicht im Sinne von 'ihn bloßstellen', aber so ähnlich. Langsam wuchs ein Plan in seinem Kopf. Er würde Kai dazu zwingen mit ihm zu reden und sich mit der Situation auseinander zu setzen. Es würde sehr unangenehm für den jungen Russen werden, aber das sollte es ruhig. Damit schlug er einige Fliegen mit einer Klappe. Und diesmal würde er sich nicht vertreiben lassen! Ja... ja, er wusste genau was er tun würde. Mit einem zufriedenen, aber etwas finsteren Grinsen, machte er sich auf den Weg nach Hause. Es dämmerte schon wieder und morgen war Schule. Oh, er konnte es kaum erwarten! Das war wirklich perfekt! Es war immer noch nicht ganz sein Stil, aber es hatte bisher auch noch nicht viele Situationen in seinem Leben gegeben, die derart drastische Maßnahmen erfordert hatten. Es wurde Zeit dem Russen zu zeigen, dass sie beide gar nicht so unterschiedlich sein mussten... Geschlafen hatte er schon wieder nicht gut. Eine Woche Schlafentzug war wirklich nicht angenehm. Nun ja, wirklich beschweren konnte er sich nicht, denn innerlich war er dermaßen aufgedreht, dass er gar nicht wirklich müde sein konnte. Nur sein Körper schickte ihm ständig Signale, die wohl darauf hinweisen sollten, dass es besser wäre, nach Hause zu gehen und sich einfach ins Bett zu legen. Aber das kam für ihn nicht in Frage! Nicht heute! Und diese Meinung änderte sich auch nicht, nachdem er schon zum tausendsten Mal den Stift hatte fallen lassen, bemerkt hatte, dass er nur unzusammenhängenden Unfug in sein Heft kritzelte und abermals vom Lehrer ermahnt worden war, sich doch endlich zu konzentrieren, wenn er nicht aus dem Klassenzimmer fliegen wolle. Es war ihm egal. Genauso wie es ihm egal war, dass seine Klassenkameraden schon merkwürdig schauten. Es gab so viel Wichtigeres! Warum nur verging die verdammte Zeit nicht? Er wollte unbedingt in die Mittagspause. Er wollte das endlich klären! Endlich, der Gong! Als er aufsprang wäre er fast gestürzt. Ihm war schwindlig und übel, aber er ignorierte das. Ausruhen konnte er sich nachher immer noch! Er ignorierte Takaos versuch ihn zu begleiten, ignorierte eigentlich alles um sich herum und stürmte einfach nach draußen. Er wollte das endlich klären! "Hiwatari!", rief er, als er sah, wie Kai gerade dabei war, sich auf seinen Ast zu schwingen. Perfekt, wenn er noch auf dem Boden stand, war es einfacher! Die Wut in ihm kochte noch immer und drohte schier überzulaufen. Er musste das jetzt tun, sonst würde er nie wieder ruhiger werden. Da würde auch keine Meditation mehr helfen. Es war einfach genug. Kai drehte sich zu ihm um, sein Blick verschlossen, drohend und so etwas wie wütend. Oh nein, der Russe hatte definitiv keinen Grund sauer zu sein! Schließlich war es nicht Rei gewesen, der sich feige vor einem Gespräch gedrückt hatte! Er ignorierte die Anspannung des anderen, bemerkte aber zufrieden, wie die Schüler, die schon auf dem Hof waren, sich zu ihnen umwandten. Perfekt. Kai rechnete mit einem Schlag, das war auch Rei klar, aber genau aus diesem Grund schaffte es sein Ziel auch nicht, anständig zu reagieren. Rei stieß ihn einfach gegen den Baum, funkelte ihn eine Sekunde lang wütend an und presste dann seine Lippen auf die seinen. Vor der halben Schule. Warum dieser Plan so genial war? Oh, dafür gab es mehrere Gründe. Er stellte Kai damit ein Stück weit bloß, wobei sich das in Grenzen hielt, da sowieso jeder wusste, dass er schwul war. Allerdings war ein Kuss ja nun einmal eindeutig ein Zuneigungsbeweis. Damit konnte Kai nicht mehr so tun als würden sie sich gar nicht kennen. Es zwang ihn ein Stück weit dazu sich mit der Situation auseinander zu setzen und zu guter Letzt tat die öffentliche Demütigung ihr Übriges. Es gab noch mehr Gründe, warum das hier eine gute Idee war, aber ihm fielen sie nicht mehr ein und er hatte auch keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Der Kuss dauerte effektiv nicht länger als zwei Sekunden und sein müder, erschöpfter Kopf registrierte zu spät die Anspannung in dem Körper des Anderen. Eigentlich hatte er gewusst, dass das passieren würde, aber er war zu erschöpft um darauf reagieren zu können. Mit einem Tritt in den Magen und einem heftigen Stoß gegen seine Brust wurde Rei in Richtung Schulhof zurück geschleudert. Nur jahrelanges Training verhinderte, dass er sich verletzte. Er blieb dennoch am Boden und hielt sich verkrampft seinen Magen. Verdammt, das war so nicht geplant gewesen. Als er aufsah, er sah ein wenig verschwommen, blickte er in flammende, wütende Augen. Die Augen Kais brannten lichterloh. Das dunkle Rot schien alles verschlingen zu wollen. "Dachtest wohl du hättest leichteres Spiel, hm? Mit der dummen Schwuchtel kann man's ja machen! Denkst du, du bist der Erste der mich damit aufziehen will? Mach das nochmal und du landest im Krankenhaus!" Wie oft hatte er ihm das eigentlich schon angedroht? Musste das dritte oder vierte Mal sein. Wenn er immer nur drohte, würde man ihn nie in Ruhe lassen. Aber.. Moment Mal! Versuchte Kai das gerade wirklich als Mobbingaktion hinzustellen? Was zum... das ergab doch gar keinen Sinn! Damit nahm er der öffentlichen Demütigung nicht die härte, im Gegenteil, das machte es doch nur schlimmer! Das einzige was er damit bezweckte, war Rei sein eigenes Outing zu versauen. Was.... Ein Lachen riss Rei aus seinen eher trägen Gedanken und im nächsten Moment hatte er eine Hand vor seiner Nase, die ihm offensichtlich beim Aufstehen helfen wollte. Als er aufblickte erkannte er einen Jungen aus seiner Stufe. Der war in irgendeiner Parallelklasse. Bisher hatte er ihn eher geschnitten, wenn er denn überhaupt mal mit ihm redete. Er grinste jetzt über beide Ohren. Was war hier los? "Mann Alter, was für ne geile Aktion! Hätte ich dir gar nicht zugetraut, dass du dich das traust. Dachte du wärst der totale Langweiler, aber bist wohl doch ganz in Ordnung." Was war denn jetzt los? Dachten die wirklich, er hätte das gemacht, allein um Kai wegen seiner sexuellen Ausrichtung zu mobben? Dachten die jetzt, er wäre so wie sie? Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken. Aber Moment mal... Irgendwas in seinem Kopf machte plötzlich 'klick'. Vor ihm rauschten alle Situationen vorbei, die so waren, wie die gerade. Kai, der ihn ablehnte und irgendwer, der ihm danach viel mehr Aufmerksamkeit schenkte als vorher. Es war immer jemand da gewesen, der ihn wieder vom Schulhof gekratzt hatte, wenn Kai ihn mal wieder von sich gestoßen hatte. Und immer danach, hatte er viel mehr Aufmerksamkeit erhalten, als ihm eigentlich lieb war. Sein Kopf begann zu schmerzen, doch er wollte diesen Gedanken zu Ende denken. Hatte Kai das etwa gewusst? Hatte er das so geplant? Was wäre gewesen, wenn Kai ihn am ersten Schultag nicht so hart behandelt hätte? Dann hätten sie als Freunde gegolten, denn sonst kam ja niemand in Kais Nähe... und dann? Dann hätte man ihn geschnitten, denn das tat man mit Freunden von ungeliebten Außenseitern. Er wäre nicht halb so gut in die Klassengemeinschaft aufgenommen worden, wahrscheinlich wäre eher das Gegenteil der Fall gewesen. Wahrscheinlich wäre er auch zu einem Außenseiter geworden. War es möglich.... nein. Ungläubig starrte er an dem Jungen vorbei zu Kai. Nein... oder? Er versuchte in den Augen des anderen etwas zu sehen. Versuchte herauszufinden, ob er Recht hatte. Das konnte doch unmöglich sein! Nein, so war der Russe nicht. Oder? Es fehlten ihm schon wieder so viele Informationen! Aber Kai wirkte wirklich nicht wie jemand, der andere vor Unheil bewahrte... nur die Art und Weise war typisch, so unglaublich typisch. Es würde das ganze Verhalten zumindest erklären. Wenn Kai keine Freunde wollte, hätten sie sich nie in dem Park getroffen und schon gar nicht regelmäßig. Aber das wirkte so unglaublich irrational und dumm, das konnte einfach nicht sein! Dennoch war es die logischste Erklärung die ihm dazu bisher eingefallen war. Unverhofft musste er lachen. Ja, er lachte, obwohl er sich ganz und gar nicht freute. Es war nur so furchtbar absurd, so furchtbar ironisch, so unglaublich dämlich. Wie konnte ein so intelligenter Kerl wie Kai nur so blöd sein? Er verstand es nicht. Aber er lachte darüber. Er konnte nicht anders. Wahrscheinlich sollte er wirklich schlafen... Nachdem dieser kurze Anfall vollkommener Irrationalität vorbei war, schlug er die Hand des Jungen weg, den er sowieso nicht leiden konnte. Dann rappelte er sich mühsam selbst auf, aber ohne Kai aus den Augen zu lassen. "Du bist echt ein Arschloch.", zischte er und versuchte dabei, seine Stimme aufrecht zu erhalten. Das war schwer mit einem Magen, der sich gerade umdrehen wollte. "So lasse ich dich definitiv nicht davon kommen! Du willst spielen? Gut, wie du willst..." Er sah sich kurz die Meute an, die sich um ihn gebildet hatte. Wohlweißlich blieben die weit genug von Kai weg. Sie starrten jetzt schon skeptisch und er war sich sicher, dass sich das gleich noch verschlimmern würde. "Mir liegt nichts ferner als dich zu verarschen.", begann er dann mit möglichst fester Stimme. Den Bauch hielt er sich trotzdem. Irgendwann würde er ihm das heimzahlen, aber es gab mal wieder Wichtigeres. Er sah kurz in die Runde. "Im Gegenteil." Dann sah er Kai wieder fest an: "Ich steh auf dich." Ein Raunen ging durch die Menge und prompt wurde etwas Abstand von ihm genommen. Ja.. jetzt würde er die Ruhe haben, die er sich die ganze Zeit schon gewünscht hatte. Allerdings war so offene Abneigung selbst für ihn verletzend. Aber im Prinzip war es egal. Er konnte keine Freunde brauchen, die nur mit ihm befreundet waren, wenn er hetero war und Kai nicht ausstehen konnte. "Hör auf so einen Schwachsinn zu reden.", spuckte Kai förmlich aus. Doch Rei ließ sich nicht beirren. Stattdessen blitzte er ihn herausfordernd an: "Etwa angst davor, dass sich tatsächlich mal ein Junge für dich interessiert?" Um ihn herum wurde das Tuscheln begonnen. Es fielen so Sachen wie 'Ich hab's ja von anfang an geahnt' und 'echt eklig'. Manche Mädchen kicherten verhalten, andere wandten sich sofort einfach ab. Viele Mädchen waren einfach nur enttäuscht. Hoffentlich bereute er diese Kurzschlussreaktion nicht doch noch. Er hatte sich schon manches Mal absichtlich zum Außenseiter gemacht, aber man konnte nie wissen, wohin das lief. Das konnte auch ausarten, aber es war jetzt sowieso viel zu spät. Kai knurrte kurz auf, murmelte ein 'Mach doch was du willst' und wollte sich dann wieder abwenden. Doch nicht mit Rei. Er würde ihn jetzt nicht mehr weg lassen. Schnell überwand er die wenigen Meter und packte Kai am Arm, um ihn zurück zu halten. Ein Unterfangen, was schwieriger war als gedacht, denn allmählich ging ihm wirklich die Kraft aus und das schien jetzt auch Kai zu merken. Kühl sah er auf die Hand, die ihn zitternd festhielt und er konnte noch sehen, wie sich die Stirn des Anderen wie in Sorge runzelte. Danach verschwamm langsam alles. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal was gegessen? Sein Magen fühlte sich plötzlich so unglaublich leer an. "Komm!", zischte Kai nur, löste sich aus seinem Griff, nur um ihn seinerseits am Handgelenk zu greifen und ihn von der starrenden Meute weg zu ziehen. Kai hatte beim besten Willen keine Ahnung, warum der Chinese plötzlich so schwach war und warum seine Augen eher ziellos umher huschten. Vielleicht hatte er sich eine Grippe eingefangen oder so was. Es war ihm eigentlich egal, aber er konnte ihn schlecht hier auf dem Schulhof zusammen klappen lassen. Innerlich verfluchte er sich für diese Tat. So wurde er den Kerl sicherlich nicht los. Rei bekam gar nicht mit wo sie hin gingen, bis er plötzlich auf etwas weiches gedrückt wurde. War das ein Bett? Ganz automatisch schloss er die Augen, gab der Erschöpfung endlich nach, die ihn schon seit Tagen belastete. Das tat so gut. Nur am Rande seines Bewusstseins bekam er noch mit, wie jemand, der verdächtig nach Kai klang, jemand anderen anschnauzte. Was er sagte, verstand er schon nicht mehr, da war er bereits in einen tiefen Schlaf gefallen. Kai betrachtete den Jungen, der jetzt ohnmachtsgleich schlief. Er hatte gerade die Krankenschwester aus der Nische, in der das Bett stand, geworfen, nachdem die tatsächlich die Frechheit besessen hatte, sie beide wieder raus werfen zu wollen. Unfähige Frau. Jetzt jedenfalls saß er hier und starrte diesen Idioten an. Was hatte der sich nur dabei gedacht? Warum hatte er das gemacht? Wie konnte man nur so blöd sein. Jetzt hatten sie beide keine ruhige Minute mehr hier. War es nicht schon schlimm genug, dass es ihm selbst so erging? Schnaubend trat Kai von dem Chinesen weg und stellte sich ans Fenster, sah auf den Schulhof der sich langsam leerte. Die nächste Stunde würde bald beginnen, aber er sah es nicht ein, da jetzt hin zu gehen. Das sagte er auch der Krankenschwester, als die ihn freundlich versuchte darauf hinzuweisen, nur nicht ganz so nett. Er würde hier bleiben, irgendwer musste sich ja um diesen Idioten kümmern. Der Krankenschwester traute er das eher nicht zu. Kapitel 11: Stoische Tiefen --------------------------- Als er erwachte, stand die Sonne bereits so tief, dass sie den gesamten Raum in ein rotes Licht tauchte. Es war ein surreales Bild für ihn, denn so ganz klar, fühlte er sich nicht. Sein Kopf fühlte sich schwer und wie in Watte gepackt an und er hatte das Gefühl seit Tagen nichts getrunken zu haben. Seine Zunge war pelzig und er hatte einen widerlich modrigen Geschmack im Mund. Was war nochmal passiert? Es fühlte sich alles so unwirklich an. "Ah, du bist wach!" Die Krankenschwester kam gerade zu ihm und reichte ihm ein Glas Wasser. Mühsam setzte er sich auf, ehe er es, mit immer noch zittrigen Händen, annahm und einen Schluck trank. Danach war er so erschöpft, dass er erst einmal wieder absetzen musste, obwohl er unglaublichen Durst hatte. "Wie fühlst du dich?" "Geht schon...", murmelte er schwerfällig. Er war niemand der jammerte und er mochte es auch nicht besonders irgendwie umsorgt zu werden. Sein halbes Leben schon war er für sich selbst verantwortlich, das hinterließ wohl Spuren. "Hattest du die letzte Zeit viel Stress?", fragte die Schwester weiter, blieb aber freundlich. Aus irgendeinem Grund kamen ihm die Worte von Takao wieder in den Sinn und er musterte die Schwester kurz. Ja, das war wohl wirklich eine Frau, die man attraktiv nennen konnte. Er sollte sich jetzt aber besser auf anderes konzentrieren. "Ein wenig, warum?" Geduldig lächelte die Schwester und fuhr fort: "Das was du hast sind Erschöpfungssymptome. Du solltest dich die nächsten Tage ausruhen und viel essen und trinken. Zwei oder drei Tage, dann solltest du wieder fit sein." Es fiel ihm schwer ihr zu folgen, aber er nickte einfach. Ausruhen... das hatte er verstanden und das war eine gute Idee. Er hatte sich viel zu sehr aufgeregt die letzte Zeit. "Na dann lasse ich euch beide mal wieder allein." Beide? Verwirrt blickte Rei sich um, bis er schließlich an Kai hängen blieb. Was machte der denn hier? Sofort spürte er die Wut wieder, die ihn die letzten beiden Tage wach gehalten hatte. Eigentlich war Kai gerade der letzte, den er sehen wollte. Er fühlte sich einfach zu elend für ein Gespräch mit ihm. "Du bist echt ein Vollidiot!", zischte Kai, ohne sich umzudrehen. "Sagt der Richtige!" Leider war Reis Stimme viel zu kratzig und schwach um wirklich ausdrucksstark zu klingen, aber es war immer noch besser als zu schweigen. Dann herrschte erst einmal wieder Schweigen. Letztendlich war es tatsächlich Kai der sich zu ihm umdrehte und das Gespräch fortsetzte, dass sie eigentlich nicht einmal begonnen hatten: "Wie kann man nur nicht schlafen?! Erklär' mir das mal! Wie blöd muss man eigentlich sein!?" Der anklagende Tonfall in der Stimme seines Gegenübers hätte ihn normalerweise zu einem schlechten Gewissen verleitet, doch nicht diesmal! Ganz sicher nicht diesmal und sicherlich noch weniger, bei dieser Wortwahl! "Denkst du ich hab das absichtlich gemacht? Ich hab wegen deiner Aktion am Sonntag kein Auge mehr zu bekommen!", keifte er so gut es eben ging zurück. "Warum..." Das Wort war so energisch ausgesprochen, dass Rei sich sicher war, dass Kai noch weiter sprechen wollte, doch er brach wieder ab. Anscheinend war ihm gerade klar geworden, was er da gehört hatte. Er zeigte kein Anzeichen von Reue, aber das ergebene fallen lassen der Schultern, zeigte Rei, dass er jetzt wieder ruhiger war. Dieses Bild beruhigte auch Rei ein wenig und so konnte er endlich das Gespräch beginnen, was ihn von seiner Last erlösen könnte. "Ich habe mir Gedanken darum gemacht." Seine Stimme war noch schwächer als vorher. Der kurze Wutanfall hatte ihn schlagartig wieder unglaublich erschöpft. "Ich konnte das nicht einordnen und.. ich habe es bereut, weil ich eigentlich noch gar nicht dazu bereit gewesen war. So gern ich auch mit dir befreundet wäre, Sex ist doch eine ganz andere Ebene und.. ich schlafe eigentlich mit niemandem, den ich so wenig kenne wie dich. Ich hab mich schlecht danach gefühlt und hab mich gefragt, warum du das gemacht hast und vor allem, warum das in Ordnung für dich war." So, jetzt war es raus. Endlich. Er stellte das halbvolle Wasserglas auf ein kleines Tischchen neben seinem Bett und rutschte wieder mit dem Kopf auf sein Kissen. Er war furchtbar müde. "Das sollten wir nicht jetzt klären, Rei. Du musst dich ausruhen." Wieder stieg ein Schwall Wut in ihm hoch, dass sich sein Magen schmerzhaft zusammenzog. "Oh nein!", er versuchte wieder energischer zu klingen. Es misslang ihm kläglich. "So kommst du mir nicht davon Hiwatari! Ich lass nicht zu, dass du schon wieder davon rennst!" So etwas wie ein Knurren entwich Kai, als seine Augen sich verdüsterten: "Denkst du, ich wäre noch hier, wenn ich nicht hier sein wollte? Du kannst mir gerade wohl schlecht nachlaufen!" Rei wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Er war unsicher und sein Kopf zu träge um ein ordentliches Gespräch führen zu können. Vielleicht hatte Kai tatsächlich recht. "Bist du noch da, wenn ich wieder aufwache?" Irgendwie klang das viel zu romantisch und viel zu kitschig, aber glücklicherweise wusste Kai ja, was er meinte. "Ja." Und daraufhin schloss Rei wieder die Augen und driftete fast sofort zurück in einen tiefen Schlaf. Kai seufzte und ließ sich dann auf einem Stuhl nieder. Er hatte nie gewollt, dass es Rei so schlecht ging und nun war er daran Schuld. Er wollte sich nicht wirklich eingestehen, dass die Aktion vor über einer Woche zu heftig gewesen war, doch es blieb ihm kaum etwas anderes übrig. Stur versuchte er sich schon seit einer Woche einzureden, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, doch er belog sich nur selbst. Jetzt konnte er die Augen vor der Wahrheit kaum noch verschließen. Er war dumm gewesen zu glauben, so irgendetwas besser machen zu können. Die Krankenschwester traute sich nicht ihm zu sagen, dass Schüler nicht über Nacht hier bleiben durften. Ob es daran lag, dass sie wusste, wer sein Großvater war oder an dem vorigen Verhalten von ihm selbst, wusste er nicht. Es war auch gleich. Sie sagte nur kurz Bescheid, dass sie nun gehen würde, dann waren sie vollkommen allein. Nein... besser gemacht hatte das alles wirklich nichts. Er hatte gehofft, dass Rei sich einfach von ihm fern halten würde, aber Kai hatte sich getäuscht. Der junge Chinese war einfach kein normaler Mensch, er schaffte es einfach nicht, ihn zu durchschauen. Diese impulsive, temperamentvolle Seite an ihm hatte ihn auch überrascht. Genauso wie die Aktion auf dem Schulhof. Das hatte noch nie jemand für ihn getan, auch wenn er nicht ganz die Motive hinter all dem erahnen konnte. Es war total irrationales und dämliches Verhalten gewesen und ein Stück weit war das sicherlich auch dem Schlafmangel geschuldet, aber Rei hatte auch jetzt nicht so ausgesehen als würde er irgendetwas bereuen. Vielleicht kam das auch noch. Fakt war, dass das alles jetzt nicht mehr rückgängig zu machen war. Und damit meinte er sowohl seine eigene Tat, als auch die von Rei. Beides war geschehen und sie mussten sehen, was sie jetzt daraus machten. Er würde nicht von Reis Seite weichen, wie versprochen. Er würde da sein, wenn er wieder aufwachte und dann würde er dieses Gespräch mit ihm führen. Wenn er Glück hatte, würde Rei so sauer sein, dass sein Plan doch noch aufging. Wenn er Pech hatte, wäre alles noch komplizierter als vorher. Aber das musste er abwarten, es blieb ihm nichts anderes übrig. Seltsamerweise fühlte er sich Rei durch den Streit kein Stück ferner, dabei sollte es doch eigentlich anders sein, oder? Sollte es nicht eher so sein, dass sie sich voneinander entfernten, wenn eine Partei sauer auf die andere war? Lief das nicht normalerweise so? Er war sich nicht sicher... er kannte eine solche Art der Beziehung nicht. Mit solcherart Freundschaften kannte er sich einfach nicht aus und das beinhaltete ja schon, dass sie befreundet waren. Das wiederum war für Kai aber ebenfalls unklar. Waren sie Freunde? Waren sie keine? Was waren sie dann? Ein Paar? Wohl kaum. Rei hatte deutlich gesagt, dass der Sex für ihn zu viel war und Kai selbst empfand sicherlich keine derart tiefen Gefühle für den Chinesen. Nein, wenn überhaupt waren sie Freunde oder weniger. Er wusste es nicht, aber es würde sich wahrscheinlich nach dem Erwachen von Rei klären. Jedenfalls hatte er wirklich nicht das Gefühl, dass dieser Streit gerade etwas war, was zwischen ihnen stand. Es fühlte sich anders an. Als würde es sie näher bringen, auf eine ganz absurde Art und Weise. Es machte ihm ein Stück weit Angst, denn es war eine so unbekannte Situation. Warum nur war er Rei so wichtig, dass der sich nicht nur Gedanken um sie machte, sondern dabei auch noch das Schlafen vergaß? Oder es gar nicht mehr konnte? Das war doch absurd und dumm. Kai seufzte. Diese Gedanken brachten ihn kein Stück weiter. Er würde es abwarten. Das Gespräch würde es zeigen, auch wenn ihm lieber gewesen wäre, sie würden sich einfach stumm darauf einigen sich fortan aus dem Weg zu gehen und so zu tun, als wäre nie etwas geschehen. Aber so einfach würde es diesmal nicht werden. Irgendetwas sagte ihm, dass er Rei nicht mehr loswerden würde, bis der umzog. Ein Gedanke, der kalte Angst und warme Vorfreude gleichermaßen in seiner Brust aufkommen ließ. Das Ganze war doch einfach nur unglaublich scheiße. Es dauerte bis zum nächsten Morgen, bis Rei ein weiteres Mal erwachte. Es ging ihm besser als gestern, aber als wirklich gut hätte er das nicht beschrieben. Schwach griff er nach dem Wasserglas neben sich, das seltsamerweise wieder komplett gefüllt war, und trank einen Schluck. Das tat gut. Er trank es halb leer, ehe er sich umsah. Kai stand wieder am Fenster und er fragte sich, ob der Russe überhaupt geschlafen hatte. Wenigstens war er wirklich da. "Und mich nennst du einen Idioten, ja? Du bist wohl selbst nicht besser." Seine Stimme war immer noch kratzig und er hatte das Gefühl zu lallen, war sich aber sicher, dass das nur an der Watte lag, die sich gefühlt in seinem Kopf eingenistet hatte. So komisch hatte er sich lange nicht gefühlt. "Mach dich nicht lächerlich." Das war wohl Kais Äquivalent zu 'Ich hab geschlafen, du hast es nur nicht mitbekommen!'. Rei seufzte. "Danke für das Wasser." "Das war die Krankenschwester." "Ja, klar." Etwas genervt verdrehte Rei die Augen, ehe er das Glas ganz leerte und vorsichtig aus dem Bett aufstand. Er konnte jetzt nicht mehr liegen. Kurz streckte er sich, ehe er sich zu Kai ans Fenster gesellte. Noch lag der Schulhof ganz ruhig und friedlich da. Es war noch zu früh, als dass ein Schüler dort zu sehen wäre. "Wenigstens hast du dein Versprechen gehalten." Rei konnte eine gewisse Wut noch immer nicht ganz zurück halten. Er hatte gedacht, dass das mit dem Kuss geklärt wäre, aber das was unausgesprochen zwischen ihnen hing, wog so schwer, dass er es einfach nicht vergessen konnte. "Hm." War die einzige Antwort und Rei hätte gerade am liebsten mit Kais Kopf die Fensterscheibe eingeschlagen. "Was ist eigentlich dein verdammtes Problem!?" Er konnte einfach nicht mehr ruhig bleiben, er wollte endlich reden und zwar möglichst nicht mit einer Wand. "Ich bin nicht der, der hier herum schreit." "Das wäre mir aber weitaus lieber!" Kai wandte endlich seinen Blick vom Schulhof ab und Rei zu, doch was er in seinen Augen sah, machte ihn nur noch rasender. Selbstzufrieden und ein Stück herablassend, blickten ihm die roten Iriden entgegen. Dieser...! "Na endlich.", war erst einmal das Einzige, was Kai dazu sagte und Rei musste an sich halten, nicht gewalttätig zu werden. Das wollte er nicht, das tat man nicht, das war gegen jeden Kampfsportkodex den er kannte. Nein, er würde sich nicht derart provozieren lassen. "Ich dachte schon, dass das nie passiert. Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben." Unvermittelt packte Rei Kai am Kragen und zog ihn ein Stück zu sich. So was wie ein Knurren verließ seine eigene Kehle. "Quatsch nicht so viel Unsinn, Hiwatari! Ich weiß was du vor hast, aber das lasse ich nicht zu! Ich lass dich nicht wieder weglaufen! Ich werde mich nicht mit einer Prügelei abreagieren und es dann einfach dabei belassen! Du redest mit mir und wir klären das!" "Da gibt es nichts zu klären." Kai blieb ganz ruhig. Ein Fakt, der Rei noch mehr aufregte. Warum war der Kerl nur so beherrscht? "Ich will, dass du mich endlich in Ruhe lässt." Ein sarkastisches Lachen ertönte, ehe Rei den Anderen losließ. "Ja klar. Und deshalb schläfst du mit mir?" "Du kannst ja doch noch denken, schön." Rei stutzte kurz und verengte die Augen. Was sollte das denn jetzt heißen? "Das ergibt überhaupt keinen Sinn!" Doch Kai blieb weiterhin die Ruhe selbst. "Hast du nicht was Ähnliches mit dem Kuss bewirken wollen?", konterte der auch sofort. "Darum geht es jetzt nicht, lenk nicht ab! Wir klären das danach. Zuerst bist du dran!" "Was glaubst du denn? Ich hab dir einfach gegeben was du wolltest, damit du endlich das Interesse an mir verlierst! Ich habe dir so viel wie es mir zu dem Zeitpunkt möglich war, von mir erzählt und gezeigt und ich habe dein sexuelles Verlangen gestillt! Das ist doch was du wolltest!" Rei schubste Kai von sich, dass der unsanft an einer Wand aufkam. Dann schloss er wieder so dicht auf, dass nur noch wenige Zentimeter Platz zwischen ihnen war. "Und warum redest du nicht einfach mit mir, wenn ich dir so sehr auf die Nerven gehe? Musst du mir erst so was antun? Bist du echt so feige?! Wirke ich auf dich als so ein Unmensch, dass du dich nicht Mal traust, mir ins Gesicht zu sagen, dass ich dich derart ankotze?" Kais Miene war stoisch, aber er schien nachzudenken. Rei war sich nicht sicher ob er ihm die Zeit lassen oder ihm gleich für immer den Rücken zu kehren sollte. Letzteres erschien ihm irgendwie falsch, deshalb wartete er ab, auch wenn es ihm mehr als schwer fiel und viel Selbstbeherrschung verlangte. "So ist das nicht...", begann er dann nach einer gefühlten Ewigkeit. "Wie ist es dann? Erklär's mir endlich, denn das hier macht mich wahnsinnig!" Ein Schnauben und dann wieder eine lange Pause. Langsam ging ihm wirklich die Geduld aus! "Ich kann dir nicht sagen, dass du mich nervst oder ankotzt. Das wäre gelogen." Diese Antwort nahm Rei dann doch irgendwie den Wind aus den Segeln. Langsam verstand er gar nichts mehr. Kai sah ihn noch immer vollkommen stoisch an. Seine Augen wirkten seltsam leer. "Und warum willst du mich dann loswerden?" "Weil es jetzt besser ist, als in einigen Monaten." Rei hielt kurz inne und versuchte das Gesagte zu verarbeiten. Aber er schaffte es nicht, das war einfach zu unlogisch. "Was soll das wieder heißen?" Konnte der Kerl denn nicht einmal Klartext reden? Nur einmal? Kai aber schnaubte, als wäre er sauer, dass er immer noch nicht verstanden wurde. "Du redest doch selbst ständig davon! In ein paar Monaten bist du wieder weg und ich höre nie wieder was von dir! Warum sollte ich dann zulassen, dass wir uns anfreunden? Geschweige denn noch mehr aus uns wird?" Rei taumelte einen Schritt zurück und sah Kai irritiert, aber auch etwas geschockt an. Das war sein Problem? Er ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen, ehe er seine Schultasche fand. Irgendwer schien sie vorbei gebracht zu haben. Vielleicht Takao, oder Kai hatte sie geholt. Das war jetzt aber unwichtig. Zielstrebig ging er darauf zu, kramte ein wenig darin herum und zog schließlich ein kleines Büchlein daraus hervor. Danach wandte er sich wieder um, ging zurück zu Kai und presste ihm den Einband unsanft gegen die Brust. "Sieh rein!" Verwirrt nahm Kai das Buch an, sah noch einmal in Reis abwartendes Gesicht und schlug es dann auf. Allerlei Namen, Adressen, Telefonnummern, Bilder und Ähnliches fanden sich darin. Es war wohl eine Liste von Bekannten und Freunden, die Rei im Laufe seines Lebens getroffen hatte. Jeder Mensch bekam dabei eine eigene Seite, die wohl auch bitter notwendig war. Neben den Kontaktdaten befanden sich, zumindest bei den späteren Einträgen, auch angaben, wann Rei sie zuletzt kontaktiert hatte und wie dieser Versuch verlaufen war. 'Unbekannt verzogen', 'Nummer nicht mehr verfügbar', 'Keine Rückmeldung seit' und dahinter ein Datum. Kai zog die Augenbrauen zusammen. Es waren, bis auf sehr wenige Ausnahmen, alle Einträge mit solch einer Information versehen. "Es ist nicht meine Schuld!", ereiferte sich Rei dann. "Ich ziehe nicht einfach um und verschwinde dann aus dem Leben all meiner Freunde! Klar ist es normal, dass der Kontakt bei vielen einfach einschläft, aber ich versuche wirklich das zu verhindern! Und das da sind nur die Leute, von denen ich überhaupt Daten habe." Rei atmete kurz durch und sah Kai dann fest an. "Ich verstehe wie du den Eindruck gewonnen hast, dass ich es bin, der den Kontakt abbricht. Das wollte ich nicht. Aber verdammt nochmal! Wenn du solche Zweifel hast dann rede doch mit mir! Wenn du nur willst, bin ich gerne ein Kumpel für's Leben. Ich bin eine sehr treue Seele, denn die paar Menschen, mit denen ich wirklich gut klar komme, sind mir sehr wichtig! Aber wenn du nicht mit mir redest wird das nie was!" Noch immer lag Kais Blick auf den Seiten des Buches. Er schien nicht fähig zu sein, den Blick davon abzuwenden. Rei zwang sich zur Ruhe. "Kai...", meinte er dann sacht. "In den nächsten Monaten werden wir sicherlich kein Paar. Mit jemandem wie dir dauert das länger. Aber ich würde wirklich gerne eine Freundschaft mit dir aufbauen und das ohne Intrigen. Die sind anstrengend und unnötig und nimmt uns die Zeit, die wir miteinander verbringen könnten. Ich weiß, dass du schwierig bist und dass dir reden nicht leicht fällt, aber ich kann schlecht erraten was du denkst, wenn du so was machst wie letzten Sonntag und dann nicht mal auftauchst um darüber zu reden. Das halte ich sicherlich keine Monate durch, dann bin ich am Ende ein nervliches Wrack. Du musst mit mir reden, wenn wir wirklich Freunde werden wollen." Kapitel 12: Herausforderndes Funkeln ------------------------------------ Sie hatten noch lange geredet. Sehr lange. Sie hatten über Kais Ängste geredet, nur leider nicht, woher sie kamen und über Reis Wut und die Aktion auf dem Schulhof. Sie hatten auch darüber geredet, wie sie nach Reis Umzug Kontakt halten konnten und waren bald zu dem Ergebnis gekommen, dass es wahrscheinlich gar nicht mal so schwer sein würde, wenn sie sich etwas Mühe gaben. In Rei wuchs die Hoffnung, dass Kai einer der Freunde sein könnte, mit denen er tatsächlich noch regelmäßigen Kontakt hatte, auch über Jahre hinweg. Kai würde sich die Mühe machen, da war er sich sicher. Allerdings würde das nur funktionieren, wenn sie tatsächlich echte Freunde würden und so beschlossen sie, daran zu arbeiten. Ganz ohne Intrigen, dafür aber mit viel mehr reden. Sie hatten sich darauf geeinigt ihre Treffen Samstags dazu zu nutzen, eine Art Wochenresumé zu ziehen und dabei so offen und ehrlich wie möglich zu sein. Das war auf den ersten Blick vielleicht etwas steif, gab Kai aber die Möglichkeit sich seelisch darauf vorzubereiten und bot einen festen Rahmen, den Kai ebenfalls sehr bevorzugte. Der junge Russe war eben ein strukturierter Denker, der feste Regeln recht gern mochte, auch wenn er sich in diesen gerne möglichst frei bewegte. Ein kleines Paradoxon, das Rei im ersten Moment etwas verwundert hatte. In der Schule sahen sie sich jetzt auch öfter. Um genau zu sein in jeder Pause, denn dank dem 'Outing' von Rei, galten sie jetzt nicht nur als Paar, es wollte auch kaum noch wer was mit dem Chinesen zu tun haben. Schade, aber nicht zu ändern. Nur Ai und Takao blieben ihm treu, doch momentan war Kai ihm wichtiger, weshalb er die beiden ein wenig vernachlässigte. Ai störte das weniger als Takao, der ständig rummoserte, dass Rei doch sowieso nur unter dem Baum lag und die beiden sich ansonsten gar keine weitere Beachtung schenkten. Natürlich verstand Takao das nicht. Er verstand nicht, wie wichtig es für sie beide war, einfach so Zeit miteinander zu verbringen und sich aneinander zu gewöhnen. Sie brauchten eben nur wenige Worte, um sich das zu sagen, was ihnen wichtig war. Klatsch interessierte sie beide nicht und ansonsten gab es auch kaum etwas zu reden. Aber das störte sie nicht, warum auch? Sie beide genossen es einfach beieinander zu sein. Wenn etwas passierte, was sie beschäftigte, redeten sie tatsächlich darüber. Zum Beispiel, als ein lange verschollen geglaubter Freund Rei tatsächlich kontaktiert hatte und um erneut regelmäßigen Kontakt gebeten hatte. Oder als Kais Großvater mitbekommen hatte, dass es mit dem Schlagzeugspielen nicht so schnell voran ging, wie eigentlich geplant. Für Rei war es enorm angenehm, endlich etwas Einblick in Kais Leben zu haben und ihm auch von seinem eigenen erzählen zu können. Schon nach wenigen Wochen war er sich sicher, dass sie sich Freunde nennen konnten. Es war bereits zum Ritual geworden, dass sie sich in den Pausen trafen, doch heute hatte Rei etwas anderes vor. Vier Wochen waren jetzt seit ihrem Streit vergangen und er befand es an der Zeit, dass er sich auch um seine anderen Freunde etwas kümmern musste. Das war ein wenig heikel, denn eigentlich wollte er Kai nicht alleine lassen. "Willst du mich jetzt etwa resozialisieren oder was soll der Blödsinn?", maulte Kai als Rei ihm den Vorschlag unterbreitet hatte, heute in der Pause mit Takao zusammen zu essen. "Auf den Kindergarten kann ich gut und gerne verzichten." Reis Blick wurde ernst, denn er würde nicht nachgeben. Kai stand vor ihm, die Mundwinkel unwillig nach unten gezogen, die Arme vor der Brust verschränkt und ein aggressives Funkeln in den Augen. Nichts, was Rei wirklich abschreckte. "Ich aber nicht und jetzt stell dich nicht so an. Takao ist wirklich in Ordnung und es wird dich schon nicht umbringen, mal eine Pause mit ihm zu verbringen." Kai aber schnaubte nur: "Nur eine Pause? Wenn ich jetzt ja sage schleppst du mich doch regelmäßig da hin." Erwischt. Rei grinste leicht schief und zuckte die Schultern. "Ich hab eben auch noch andere Freunde als dich. Komm schon, Kai. Er ist wirklich nett!" Amüsiert schoss eine Augenbraue in die Höhe: "Klingt so als wolltest du mich verkuppeln." Rei lachte kurz, aber herzhaft, während Kai sich ein schmunzeln abrang. "Takao ist hetero und ihr beiden würdet ein interessantes, aber seltsames Paar abgeben. Das wäre wie Feuer und Wasser. Egal. Also? Was sagst du?" Kai schnaubte nur genervt, lockerte dann aber seine abwehrende Haltung. Gewonnen! "Von mir aus. Aber glaub bloß nicht, dass ich mich mit dem unterhalte!" Zufrieden lächelnd machte sich Rei auf in die Mensa. "Was macht der denn hier?", kam es geschockt von Takao. "Ist der Baum endlich gefällt worden und er wusste nicht, wohin?" Kai indes warf Rei nur einen genervten Seitenblick zu: "Ich hab dir doch gesagt, das ist eine schlechte Idee." Der Japaner hatte das natürlich gehört und grinste nur verschmitzt: "Was denn? Angst mit meiner großen Klappe nicht mithalten zu können?" Das herausfordernde blitzen in seinen Augen tat sein Übriges. Innerhalb von einer Sekunde saß Kai Takao gegenüber. Rei war etwas erstaunt. Takao hatte anscheinend wirklich ein Händchen für Menschen. Es gab sicherlich nicht viele die mit Kai so umzugehen wusste. Es entlockte ihm kurz ein Grinsen. Es war eine gute Entscheidung gewesen, seine beiden Freunde mal zusammen zu führen. "Schön, dass ihr beiden euch schon angefreundet habt.", flötete Rei nur gut gelaunt und setzte sich dazu. Von Kai bekam er für diesen Spruch nur einen Blick, der ihm wohl Angst machen sollte. Zum Glück kannte er Kai gut genug, dass das nicht mehr wirkte, auch wenn es seine Nackenhaare immer noch dazu brachte, sich aufzustellen. Takao hingegen lachte fröhlich und drehte sein Tablett so, dass sich Kai an dem Essen mit bedienen konnte. "Sieht nicht so aus, als hättest du was dabei, Kumpel. Ich hab mal wieder viel zu viel mitgenommen." Kai konnte nicht wissen, dass das eine Lüge war, denn jeder, der Takao kannte, wusste, was für einen gesunden Appetit er hatte und, dass er Essen eigentlich nicht teilte. Dennoch war der junge Russe erstaunt über das Angebot, zeigte es aber nicht und griff einfach zu. "Wenn du mich noch einmal 'Kumpel' nennst, setzt es was.", erwiderte er nur schlecht gelaunt, und aß einen Bissen. "Uuuuh, mir zittern schon die Knie!" Takao gluckste noch einmal, wandte sich dann aber an Rei, immerhin war er mit ihm befreundet, nicht mit dem Miesepeter. "Ich muss dich jetzt also immer teilen, ja? Na ja, wenigstens etwas. Aber so kommst du mir nicht dauerhaft davon! Wir machen morgen, nach der Schule was zusammen, keine Widerrede!" "Na gut, gewonnen. Was schwebt dir vor? Und als Wiedergutmachung lasse ich dir sogar freie Wahl!" Damit war Takao natürlich sofort zufrieden und überlegte. "Lass uns in die Spielhalle gehen! Da war ich schon lange nicht mehr. Und davor in den neuen Mangaladen, der eröffnet hat!" Rei lächelte versöhnlich und stimmte zu. Wenn er damit seinem Freund eine Freude machen konnte, war es ihm das Wert. "Ich muss dich nur warnen, ich bin nicht gut mit Videospielen." "Ach, ist doch kein Problem! Ich bring es dir gerne bei." "Tze, Kinderkram." Sowohl Rei als auch Takao drehten ihren Kopf zu Kai, der diesen Ausspruch gemacht hatte. Rei hätte erwartet, dass Takao sich jetzt furchtbar aufregte, doch zu seinem Erstaunen grinste der nur herausfordernd: "Eifersüchtig, dass du nicht auch eingeladen bist? Kannst ruhig mitkommen, dann habe ich wenigstens jemanden, den ich ohne schlechtes Gewissen platt machen kann!" Kai erwiderte den Blick stoisch und gelassen: "Träum' weiter. So ein leichter Gegner bin ich nicht." "Dann beweis es!" "Nichts leichter als das!" Rei grinste nur bei dem kleinen Schlagabtausch: "Dann ist es beschlossene Sache. Morgen, nach der Schule, in der Spielhalle" Sie waren nicht gemeinsam gegangen. Rei und Takao waren nach der Schule direkt los, aber Kai musste wohl vorher noch etwas erledigen. Es wunderte Rei noch immer, wie schnell Takao Kai manipuliert hatte und er war sich nicht einmal sicher, ob der Japaner das tatsächlich wusste. Aber eigentlich war es ja ganz simpel gewesen: Takao hatte nur Kais Stolz angegriffen und hatte ihn schon am Haken. Ganz einfach. Warum der Russe sich so leicht provozieren ließ, konnte Rei nicht sagen, aber Takao schien den richtigen Nerv getroffen zu haben. Er freute sich insgeheim darüber, denn so kam Kai etwas aus sich raus und er konnte mit ihm auch mal etwas in der Stadt unternehmen. Normalerweise brachten ihn keine zehn Pferde dahin. Die Spielhalle voll und belebt und dadurch auch ein wenig stickig. Kein Ort den er bevorzugte, schon gar nicht zur Rush Hour, aber es war mal eine willkommene Abwechslung. Der erste Eindruck war atemberaubend. Er hatte schon viele Gerüchte über Spielhallen in Japan gehört, aber es war noch viel beeindruckender als erwartet. Es reihte sich ein Automat an den nächsten. Überall waren Menschen und die Geräuschkulisse war so enorm, dass den eher freiheits- und ruhesuchenden Chinesen kurz ein Anflug von Platzangst erfasste. Takao war diese Umgebung aber so gewohnt, dass er ihn einfach mit sich zog, sich durch die Menge drängelte, bis er da war, wo er hin wollte. Wo auch immer das war. Als Takao stehen blieb entdeckte er Kai, wie er lässig in einer Ecke an der Wand lehnte. Er trug, im Gegensatz zu ihnen beiden, Alltagskleidung und keine Schuluniform. Der obligatorische Schal fehlte natürlich auch diesmal nicht und es war wie immer ein weißer. Kurz entließ Rei ein schmachtendes Seufzen, aber nur, weil es sowieso niemand mitbekam, außer vielleicht Takao. Es war schon ziemlich schade, dass er mit Kai nichts anfangen konnte. Es war ja wirklich besser so, aber wenn er so aussah, war es manchmal wirklich schwierig, sich an seine eigenen Vorsätze zu halten. Glücklicherweise hatte er nicht wirklich Zeit weiter darüber nachzudenken, denn als Takao bei dem Russen angekommen war, brach sprichwörtlich die Spielehölle los. Rei selbst kam eigentlich nicht dazu auch etwas auszuprobieren, allein, weil es zu viel Spaß machte, den beiden Kontrahenten bei ihren Duellen zuzusehen. Die beiden jagten sich gegenseitig einmal quer durch die Spielehalle und probierten alles aus, was man gegeneinander spielen konnte. Letztendlich mussten sie sich allerdings mit einem Gleichstand zufrieden geben. Während Takao vollkommen fertig in den Seilen hing, schien Kai noch vollkommen entspannt und frisch. Dass das täuschte bemerkte nur Rei, aber er sagte dazu nichts. Der moralische Sieger war also eindeutig der junge Russe und das wusste der auch. Dementsprechend setzte er seinen typisch arroganten Blick auf und Rei war sich sicher, dass auch noch der ein oder andere Spruch fliegen würde. "Hast du eigentlich irgendwas gemacht, Rei?" Verwundert sah er zu Takao. "Hm? Nein, warum?" Amüsiert schüttelte der Japaner den Kopf: "Das geht so aber nicht! Du hast versprochen, dass du es probierst!" Ergeben seufzte Rei, lächelte dann aber. Versprochen war immerhin versprochen, auch wenn er bisher noch nichts gesehen hatte, was ihn interessierte und es reizte ihn auch ehrlich gesagt nicht, irgendetwas auszuprobieren, was die anderen beiden schon gespielt hatten. Einen direkten Vergleich wollte er wirklich vermeiden. Aber was sollte er dann wählen? Ein Jubeln ging durch die Halle und zog seine Aufmerksamkeit eher ungewollt auf sich. Durch das Match vorher war ihm das nicht wirklich aufgefallen, aber jetzt gab es nichts mehr was ihn ablenkte. Neugierig ging er ein wenig näher zu der kleinen Menschentraube und sah sich das große Podest an. Ein Tanzspiel? Er hatte bisher nicht gewusst, dass es so etwas gibt. Es erinnerte ihn an Guitar Hero, schien aber statt mit Händen mit den Füßen zu funktionieren. Irgendwie reizte es ihn, sich darin auszuprobieren. Er sah kurz über seine Schultern und sah so kurz Takaos verwirrten Blick, ehe der begann zu grinsen und ihm mit einer 'Daumen Hoch' Geste wohl Mut zusprechen wollte. Kai sah ihn interessiert, aber ansonsten ausdruckslos an. Rei musste daraufhin selbst grinsen. Wurde Zeit seinem neuen Freund mal zu zeigen, was er so drauf hatte. Konnte ja nicht angehen, dass nur der die ganzen Lorbeeren einheimste. Als das derzeitige Duo fertig war, schwang er sich auf das Podest. Spontan wünschte er sich seine Alltagskleidung her, denn darin konnte er sich wesentlich besser bewegen als in der Schuluniform, aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Herausfordern lächelte er das Mädchen an, dass sich neben ihn stellte, das seinen Blick keck und selbstbewusst erwiderte. Kurz darauf setzte auch schon die Musik ein und die Zeichen rauschten über den Bildschirm. Anfangs war es gar nicht so einfach, aber bald bemerkte er, dass es nicht das sinnvollste war, sich nur auf das Spiel zu konzentrieren. Sich mit der Musik treiben zu lassen, war viel zielführender. Kai sah dem Treiben aus sicherer Entfernung zu. Erst wirkten Reis Bewegungen eher ruckartig und unbeholfen, aber bald wurden sie flüssiger und sicherer. Er genoss den Anblick des Körpers, der sich elegant zum Takt der Musik bewegte. Es war kein Wunder, dass die Menge grölte. Zusammen mit dem attraktiven Mädchen an seiner Seite, ergab das wirklich ein heißes Bild. Kais Blick galt dabei natürlich nur dem Chinesen, der mit der Melodie zu verschmelzen schien. Die Jubelrufe schienen ihn noch weiter anzuheizen und er wurde zunehmend lockerer. Er wünschte sich, dieses Lied würde nie zu Ende gehen. "Warum seid ihr beiden eigentlich nicht zusammen?" Eigentlich hätte es nichts gegeben, was ihn von diesem Anblick hätte losreißen können. Eigentlich. Denn diese Aussage ließ ihn seinen Kopf ruckartig herumreißen. Der Versuch den dreisten Japaner mit seinen Blicken zu ermorden, schlug leider fehl. "Wie kommst du auf den Blödsinn?", fragte er aggressiv und hoffte so, das Gespräch schon im Keim ersticken zu können. "Nicht gleich so aggressiv, alter! Ich weiß ja, dass dieser Kuss auf dem Schulhof nur Show war. Ich weiß aber auch, dass ihr beiden schon miteinander...." "Untersteh dich das auszusprechen!", zischte Kai sofort, ehe dieser Vollidiot das tatsächlich zu sagen. "Bist du von allen guten Geistern verlassen?" Aber Kinomiya schien das Problem nicht zu verstehen. Mal abgesehen davon, dass er nicht wusste, was er davon halten sollte, dass Rei mit dem Idioten so intim über sie beide geredet hatte. "Warum? Es weiß doch sowieso jeder in der Schule Bescheid. Ist doch egal." "Das hier ist etwas vollkommen anderes!" Kinomiya verdrehte nur die Augen, sah dann aber wieder nach vorne zu Rei. "Du lenkst ab. Warum also?" "Das geht dich wohl kaum etwas an!" Damit war das Gespräch dann tatsächlich beendet, denn den frustrierten Aufschrei Kinomiyas ignorierte er einfach. Beendet war allerdings auch das Lied und das nahm Kai dem Japaner wirklich übel. Keuchend kam Rei wieder zu ihnen und strahlte übers ganze Gesicht. Ein wunderschöner Anblick. Kurz warf Kai einen Blick auf den Punktestand. Rei hatte verloren. Nicht verwunderlich, es war offensichtlich, dass der das Spiel noch nie gespielt hatte. "Das üben wir nochmal. Aber du bist auf jeden Fall Sieger der Herzen.", zog er seinen Freund spielerisch auf. Dabei meinte er das wirklich ernst. Die Menge hatte getobt, das hatte er selbst während dem kurzen Gespräch mitbekommen. "Das war echt klasse Rei! Ich wusste gar nicht, dass du so gut tanzen kannst!" Etwas verlegen lächelte Rei zurück. Niedlich. "Na ja, richtig was mit tanzen hat das ja nicht zu tun. Aber in Amerika war ich öfters mal in einem Club." "Das ist echt total krass! Lass uns mal zusammen in so einen Club gehen! Ich will das auch können. Das sah selbst für mich heiß aus!" Während er selbst nur genervt die Augen verdrehte lachte Rei ausgelassen. "Gib's zu, du hast doch sowieso nur dem Mädchen auf den Hintern geschaut." Kinomiya grinste verschmitzt ehe er antwortete: "Vielleicht. Aber ich weiß, wer definitiv dir auf den Arsch gestarrt hat." Der nächste todbringende Blick traf den Japaner, der diesen aber geflissentlich ignorierte. Musste das jetzt sein? Das war peinlich! Doch Rei lachte wieder nur ausgelassen und schien tatsächlich ein klein wenig rot zu werden. Einmaliger Anblick. Vielleicht war der Japaner doch nicht so furchtbar. Kapitel 13: Unergründliches Rot ------------------------------- "Ich find's ätzend, dass du mit Kinomiya über uns geredet hast." Verwundert sah Rei von seinem Buch auf und blickte zu dem Jungen, der so wie immer über ihm auf einem Ast saß. Es war der Samstag nach dem Nachmittag in der Stadt. Seitdem hatten sie nicht mehr wirklich miteinander geredet. In der Schule sprachen sie nie über wirklich Persönliches und nachmittags trafen sie sich unter der Woche wirklich nur sehr sehr selten. Es hatte ihn gewundert, dass Kai so einfach ja zu Takao gesagt hatte, aber das zeigte wohl nur, dass der Nerv den der Japaner getroffen hatte, umso empfindlicher gewesen war. Offensichtlich hatte Takao aber nicht nur einen Nerv getroffen, sondern Kai auch erzählt, dass sie über dieses empfindliche Thema geredet hatten. "Ich brauchte wen zum Reden.", war die einzige Antwort, die er darauf gab und er würde auch nicht weiter ins Detail gehen. Er war wütend gewesen, Kai hatte Mist gebaut und Takao war vertrauenswürdig genug, dass man es ihm nicht zum Vorwurf machen konnte, dass er sich ihn als Vertrauten gewählt hatte. Er musste sich nicht vor Kai rechtfertigen. "Aber ausgerechnet mit ihm? Ist das wirklich dein Ernst? Der Kerl hat den IQ einer Tütensuppe." Rei richtete seinen Blick wieder auf das Buch: "Sagt der, der sich von der Tütensuppe hat provozieren lassen." "Haben Schwuchteln für so was nicht immer eine beste Freundin, die sie damit zuschwallen können?" Rei lachte trocken auf bei dieser vollkommen absurden Bemerkung: "Keine Ahnung, sag du's mir." Eigentlich war die Situation gar nicht witzig, aber mit Humor ließ sich das Ganze am Besten ausstehen. Kai ließ öfter solche merkwürdigen Begriffe fallen, die eindeutig zeigten, dass er Homophob war. Das war bedenklich, aber er hatte sich dazu entschlossen nicht offen mit ihm darüber zu sprechen. Natürlich war der Kerl homophob. Seine sexuelle Ausrichtung brachte ihm nichts als Probleme und Rei hatte schon öfter gehört, dass gerade Russland ganz extrem gegen Schwule war. Er würde ihn nicht davon überzeugen können, dass es im Grunde kein Problem war, zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlte, also sparte er sich den Atem und versuchte solche Aussagen einfach mit Humor zu nehmen. Kai schnaubte nur und antwortete nicht mehr. Keine Reaktion die sonderlich überraschend kam. "Ich denke nicht, dass es noch einmal geschehen wird, dass ich mit Takao über uns beide rede. Aber ich will es nicht versprechen. Wer weiß was du in den nächsten Monaten noch so anstellst." "Ist das etwa eine Drohung?" Die Stimme von Kai klang herausfordernd und spöttisch, doch Rei ließ sich davon sicherlich nicht beeindrucken: "Ja! Wenn du wieder Mist baust brauche ich jemanden zum Reden. Ich werde das sicherlich nicht sein lassen, nur weil du Takao nicht magst. Ich kann dir nur versprechen, dass ich nicht einfach so mit irgendwem über uns spreche. Also reg dich nicht auf." "Hm." Damit war das Gespräch dann wohl erst einmal beendet. Es kehrte wieder Ruhe in dem kleinen Park ein, doch statt sich wieder auf sein Buch zu konzentrieren, wandte Rei seinen Blick zum Himmel. Es war kein Wunder, dass es so ruhig war. Es war ziemlich kalt und die Wolken hingen schwer und grau am Himmel. Niemand normales verirrte sich an so einem Tag in einen Park. Heute würde es wahrscheinlich noch nicht schneien, aber spätestens morgen wäre es sicherlich so weit. Der erste Schnee des Jahres. "Es wird langsam echt zu ungemütlich um sich weiter hier zu treffen. Was machen wir, wenn es noch kälter wird?" Vielleicht könnten sie sich ja bei ihm treffen oder bei Kai zu Hause. Oder sich als Gastgeber abwechseln. Aber irgendwas mussten sie seiner Meinung nach tun, denn schon heute war es wirklich unangenehm kalt. Er selbst konnte nur hier herum sitzen, weil er sich eine große Thermoskanne voll Tee mitgebracht hatte. "Hm? Warum sollte das ein Problem sein?" Typisch. Natürlich empfand der Russe es nicht als kalt. In seinem Land war es um diese Jahreszeit sicherlich viel kälter und der harte Hund fror natürlich nicht! Rei seufzte. "Ja schon klar. Ein Kai Hiwatari friert nicht. Wie konnte ich das nur annehmen?" Reis Stimme triefte vor Sarkasmus. "Jedenfalls ist mir jetzt schon ziemlich kalt und ich habe kein Interesse daran mir hier irgendwann den Tod zu holen." "Tze. Weichei." "Wa...? Hey! Hör auf mich zu beleidigen!" Das war ja wohl die Höhe! Plötzlich landete Kai neben ihm, was ihn erschreckt zusammenzucken ließ. Noch ehe er reagieren konnte, hatte sich der Russe über ihn gebeugt und war ihm so nahe gekommen, dass er dessen Atem in seinem Gesicht spüren konnte. "Ich könnte dich ja auch einfach den Winter über warm halten." Diese Worte und der Blick in diese unergründlichen, roten Tiefen ließen Rei leicht erschauern. Für einen Augenblick überlegte er, seine Vorsätze einfach über Bord zu werfen und Kai zu küssen, entschied sich aber letztendlich dafür, ihn von sich weg zu drücken. "Hör auf so einen Unsinn zu reden! Das ist auch keine Lösung!" Auch wenn er zugeben musste, dass es eine schöne Vorstellung war, hier, unter dem Baum, an Kais Körper gelehnt zu sitzen und dessen Wärme zu genießen. "Selbst dafür wird es zu kalt und vor allem zu nass sein!" Kai schnaubte nur und schien etwas angefressen zu sein. Irgendwie war das ja niedlich, auch wenn es vorrangig ein wenig nervig war, dass er so schnell eingeschnappt war. Aber es war immerhin Kai. Würde Rei mit so etwas nicht klar kommen, dann hätte er sich sicherlich nicht so darum bemüht, sich mit ihm anzufreunden. "Du weißt, dass es nicht gut wäre, wenn wir uns so nahe kommen.", meinte er versöhnlich um seinen Freund ein wenig zu beruhigen. "Warum nicht? Wo ist das Problem? Es ist ja nicht gleich wieder Sex." Für einen Moment überkam Rei ein kalter Schauer und er blickte sich in dem Park kurz um. Natürlich war hier niemand der das hätte hören können. Dennoch war es ihm unangenehm, wenn Kai so offen darüber sprach und dabei ging es nicht einmal im Speziellen darum, dass er mit einem Kerl geschlafen hatte. Er redete im Allgemeinen nicht gerne in der Öffentlichkeit über so etwas. Da kam eindeutig seine konservative Erziehung durch, mal davon abgesehen, dass sein Liebesleben nun wirklich niemanden etwas anging. "Du weißt genau warum. Ich bin immerhin nicht der gewesen, der so viel Angst vor der bevorstehenden räumlichen Trennung hatte, dass er versucht hat mich mit allen Mitteln von sich fern zu halten!" Klang das nur in seinem Kopf so wirr oder war es das tatsächlich gewesen? "Was ändert sich denn? Weg gehst du so oder so. Ich habe mich dazu entschieden dich nicht weg zu schieben, warum dann nicht noch einen Schritt weiter gehen?" Rei seufzte genervt, klappte sein Buch zu und stand auf um Kai anständig in die Augen sehen zu können. "Was sich ändert?", fragte er ärgerlich und mit Nachdruck. "Denk doch mal nach! Wenn wir eine...", er stockte und sah sich noch einmal um. Gott, warum fiel ihm das plötzlich so schwer? Er hatte schon oft über Beziehungen gesprochen und auch in der Öffentlichkeit, aber gerade bekam er das kaum über die Lippen. "Wenn wir eine Beziehung hätten... dann würde die zu Bruch gehen sobald ich weg bin und das will ich dir nicht auch noch antun. Es ist schwer genug Freundschaften über solche Distanzen aufrecht zu erhalten. Eine Liebesbeziehung zu erhalten ohne, dass man sich auch nur ansatzweise regelmäßig sehen kann, ist fast unmöglich und auch ziemlich utopisch. Das würde nicht gut gehen. Ich will dich nicht so sehr verletzen." Wieder war ein Schnauben zu hören. Der junge Chinese hatte während seiner Worte seinen Blick abgewandt und sah nun auf einen Punkt, der irgendwo in der Unendlichkeit lag. Erst Kais Worte rissen ihn wieder in die Wirklichkeit: "Das ist wohl meine Sache, oder? Wag es nicht Entscheidungen für mich zu treffen! Außerdem..." Die roten Augen glitten kurz musternd über Rei, ehe Kai fortfuhr: "Außerdem habe ich nicht das Gefühl, dass es hier um mich geht. Kann es nicht vielleicht sein, dass du es bist, der Angst vor dieser Trennung hat?" Kurz schluckte Rei. War das so? Nutzte er Kai nur als Ausrede, damit er selbst nicht zugeben musste, dass er furchtbare Angst vor dem Schmerz hatte? Vielleicht... "Ist das denn so verwunderlich!?" Er zuckte selbst vor seinen eigenen Worten zurück. Nicht nur, weil ihn der Inhalt selbst überraschte, sondern auch, weil die hohe Lautstärke vollkommen untypisch für ihn war. "Ehm..." Wo hatte er sich da jetzt nur reingeritten? Warum war er so nervös? Das kam so plötzlich, dass er nicht damit umgehen konnte. Wo war nur seine Ruhe geblieben? Vielleicht hatte er die letzte Zeit zu wenig meditiert, das sollte er nachholen. Kai sah ihn abwartend, aber ansonsten vollkommen ruhig an. Diese Gelassenheit stand so vollkommen im Kontrast zu seinen eigenen Gefühlen, dass es ihn nur noch nervöser machte. Konnte er nicht irgendwas sagen, statt einfach nur herum zu stehen und auf irgendwas zu warten? In seinem Kopf lief alles zu durcheinander um jetzt noch einmal den Mund auf zu machen. Überfordert wandte er den Blick wieder von seinem Gegenüber ab und versuchte sich zu sammeln. "Du hast schon zu viele zurück gelassen, nicht wahr? Du kennst den Schmerz zu gut. Ein gebranntes Kind, das nun Feuer scheut. Nein, natürlich ist das nicht verwunderlich." Rei atmete nach diesen Worten, die so gut ausdrückten, was er empfand, erleichtert aus. "Ja... ich denke schon." Wann hatte Kai eigentlich angefangen ihn so gut zu verstehen? Der stille Russe schien doch mehr vom Zwischenmenschlichen zu verstehen, als es den Anschein machte. Irgendwie war das aber nicht verwunderlich, wenn er jetzt so darüber nachdachte. Schließlich hatte sein Freund von Anfang an versucht, sein Wissen zu nutzen, um ihn möglichst weit von sich weg zu schieben. Verständnis von Zwischenmenschlichem konnte man eben auch anders herum benutzen. Er hob den Blick wieder und lächelte Kai an. Langsam wurde es in seinem Innern wieder etwas ruhiger. "Lass uns doch einfach sehen, wo es hin führt." Die vorige Entspannung schlug augenblicklich in Misstrauen um: "Wo kommt das auf einmal her? Vor ein paar Wochen hast du noch versucht mich loszuwerden!" "Und ich habe es nicht geschafft, warum es also weiter versuchen? Weh tun wird es so oder so wenn du weg bist. Da können wir versuchen so viel Kontakt zu halten wie wir wollen, es ändert nichts daran, dass alles, was wir uns aufbauen, dann nicht mehr da ist. Es bleibt nur eine Brieffreundschaft. Ob jetzt eine Beziehung oder eine Freundschaft in die Brüche geht... ist der Unterschied wirklich so anders?" Rei wusste nicht wirklich, was er sagen sollte. Da hatten sie so lange darüber diskutiert, wie sie Kontakt halten sollten, wie sie es schaffen würden ihre Freundschaft aufrecht zu erhalten und dann sagte er so etwas. Was sollte das? "Du denkst also wirklich, dass unsere Freundschaft zerbricht?" In Reis Hals bildete sich ein Kloß. Wo kamen die Gedanken seines Freundes plötzlich her? Er hatte immer so geredet, als glaube auch er daran, dass sie Freunde blieben. War das wirklich sein Ernst? "Du verstehst das falsch!" "Was gibt es da schon falsch zu verstehen? Ich dachte wir wären uns einig, was das Thema angeht! Ich dachte wirklich..." ... dass er einer der Personen sein würde, mit dem er auch in Jahren noch befreundet sein würde. Am liebsten wäre er jetzt einfach davon gelaufen. Das durfte doch nicht wahr sein! Wofür gab er sich denn all die Mühe? Nur, damit auch dieser Kontakt einschlafen würde? Warum nur war er fast niemandem diese Arbeit wert? "Du bist was das Thema angeht viel zu empfindlich. Hör mir wenigstens zu, damit du weißt, warum du am Ende sauer abziehst." Sauer abziehen klang nach einem guten Plan. Das sollte er vielleicht wirklich tun. Dennoch blieb er. Denn seine allseits vorhandene Vernunft warnte ihn, dass es der falsche Weg wäre. So blieb er da und hörte sich an, was Kai noch zu sagen hatte, auch wenn ein gewisser Teil in ihm Angst vor der Antwort hatte. Die letzten Wochen waren so schön gewesen, dass er wirklich geglaubt hatte, dass alles in Ordnung sei. Hatte er sich wirklich so getäuscht? "Du wirst nicht mehr da sein.", fuhr Kai dann fort und wandte sich etwas von ihm ab um in den Park zu sehen. Die Geste wirkte nicht wirklich abwehrend, eher konfrontationsvermeidend. Dennoch tat es irgendwie weh, dass er ihm die kalte Schulter zeigte. "Egal wie viel Kontakt wir haben: Wenn du weg bist, ist alles wie vorher. Ich werde dann nur einen neuen Brieffreund haben. Mein Freund ist dann weg." Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Es schien Kai wirklich viel auszumachen ihn wieder zu verlieren. Aber war das denn wirklich so verwunderlich? Er wusste doch selbst nur zu gut, wie es war, Freunde auf diese Weise zu verlieren. Er konnte ihn verstehen, wirklich. Manchmal vergaß er, dass es auch für die schwer war, die er verließ. "Tut mir leid. Du hast recht. Für dich ist dann im Prinzip alles wie vorher." Vielleicht hätte er ihn doch in Ruhe lassen sollen. Gerade hatte er wirklich das Gefühl genau das getan zu haben, was er hatte vermeiden wollen. Ja, er hatte sich mit Kai anfreunden wollen, aber er hatte ihm nie weh tun wollen. Und genau das tat er wohl gerade. Andererseits... war es wohl längst zu spät um das noch rückgängig zu machen. "Und was jetzt? Wie geht es weiter? Sagst du mir jetzt, dass wir es lieber jetzt schon bleiben lassen sollen, damit es am Ende nicht noch mehr weh tut?" "Schwachkopf!" Verwirrt hob Rei wieder den Blick und besah sich das Profil seines Gegenübers. Kai sah ihn nicht an, sah nur stur gerade aus. "Hast du mir nicht zugehört? Ich habe dir gerade noch angeboten das zwischen uns sogar noch zu vertiefen. Warum kommst du Dummkopf jetzt also auf die Idee, dass ich die Freundschaft auflösen will?" Rei fiel ein ganzer Steinbruch vom Herzen. Er hatte wirklich einfach nur überreagiert. Es war alles in Ordnung. Nun ja, zumindest so weit in Ordnung, wie es eben sein konnte. Sie wussten beide, dass sie traurig sein würden, sobald seine Eltern wieder umzogen. "Ich bin mir dennoch nicht sicher, ob eine Beziehung so eine gute Idee ist. Das macht es am Ende doch nur noch schlimmer." "Müsstest du nicht am Besten wissen, dass der Schmerz irgendwann wieder verschwindet und nur die guten Erinnerungen bleiben? Warum willst du dich so sehr darauf festlegen? Lass uns sehen, was wird." Rei musst schmunzeln, auch wenn ihm dazu noch nicht richtig zu Mute war. "Das sagt ausgerechnet der, der am Liebsten schon einen detaillierten Plan für sein ganzes Leben hätte? Seit wann so spontan?" "Hm." Huh, das war es dann also wieder mit der Gesprächigkeit. Auch egal, es war nicht wichtig. "Wir können uns den Winter über bei mir treffen, wenn dir das Recht ist." Und damit gab Rei selbst das Einverständnis, einfach zu sehen wo es hin führte. Warum auch nicht? Irgendwann würde die schöne Erinnerung bleiben und vielleicht würde er ansonsten irgendwann bereuen, es nicht einfach versucht zu haben. Vielleicht würde auch gar nichts passieren und sie würden am Ende einfach nur normale Freunde sein. Ein vorfreudiges Kribbeln breitete sich in seinem Magen aus. Es würde spannend werden das heraus zu finden. Er freute sich darauf. Als eine Windböe aufkam, die ihn frösteln ließ, fiel Reis Blick einmal mehr auf den Schal, der stets um Kais Hals lag. Jetzt wo die Tage kälter geworden waren, trug er ihn sogar in der Schule. Einmal mehr fragte er sich, ob der weiße Stoff eine besondere Bewandtnis hatte. Er entschied, dass es an der Zeit war, das aufzuklären. Vielleicht hatte er ja Glück und er würde eine Antwort bekommen. "Sag mal, Kai... was hat es eigentlich mit dem Schal auf sich? Du trägst ihn ständig, sogar in Häusern." Erst jetzt wandte sich sein Gesprächspartner wieder ihm zu, berührte mit der Hand kurz den Stoff um seinen Hals und schwieg mit einem nachdenklichen Ausdruck in den Augen. So war es besser. Rei fühlte sich wohler in der Rolle des immer neugierigen Freundes, als selbst ausgefragt und unter die Lupe genommen zu werden. "Das hat mehrere Gründe.", kam es dann langsam von Kai. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob er das wirklich preisgeben wollte, aber aus der gesammelten Erfahrung heraus, wusste Rei, dass die Chancen recht gut standen, wenn er überhaupt schon angefangen hatte, darüber zu sprechen. So wartete er geduldig und genoss die erneute innerliche Ruhe und die gewohnte Neugier, die ihn dabei durchströmte. Es vergingen tatsächlich einige Minuten und Rei war schon kurz davor gewesen, noch einmal nachzufragen oder es aufzugeben, aber dann redete Kai tatsächlich weiter. Seine Hand ruhte dabei weiterhin auf dem Schal. "Ich kann mich an meine Eltern eigentlich gar nicht mehr erinnern. Ich habe bei meinem Großvater ein paar Bilder meiner Mutter gesehen, aber sie sagen mir nicht wirklich etwas. Dennoch bilde ich mir manchmal ein, mich zu erinnern, wie ich diesen Schal von ihr geschenkt bekommen habe. Vielleicht habe ich es auch nur geträumt, dennoch, kann ich ihn deshalb nicht wegwerfen." Rei blieben die Worte im Halse stecken, bei dieser Offenbarung. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Kai so rührselig zu sehen war so ungewohnt, dass er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Der nachdenkliche Blick seines Gegenübers verhärtete sich aber so schnell wieder, dass ihm keine weitere Zeit blieb, überhaupt noch darüber nachzudenken. Der Moment war so schnell vorbei gegangen, dass er nicht hatte reagieren können. Distanziert fuhr Kai fort: "Anfangs habe ich ihn gar nicht getragen, sondern ihn nur aufbewahrt. Aber per Zufall hat er sich als äußerst praktisch herausgestellt, da habe ich mir angewöhnt ihn zu tragen." "Praktisch?" Wie hatte er das denn zu verstehen? Natürlich war ein Schal praktisch, schließlich hielt er den Hals warm und schützte ihn vor Wind und Wetter, aber das konnte wohl unmöglich der Grund sein, zumal man das nicht durch Zufall herausfindet. "Ich zeig's dir." Kai kam auf ihn zu und zog sich in einer fließenden Bewegung den Schal vom Hals. Gespannt beobachtete er ihn und genoss das Gefühl, als er ihm den Stoff umlegte. Locker legte das Kleidungsstück sich um seinen Hals, es fühlte sich gut an. Der Schal war weich und angenehm und er roch eindeutig nach Kai. Einige Momente verstrichen, in denen er sich fragte, was jetzt der Nutzen dieser Aktion war, doch plötzlich schnellte Kais Hand vor. Nur seinen gut trainierten Reflexe war es zu verdanken, dass er überhaupt reagierte, doch durch die Überraschung tat er das viel zu spät. Die Finger schlossen sich kräftig um seinen Hals und... rutschten wieder ab, als er weiter versuchte zurück zu wichen. Der Schal verhinderte, dass der Griff halt fand, stattdessen ballte sich die Faust jetzt um den vorderen Teil, berührte den Körper somit also gar nicht. Praktisch. Dennoch packte er die Hand und riss sie von sich weg. "Erschreck' mich doch nicht so!" Sein Herz schlug noch immer so stark, dass er es förmlich in seinen Ohren widerhallen hörte. Kai interessierte das aber scheinbar gar nicht. Er wirkte eher sogar unzufrieden. "Du musst schon stehen bleiben, sonst kann ich es dir nicht zeigen. Aber das ist natürlich auch einer der Vorteile." Verwirrt und schockiert blinzelte ihn Rei an. "Du... du trägst einen Schal, weil man dich dann nicht so gut Würgen kann?" "Der Druck verteilt sich anders, es tut weniger weh und es braucht mehr Kraft um einem die Luft abzudrücken." "Was... zum Teufel hat man mit dir gemacht?!" Er konnte es kaum fassen. Klar, die Narben deuteten schon auf eine üble Misshandlung hin, aber das setzte dem Ganzen wirklich die Krone auf. Der Schal drückte plötzlich bleiern und schwer auf seine Schultern. Er war eine Last, eine alte Angewohnheit, eine Erinnerung an eine Zeit, in der sich ein Junge davor zu schützen versuchte, erwürgt zu werden. Behutsam wurde ihm der Stoff wieder abgenommen und fand bald darauf wieder seinen Platz am Hals seines Besitzers, doch die Last auf seinen Schultern wollte nicht verschwinden. "Das ist nicht wichtig, es ist Vergangenheit." "Warum sagst du das? Natürlich ist das wichtig!" Doch von Kai kam erst einmal keine Reaktion mehr. Überfordert entspannte Rei seine Schultern wieder und musterte seinen Freund vorsichtig. "Willst du mir nicht endlich erzählen, was mit dir passiert ist?" Jetzt wandte sich Kai wieder ab, sah ihn nicht mehr an, schien aber eher nachdenklich als beleidigt oder abwehrend. "Warum ist dir das so wichtig? Es ist vorbei." "Weil es ein Teil von dir ist! Ein sehr wichtiger Teil, denn ohne das, was dir passiert ist, wärst du sicherlich nicht so, wie jetzt. Und ich würde gerne wissen, warum du so bist." Kai versteifte sich augenblicklich, sein Ausdruck wurde starr und steinern. "Warum? Bin ich nicht in Ordnung wie ich bin?" Da hatte er wohl einen wunden Punkt getroffen. Dachte Kai tatsächlich, dass er, so wie er war, nicht in Ordnung war? Kurz kam ihm wieder in den Sinn, dass sich der Russe selbst einmal als 'Straßenköter' bezeichnet hatte. In diesem Jungen musste eine ziemliche Portion Selbsthass stecken. "Nein. Du weißt, dass ich dich gut finde, wie du bist. Aber ich möchte dich gerne besser verstehen können." Dieser Tag heute war wirklich nervenaufreibend. Für beide von ihnen. Sonst redeten sie manchmal eine ganze Woche nicht miteinander und dann, an solchen Tagen wie heute, redeten sie so viel, dabei sollte man meinen, es wäre einfacher, solche Themen in kleinen Häppchen anzuschneiden. Aber dazu waren sie beide wohl einfach nicht der Typ. Sie fraßen beide gerne Dinge in sich hinein, schoben wichtige Gespräch auf und dann kam eben manchmal alles auf einmal hoch. "Es ist einfach nicht mehr wichtig für mich. Warum also darüber reden?" Das war dann wohl sein letztes Wort dazu gewesen. Rei seufzte. Er würde wohl nie erfahren, was mit seinem Freund passiert war. Ein kleines Stimmchen in seinem Kopf sagte ihm, dass es vielleicht besser so war. "Vielleicht, irgendwann.", sagte Kai dann aber plötzlich. "Vielleicht will ich irgendwann ja wieder darüber reden. Dann erzähle ich es dir." Kapitel 14: Amüsierte Leichtigkeit ---------------------------------- Der Winter brach milder als für Rei erwartet herein. Ab und an schneite es tatsächlich, aber es hielt sich sehr in Grenzen. Die Temperaturen waren einigermaßen mild, was ihn dennoch nicht daran hinderte zu frieren. Er war eben eher ein Sommermensch und mochte die Kälte nicht wirklich. Kai hingegen schien sich langsam erst wirklich wohl zu fühlen. Außer, dass der jetzt auch in der Schule seinen Schal trug, veränderte sich nichts an seinem Outfit. Ein Klischeerusse also, aber das hatte er ja schon vorher gewusst. Gerade saßen sie in der Kantine, er hatte Kai mal wieder mit her geschleppt, weil es draußen gerade regnete und er jetzt schon einen Schnupfen hatte. Das musste man nicht ausbauen. Gerade hatte er sein Handy in der Hand und starrte trübsinnig darauf, während Takao auf Kai einredete, der versuchte den Japaner so gut er konnte zu ignorieren. Es hatte sich mittlerweile allerdings tatsächlich eingebürgert, dass Kai sich an dem Mittagessen von Takao bediente, was Rei wirklich erstaunte, gerade aber alles andere als wichtig war. "Was ist denn los?", der Redefluss von Takao war unterbrochen worden, stattdessen schaut er ihn jetzt an. Rei seufzte resignierend und bettete seinen Kopf auf seine Arme. "Meine Eltern haben mir gerade geschrieben, dass sie Weihnachten nicht da sind." "Und?" Natürlich verstand Takao das nicht. In Japan feierte man Weihnachten eher sporadisch, wenn er das richtig mitbekommen hatte. Es war eher ein Fest unter Freunden. Das Familienfest war Neujahr. "Dann lass uns Weihnachten zusammen verbringen." Erstaunt hob Rei den Kopf und sah Kai fast schon schockiert an. Hatte der das gerade wirklich gesagt? "Ihr wollt es also tatsächlich miteinander versuchen? Endlich!", rief der Japaner der Runde freudig aus und fing sich prompt zwei verwirrte Blicke ein. Das schien seine Euphorie gleich wieder zu bremsen, denn er ließ sich enttäuscht in seinem Stuhl zurücksinken. "Och Mensch, Kai! Informierst du dich denn gar nicht über das Land in dem du lebst? Ich dachte du wüsstest das!" "Was soll ich wissen?" "Na, dass es so was wie eine Anfrage zu einer Beziehung ist, wenn man jemanden zu Weihnachten zu sich einlädt." Sofort schien Kais Laune wieder in den Keller zu sinken, aber es veränderte sich nur sein Gesichtsausdruck zu einer angeekelten Grimasse. Hach ja... da war er wieder, der Homophobiker. Dabei hatten sie erst vor ein paar Wochen über eine mögliche Beziehung unterhalten. Seitdem war aber nicht wirklich viel passiert. Sie näherten sich nur langsam einem etwas intimeren Verhältnis, aber mehr als ein paar flüchtige Berührungen waren nicht drin. Er genoss das Spiel, es war aufregend und ging in einem Tempo voran, das für ihn angenehm war. Er machte sich nur etwas Sorgen um Kai, denn der schien immer eher auf Abstand zu gehen, wenn Rei von sich aus etwas versuchte. Deshalb ließ er es in letzter Zeit auch eher wieder sein und ließ Kai einfach machen, was diesem wesentlich besser zu gefallen schien. Wahrscheinlich hätte er mit ihm darüber reden müssen, aber es lief ja alles recht gut und wenn der Russe ein Problem hatte, musste der lernen darüber zu reden. "Bin ich jetzt also wieder ausgeladen?", fragte er skeptisch und sah sein Weihnachten schon davon fahren. Takao warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, als Kai erst einmal nicht antwortete. Ganz klasse. Sollte er jetzt betteln, dass sie doch noch zusammen feierten? Sollte er einfach den sturen spielen und es dabei belassen? Aber er wollte an Weihnachten nicht alleine sein! Die Jahre in Amerika und Europa hatten ihn da doch sehr geprägt. Wenn er schon nicht mit seiner Familie zusammen sein konnte, dann doch wenigstens mit Freunden. War das zu viel verlangt? "Hey, Rei. Wenn der Sturkopf dich nicht bei sich haben will, warum kommst du dann nicht einfach mit zu mir? Mein Großvater würde sich sicherlich freuen." Mit hochgezogener Augenbraue sah er den Japaner an: "Dir ist schon klar, was die Anderen dann denken werden, wenn ich die Feiertage bei dir verbringe, oder?" Doch Takao winkte nur ab und grinste: "Sollen die doch denken was sie wollen! Ist mir doch egal. Ich will nicht, dass ein Freund von mir an Weihnachten allein und traurig ist." Erleichtert lächelte Rei. Wie herrlich unkompliziert das Leben doch sein konnte. Doch noch ehe er antworten konnte, kam ihm jemand zuvor: "Nein." Alle Augen ruhten plötzlich wieder auf Kai. "Du bist zu mir eingeladen. Unstersteh' dich, das jetzt abzulehnen." Das kleine, kurze Zwinkern von Takao ließ Kai schnauben und zeigte Rei, dass der Japaner wusste, wie man Konkurrenzdenken ausnutzte. Denn das waren der und Kai wirklich: Konkurrenten. Natürlich nicht in der Liebe, aber sie forderten sich immer mal wieder zu Wettstreits heraus oder versuchten dem Anderen zu Beschreiben, warum man besser in etwas war als der Kontrahent. Äußerst amüsant. Und natürlich würde Kai niemals zulassen, dass Takao mutiger rüber kam als er selbst. Rei war sich ziemlich sicher, dass Kai um diesen Charakterzug von sich wusste, denn der Russe war äußerst selbstreflektierend, aber anscheinend konnte er selbst nichts dagegen tun. Nun, gut für ihn, jetzt hatte er an Weihnachten ein Date. Er grinste in sich hinein. Allerdings begann dann sein nächstes Problem. Bis Weihnachten waren es nur noch sieben Tage und wenn er Weihnachten wie die letzten Jahre feiern wollte, musste ein Geschenk her. Aber was schenkte man einem Jungen, der theoretisch Geld wie Heu hatte und sich alles kaufen konnte? Das fragte er auch Takao in einer ruhigen Minute. "Irgendwas persönliches schätze ich. Etwas, was euch verbindet. Aber das kannst nur du wissen, da kann ich dir nicht helfen." Rei seufzte betrübt. Er wollte Kai ja nicht irgendwas schenken, sondern wirklich etwas, worüber er sich freuen würde. Er hatte schon an einen neuen Schal gedacht, aber das würde wahrscheinlich eher nach hinten losgehen. Der, den er jetzt gerade trug, war angeblich von seiner Mutter, den würde er sicherlich nicht mit einem von ihm ersetzen. Am Nachmittag danach fand er sich in der Stadt wieder, an den Schaufenstern vorbei laufend. Aber die erhoffte Inspiration blieb aus. Wieder einmal stellte er fest, dass er eigentlich gar nichts über Kai wusste. Hatte der neben dem Klavier, dem Schlagzeug und dem Kampfsport noch andere Hobbys? Er las gerne. Physik- und Astronomiebücher. Aber damit kannte er selbst sich kaum aus. Ob er sich innerhalb von einer Woche genug einarbeiten konnte, um ein gutes Buch zu bekommen? Andererseits wollte Kai dieses Interesse eigentlich gar nicht weiter verfolgen und er war sich nicht sicher ob er sich über so was freuen würde. Hmpf. Er stoppte vor einem Schaufenster eines Schmuckladens. Ob Schmuck etwas für Kai war? Er konnte sich eine Kette mit einem breiten Kruzifix gut vorstellen. Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Schmuck galt für Kai wahrscheinlich als nicht männlich genug. Das war aber auch schwierig. Ganz davon abgesehen kannte er Kais Geschmack nicht. Schon wieder etwas, das er nicht wusste. Er ging weiter ohne eine Ahnung zu haben, was er Kai schenken sollte. Ihm kam ein Buch in den Sinn. So was wie ein Tagebuch, aber ihm war klar, dass das auch nichts war, was Kai gefallen würde. Langsam zweifelte er daran, ihm überhaupt etwas zu schenken. Vielleicht sollte er wirklich nichts kaufen, denn es schien fast unmöglich etwas zu finden, was Kai interessieren oder sogar freuen könnte. Für heute war es wohl genug, morgen war auch noch ein Tag. Weihnachten kam letztlich viel schneller als gedacht und so wirklich verlief es auch nicht, wie er das geplant hatte. Er hatte es letztendlich wirklich aufgegeben ein passendes Geschenk zu suchen und war auf eine Art Notfallplan umgestiegen. Erst erschien es ihm als nicht so gut, aber letztendlich war er ganz zufrieden mit der Idee. Es war hoffentlich etwas, was Kai nicht allzu oft bekam und worüber er sich freuen konnte. Außerdem war es ein wenig ungezwungener, als ein gekauftes Geschenk und für Kai auch nicht so unangenehm, wenn er kein Geschenk für ihn hatte. Rei hatte wirklich keine Ahnung, wie man Weihnachten in Russland feierte oder wie genau das in Japan ablief und erst recht hatte er keine Ahnung, wie Kai das Fest feierte. Er selbst hatte so viele Arten erlebt, dass es bei ihm wohl eine Mischung aus sehr vielen Kulturen war. Jedenfalls konnte er sich nicht vorstellen, dass Kai irgendetwas für ihn hatte, das passte nicht recht zu dem kühlen Jungen. Aber er würde sich überraschen lassen, denn, so ruhig und rational er auch versuchte zu denken, die Freude über Geschenke konnte er nicht verleugnen und auch wenn er wusste, dass er wahrscheinlich nichts bekam, hoffte er es doch irgendwie. Er nahm sich aber vor nicht enttäuscht zu sein, egal was heute geschehen würde, denn allein, dass er hier sein durfte, war ein außerordentlich großes Geschenk für ihn. Er war nicht allein und das war eigentlich alles was zählte! Nachdem er durch das Tor getreten war, wurde ihm, wie vor einigen Wochen schon, wieder die Tür geöffnet. Nach einer kurzen Begrüßung wurde er zu Kai geführt. Diesmal war es kein Herrenzimmer, oder wie diese Art von Raum sonst bezeichnet wurde, diesmal war es so was wie ein Wohnzimmer. Es war so groß, dass ihm Kai im ersten Moment gar nicht auffiel, als er ihn dann aber fand, erschreckte er kurz. Mit aufgeplatzter Lippe und vollkommen zerzaust saß er da und bemühte sich wohl so auszusehen, als wäre alles in Ordnung. So ein sturer Idiot. Eilig kam er zu ihm, er saß auf einer Couch, und betastete vorsichtig seine Wange. Sofort stellte er die mitgebrachte Tasche mit Schlafsachen und dem Geschenk ab und sah sich ärgerlich zu dem Butler um: "Kümmert sich denn hier gar keiner um ihn!?" Wenigstens von dem Personal hätte er ein wenig Anstand erwartet, gerade, wenn der Hausherr sowieso nicht da war. Der Butler zuckte nicht einmal, aber Kai selbst hob kurz die Hand um ihn am Weiterreden zu hindern: "Hör auf. Er hat nichts falsch gemacht. Es geht mir gut." Rei schnaubte ärgerlich nach dieser Ansage: "Gar nichts ist gut, du Idiot. Warm prügelst du dich immer? Haben sie dir aufgelauert oder warst du einfach nur zu stur, um ihnen mal aus dem Weg zu gehen?" Er war unfair und das wusste er. Es ging Kai nicht gut und er hatte auch nicht das Recht sich in sein Leben einzumischen, aber er machte sich Sorgen und aus irgendeinem Grund äußerte die sich gerade in Ärger. Er konnte selbst nicht wirklich sagen warum. "Tz. Als ob dich das was anginge." Ausnahmsweise reichte ein intensiver Blick, dass Kai nachgab, denn schon nach wenigen Sekunden fügte er hinzu: "Nichts von beidem! Sie haben was ätzendes gesagt... sie haben mich provoziert." Das klang fast trotzig, wie von einem kleinen Kind und natürlich gab sich Rei damit jetzt nicht zufrieden: "Sie haben nur einen dummen Spruch gebracht?" Das klang ungläubig. "Himmel Kai, das kann es doch nicht wert gewesen sein!" Doch Kai zischte nur ein kurzes: "Du hast keine Ahnung!" Nein, die hatte er offensichtlich wirklich nicht und er merkte selbst, dass sie so nicht weiter kamen. Kai hatte sein Gesicht leicht von ihm abgewandt und die Angst vor einem Weihnachtsfest voll mit Streitereien ließ Rei dann auch schließlich nachgeben. "Ist ja gut... aber lass mich wenigstens die Verletzungen behandeln, ja?" Kurz nach einem gegrummelten 'Von mir aus', saßen sie dann im Bad. Mal wieder waren die schlimmeren Blessuren nur unter der Kleidung sichtbar. Kai schien ein Händchen dafür zu haben, sich nur an bedeckten Stellen verletzen zu lassen. Gedankenverloren strich er zwischendurch wieder über einige der unzähligen Narben, während er das leichte Erschauern seines Freundes bemerkte. Es war ihm unangenehm, das wusste Rei, aber dennoch waren die feinen Linien irgendwie faszinierend. "Wie stehst du eigentlich dazu?", fragte er leise und vorsichtig. Kai wollte nicht darüber reden, das wusste er, aber er konnte das Fragen einfach nicht lassen. "Was meinst du?" Seine Stimme klang ruhig, aber irgendwie nachdenklich und ein wenig weicher als sonst. Rei konnte sich nicht erklären woher das so plötzlich kam, aber er hakte da nicht weiter nach. Es war wichtiger das Gespräch weiter zu führen: "Wie du zu den Narben stehst. Stören sie dich oder akzeptierst du sie einfach als vorhanden?" Es entstand eine lange Stille, in der Rei Kais Rücken betrachtete und wartete. Sein Freund brauchte eben seine Zeit, das verstand er. "Sie gehören eben zu mir. Ich habe mir nie Gedanken darum gemacht." Wieder fuhr Rei nachdenklich eine der unzähligen Linien nach und schwieg nun selbst kurz. "Sie erzählen deine Geschichte.", hauchte er dann leise. "Die Geschichte deiner Vergangenheit. Du magst diese Geschichte als beendet abgelegt haben und doch trägt dein Körper sie weiter mit sich herum. Wirst du nicht jedes Mal, wenn du sie siehst, daran erinnert?" Es würde keine Antwort auf diese Frage kommen, das wusste Rei. Dennoch wurde es wieder still um sie. "Weißt du...", begann Rei dann langsam und wägte seine Worte behutsam ab, "... wenn du eines Tages genug von diesem Anblick hast, wenn auch dein Körper frei von den Erinnerungen sein soll... hast du schon einmal daran gedacht sie für immer zu überdecken?" Skeptisch wurde der Kopf vor ihm etwas gedreht, so dass der tiefe Blick Kais ihn treffen konnte. Und ganz eindeutig hielt der ihn für übergeschnappt. "Ich meine ein Tattoo!", stieß Rei daraufhin hastig aus und durchbrach damit die fast meditative Stimmung, die bis eben geherrscht hatte. "Himmel, was dachtest du denn, was ich meine?" Ein amüsierter Ausdruck stahl sich für einige Augenblick in das Gesicht des Russen. "Gar nichts.", gab er dann leichthin zu. "Ich wollte nur sehen, wie du reagierst." Vollkommen überfordert, wusste Rei im ersten Moment nicht, wie er darauf reagieren sollte, schließlich war es das erste Mal, dass Kai ihn ... ja, veralbert hatte. Letztendlich entschied er sich für leises Lachen und Kopfschütteln. "Du bist ein Idiot", folgte noch fast liebevoll, ehe er endlich damit begann ihn zu verarzten. "Wo ist eigentlich dein Großvater? Ist er auch weg?" "Ja. Er ist fast nie da. Wenn er mal in Japan ist arbeitet er hier den ganzen Tag, ansonsten ist er im Ausland um da die einzelnen Firmensitze im Auge zu behalten." Sie hatten sich wieder in das Wohnzimmer zurück gezogen, nachdem Rei fertig gewesen war, um dort noch etwas zu reden, bevor der Abend an sich los ging. Rei hatte eine Tasse Tee in der Hand, während Kai diesmal doch lieber dem Kaffee frönte. Es war schon merkwürdig wie anders er sich im Vergleich zum letzten Mal benahm, als Rei hier gewesen war. Es war alles viel entspannter und lockerer als zu dem vergangenen Zeitpunkt und so viel angenehmer. Aber das mochte auch daran liegen, dass sie sich einfach besser kannten. Es schien alles so viel bekannter und vertrauter und dennoch waren sie noch immer so unglaublich weit voneinander entfernt. Er verstand es nicht. So eine komplizierte Freundschaft hatte er noch nie gehabt. "Ist hier sicherlich ziemlich einsam, wenn nicht einmal dein Opa hier ist, oder?" Rei wusste längst, dass die beiden eher ein unterkühltes Verhältnis zueinander hatten. Kai war der Erbe des Familienunternehmens und hatte in allem was er tat der Beste zu sein. Ein Umstand den sein Freund recht gut zu erfüllen wusste, weshalb Souichirou, so hieß sein Großvater, über gewissen 'Charakterliche Schwächen' hinweg sah. Dass diese 'Charakterlichen Schwächen' keine waren, sondern eher psychische Probleme, schien Kais Vormund entweder nicht zu begreifen oder es absichtlich zu ignorieren. Rei war sich sicher, diesen Menschen niemals kennenlernen zu wollen, aber ihm war auch klar, dass Souichirou und Kai ein besonderes Verhältnis verband. Kai begehrte gegen diesen Mann nicht auf, sondern folgte seinen Vorgaben und es wirkte nicht wirklich so, als würde der junge Russe dazu gezwungen werden. Ob das der richtige Weg für Kai war, würde sich noch heraus stellen, aber es zeigte doch deutlich, dass ihm sein Großvater nicht egal war. "Eigentlich merke ich es kaum. Ich habe genug zu tun, dass es sogar eher lästig ist, wenn er da ist und darauf besteht Zeit mit mir zu verbringen." Rei war sich nicht sicher ob das wirklich wahr war, was Kai da erzählte. Er konnte sich schon vorstellen, dass sein Freund nicht gerne allein war. Das zeigte sich allein daran, dass er seine Nähe auch irgendwie suchte, wenn er gerade nichts zu tun hatte. Diese Zeiträume beschränkten sich zwar allein auf die Schule und die Samstage, aber es war schon recht auffällig. Dennoch wirkte Kai nicht, als würde er lügen. Er schien das was er sagte selbst zu glauben, schien überzeugt davon zu sein. Vielleicht war es wirklich die Wahrheit. Kais Wahrheit. Da würde er sich nicht einmischen. "Dann hoffe ich doch, dass ich dich nicht weiter störe in deiner Einsamkeit.", witzelte Rei und trank einen Schluck seines Tees. "Eigentlich macht es kaum einen Unterschied, ob du da bist oder nicht." "Autsch. Manchmal tut deine gnadenlose Ehrlichkeit echt weh. Dir macht es also gar nichts, dass du an Weihnachten allein bist?" Kai zuckte nur mit den Schultern ehe er antwortete: "Mal abgesehen davon, dass ich mich nicht einmal an meine letzte Weihnachtsfeier erinnern kann, ist heute nicht Weihnachten. In Russland wird Weihnachten am siebten Januar gefeiert." Für einen Moment war Rei wirklich erstaunt darüber, dass Weihnachten in Russland an einem anderen Tag gefeiert wurde, bis ihm dann bewusst wurde, was Kai vorher gesagt hatte. "Wie meinst du das?", fragte er verwirrt. Kais fragender Blick veranlasste ihn aber dazu, genauer zu werden: "Du sagst, du kannst dich an kein Weihnachten erinnern..." Daraufhin bekam er nur ein Schulterzucken. Keine Erklärung, nichts. Sollte er das jetzt wieder einfach so schlucken? Sollte er wieder so tun als würde ihm das nichts ausmachen? Andererseits hatte er von Anfang an gewusst, dass Kai nicht darüber reden würde. Durfte er sich über etwas aufregen, was er schon akzeptiert hatte? Das war schon wieder so kompliziert... "Dann ist das hier also im Prinzip dein erstes Weihnachten?" Ein Nicken kam von Kai und Rei lächelte: "Das ist irgendwie aufregend!" Irgendetwas Gutes musste er ja aus dieser Situation ziehen, oder? Er würde sich schließlich das Fest verderben lassen. "Weißt du, wir haben in meinem Heimatdorf auch kein Weihnachten gefeiert. Und ich bin ja auch kein Christ, also ist es sowieso etwas seltsam, dass ich es überhaupt feiere. Aber in Amerika habe ich das so kennen gelernt und ich fand es wirklich toll! Vor allem, weil meine Eltern normalerweise dann auch da sind und wir ein paar Tage zusammen verbringen." Kai begann zu schmunzeln, was den jungen Chinesen in seinem Redefluss stoppte. "Mal wieder bist du echt unmöglich.", schnaubte sein Gegenüber amüsiert. "Ein Chinese der in Japan wohnt und gegen seine eigene Religion amerikanisches Weihnachten feiert." Unwillkürlich musste Rei lachen und er war froh darum, war die gedrückte Stimmung von vorher doch damit verflogen. "Wenn du das so sagst klingt das echt schräg." Er wischte sich kurz kleine Lachtränen aus den Augen, ehe er sanft zu seinem Freund lächelte: "Lass es mich dir zeigen, ja? Es ist wirklich ein besonderer Tag." Ein nicken von Kai läutete den Anfang von Weihnachten ein. Es war anders als erwartet, ja, aber es war so ziemlich das schönste Weihnachten, was er bisher hatte. Seine Eltern waren nicht da, aber die Zeit mit Kai zu verbringen, war ein guter Ersatz. Die Erinnerungen an diesen Abend beruhen hauptsächlich auf Gefühlen, die er zu diesem Zeitpunkt empfand und aus verschiedenen, einzelnen Szenen. Gemeinsam scheuchten sie die Angestellten aus dem Haus, damit sie ihre Ruhe hatten und die, die sie fort schickten, bei ihren Familien sein konnten. Es war ihnen egal, ob Souichirou mitbekam, dass sie alle in einen bezahlten Urlaub geschickt hatten. Das war es ihnen, interessanterweise vor allem Kai, wert. Danach waren sie einkaufen gegangen um gemeinsam kochen zu können. Es gab traditionell, wie die beiden recherchiert hatten, frittiertes Huhn, dazu Salat. Es war etwas schwierig sich in der großen Küche zurecht zu finden. Am Ende hatten sie die Panade nicht nur im Gesicht, sondern auch in den Haaren und auf der Kleidung. Es war schön zu sehen, dass Kai das locker nahm und sogar mit ihm darüber lachte. Nachdem sie dann also (getrennt) geduscht hatten und Rei sich von Kai Kleidung ausgeliehen hatte, aßen sie zu Abend und brachten sogar ein lockeres Gespräch zustande. Sie redeten über nichts Wichtiges, aber es machte Spaß und das war die Hauptsache. Nach der amerikanischen Tradition wäre die Bescherung erst am nächsten Tag gewesen, aber Rei wollte die ausgelassene Stimmung ausnutzen. Direkt nach dem Essen stand er also auf und lächelte den verwunderten Kai an: "Ich hab noch was für dich." Er ging zurück in die Küche, sein Mitbringsel hatte er da verstaut, als Kai kurz nicht hin gesehen hatte. Es war in Japan nicht ungewöhnlich, dass man sich solche Geschenke machte, aber er war sich sicher, dass Kai so etwas noch nie bekommen hatte. Er hoffte, dass es ihm im Gedächtnis bleiben würde. So hielt er seinem Freund kurz darauf das Päckchen hin. "Das ist für dich. Frohe Weihnachten!" Erstaunt und sichtlich ein wenig überfordert nahm Kai das Geschenk entgegen. So etwas wie Unsicherheit trat in seine Augen, aber er öffnete es. Für einen Moment schien die Zeit still zu sehen. Rei selbst hielt den Atem an, denn er war sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob Kai so etwas überhaupt mochte. Beschenkter starrte einfach nur auf das, was er da vor sich hatte und war anscheinend sprachlos oder einfach nur nicht in der Lage etwas dazu zu sagen, weil er nicht wusste, wie er ihm klar machen sollte, dass das ein unangemessenes Geschenk war. "Ich... hab sie selbst gebacken.", brachte Rei eher krächzend hervor. Kais Blick wanderte von der kleinen Sahnetorte, die vor ihm stand, zu seinem Gast, doch noch immer kam kein Wort aus seinem Mund. Ob er ihn überfordert hatte? Dann plötzlich stand der andere einfach auf und verließ den Raum. Entgeistert starrte Rei ihm hinterher, konnte diese Geste gar nicht einordnen. Die Verwirrung dauerte allerdings auch nur einen Augenblick, da kam Kai schon wieder. In seiner Hand zwei Dessertteller mit entsprechenden Gabeln. Erleichterung machte sich in Rei breit. Ihm gefiel das Geschenk also. Mit einem Messer teilte sein Gastgeber das Geschenk in mehrere Teile und tat jeweils eines davon auf die Teller. So verbrachten sie gemeinsam den restlichen Abend in einem lockeren Gespräch und nebenbei immer wieder ein wenig von der Torte naschend. Kapitel 15: Nachdenkliche Stille -------------------------------- Es war rabenschwarze Nacht draußen. Es regnete und der Wind pfiff ums Haus. Während Rei sich in das Bett kuschelte, das sein Gastgeber ihm zugewiesen hatte, stand jener Gastgeber in seinem Zimmer und sah hinaus in das Unwetter. Er wusste nicht recht, was er von all dem halten sollte. Er wusste es wirklich nicht. Da kam dieser Chinese und feierte mit ihm westliches Weihnachten und zu allem Überfluss hatte er auch noch den Nerv ihm etwas zu schenken. Was sollte er davon nur halten? Und dieses Geschenk.. diese Torte. Selbstgebacken, nur für ihn. Ein warmes Kribbeln breitete sich in seiner Brust aus, als er daran dachte. Er war kein besonderer Liebhaber von Süßem, auch wenn selbst er zugeben musste, dass dieser Kuchen ausgesprochen lecker war. Aber darum ging es ja nicht einmal. Es ging nicht darum, dass ihm der Kuchen schmeckte. Selbst wenn dieser Nachtisch das widerlichste gewesen wäre, was er je gegessen hätte, er hätte jeden Bissen davon genossen. Selbstgemachte Speisen waren etwas, was er seit langem nicht mehr gegessen hatte. Er war sich nicht einmal sicher, ob er das jemals getan hatte. Sicher, die Angestellten in diesem Haus kochten täglich für ihn und seinen Großvater, aber die wurden dafür bezahlt. Das war etwas anderes. Es hatte sich niemals irgendwer die Mühe gemacht, etwas für ihn herzustellen, schon gar kein Backwerk. Es war schön gewesen diesen Kuchen mit Rei zu essen. Der kleine Chinese war wirklich ein Phänomen für sich und er musste gestehen, dass sie doch recht gut zusammen passten. Sie waren sich teilweise sehr ähnlich und dann doch wieder ziemlich unterschiedlich. Er hätte niemals gedacht, dass ihm Weihnachten einmal so sehr gefallen würde. Es war wirklich ein schöner Abend gewesen und er wünschte sich, dass er noch mehr Tage so mit Rei verbringen konnte. Das wäre wirklich angenehm. Allerdings brachte so eine Freundschaft, wie alles andere auch, was mit Sozialem zu tun hatte, Probleme mit sich. Wie heute... Er hatte wirklich nicht vor gehabt Rei mit Wunden einer Schlägerei gegenüber zu treten, schließlich hatte selbst er ein wenig Anstand in seinem Leib. Aber manchmal war Anstand einfach nebensächlich... Er war vom Training nach Hause unterwegs gewesen so wie immer eigentlich und wie immer war er an einem der Plätze vorbei gekommen, wo viele andere jugendliche herum lungerten. Wenn er einen schlechten Tag hatte, vermied er es dort vorbei zu gehen und wenn er einen richtig schlechten Tag hatte, dann ging er absichtlich dort vorbei. Heute jedoch hatte er einfach nicht daran gedacht, hatte einfach nur den kürzesten Weg nach Hause nehmen wollen, denn er hatte nicht mehr viel Zeit bis sein Gast bei ihm ankommen würde. Er hielt allerdings inne, als er den Namen 'Rei Kon' von einem der Jugendlichen vernahm. Kurz darauf hörte er sie lachen, was ihn dazu bewog etwas näher heran zu gehen, sich aber ein wenig versteckt zu halten. Kurz darauf fielen einige wirklich hässliche Worte, wovon 'Schwuchtel' noch wirklich eines der harmloseren war. Wut kroch in ihm hoch, als er realisierte, dass sie sich über Rei lustig machten und mit jedem Wort das fiel, kochte sein Blut mehr und mehr. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und statt einfach weiter zu gehen, lockte er die kleine Bande etwas Abseits und begann einen Kampf. Es war eigentlich nicht sein Stil, denn normalerweise verteidigte er sich nur, wenn man ihn angriff, auch wenn die Gerüchte in der Schule etwas vollkommen anderes sagten. Vielleicht legte er es manchmal darauf an angegriffen zu werden, aber er hatte bisher noch nie eine Prügelei aktiv begonnen. Diesmal schon. Er war so unglaublich wütend gewesen! Er hatte jeden Schlag den er landen konnte genossen, denn diese Idioten hatten nicht so über seinen Freund zu reden! Er hatte so lange auf sie eingeschlagen, bis sie sich entschuldigt hatten. Bis sie vor ihm auf dem Boden gekrochen waren und um Gnade gefleht hatten. Er hatte dieses Gefühl gemocht. Dieses Gefühl von Macht die er über diesen Dreck gehabt hatte und es hatte ihn nicht einmal erschreckt. Er wusste um diese dunkle Seite in ihm und ausnahmsweise hatte er sie ausgelebt. Rei zu liebe, auch wenn der ihm diese Aktion kaum verzeihen würde, aber der würde davon sowieso niemals etwas erfahren. Es war ein schönes Exempel gewesen, das er hatte statuieren können. So schnell würde es keiner mehr wagen über Rei her zu ziehen. Kai war bewusst, dass Rei keine Hilfe von ihm brauchte. Rei war stark, im Mentalen wahrscheinlich sogar stärker als er selbst, aber er hatte ihn vor diesen Worten schützen wollen. Es war das Erste mal in seinem Leben, dass er tatsächlich das Bedürfnis verspürt hatte jemanden schützen zu wollen und er wusste noch nicht recht ob ihm das gefiel. Es hatte ihn zu etwas sehr Dunklem getrieben und ihn gleichzeitig so stark gemacht, dass er die Schmerzen nicht einmal gespürt hatte. Dieses Gefühl war ein zweischneidiges Schwert, so wie alle Gefühle, die man empfinden konnte. Es war unter Anderem einer der Gründe, warum er versuchte Gefühle möglichst im Griff zu haben, sie vielleicht sogar gar nicht zu empfinden. Jedes einzelne Gefühl, egal ob Liebe oder Hass war gefährlich, konnte gefährlich sein. Von allem gab es eine krankhafte, ungute Ausführung, ganz zu schweigen von der Angreifbarkeit, der man sich dadurch aussetzte. Er würde diese Gefühle beobachten und überwachen, aber es war nicht allzu schlimm, denn spätestens wenn Rei weg war, würde sich das wieder legen. Nichts Schlimmes also und nichts, worüber er sich große Gedanken machen musste. Worum er sich allerdings Gedanken machte, war Reis Weihnachtsgeschenk. Kai selbst war wirklich nicht der Typ der Anderen ein Geschenk machte, es war Geschenk genug, wenn er sich überhaupt mit jemandem abgab, aber dieser Fall war anders. Er wollte Reis Geschenk erwidern, wollte, dass sein Freund ebenfalls dieses warme Gefühl verspürte, so wie er heute. Aber das war schwierig. Er wusste nicht besonders viel über Rei. Der Chinese las gerne, war gerne draußen und er liebte seine Eltern, obwohl die eigentlich nie für ihn da waren. Wenn er könnte, er würde ihm ein Wochenende mit seinen Eltern schenken. Irgendwo in einem kleinen, eher privaten Urlaubsort in Japan. Doch es gab Dinge, die konnte man mit Geld nicht kaufen. Den Willen der Eltern Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen, war eines dieser Dinge. Nein, er musste sich etwas anderes einfallen lassen und leider kam ihm da nur eine einzige Sache in den Sinn. Er wusste was Rei von ihm haben wollte. Er wusste es ganz genau. Rei wünschte sich von ihm etwas, was er ihm nicht geben konnte und eigentlich auch nicht wollte. Es war noch zu früh dafür... oder? War es wirklich zu früh darüber zu reden? War es nach diesem Abend immer noch zu früh? Hatte Rei nicht in den letzten Monaten bewiesen, dass er es Wert war es zu hören? Wäre es nicht fair ihn endlich in seine Welt zu lassen? Kai seufze, als er sich von dem Fenster abwandte und auf sein Bett zu schritt. Ja, es wurde Zeit sich ihm anzuvertrauen, auch wenn Rei die Antworten auf seine Fragen nicht gefallen würden, er würde sich darüber freuen sie endlich zu hören. Es war endlich an Kai zu beweisen, dass ihm der Andere wichtig war und er ihm vertraute. Denn so funktionierten Freundschaften doch, nicht? Manchmal fragte er sich wirklich, ob er überhaupt Fähig war eine ordentliche Freundschaft oder gar eine Beziehung zu führen. Aber wenn nicht mit Rei, mit wem dann? Kapitel 16: Dunkle Farblosigkeit -------------------------------- Als Rei am nächsten morgen erwachte, hatte sich der Sturm gelegt, die Wolken sich verzogen und die Sonne schien an einem vollkommen klaren Himmel. Er streckte sich genüsslich, ehe er sich noch einmal genauer in dem Zimmer umsah. Wie alle Räume in dieser Villa, war auch dieser Gästeraum ungewöhnlich groß, doch Kai schien sich die Mühe gemacht zu haben, ihm eines der gemütlicheren Zimmer ausgesucht zu haben. Nach der kleinen Rundführung die er am Vortag noch bekommen hatte, wusste Rei, dass das nichts Selbstverständliches war. Es gab viele Räume die karg und lieblos gestaltet waren. Kai hatte dazu gesagt, dass sowohl er als auch sein Großvater Funktionalität bevorzugten, statt einem aufwendigen Design. Nun ja, das musste er sicherlich nicht verstehen. Umso schöner war es, zu sehen, dass Kai anscheinend daran gedacht hatte, dass er selbst es eher gemütlich als rein funktional mochte. Jetzt aber hieß es aufstehen, schließlich lag zumindest noch ein Frühstück mit Kai vor ihm. Was danach kam hatten sie noch nicht besprochen, aber da der Weihnachtsabend vorbei war, ging er selbst doch sehr davon aus, dass sein Kumpel ihn raus werfen würde. Auf dem Weg zu dem Frühstücksraum kam er auch an den Büroräumen vorbei, blieb dort allerdings stehen, als er laute Stimmen aus einem der Räume vernahm. Da stritt sich jemand, aber wer? Hier war doch niemand, oder? Und der Ausdruck 'streiten' war wohl auch nicht richtig, denn eigentlich war das nur eine Stimme die herum schrie... nun ja, schreien war auch irgendwie nicht der richtige Begriff. Wie nannte man das, wenn man die Stimme erhob, während man sich mit jemandem stritt? Es musste ja nicht gleich schreien sein, aber es war eben lautes und energisches reden. Rei kam das Wort 'gellen' in den Kopf. Vielleicht auch 'keifen'. Ja, das war das, was er wahrnahm und kurz fragte er sich, warum er überhaupt so lange darüber nachgedacht hatte. Wie auch immer... Vorsichtig schaute er durch eine der offenstehenden Türen, seine Neugierde innerlich verfluchend, denn eigentlich spionierte man nicht in einem fremden Haus. Die Zweifel vergingen ihm aber recht schnell, als er den Raum vollkommen sehen konnte. Nicht allzu weit von ihm entfernt stand ein älterer Mann, vielleicht Mitte 60 und der keifte in diesem Moment Kai an, der, zu seiner eigenen Verwunderung, seinen Kopf leicht gesenkt hielt und zu Boden blickte. Es war nicht wie bei einem Schulkind, das etwas verbrochen hatte, aber er sah schon... betroffen aus. Eigentlich konnte das nur eines bedeuten: Das musste Souichiro, Kais Großvater, sein. Rei schluckte und wollte eigentlich schon gehen, weil ihn das definitiv nichts anging, als er sah, wie der Mann Kai grob nach hinten stieß, was dazu führte, dass der Junge hart gegen eines der Bücherregale prallte. Der Aufschlag war so hart, dass das gesamte Regal knirschte und einige Bücher hinab fielen, teilweise auch Kai trafen, der sich nicht einmal rührte. Er hatte nur kurz schmerzerfüllt das Gesicht verzogen, stand dann aber wieder aufrecht, in gleicher Position wie vorher. Geschockt blieb Rei noch einen Moment stehen, doch als er sah, wie der Mann die Hand hob, reagierte er noch bevor er wirklich realisierte was Sache war. Er schnellte vor, überbrückte die wenigen Meter und griff die erhobene Hand am Gelenk. Allein der Überraschungseffekt reichte aus, dass der Schlag nicht mehr ausgeführt werden konnte. "Was..." Verwirrt wandte Souichiro sich um und sah ihn direkt an, die dunklen Augen verärgert verengt. "Du wagst es?", donnerte er und wollte ihn schon von sich stoßen, doch das hatte Rei bereits erwartet und stemmte sich dagegen. Für einen alten Mann war der Kerl wirklich stark, aber er blieb ein alter Mann. Nichts, was er nicht abwehren konnte. "Hat Ihnen Ihre Mutter nicht beigebracht, dass man seinen Enkelkindern nicht weh tut?", grollte Rei nur zur Antwort. "Rei!", zischte Kai plötzlich, nicht minder wütend als Souichiro. "Halt dich da raus, das geht dich nichts an!" "Was? Und zusehen, wie er dich schlägt? Für wen hältst du mich?" Die kurze Ablenkung nutzte Souichiro um sich loszureißen und Rei auf Abstand zu schieben. Kais Augen ruhten noch immer auf ihm, dunkel und wütend. "Was macht dieser Abschaum überhaupt in meinem Haus? Kai? Ich kann mich nicht daran erinnern, dir erlaubt zu haben, solches Gesindel hier herein zu lassen!" Das war ja wohl die Höhe! Er war also das Gesindel, während in diesem Haushalt Kinder geschlagen wurden? Doch statt dass Kai sich endlich wehrte, senkte der nur wieder leicht den Blick und nickte ergeben. Ein eiskalter Schauer durchfuhr Rei bei diesem Anblick. Das war doch nicht Kai der da vor ihm stand! "Natürlich, Großvater. Er wird das Anwesen sofort verlassen. Entschuldige." Nein, nein das war definitiv nicht der Kai den er kannte. Das hier war kein rebellischer Teenager, der sich mit allem und jedem anlegte. Das hier war ein gebrochener Junge... war das hier der 'Straßenköter'? Rei schluckte. Er hätte nie gedacht, dass sein Großvater die Schuld daran trug, dass Kai von sich selbst nichts hielt. Dieses ganze Bild war einfach nur falsch und absurd und es tat ihm unglaublich weh seinen Freund so zu sehen. Er wollte sich vor ihn stellen, ihm sagen er solle die Klappe halten und wollte ihn beschützen und ihm sagen, dass er ruhig so sein durfte wie er war. Dass es in Ordnung war... egal was sein Großvater sagte. Das hier hätte er wirklich niemals erwartet, schließlich war Souichiro die einzige Person von der Kai mit Respekt redete. ... Aber vermutlich war genau das das Problem. Souichiro war der einzige Mensch, auf dessen Meinung Kai Wert legte und gerade dieser Mensch behandelte ihn so schlecht. Das war wirklich traurig. Er hatte allerdings nicht wirklich Zeit sich noch weiter damit zu beschäftigen, denn Kai kam auf ihn zu, packte ihn am Handgelenk und zog ihn einfach aus dem Raum. Reis Augen weiteten sich in Erstaunen und Schock. Würde Kai ihn jetzt wirklich hinaus werfen? Was hatte er denn erwartet? Dass er gegen seinen Großvater rebellierte? Nein. Nein, das war definitiv zu viel verlangt, auch wenn er es sich irgendwie wünschte. Da waren sie wieder diese verdammten Gefühle die er nicht hegen sollte. Da war dieses Bedürfnis, dass Kai ihm zeigte, dass er jetzt seine Familie war und er niemand anderen brauchte. Wie unsinnig und kindisch und übertrieben. Er sollte nicht so fühlen, aber aus irgendeinem absurden Grund tat er es. Langsam musste er sich wohl eingestehen, dass er sich in den kaltherzigen Jungen verliebt hatte, auch wenn ihm das nicht gefiel. So ein Mist... In dem Gästezimmer angekommen, in dem Rei geschlafen hatte, schmiss Kai die Tür lautstark in die Angeln. Kurz darauf keuchte er erschrocken auf, denn sein Gastgeber presste ihn gegen das massive Holz, hielt seine Handgelenke fest neben seinen Körper gepresst und hinderte ihn mit dem eigenen Körper daran, sich wehren oder bewegen zu können. Dunkle Flammen tanzten voller Wut, in den tiefen Augen Kais. Doch es war nicht nur Wut. Ein anderes Gefühl schwang noch darin mit, wurde von den Flammen aber fast erstickt. Er konnte es nicht benennen, aber es ließ ihn warm erschauern. "Mach das. nie. wieder!", presste Kai unter zusammengebissenen Zähnen hervor. "Wag' es nie wieder, dich einzumischen!" Schwang da Sorge in der Stimme mit? War das, das Gefühl, was die Flammen zu verbrennen versuchten? Hatte Kai angst um ihn? Warum? Dachte er wirklich, dieser Mann könne ihm etwas? Das war doch Unsinn! Er war so viel stärker als der! Für was hielt ihn Kai denn? Ein schwaches, kleines Mädchen? "Kai-" "Versprich es mir!" Und das kam mit so viel Nachdruck und so viel Intensität, dass er nicht anders konnte als zu nicken. Im nächsten Moment pressten sich Lippen verzweifelt und verlangend auf die seinen und nach einem kurzen Moment des Schocks und des Unglaubens, gab er sich dem unbändigen Kribbeln hin, das seinen gesamten Körper erfasste. Ausnahmsweise wollte er einmal nicht darüber nachdenken, woher das jetzt kam. Das konnte er auch später noch machen. Er genoss das Gefühl einige, lange Momente lang, ehe er spürte, wie sich der andere von ihm löste. Langsam und nahezu erschöpft ließ Kai seinen Kopf neben seinen eigenen sinken, die Stirn wahrscheinlich gegen das Holz der Tür gelegt. "Danke.", hauchte Kai leise, kaum hörbar, was Rei erschrocken die Augen aufreißen ließ. Er wusste nicht, ob er sich über diesen Dank freuen, oder Angst davor haben sollte, denn dieses Wort war so schwach und so untypisch für den starken Russen ausgesprochen worden. "Kai?", fragte Rei deshalb besorgt und konnte diese Situation nicht einmal einschätzen. Wofür hatte er ihm gedankt? Für den Kuss? Für das Versprechen? Er verstand es nicht. Doch er würde es auch niemals erfahren, denn als Kai sich endlich von ihm löste, war sein Blick wieder so verschlossen wie immer und seine Mimik typisch versteinert. Enttäuscht legte Rei seine Stirn in Falten. Eigentlich hätte er gerne über das gerade Geschehene geredet, aber das war wohl momentan nicht möglich. Vielleicht ja am Samstag... "Du musst jetzt gehen.", war das letzte was er an diesem Tag von seinem Freund hörte. Rei hatte am nächsten Tag eine SMS von Kai bekommen, in der er geschrieben hatte, dass sie sich am nächsten Samstag in der Wohnung des Chinesen treffen würden. Das beruhigte Rei sehr, zeigte es doch, dass, egal was passiert war, Kai die Freundschaft nicht aufgab... oder? Das war nicht einfach nur ein Treffen um ihm zu sagen, dass sie sich nicht wiedersehen würden, weil sein Großvater ihm den Umgang mit ihm verboten hatte, nicht? Rei schnürte es schier die Brust zu, als er daran dachte. Hoffentlich kam es nicht so. Hoffentlich war Kai stark genug, um sich wenigstens dagegen zur Wehr zu setzen. Hoffentlich... aber Rei wusste, dass es nicht so war. Kai würde sich niemals gegen sein letztes, noch lebendes Familienmitglied stellen. An diesem Abend, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, weinte sich Rei in den Schlaf. Es war nichts, was er oft tat. Eigentlich war er eine sehr starke Person oder eher abgehärtet von all den Abschieden, die er bereits hinter sich hatte. Doch er hatte sich verliebt und das war etwas, was er nicht gewohnt war. Er war es nicht gewohnt, von dem Menschen, den er liebte, abgestoßen zu werden, verlassen zu werden. Er war es allgemein nicht gewohnt verlassen zu werden, denn sonst war immer er es, der weg ging. Diese Art des Schmerzes war ihm noch fremd und er konnte nicht damit umgehen. Er wollte nicht von Kai zurückgewiesen werden. Nicht nach all der Mühe die sie beide sich gegeben hatten um eine Beziehung zueinander aufzubauen. Er wollte nicht die restlichen Monate allein verbringen, ihn immer sehen müssen und doch nicht zu ihm können. Er wollte das nicht doch er konnte auch nichts dagegen tun. Wer war er, dass er die Beziehung zwischen Großvater und Enkel gefährdete? So furchtbar er diese Beziehung auch fand, Kai brauchte sie, sie war ihm wichtig und er würde einen Teufel tun und seinem Freund derart weh tun. Wenn Kai sich also wirklich dazu entschied ihm aus dem Weg zu gehen, dann konnte er nichts tun als es zu akzeptieren, so weh es auch tun würde. Diese Gewissheit linderte seine Verzweiflung allerdings kein bisschen. So hatte er sich Weihnachten nicht vorgestellt. Kapitel 17: Gewöhnliche Gelassenheit ------------------------------------ Er seufzte leise, als er mit dem Löffel in seinem Tee herumrührte. Ihm fehlte mal wieder der Appetit, etwas, was in letzter Zeit definitiv zu häufig vorkam. Dennoch war er nicht in der Lage dazu, etwas dagegen zu tun, denn aufgeben wollte er die Freundschaft mit Kai nicht und erst recht nicht die mögliche Beziehung mit ihm. Dennoch saß er jetzt in einem Café, Takao gegenüber und blies Trübsal. Der Kerl der seine Gedanken bestimmte, machte sich bisher rar. Wie immer eben, aber gerade belastete es ihn sehr. Er hatte versucht Kai dazu zu bringen, mit ihm in das Café zu kommen, in der Hoffnung, dass sie das schon vorher klären könnten, aber Kai hatte abgelehnt. Auch nichts Ungewöhnliches, aber es gab ihm noch mehr das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Das machte ihm Sorgen. Und es machte ihm nicht nur Sorgen, dass Kai sich so verhielt, sondern auch, dass er sich überhaupt Sorgen machte, obwohl alles ganz normal war. Das war untypisch für ihn und das gefiel ihm nicht, zeigte aber, dass da doch mehr Gefühle waren, als er sich das eingestand. Das würde beim Abschied zu Problemen führen, aber da musste er wohl durch. Auch wenn er schon jetzt Angst davor verspürte. "Mann, alter. Was ist denn wieder los mit dir? Du sitzt hier wie der letzte Trauerkloß. Was ist denn los? Ist was mit Kai?" Rei seufzte nur wieder und stützte sein Kinn lustlos auf seiner Hand auf. "Ich denke er sagt mir am Samstag, dass wir uns zukünftig nicht mehr sehen werden." Erstaunen schwemmte ihm so heftig entgegen, dass er es fast physisch spüren konnte. "Wie jetzt? Aber... hä? Was ist denn passiert? Habt ihr euch gestritten?" Etwas hilflos zuckte Rei daraufhin mit den Schultern und wusste nicht so recht was er sagen sollte. "Nicht so richtig denke ich. Nein, es geht eher um seinen Großvater. Er ist am Weihnachtsmorgen plötzlich aufgetaucht und na ja.... sagen wir, unser Aufeinandertreffen war nicht das Beste. Aber Kai respektiert seinen Großvater und ich denke nicht, dass der will, dass er mit jemandem wie mir rumhängt. Er hat mich schon als Gesindel bezeichnet oder so was. Er wird ihm sicher sagen, dass er mich nicht mehr sehen soll, weil ich ihm nicht gut tue." Und, dass er sich in den Streit eingemischt hatte, war sicherlich auch noch ein Punkt. Ob Kai noch sauer auf ihn war? Aber er hatte ihn danach geküsst und das nicht gerade gefühlsarm. Das schien ihm geklärt zu sein und Kai hatte auch eher erleichtert gewirkt. Rei seufzte noch einmal. "Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen...", meinte Takao nachdenklich. Er lehnte sich etwas zurück und legte den Kopf schief. Mit den verschränkten Armen vor der Brust sah das etwas merkwürdig aus, zeigte aber, dass er sich wirklich Gedanken machte. "Also nicht, dass sein Großvater ihm das verbietet. Das scheint mir recht logisch, wobei ich ihn ja nicht kenne. Aber Kai lässt so wenige Leute an sich ran, dass ich mir wirklich nicht vorstellen kann, dass er die dann einfach so fallen lässt. Außerdem... gut er mag seinen Großvater respektieren oder so, aber er wirkt nicht gerade wie der typische, folgsame Enkel, oder? In der Schule rebelliert er ständig, das wird seinem Opa auch nicht passen." So wirklich überzeugt war er nicht, wenn er ehrlich war und die gut gemeinten Worte verfehlten auch ansonsten seine Wirkung. Er fühlte sich nicht wirklich besser. Er seufzte schon wieder. "Und ich bin dann Schuld, wenn sein Verhältnis mit seinem Großvater zu Bruch geht? Oder er ständig ärger mit ihm hat? Das sind auch keine schönen Aussichten..." Doch Takao grinste darauf nur, was seine Stimmung noch weiter in den Keller sinken ließ. Warum grinste der denn jetzt? "Was hast du denn gedacht? Dass er dich als seinen neuen Schwiegersohn mit offenen Armen empfängt?" Kurz hielt Rei inne bei diesen Worten. Ja, was hatte er eigentlich erwartet? "Ich denke, so was wie wohlwollende Neutralität?" Doch Takao lachte nur leise dazu und machte eine wegwerfende Handbewegung ehe er sich vor lehnte und ihn leicht angrinste: "Das ist ein Hiwatari. Solltest du nicht selbst wissen, dass es keine Neutralität dabei gibt? Es gibt kein zwischen Ding. Nur mögen oder nicht mögen." Rei seufzte wieder und rührte in seinem Tee. "Du hast ja Recht aber..." Und wieder ein seufzen. "Hey... du hast dich wirklich in ihn verschossen, oder?" Daraufhin ließ der Chinese seine Schultern noch ein wenig mehr hängen und seufzte nur wieder. Was sollte er darauf auch antworten? Ja, sicher hatte er das. Aber das laut zuzugeben würde bedeuten, die Gefühle wirklich anzuerkennen und er wusste noch nicht, ob er wirklich bereit dazu war. Nicht jetzt, wo er Kai vielleicht aus dem Weg gehen musste. Langsam verstand er, warum der junge Russe so viel Angst davor gehabt hatte, dass sie sich zu nahe kamen. Jetzt gerade hatte er auch Angst davor. Er war auf eine frühzeitige Trennung nicht vorbereitet gewesen. "Alter, Kopf hoch. Seit wann gibst du denn eine Schlacht auf bevor sie geschlagen wurde? Ziehst du jetzt plötzlich den Schwanz ein? Wo du vorher so sehr gekämpft hast? Wenn Liebe so absurde Sachen macht, bin ich wirklich froh, mich noch nie verliebt zu haben." "So ist das nicht, Takao..." Aber wie war es dann? War es das nicht? Gab er nicht auf, noch bevor überhaupt etwas entschieden war? "Es ist... ich denke... ich... liebe ihn..." * Nervös ging er in seiner Wohnung auf und ab, starrte immer wieder die Uhr an. Bald war die Zeit, zu der sie sich immer trafen, gekommen. Nicht mehr lange. Kai würde pünktlich sein, wie immer. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und wenn er ehrlich war, war er nicht besonders weit davon entfernt Tränen zu vergießen. Er würde es nicht tun, sein Stolz verbot es ihm, aber er fühlte sich mies und das wollte eben irgendwie raus. Je nachdem wie das Gespräch verlaufen würde, würde er wohl trainieren gehen. In eines der beiden Dojos, in denen er sich für Kurse angemeldet hatte. Da würde er seine Gefühle rauslassen und verarbeiten können. Aber alles zu seiner Zeit, vielleicht war das alles auch gar nicht so schlimm. Das versuchte er sich auf jedenfall die ganze Zeit einzureden. Funktionierte nur mäßig, aber dann hatte er wenigstens etwas zu tun. Nervös starrte er auf den Sekundenzeiger, der sich langsam der zwölf näherte. Nur noch wenige Sekunden. Tick... tick... tick... Doch das ersehnte Klingeln der Tür blieb aus, als der Zeiger die zwölf passierte und emsig wieder die neue Runde begann. Ha ha.... natürlich würde Kai nicht so pünktlich sein. Er war akribisch, aber definitiv nicht so irre auf die Sekunde genau hier zu sein. Er würde sich ged... Rei schrak zusammen, als das schellen der Türklingeln die angespannte Stille durchbrach, wie ein Donnerschlag eine Gewitternacht. Himmel, ihm wäre fast das Herz stehen geblieben! Mehr aus der Routine heraus reagierte er, sein Kopf immer noch zu langsam vor Schreck, und ging zum Eingang der Wohnung um seinem Gast zu öffnen. Es war tatsächlich Kai! Irgendwie erleichtert ließ er ihn herein und schloss die Tür wieder. Tief in seinem Inneren hatte er wohl doch befürchtet, dass er einfach nicht auftauchen würde, aber jetzt kam ihm das dumm vor. Kai brach keine Abmachungen. Zumindest nicht ohne einen sehr triftigen Grund. "Hey", begann Rei etwas unbeholfen mit einer Begrüßung. "Ehm... willst du vielleicht etwas trinken?" Doch sein Gast schüttelte nur den Kopf und ging in Richtung Wohnzimmer: "Ich werde nicht lange bleiben." Und mit einem Mal wäre Rei vor diesem Gespräch am liebsten davon gelaufen. Er wollte es nicht hören... er wusste es. Er wusste was Kai ihm sagen würde. Er würde bald wieder gehen, sobald er ihm mitgeteilt hatte, dass sie sich nicht mehr sehen würden. Kälte schloss sich schmerzhaft um sein Herz, ein die Gewissheit ihn traf. Er würde die nächsten Monate allein sein.... "Ich verstehe...", begann er langsam, was Kai sich ein wenig verwundert umdrehen ließ. "Dein... dein Großvater will, dass du mich nicht mehr siehst, nicht wahr?" Kais Miene entspannte sich wieder und fand ihre gewöhnliche Gelassenheit. "Ja.", antwortete er und ließ Reis Herz in tausend Teile zersplittern. Kapitel 18: Abschied -------------------- Rei stand mit schwerem Herzen vor seinen Freunden. Seine Eltern waren schon vor gegangen, durch die Kontrolle, wollten ihm so noch etwas Zeit mit seinen Freunden geben... Zeit zum Abschied. "Du musst mir unbedingt jede Woche schreiben! Und in den Ferien komme ich dich besuchen, darauf kannst du wetten!" Takaos Energie erstaunte ihn immer wieder. Er würde den temperamentvollen Japaner wirklich unglaublich vermissen. Er war ein ganz besonderer Mensch. "Ruf an, wenn du mal wen zum reden brauchst, ja? Wir hatten nicht so wirklich viel Zeit füreinander im letzten Jahr, aber ich bin trotzdem immer gerne für dich da." Ai war auch gekommen. Das ganze Jahr über hatten sie immer wieder Kontakt miteinander gehabt und auch wenn der eher lose war, hatte er sich immer gefreut sie zu sehen. Sie war eine sehr angenehme Gesellschaft und er hoffte sie irgendwann noch einmal genauer kennenlernen zu können. "Mache ich alles, versprochen." Seine Stimme klang dünn und zittrig und er sprach absichtlich nicht viel, weil er verhindern wollte, dass er doch noch weinte. Das wollte er nicht. Er würde seine Freunde nicht verlieren, davon war er überzeugt und deshalb war das hier auch eigentlich kein Abschied, sondern einfach nur eine Änderung der Umstände. Er würde sie einfach nur in der Schule nicht mehr sehen, das war alles. Er konnte jederzeit Kontakt zu ihnen aufbauen. Immer, wenn er wollte. Das war zumindest das, was er sich immer einredete, wenn er 'Auf Wiedersehen' sagte. Dass das nicht stimmte wusste er selbst. Takao würde ihn nicht besuchen kommen und der Zeitunterschied würde ihn davon abhalten Ai anzurufen. Es würde ein paar Monate lang Kontakt bestehen, dann würde er einschlafen, weil der Alltag sie einholte. Und irgendwann wären auch diese beiden Personen nur noch Einträge in seinem Buch... Aber er verbot sich diese Gedanken, denn er wollte positiv in seine neue Heimat starten. Wenn er das nicht tat, wäre er nicht dazu in der Lage vorwärts zu gehen, sondern würde mit seinem Geist immer weiter hier in Japan bleiben und das war nicht gut. Das hatte er die ersten Male gemacht, als er umgezogen war. Besonders beim aller ersten Mal war es schlimm gewesen. Wie lange hatte er sich nach seiner Heimat gesehnt? Er hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass man keinen Ort brauchte um Heimat zu haben. Seine Eltern waren sein zu Hause, egal in welchem Land sie waren. Dennoch freute er sich darauf, nach seinem letzten Schuljahr endlich sesshaft werden zu können. Aber das dauerte noch über zwölf Monate und bis dahin musste er seinen Willen weiter zu machen, einfach bewahren. Wenn er sich dafür selbst belügen musste, war das eben etwas, was sein musste. Es war schließlich schlimm genug, dass sein Herz schon hier in Japan blieb, da sollte doch wenigstens sein Geist im neuen Land ankommen. "Und hey...", begann Takao dann und grinste leicht. "Mach die keine Sorgen wegen Kai, das wird alles, da bin ich mir sicher." Rei schluckte einen schweren Kloß, der sich in seinem Hals bilden wollte, herunter. Ja.. Kai... "Das werden wir sehen..." Beinahe hätten sich bei diesen Worten tatsächlich Tränen in seinen Augen gesammelt, aber er wehrte sich tapfer dagegen. Er wollte nicht weinen. Nicht jetzt und vor allem nicht in aller Öffentlichkeit. "Hey, nur Mut! Gib nicht auf, ok? Ihr habt so viel zusammen durchgestanden. Das muss doch was zählen!" Aber er war nicht in der Lage das zu beantworten. Tonnenschwer lasteten die Worte und wenn er jetzt den Mund aufgemacht hätte, wäre ihm seine Stimme weggebrochen und seine Selbstbeherrschung gleich mit. "Lass ihn Takao. Das Ganze ist schwer genug für ihn. Sei ein wenig feinfühliger! Darüber will er jetzt bestimmt nicht mehr reden." Ai hatte manchmal tatsächlich den besseren Riecher. Während Takao wunderbar in Kai lesen konnte wie ein offenes Buch, war Ai schon immer besser darin gewesen Rei zu verstehen. Kai... "Wir haben noch was für dich!" Das Mädchen reichte ihm ein kleines Geschenk, das er dankbar öffnete. Es war untypisch in Japan ein Geschenk zu öffnen, während der Schenker noch anwesend war, aber die beiden Japaner sahen wohlwollend darüber hinweg, denn sie wollten die Reaktion ihres Freundes sehen. Zum Vorschein kam ein schlichter Bilderrahmen, der ein Foto von Ai und Takao fasste. Takao schnitt darauf eine Grimasse, während das Mädchen ihn höchstwahrscheinlich gerade darüber belehrte, dass man eben das nicht tat. Rei musste über die so typische Szene wirklich lachen, auch wenn ihm dadurch mehr denn je zum Weinen zu mute war. "Danke, Leute. Wirklich." Nach einer innigen Umarmung standen sich die Drei noch eine Weile gegenüber und wussten nicht recht was sie sagen sollten, als Takao sich plötzlich suchend umsah und dann verärgert schnaubte. "Ehrlich Mann, er hätte wenigstens her kommen und tschüss sagen können, oder?" Alle drei wussten, dass ein gewisser Russe gemeint war, doch Rei zuckte nur die Schultern. "Ich wusste, dass er nicht kommt. Das ist nicht seine Art." "Aber wenigstens einmal in seinem Leben, könnte er mal über seinen Schatten springen, oder? Das hättest du nach der ganzen Mühe die du dir mit ihm gegeben hast wirklich mehr als verdient!" Ja, wahrscheinlich hatte er das, aber das war eben Kai. Er nahm es ihm nicht übel, so war er nun einmal. Außerdem hätte er den Abschied hier selbst wohl nicht verkraftet. "Ist mir eigentlich lieber so...", gab er deshalb zögernd zu, was ihm von Ai ein verständnisvolles Lächeln und von Takao einen verwirrten Blick einbrachte. Ja, es war besser so. Es hätte viel zu weh getan, wenn er ihn jetzt noch hätte sehen müssen. "Ich denke du musst jetzt gehen Rei... wir werden dich wirklich vermissen. Aber wir sind ja nicht aus der Welt, nicht?" Er nickte und umarmte Ai nach der kleinen Ansprache noch einmal. "Ich bin wirklich froh dich kennen gelernt zu haben. Du bist ein großartiges Mädchen." "Ach, das sagst du doch jetzt nur, weil ich die einzige aus unserem Jahrgang war, die nicht in dich verknallt war!" "Woran lag das eigentlich? Ihr beiden seid doch mal miteinander ausgegangen, oder?" Nach dieser Frage des Japaners wurde Ai deutlich verlegen und Rei lächelte mitfühlend. Nachdem er einen kurzen Blick mit ihr ausgetauscht hatte, um sich zu vergewissern, dass er das kleine Geheimnis ausplaudern durfte, begann er zu erklären: "Ihre Eltern sind sehr konservativ und ihre Mutter hat ihr immer wieder Druck gemacht, dass sie sich einen Freund suchen solle, den sie später mal heiraten konnte, sonst würden sie ihr einen Mann besorgen. Das wollte sie natürlich nicht. Und du weiß wie Japaner gegenüber Chinesen sein können. Als ihre Eltern mitbekommen haben, dass sie mit einem Chinesen ausgeht, haben sie ihr sofort gesagt, dass es doch eigentlich noch viel zu früh für einen Freund wäre und das doch alles noch viel Zeit hätte." Takao lachte darauf amüsiert, aber auch ein wenig beschämt. Es war wirklich allseits bekannt, dass Chinesen gerade bei den älteren Mitbürgern sehr unbeliebt waren. Rei hatte wirklich Glück gehabt auf eine Schule gekommen zu sein, an der das nicht so krass war. Er war eher beliebt gewesen, zumindest bis er sich geoutet hatte. Danach war er ziemlich geschnitten worden, was sich generell eher in Ignoranz seiner Existenz geäußert hatte oder dadurch, dass man ihm hässliche Worte an den Kopf geworfen hatte. Glücklicherweise alles Dinge, mit denen er umgehen und über denen er drüber stehen konnte. Niemand hatte sich getraut ihn wirklich direkt anzugehen. "Guter Plan, das muss ich schon sagen, Ai! Das hätte ich selbst nicht besser machen können!" Ai aber grinste Takao nur frech an: "Natürlich nicht. Auf den Plan wärst du auch gar nicht gekommen!" Rei sah schon, dass Takao beleidigt widersprechen wollte, doch er stoppte die beiden, bevor das eskalierte: "Ich muss jetzt wirklich los." Er umarmte Takao noch einmal: "Danke für alles. Ich werde dich echt vermissen. Du warst eine der größten Überraschungen im letzten Jahr. Du bist zu einem meiner besten Freunde geworden." Er hörte den Japaner schniefen und langsam musste er selbst auch mit den Tränen kämpfen. Verdammt! Nein, er würde nicht heulen. "Hör auf so sentimental zu sein, sonst fange ich an zu heulen!", beschwerte Takao sich laut schniefend und vergrub sein Gesicht kurz in der Schulter des anderen, ehe er sich wieder von ihm löste. "Wie Ai sagte, wir sind alle nicht aus der Welt. Ihr seid jederzeit eingeladen zu mir zu kommen. Ich schicke euch die Adresse sobald ich sie habe. Jetzt muss ich wirklich los. Macht's gut und passt auf euch auf." Danach drehte er sich schnell um und machte sich auf den Weg. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er zu den Beamten und durch den Metalldetektor. Er konnte sich nicht noch einmal umdrehen, er würde sich sonst nicht beherrschen können. Kapitel 19: Tiefe Wehmut ------------------------ Wehmütig sah Rei dabei zu, wie das Land unter ihm immer kleiner wurde und er sich immer weiter davon entfernte. Er seufzte tief, aber das Schlimmste war jetzt eigentlich geschafft. Nach diesem Flug würde er zu viel zu tun haben, um sich noch Sorgen um den Trennungsschmerz machen zu können. Er kannte das schon. Er musste nur den Flug hinter sich bringen und das war nicht allzu schwer, auch wenn elf Stunden Flug nicht gerade wenig waren.   "Rei, warum war Kai denn nicht da?" Seine Mutter saß mit seinem Vater hinter ihm in der Sitzreihe und ihre Frage ließ ihn die Schultern zucken: "Solche Abschiede sind nicht seine Art.", murmelte er nur, während er aus dem Fenster starrte. Er wollte nicht über Kai reden, nicht jetzt. "Aber ihr schient doch so gute Freunde zu sein." Seine Mutter redete von Silvester, dem einzigen Tag, an dem sie Kai je gesehen hatte. Nach dem Gespräch über Kais Großvater, hatte er darauf bestanden, dass Kai auch seine Eltern kennenlernte.   ~*~   "Ich verstehe...", begann er langsam, was Kai sich ein wenig verwundert umdrehen ließ. "Dein... dein Großvater will, dass du mich nicht mehr siehst, nicht wahr?" Kais Miene entspannte sich wieder und fand ihre gewöhnliche Gelassenheit. "Ja.", antwortete er und ließ Reis Herz in tausend Teile zersplittern.   Mit Tränen in den Augen senkte Rei seinen Blick. Warum nur hatte er sich überhaupt Hoffnungen gemacht? Hatte er wirklich auch nur eine Sekunde geglaubt, dass das hätte gut ausgehen können? "Rei? Was ist los?" Es lag wieder Verwunderung in Kais Stimme, doch er war nicht fähig zu antworten, wollte sein letztes bisschen Stolz bewahren und jetzt stark bleiben. Zitternd atmete er durch, rang um Fassung. "Ist schon gut", murmelte er leise. "Wenigstens bist du her gekommen um es mir persönlich zu sagen." "Um dir was zu sagen?" Die Trauer drohte sofort wieder in Wut um zu schlagen. Was sollte das denn jetzt? Musste Kai es ihm noch schwerer machen als es sowieso schon war? "Was wohl!?", zischte er unter zusammengepressten Zähnen hervor. "Muss ich es jetzt auch noch aussprechen?" Er konnte ihn nicht ansehen. Er schaffte es nicht, obwohl er ihm die nächsten Worte gerne ins Gesicht gespuckt hätte: "Muss ich denn sagen, dass wir uns jetzt nicht mehr sehen können? Muss ich deinen Part dieses Gesprächs mit übernehmen?"   Doch alles, was er als Antwort bekam, war ein kaltes Lachen und das ließ ihn jetzt doch aufblicken. Das Lachen war gruselig und hatte einen leicht irren Unterton. Es würde gut zu einem Bösewicht in einem Film passen, schoss es ihm zusammenhanglos durch den Kopf.   Kai kam auf ihn zu, blieb kurz vor ihm stehen. Seine Hand zuckte kurz, als wolle er ihn berühren, doch er tat es nicht. "Hast du dich nie gewundert, warum ich, als Erbe eines millionenschweren Unternehmens, auf eine öffentliche Schule gehe? Warum ich mich ständig prügle und aus dem Unterricht fliege und dennoch immer noch nicht enterbt wurde?" Ja, das hatte ihn schon gewundert, aber er war immer davon ausgegangen, dass Kais Großvater das einfach nicht mitbekam, weil er nicht oft genug im Land war. "Was hat das hiermit zu tun?", fragte er leise und unsicher. Worauf wollte Kai hinaus? Er lächelte, wie man einem Kind zulächelte, das einfach nicht verstand. Er fühlte sich irgendwie nicht ernst genommen. "Ich habe eine Abmachung mit meinem Großvater. Schon sehr lange. Solange ich seiner Firma nicht schade, solange meine Noten gut bleiben und solange ich seine Firma eines Tages übernehmen werde, darf ich tun, was auch immer ich will. Er hat schnell festgestellt, nachdem ich aus Russland her kam, dass ich ein Rebell bin und er hat eingesehen, dass zu harte Grenzen nur dazu führen, dass ich mich ihm widersetze. Also hat er mir die Freiheiten gegeben die ich brauche und wir beide fahren sehr gut damit." Rei musste ein so ungläubiges Gesicht gemacht haben, dass Kai einfach fortfuhr: "Im Umkehrschluss heißt das, dass die Meinung meines Großvaters zu dir vollkommen egal ist. Solange nicht an die Öffentlichkeit kommt, dass ich schwul bin, ist alles in Ordnung. Ich bin nicht hier um dir zu sagen, dass wir uns nicht mehr sehen werden."   Rei konnte nicht anders. Er überbrückte die letzten Zentimeter, schlang seine Arme um Kais Nacken und küsste ihn. Der Kontakt hielt allerdings nicht lange, denn Kai schob ihn von sich und sah ihn mit so etwas wie Abscheu an. Der junge Russe wollte etwas sagen, doch Rei kam ihm dazwischen: "Oh nein, nicht so! Komm mit jetzt nicht mit der homophoben Nummer. Nicht heute, nicht jetzt! Ich bin gerade emotional nicht in der Lage Verständnis dafür zu zeigen." Er musste nichts weiter tun, eine Sekunde später umfingen ihn starke Arme und sie beide verloren sich in einem weiteren Kuss. Es war atemberaubend und dauerte mehrere Minuten an.   Nach dieser Zeit fanden sie sich auf dem Sofa wieder, Rei leicht an Kais Seite gekuschelt. "Ich hatte wirklich Angst, dass dieses Gespräch anders verlaufen würde...", hauchte er leise und seufzte zufrieden. Natürlich würde er jetzt nicht rührselig werden und Kai seine Gefühle gestehen, das wäre jetzt nicht zielführend. Aber etwas anderes kam ihm in den Sinn, was er gerne versuchen würde. "Hey Kai...", begann er bedacht, sah ihm aber nicht ins Gesicht, vergrub stattdessen sein eigenes in dem Oberkörper des anderen. "Ich... willst du nicht zu Silvester vorbei kommen? Meine... meine Eltern sind dann da..." Er konnte spüren, wie sich die Muskeln unter ihm anspannten. Jeder Teil des Körpers, an den er lehnte, schien sich förmlich zu verkrampfen. "Was hast du vor, Rei?" Die Stimme klang genauso angespannt, wie der Körper sich anfühlte. Vorsichtig ließ er seine Hand kurz über die Brust des Anderen streichen, in der Hoffnung, ihn etwas beruhigen zu können. "Ich würde dich gerne meinen Eltern vorstellen. Als... als meinen Kumpel, nicht mehr, keine Sorge. Ganz locker. Silvester ist bei uns kein großer Feiertag. An Neujahr kannst du dann sofort wieder verschwinden, das werden sie verstehen. Ich sage ihnen, dass du an diesem wichtigen Tag bei deiner Familie sein willst."   Kai entspannte sich langsam wieder und Rei wusste, dass er ihm diesen Gefallen tun würde.   ~*~   Kai war tatsächlich zu Silvester gekommen und seine Eltern mochten ihn... irgendwie zumindest. Sie hatten sich ein wenig darüber beschwert, dass er doch sehr still gewesen war, hatten es aber akzeptiert, als er ihnen erzählt hatte, dass er eben so war. Er musste lächeln, als er an diese Szene zurück dachte. Er war so glücklich gewesen in diesem Moment, als Kai ihm sagte, dass sie sich weiterhin sehen würden. Es hatte ein halbes Jahr gedauert, aber dann waren sie ein Paar geworden, auch wenn sich das leichter anhörte, als es letztendlich war. Eine Beziehung mit einem homophoben Russen zu führen, der nicht viel von Gefühlen hielt und ansonsten auch nicht gerade kommunikativ war, war nicht besonders einfach. Aber es hatte erstaunlich gut funktioniert. "Ich finde das unhöflich, dass er dir nicht einmal tschüss gesagt hat." Rei verdrehte dazu aber nur genervt die Augen. Gut, dass seine Mutter das nicht sah. Kai war eben nicht einfach, aber das war ja das Interessante an ihm. Er mochte ihn dafür, dass er so anders war.. er liebte ihn dafür. "Wir haben uns schon vor einer Weile verabschiedet." Ja, und es hatte mit einem 'Bis morgen' geendet, obwohl sie beide wussten, dass sie sich nicht mehr sehen würden. Aber so war es erträglich gewesen... Manchmal war es wirklich einfach besser sich selbst zu belügen. Seine Mutter schwieg endlich, und so konnte er seine Gedanken wieder zurück schweifen lassen, zu dem Moment, in dem er und Kai wirklich zusammen gekommen waren. Es war an diesem Tag noch mehr passiert, denn eigentlich war der junge Russe ja nicht zu ihm gekommen, um eine Beziehung zu beginnen.   ~*~   Rei lehnte noch immer an Kais Oberkörper, zufrieden mit sich und der Welt, als ihm etwas auffiel, was er in der Hitze des Moments vollkommen vergessen hatte: "Wenn du nicht wegen deinem Großvater hier bist, warum denn dann?" Schließlich hatte Kai doch gesagt, dass er nur kurz blieb, nicht? Das hatte sehr danach geklungen, als wolle er nur etwas klären und dann wieder verschwinden. Doch Kai schwieg erst einmal eine Weile, was in ihm erneut Sorge weckte. War da doch noch etwas im Busch?   "Ich habe dir dein Weihnachtsgeschenk noch nicht gegeben...", begann er dann aber nach einer gefühlten Ewigkeit. Rei setzte sich auf und sah ihn in einer Mischung aus Erstaunen und Besorgnis an. "Kai, du weißt, dass du mir nichts schenken musst, oder? Ich habe niemals etwas erwartet. Das ist nicht notwendig." Doch der Angesprochene schüttelte nur den Kopf und sah ihn mit fester Entschlossenheit an: "Ich weiß. Aber das ist auch ein Grund, warum ich dir etwas schenken will. Ich tue das nicht, weil ich es muss. Ich will es dir schenken." Das ließ definitiv keine Widerrede zu. "Okay..."   Kai stand vom Sofa auf und wanderte kurz etwas ziellos durch das Wohnzimmer, ehe er an einem der Fenster stehen blieb und einfach hinaus sah. Da war jemand wirklich ganz schön nervös. "Ich erinnere mich nicht...", begann er dann langsam, doch Rei verstand nicht wirklich. Was hatte das mit einem Weihnachtsgeschenk zu tun? Aber gut, er wollte das Spiel einmal mitspielen. "Woran kannst du dich nicht erinnern?", fragte er behutsam und wartete dann. "Wo ich war, nachdem meine Eltern starben. Ich erinnere mich nicht mehr daran. Ich muss fünf oder sechs Jahre dort gewesen sein, aber ich erinnere mich nicht mehr. Nur die Narben sind noch übrig und die Gefühle, die ich mit diesem Ort verbinde." Rei weitete erstaunt die Augen und versteifte sich etwas: "Kai.. du musst nicht..." "Doch!", fiel ihm der Russe sofort ins Wort, ohne ihn anzusehen. Sein Blick galt weiterhin der Außenwelt. "Lass mich einfach reden. Ich will, dass du es weißt..." Daraufhin nickte Rei nur und verstummte. Er würde ihn nicht mehr unterbrechen, das wussten sie beide.   "Es war ein dunkler Ort. Das ist eigentlich das Einzige, was ich weiß. Ich habe Angst vor diesem Ort und er hat mich zu dem gemacht, was ich bin, ohne, dass ich weiß wie oder warum. Ich war ein aufgeweckter Junge, bevor ich dort hin kam. Da bin ich mir sicher. Ich habe Erinnerungen an Spielplätze und den Kindergarten, wo ich ganz normal mit Kindern gespielt habe. Ich war nicht immer so wie jetzt, wobei mein Großvater die Wesenszüge, die ich von dort mit genommen habe, natürlich nur zu gerne unterstützt hat. Kühl und kalkulierend... das sind Eigenschaften, die man einem Geschäftsmann zuspricht." Er pausierte kurz, versuchte wohl wieder auf das Wesentliche zurück zu kommen. "Es ist kaum noch etwas übrig. Nur verschwommene Gesichter und verschwommene Erinnerungen. Das ist auch ein Grund, warum ich nicht darüber rede... einer von vielen. Ein anderer ist, weil ich Angst davor habe, darüber zu reden. Weil ich Angst habe, dass die Erinnerungen zurück kommen, weil ich Angst davor habe, dass, wenn ich wieder einmal schweißgebadet mitten in der Nacht aufwache, die Stimmen nicht wieder verschwinden und die Bilder bleiben, statt wieder in mein Unterbewusstsein zu sickern." "Kai...", brachte Rei nur heraus, doch der Junge schüttelte nur wieder mit dem Kopf, erstickte so jeden Versuch etwas zu sagen im Keim.   "Ich will kein Mitleid oder sonst irgendwas. Das ist der nächste Grund. Es gibt so viele Gründe nicht darüber zu reden, dass sie die Gründe, warum ich darüber reden sollte, bei weitem übertreffen. Ich weiß, dass ich kaputt bin... ich weiß es, aber es ist nicht schlimm. Ich kann damit umgehen... mittlerweile. Es gab eine Zeit, da ging das nicht und als mein Großvater das heraus fand, da schlossen wir diese Vereinbarung, von der ich dir gerade erzählt habe."   "Er hatte mich auf ein Internat gesteckt. Ein Eliteinternat, in dem ich ordentlich ausgebildet werden sollte. Es hatte kaum zwei Monate gedauert, da flog ich raus, weil ich mich zu oft geprügelt hatte. Damals hatte ich noch hohen Respekt vor Lehrern, deshalb war es wenigstens an der Front nicht so schlimm, aber es reichte, dass sie mich heraus warfen..."   "Großvater war wütend. Oh ich habe ihn noch nie so sauer erlebt. Und ich fühlte mich so schlecht, weil ich ihn derart enttäuscht hatte. Ich habe das nicht gewollt... ich habe ihn nicht enttäuschen wollen, aber aus irgendeinem Grund hatte diese Schule mich so aggressiv gemacht, ich habe einfach nicht anders gekonnt. Meine Noten waren auch nicht wirklich gut gewesen..." Rei konnte die Scham hören, die nach all den Jahren noch immer da war. Dieses Ereignis saß noch immer tief, er hatte es nicht verarbeitet.. niemals. Da war er wieder... der Straßenköter...   "Daraufhin hat er mich zu Hause behalten und hat es mit Privatlehrern versucht. Ich hatte Respekt vor ihnen und habe brav gelernt, aber der Druck war zu viel für mich. Viel zu viel. Ich konnte damit nicht umgehen und eines Tages, als mich einer der Lehrer wieder getadelt hatte und der Sport nicht mehr reichte, um mit den Gefühlen umgehen zu können, da habe ich ein anderes Ventil gefunden..." Wollte er auf das hinaus, auf das er dachte, dass er hinaus wollte? Hatte er wirklich...? Aber er hatte ihm doch einmal gesagt, dass die Narben nicht daher kamen!   "Auf der Schule von uns beiden ging das Gerücht um, die Narben an meinem Arm hätte ich mir selbst zugefügt, aber das war nur ein Gerücht und weiter nichts. Ich habe es nicht so offensichtlich gemacht. Nicht am Arm, das wäre viel zu auffällig gewesen. Ich brauchte eine Stelle, die niemand je sehen würde. Es waren meist kleine, aber tiefe Wunden. Es hat so gut getan und hat sich so richtig angefühlt und es hat mich beruhigt... zu dem Zeitpunkt als das anfing, hätte ich niemals gedacht, dass ich einmal erwischt würde. Und es war auch eher Zufall, dass es raus kam. Einer der Angestellten erwischte mich einmal, als ich im Bad saß und einen Schnitt an meinem Oberschenkel setzte." Kai stoppte wieder kurz, verlagerte kurz sein Gewicht, als würde er den Schmerz noch spüren können. Reis Kehle war mittlerweile staubtrocken.   "Er berichtete es natürlich meinem Großvater und der war wütend, wirklich, aber er wusste, dass es nichts bringen würde, wenn er mich anschrie. Er ist immerhin ein sehr kluger Mann. Man führt kein milliardenschweres Imperium, ohne zu wissen, wie man mit Menschen umgehen muss. Er hat mich zu sich gerufen, hat mir eine Tasse Tee zugeschoben, gewartet bis ich mich etwas entspannt habe und hat mich dann gefragt, was er tun solle. Dass er nicht weiter wisse... und, dass er nicht wolle, dass es mir schlecht geht. Mein Großvater ist sehr streng und engstirnig, aber ich weiß, dass er mich, als seinen Enkel, liebt. Und das ist mir in diesem Moment zum aller ersten Mal klar geworden. Es war auch das erste und letzte Mal, dass ich vor ihm in Tränen ausgebrochen bin. Es war das letzte Mal überhaupt, dass ich Tränen vergossen habe. Ich habe ihm gesagt, dass es mir leid tut, dass ich eine solche Enttäuschung für ihn bin, habe ihm gesagt, dass ich ihn stolz machen will, aber dass ich das nicht schaffe, es niemals schaffen werde, weil ich nicht so bin, wie er mich haben will."   Eine angespannte Stille breitete sich im Raum aus und Rei wäre am liebsten zu Kai gegangen und hätte ihn in den Arm genommen, aber er blieb wo er war und sagte kein Wort. Er durfte sich jetzt nicht bemerkbar machen, das wusste er, genauso, wie er wusste, dass Kai in dem Moment gehen würde, in dem er zu Ende geredet hatte und dass sie sich danach eine ganze Weile nicht sehen würden.   "Großvater war überfordert mit der Situation, aber er sagte dann das, was mich gerettet hat. Er sagte mir, dass er keinen perfekten Enkel bräuchte, nur einen perfekten Erben und, dass, solange das so wäre, es ihm egal wäre, wie ich mich verhielt. Gute Noten und keine Schlagzeilen in der Zeitung, das sei alles, was er verlange und ich müsse zusehen, dass ich am Ende meiner Ausbildung auch charakterlich in der Lage wäre, eine Firma zu leiten. Das, so sagte er, würde aber noch eine ganze Weile dauern. Ich solle mich ausleben und die Erfahrungen machen, die ich brauche, um meinen Charakter zu festigen. Danach hat er mich auf mein Zimmer geschickt und mir gesagt, dass ich mir eine Schule aussuchen solle. Ich habe die gewählt, auf die ich heute noch gehe und ich habe meine Entscheidung nicht bereut. Da ich noch immer ziemlich anders war, haben wir gesagt, ich sei erst frisch von Russland her gekommen, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon ein Jahr lang in Japan gelebt hatte. Seitdem habe ich mich nicht mehr selbst verletzt. Selbst nicht, als man begonnen hat mich zu schneiden und versucht hat mich zu mobben. Aber das war von beginn an kein Problem für mich. Ein paar Wochen, dann haben sie mich alle gemieden und ich hatte meine Ruhe. Zu dem Zeitpunkt hatte ich gelernt, wie ich Gerüchte streuen muss, damit sie mir nützen. Ich habe niemals jemanden von mir aus angegriffen, mich nur verteidigt. Deshalb bin ich nicht noch einmal von der Schule geflogen."   Eigentlich hatte Rei damit gerechnet, dass das jetzt das Ende war, doch da Kai noch immer am Fenster stand und nach draußen starrte, vermutete er, dass das noch nicht alles war. Und nach einigen Minuten, erklang die dunkle Stimme auch wieder: "Das Vertrauen und den Respekt vor Lehrern habe ich verloren, als mich dieser Sportlehrer versucht hat anzufassen. Ich war vorher schon ein wenig rebellischer als normale Teenager, aber danach hat es mir gereicht. Es gibt für mich nichts schlimmeres als Menschen, die ihre Machtposition ausnutzen und dann auch noch für so etwas. Das ist einfach nur erbärmlich. Aber das sind Menschen im Allgemeinen. Sie sind meine Zeit nicht wert..." Damit drehte er sich zu Rei um und sah ihm geradewegs in die Augen. Seine eigenen waren vollkommen verschlossen, er war in totaler Abwehrhaltung, ließ gar nichts zu sich durchdringen. Rei hätte es in diesem Moment nicht gewundert, wenn Kai in dieser Sekunde alles vergessen hätte, was er gerade erzählt hatte. Er begrub es bereits in den tiefen seines Gedächtnisses, das konnte er sehen, ja, fast spüren. Rei würde einen Teufel tun und jetzt irgendetwas sagen oder tun.   "Frohe Weihnachten, Rei..." Und damit drehte Kai sich um und verschwand aus der Tür.   ~*~   Jetzt wo er so darüber nachdachte, hatte er Kai niemals gefragt, warum sein Opa so sauer gewesen war. Er hatte es schlichtweg vergessen und im Grunde ging es ihn auch absolut nichts an.   Es hatte lange gedauert, bis sie beide dieses Gespräch verarbeitet hatten. Das war viel gewesen... viel zu viel für sie beide, aber Rei war unglaublich glücklich darüber, dass Kai mit ihm darüber geredet hatte. Er hatte ihn erst an Silvester wieder gesehen und dort hatte Kai nur sehr sporadisch mit ihm geredet. Niemals ist auch nur ein Wort zwischen ihnen darüber gefallen und das würde wahrscheinlich auch so bleiben, wenn es nicht irgendwann unbedingt notwendig wurde, darüber zu reden. Und Rei hoffte insgeheim, dass es niemals notwendig werden würde, auch wenn er der Überzeugung war, dass Kai zu einem Psychologen damit sollte. Er würde aber einen Teufel tun und ihm das sagen, es sei denn, es würde eines Tages notwendig werden. Aber es würde noch etwas dauern bis dahin, falls es überhaupt jemals so weit kommen würde.   Momentan war alles recht stabil und sie hatten sich gut angenähert. Wie schon erwähnt, es funktionierte erstaunlich gut. Es war natürlich keine gewöhnliche Beziehung und das lag nicht nur daran, dass sie ihre Beziehung vor dem Rest der Welt verstecken mussten. Das war die letzten Monate eher eine aufregende, statt nervende Komponente gewesen, auch wenn das natürlich nicht immer so bleiben würde. Irgendwann würden sie darüber reden müssen, sich zu outen oder auf ewig versteckt zu leben, aber glücklicherweise hatte auch das noch ein wenig Zeit.   Eine Freundschaft mit Kai war schon merkwürdig, aber eine Beziehung mit ihm zu haben, war noch viel merkwürdiger. Pflegte man mit ihm eine Freundschaft, sahen das Außenstehende kaum. Pflegte man mit ihm eine richtige Beziehung, änderte sich daran nicht besonders viel. Kannte man sie etwas genauer, würde man jetzt wahrscheinlich vermuten, sie seien Freunde, doch nicht mehr. Es waren eben die kleinen Dinge, die zeigten, dass es anders war. Dinge, die andere kaum wahrnahmen.   ~*~   Die Schule hatte bereits seit einer Weile wieder angefangen und alles hatte sich wieder in ihre gewöhnliche Routine eingefunden. Rei hatte Takao nichts davon erzählt, dass er jetzt eine Beziehung mit Kai führte. Insgeheim machte er sich einen Spaß daraus zu schauen, ob und wann er es bemerken würde. Als Takao ihn wegen dem Gespräch befragt hatte, hatte er nur geantwortet, dass alles in Ordnung sei und es ein Missverständnis gewesen war.   Es war ein kalter Tag im Februar, als die drei wie gewöhnlich in der Mensa saßen und Kai sich an Takaos essen bediente. "Irgendwie verhaltet ihr beiden euch komisch." Kai gab sich nicht einmal mehr die Mühe den Japaner böse anzustarren, in der Hoffnung, dass der einfach die Klappe halten würde. Das hatte er schon lange aufgegeben. Was der Japaner und auch niemand sonst in dem Raum sehen konnte, war, dass Rei und Kai immer wieder leicht die Hand des anderen berührte. Ganz unauffällig, wie in einem Spiel. Das Ziel dabei war es, sich so viel zu berühren wie möglich, ohne, dass es auffiel.   "Ich habe das Gefühl ihr redet noch weniger miteinander als sonst schon." Doch Rei zuckte nur mit den Schultern: "Warum auch reden, wenn es nichts zu reden gibt? Zur Zeit ist alles ruhig." Takao legte daraufhin aber nur skeptisch die Stirn in Falten und wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Man merkte ihm an, dass er an der aktuellen Situation etwas merkwürdig fand und es einfach nicht genau benennen konnte. "Dafür bist du aber ziemlich unruhig, Rei.", gab er zu bedenken. "Ist alles in Ordnung?" "Klar, was sollte auch sein?"     Es dauerte lange, bis sie sich wirklich nahe kamen. Am Anfang waren es nur flüchtige Berührungen gewesen, die überhaupt zeigten, dass da etwas war. Und meistens gingen sie von Kai aus, denn wie auch vorher schon, schreckte der eher vor Berührungen zurück. Es war eine komplizierte Prozedur, die sie da durchliefen. Rei wusste, dass Kai keine Jungfrau mehr war, aber er war sich ziemlich sicher, dass er noch nie eine echte Beziehung gehabt hatte. Er wusste mit der Situation nicht wirklich etwas anzufangen und die Unsicherheit darüber, ließ ihn vorsichtig sein. Das war für Rei zumindest ziemlich offensichtlich und er ließ ihm den Raum. Das erste Mal, dass er wirklich das Gefühl hatte, dass sich etwas geändert hatte, war etwa zwei Wochen nach Silvester. Das erste Mal seit langem, kochten sie einmal wieder zusammen. Nun, zuerst hatte nur Rei gekocht, doch kurz nachdem er angefangen hatte, kam Kai dazu. Wie das erste Mal, als er in der Wohnung gewesen war, blickte er auch diesmal wieder über Reis Schulter um zu sehen, wie er helfen konnte. Doch er machte es nicht wie vor einigen Monaten. Diesmal nämlich legte er eine Hand leicht auf seine Hüfte und beugte sich so weit vor, dass ihre Gesichter sich fast berührten. In Reis ganzem Körper begann es zu kribbeln und vor lauter Aufregung, hätte er sich fast in den Finger geschnitten. Er spürte Kai förmlich lächeln, als der ihm langsam das Messer aus der Hand nahm: "Ich mache das schon." Es war kaum mehr als ein Hauchen und sein Atem streifte sacht seine Wange. Er erschauerte. "Ich kümmere mich dann um den Reis.", sagte er schnell und machte Platz, brachte so Abstand zwischen sie beide. Er hätte die Nähe des anderen gerne noch etwas genossen, doch er war tatsächlich ein wenig überfordert. Dennoch hatten sie sich von da an öfter berührt und bald war es normal geworden hier und da Zärtlichkeiten auszutauschen. Auch wenn noch immer meist Kai bestimmte wie und wann, aber das war in Ordnung. Rei überließ ihm gerne die Kontrolle, vor allem, weil ihm bewusst war, dass das hauptsächlich Probleme mit dem Selbstbewusstsein waren, die Kai dazu antrieben, krampfhaft zu versuchen, die Oberhand in der Situation zu haben. Rei selbst war gestärkt genug in seinem Bewusstsein, um die Kontrolle abgeben zu können und so Kai eigentlich perfekt zu ergänzen. Das war ein kleines Opfer, das er gerne brachte, wenn Kai sich dann wohler fühlte. Er achtete allerdings darauf, dass das zu keinem Kontrollzwang wurde. Es sah aber nicht danach aus, als würde sich das krankhaft entwickeln.   Was Rei an diesem Tag auch auffiel war, dass Kai erstaunlich geschickt mit dem Messer war. Da hatte wer geübt. Der Russe ertrug es eindeutig nicht, irgendetwas nicht zu können. Eine traurige Wahrheit, die Kai sicherlich irgendwann noch einmal zum Verhängnis werden würde. An irgendeinem Tag in seinem Leben, würde er einer Aufgabe gegenüberstehen, die er nicht bewältigen konnte und dann musste selbst Kai sich eingestehen, dass er nicht perfekt war. Rei hoffte, dass er an diesem Tag bei dem Russen sein würde um ihn auffangen zu können.   Es dauerte bis Mitte März, bis Takao endlich herausfand, warum sie beide sich so merkwürdig verhielten und er kam ganz und gar nicht von alleine darauf. Ahnungslos hatten sie ihr Spiel mit ihm getrieben und sich zugegeben, ziemlich darüber amüsiert. Es war nicht böswillig gemeint und resultierte auch eher daraus, dass Rei nicht so recht wusste, wie er seinem Kumpel die Neuigkeiten berichten sollte. Es war wie mit allem heiklen, was man nicht sofort aussprach. Es staute sich zu einem Geheimnis an und wurde dann irgendwann so groß, dass man gar nicht mehr wusste, wie man es noch mitteilen sollte. Als Takao es dann endlich herausfand, war das also eher eine Erleichterung, auch wenn Kai das an sich natürlich gar nicht passte.   Sie hatten angefangen auch in der Schule Zärtlichkeiten auszutauschen. Natürlich nicht in der Öffentlichkeit, sondern in leeren Gängen, in denen die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden, äußerst gering war. Ja.. irgendwie mochten sie beide es ein wenig mit dem Feuer zu spielen. Gerade hatten sie sich abgesprochen, dass sie die Pause getrennt voneinander verbrachten und Kai war dabei ihm einen innigen Abschiedskuss zu geben, als irgendwas neben ihnen erschreckt auf quietschte. Kai stieß ihn so abrupt von sich, dass er schmerzerfüllt auf keuchte, als sein Rücken mit der Wand kollidierte. Sie atmeten beide erleichtert aus, als sie nur Takao im Gang stehen sahen, der offensichtlich nicht wusste, was er sagen sollte. Es war irgendwie niedlich zu sehen, wie rot der Junge war und wie unwohl er sich gerade fühlte.   "Nur die Ruhe, Takao. Alles gut... das machen wir schon ein wenig länger. Und nein, Kai hat nicht versucht mich aufzufressen." Er versuchte die Situation mit ein wenig Humor aufzulockern, aber es gelang ihm nicht so recht. Der junge Japaner stand noch immer wie angewurzelt da. "Alles in Ordnung?", fragte Rei besorgt an Takao gewandt, während Kai sich einfach umwandte und die Flucht ergriff. Typisch. Takao indes schien nur langsam aus seiner Starre zu erwachen. "Ihr.. also...", begann er zu stammeln, was Rei sanft lächeln ließ. "Ja. Wir sind zusammen." Es war wahrlich eine Erlösung, das endlich auszusprechen. "Krass..." Der sonst so temperamentvolle Japaner hielt inne um die Information erst einmal sacken zu lassen. "Und.. wie lange schon?" Etwas verlegen kratzte sich Rei am Hinterkopf. "Uhm... seit drei Monaten?" Takao fielen im ersten Moment fast die Augen aus dem Kopf vor Erstaunen, doch dann fing er sich endlich wieder und lachte herzhaft. "Mann alter, das hättest du mir aber auch mal früher sagen können! Und Ai und ich rätseln schon die ganze Zeit, was mit euch los ist." Manchmal hatte Rei das Gefühl, dass zwischen Takao und Ai was lief, aber das Mädchen neigte eher dazu, auf Takao herab zu sehen, deshalb konnte er sich das nicht so recht vorstellen. "Wow, das ist echt krass, Glückwunsch!"   ~*~   Es hatte eine Weile gedauert, bis Takao sich wirklich an die Situation gewöhnt hatte, aber es war nicht weiter schlimm oder schwer gewesen. Zu Gute kam ihnen wohl auch, dass sie vor anderen niemals offen zeigten, dass sie zusammen waren. Auch nicht vor Takao. Da waren sie beide nicht wirklich die Typen für. Er selbst genoss jede Sekunde, die er mit Kai verbringen konnte, obwohl oder gerade weil, sie sich auch weiterhin nur in der Schule und an Samstagen sahen. Es waren dennoch herrliche sechs Monate gewesen und er hatte jede Minute davon genossen.   Umso schwerer war ihm dann der Abschied gefallen...   ~*~   "Wir ziehen in zwei Wochen um." Er wusste es schon länger, hatte aber nichts gesagt. Er war noch nicht bereit dazu gewesen. Warum er es gerade heute war, konnte er aber auch nicht sagen. Das hier würde ihr Abschied werden, das wusste er. Vielleicht tat er es gerade heute, weil er sowieso kaum noch Zeit haben würde... vielleicht brauchte er aber auch einfach zumindest die Illusion der Möglichkeit, dass er einfach hier bleiben konnte. Kai musterte ihn ausdruckslos, stand ihm gegenüber. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sah er ihm an. Er hatte damit gerechnet, dass sie einen ganz normalen Samstag im Park verbrachten. Mittlerweile war es Juli. Die Prüfungen waren geschrieben, sie hatten Sommerferien. Während Kai nun auf Privatunterricht umgestiegen war, bis die Schule wieder los ging, hatte er die letzten Wochen damit zugebracht, die neue Sprache zu lernen. Mittlerweile war er recht geübt darin, neue Sprachen zu lernen und es fiel ihm jedes Mal einfacher. Wobei er diesmal zusätzlich noch eine neue Schrift hatte lernen müssen. Das war ein wenig nervig gewesen.   "Mein Flug geht am Samstag in zwei Wochen.", informierte er weiter. Er selbst blieb gelassen. Er hatte das schon oft gemacht. Es würde jetzt noch nicht so weh tun, wie in einigen Tagen und dann irgendwann würde der Schmerz abstumpfen und vielleicht sogar ganz verstummen. Irgendwann würde es erträglich werden. "Wie geht es dir?" Er lächelte zu dieser Frage, obwohl ihm gar nicht zum Lächeln zumute war. Es war einfach ein Reflex, etwas, dass er immer tat, wenn der Abschied begann weh zu tun. Um es denen leichter zu machen, die er zurück ließ, versuchte er für sie stark zu sein. Automatisch... aber diesmal war es anders. Er war sich nicht sicher, ob ihn jemals jemand gefragt hatte, wie es ihm mit alldem ging. "Gut.", log er und merkte im gleichen Moment, wie Tränen seine Wangen herab rannen, die er zuvor nicht einmal bemerkt hatte. "Lügner", antwortete Kai sanft, kam auf ihn zu und zog ihn in eine feste Umarmung. In diesem Moment konnte er nicht mehr. Es war, als würde all das Leid, was er bei den vergangenen Abschieden empfunden hatte, über ihm hereinbrechen und sich jetzt entladen. Schluchzend hing er für über eine Stunde in den Armen seines festen Freundes.   Irgendwann hatten sie sich auf den Boden, unter den Baum gesetzt, bei dem sie schon so viele Samstage verbracht hatten. Rei kauerte förmlich, vollkommen fertig, zwischen den Beinen von Kai, lehnte an seiner Brust und versuchte sich von dem heftigen, unerwarteten Gefühlsausbruch zu erholen. Sein Freund indes, strich ihm immer wieder sanft über den Rücken oder das Haar. "Ich mag es, wenn du das tust." "Was?", fragte Rei irritiert: "Wenn ich heule wie ein Baby?" Kai gab ein abfälliges Geräusch von sich: "Unsinn. Natürlich nicht. Aber ich mag es, wenn du ausnahmsweise mal zeigst, was du wirklich empfindest." Rei schloss die Augen und schmunzelte.   "Ich will nicht weg.", murmelte er, nachdem sie wieder eine Weile geschwiegen hatten. "Ich weiß..." "Wir schaffen das, oder? Wir... wir müssen uns deshalb nicht trennen. Du sagst jetzt nicht, dass das sowieso nicht funktioniert und dass wir es gleich bleiben lassen sollten, oder?" "Das habe ich nicht vor, Rei." Das beruhigte ihn ungemein. Sie würden es versuchen. Er wusste, dass es nicht funktionieren würde. Tief in seinem Innern wusste er das, aber er brauchte die Illusion. "Es ist ja nur für ein Jahr, nicht? Dann kann ich selbst entscheiden und hierher zurück kommen und hier studieren." "Ich will nicht, dass du das tust. Triff Entscheidungen nicht danach, ob ich hier bin oder nicht. Ich werde das mit dir auch nicht tun. Ich kann noch nicht sagen, wohin es mich verschlägt, wenn ich fertig mit der Schule bin. Vielleicht gehe ich nach Amerika.. oder zurück nach Russland. Ich weiß es noch nicht und ich sage dir gleich, dass dein Aufenthaltsort meine Entscheidung nicht beeinflussen wird." Das war so typisch, dass er schmunzeln musste, auch wenn es weh tat, was er da zu hören bekam. Aber es war klar. Kai hatte seine eigenen Pläne und wie immer, war er bereit sie gegen jede Widrigkeit auch durchzusetzen. Er würde ihm hinterher ziehen, wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch zusammen waren. Nur ein Jahr mussten sie durchhalten. "Lass uns die Zeit die uns noch bleibt, einfach noch etwas genießen, ja?" Kai gab nur ein Nicken von sich und Rei kuschelte sich noch weiter an seine Brust. Sie beide wussten, dass es nur noch diesen Tag heute geben würde...   ~*~   Tränen schossen ihm in die Augen und er hatte Mühe sie zu unterdrücken. Sie hatten abgesehen von dem kurzen Abschiedsgruß, nicht mehr wirklich miteinander gesprochen. Nur eine Frage war noch gefallen: Wohin zieht ihr?   Als er gerade wieder abdriften wollte, an den Tag vor zwei Wochen, hörte er die Stewardess, die gerade auf den Flur getreten war.   Herzlich willkommen auf dem Flug nach Moskau. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)