Blind Date von May_Be ================================================================================ Kapitel 3: Trautes Heim ----------------------- Du solltest dich von ihm verabschieden. Jetzt bist du meine Frau. Kiras Worte hallten in ihrem Kopf wieder und wieder. Itoe lief Gänsehaut über den Rücken, wenn sie an diesen Moment zurück dachte. Vielleicht war das doch keine so gute Idee, Miros letzten Wunsch erfüllen zu wollen. Ihre Zweifel ließen das schlechte Gewissen aufkeimen. Es war schließlich Miros letzter Wunsch! Sie konnte ihn nicht einfach ignorieren. Dennoch... Es verging kein ganzer Tag, da stand Kira bereits vor ihrer Tür. Das überraschte sie mittlerweile nicht, denn er hatte ihr überaus deutlich zu verstehen gegeben, dass er Miros Wunsch sehr ernst nahm. Ohne viel Smalltalk betrat er ihre kleine Wohnung, die am Randbezirk von Tokio lag, und gab ihr die Anweisung, ihre Sachen zu packen. Itoe tat wie ihr geheißen, denn Widerrede war zwecklos. Sie würde nur ihre Kraft verschwenden. Obwohl sie die Befürchtung hatte, dass sie es bereuen würde, wenn sie ihm jetzt folgte, packte sie brav ihre Sachen in die Kartons, die er mitgebracht hatte. Sie hatte eine wage Vermutung, wohin sie umziehen würde. Als sie ihre Sachen in den Wagen transportiert hatten, fuhren sie los. Während der Fahrt sagte Kira kein einziges Wort, und auch Itoe hatte nicht viel zu erzählen. Die Fahrt schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie dann schließlich vor einem Wolkenkratzer hielten. Itoe sollte nicht überrascht sein, dass er in so einem luxuriösen, mehrstöckigen Gebäude lebte, aber sie war ziemlich überwältigt. Wenn man Geld hatte, konnte man sich so etwas ohne Probleme leisten. Wenn sie dagegen an ihre kleine Wohnung dachte, schämte sie sich beinahe dafür. Kira nahm ihren Koffer mit den wenigen Habseligkeiten und betrat mit ihr gemeinsam das Gebäude. Sie wurden von dem Portier höflich begrüßt, bevor sie zum Fahrstuhl gingen. Kira drückte den Knopf für die dreizehnte Etage. So hoch, dachte Itoe bei sich. Langsam wurde sie ganz aufgeregt. Wie Kiras Wohnung wohl aussah? Bestimmt war die Einrichtung genauso kühl wie sein Besitzer. In der dreizehnten Etage angekommen, führte Kira sie zu der Wohnung, schloss auf und ließ sie eintreten. Erst dann ergriff er das Wort. „Das ist Miros Wohnung. Ich dachte, Miro würde wollen, dass du hier wohnst.“ Itoe hätte damit nun gar nicht gerechnet. Hier, in dieser idyllischen, stilvollen Wohnung, hatte ihr Miro gelebt. Es fühlte sich so an, als würde sie in seine Welt eintauchen. Hier wollte sie bleiben und nie wieder zurückkehren. „Schau dich um. Das gehört nun alles dir. Hier gibt es sogar ein richtiges Bett.“ Itoe trat durch den langen Flur, wo an den Wänden liebevoll ausgesuchte Bilder hingen, direkt in das geräumige Wohnzimmer. An der einen Wand stand ein riesiges Regal mit einer Schallplattensammlung, das ihr sofort ins Auge fiel. Ein großes hellgraues Sofa stand mitten im Raum, sodass man einen guten Blick auf den Fernseher hatte. Aber vor allem begeisterten sie die großen, langen Fenster, die fast bis zum Boden reichten und massenhaft Licht hineinließen. Itoe ließ es sich nicht nehmen, ans Fenster zu treten und einen Blick nach draußen zu riskieren. Die ganze Stadt lag zu ihren Füßen. Dieser gewaltige Anblick überwältigte sie. „Falls du was brauchst, ich wohne genau gegenüber“, meinte Kira, nachdem er ihr ein wenig Zeit gelassen hatte, sich umzuschauen. Itoe merkte gar nicht, wie er sie beobachtete. Sie nickte nur automatisch. „Na dann... ich lass dich mal allein.“ Itoe wandte sich zu ihm um, als er bereits gehen wollte. „Kira?“ Es war ungewohnt, diesen Namen auszusprechen. Konnte sich etwas so fremd und gleichzeitig so vertraut anfühlen? Sie wartete, bis er stehen blieb und sich zu ihr umwandte. „Danke.“ Er nickte nur knapp und verließ die Wohnung.   Kiras erster Gedanke war, sie zu sich zu holen, aber das erschien ihm nach langem Überlegen nicht richtig. Er wollte, dass sie sich wohlfühlte und vielleicht würde sie irgendwann von selbst zu ihm ziehen wollen. Nein. Dieser Gedanke war dann doch zu absurd. Sie würde niemals mit ihm zusammenwohnen wollen. Er glaubte doch nicht ernsthaft, dass er seinen Bruder ersetzen konnte? Und wollte er das überhaupt? Nein, ganz sicher nicht. Er gab Itoe nur die Möglichkeit, Miro ein Stückchen näher zu sein. Vielleicht war aber genau das der Fehler, denn so würde sie sich niemals von ihm verabschieden können. Kira betrat seine Wohnung und hing seine Lederjacke auf. Es gab noch so viel zu klären. Aber er wollte sie mit seinen Forderungen nicht überfordern, deswegen zog er sich erst einmal zurück. Sein Bruder war gegangen und hinterließ ihm ein schönes Geschenk. Nur was sollte er damit anfangen, ohne es kaputt zu machen? Kiras Charakter war nicht grade einfach und manch einer bezeichnete ihn als einen kaltherzigen Bastard. Und wenn schon. Er konnte auch anders sein, aber das musste man sich erst verdienen. Was gar nicht so einfach war, wie er selbst wusste. Denn Kira ließ niemanden an sich heran. Wozu auch? Zu viele Gefühle blendeten den Verstand. Kira hatte sich in seinen bequemen Sessel niedergelassen und sah nachdenklich aus dem riesigen Fenster. Seine Wohnung war von der Raumaufteilung mit Miros identisch nur spiegelverkehrt. Vielleicht würde er Miros, nein, seine Frau, irgendwann in sein Herz lassen. Doch er bezweifelte stark, dass sie es wollte – und dass er es wollte. Sie liebte Miro und würde Miro immer lieben, egal, was auf dem Papier stand, egal, was Miros letzter Wunsch war. Sie war rechtlich gesehen Kiras Frau, aber ihr Herz würde ihm niemals gehören. Kira schüttelte den Kopf. Warum machte er sich überhaupt solche Gedanken? Er wollte dieses Mädchen doch gar nicht haben und ihre Liebe brauchte er auch nicht. Außerdem konnte sein Bruder doch nicht einfach von ihnen verlangen, dass sie eine Ehe führten. Das war unmöglich. Aber tragische Umstände haben die beiden zusammen geführt und nun mussten sie das beste daraus machen.   Itoe hatte sich schneller eingelebt als gedacht. Sie war einfach glücklich hier sein zu dürfen, Miros Welt ein bisschen besser kennenzulernen. Sie hatte gedacht, alles über ihn zu wissen, aber sie erfuhr durch diese Wohnung so viel mehr. Zum Beispiel dass er viele Klassiker der russischen und japanischen Literatur gelesen hatte, dass er eine Ansammlung von Jazz-Platten hatte, dass er ein Kunstliebhaber war und dass er sogar Gedichte schrieb. Alles in allem war er ein Romantiker. Diese Wohnung war ein Schatz und jeden Tag gab es etwas neues zu entdecken. Fast hätte Itoe vergessen, dass es noch Kira gab und ihre Pflicht, die sie erfüllen musste. Seit zwei Tagen hatte er nun nichts mehr von sich hören lassen. Sie wusste nicht, wo er war oder was er tat. Sie wusste gar nichts von ihm und er genauso wenig von ihr. Itoe beschloss das zu ändern. Sie backte zunächst ein paar Kekse und klingelte dann an seine Tür. Sie wartete eine Weile, aber niemand öffnete ihr. Womöglich war er nicht zu Hause. Itoe sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach 9 Uhr abends. Könnte doch sein, dass er ausgegangen war. Doch als sie bereit war zu gehen, wurde die Tür aufgeschlossen. Kira stand halb nackt vor ihr, nur mit einem Handtuch um die Hüfte. Er fuhr sich durchs nasse Haar und blickte überrascht auf sie herab. Itoe reichte ihm die Kekse. „Für dich“, meinte sie. „Ich dachte, wir könnten bisschen reden.“ Sie fand selbst, dass sie etwas unsicher klang. Vielleicht lag es auch an seiner Erscheinung? Kira nahm ihr die Schüssel aus der Hand. „Grade ist es wirklich unpassend. Ich wollte bald los“, erwiderte er, schien es sich dann jedoch anders zu überlegen und fügte schnell hinzu, „du kannst mitkommen, wenn du willst. Dann reden wir.“ „Wohin willst du denn?“ Itoe sah in Kiras unergründliches Gesicht, auf der Suche nach einer Antwort. „Das wirst du schon sehen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)