Im Zeichen des Rukh von Erenya ================================================================================ Kapitel 24: Orientierung ------------------------ Während Varius sich schwer damit tat, ein Lachen zu verbergen, spürte ich, wie Hinata mich entsetzt ansah, als mein Blick todernst auf Hayato ruhte. Ich hatte es ernst damit gemeint, dass ich meinen Alkohol gerne wieder hätte. „Ich garantiere ich zündel nicht und teile ihn mit niemanden, abgesehen von Varius.“ „Ich bitte darum, vor allem nicht mit... dem Hohepriester.“ „Judar? Kein Problem.“ „Erenya, woher kennst du den Namen des ehrenwerten Hohepriesters?“ „Huh? Ist das echt kein Allgemeinwissen? Oh man... Wie dem auch sei, ich teile nur mit Varius.“ Ich verfluchte innerlich, dass es für mich im Prinzip zum Allgemeinwissen gehörte, die Namen diverser Persönlichkeiten zu kennen. Dass ich mich damit irrte, hätte man mir mal früher sagen können, bevor ich anfing, klug zu sein. Im dumm stellen war ich immerhin richtig gut. „Ich werde sehen, was sich tun lässt. Wir stehen in eurer Schuld. Es ist eine Schande, dass Piraten einen Markt wie diesen auf dem Territorium des Reiches abhalten konnten. Aus diesem Grund werden wir in Nantou vorerst für eure Versorgung und die der übrigen Befreiten aufkommen. Ihr seid in Kou willkommen. Es steht euch frei, euch in Nantou niederzulassen oder der Armee anzuschließen.“ Meine Nase rümpfte sich unwillkürlich bei dem Vorschlag Hayatos. Es war ja schön zu wissen, dass ich mir in Nantou erst einmal keine Sorgen um ein Dach über den Kopf machen musste, allerdings war der Armee beizutreten nicht gerade eines der Dinge, die ich wollte. Wäre meine Entschlossenheit für die Reise nach Sindria noch da, hätte ich wohl ohne zu zögern abgelehnt, aber diese Entschlossenheit war innerhalb von drei Monate gebröckelt wie der Putz von alten Hauswänden. Anders als Hinata und Varius hatte ich eben kein Ziel. Varius würde sicher nach Cassius und den Anderen suchen und Hinata wollte sicher irgendwie in Erfahrung bringen, ob Chen noch lebte. Und ich... stand genau da, wo ich bei Ankunft in dieser Welt gestanden hatte. Mittellos und innerlich verzweifelt. „Ihr dürft gehen. Überlegt euch gut, was ihr tut.“ Gut überlegen, das würde ich definitiv. Was wollte ich tun? Was wollte ich nicht tun? Wohin sollte mein Weg mich führen? Das waren alles Fragen über die ich unbedingt nachdenken musste. „Wir danken Euch, für eure Hilfe, Ii-sama“, erklärte Hinata, bevor sie sich wieder erhob, was ich ihr gleichtat, und sie das Zimmer verließ. Ich spürte, wie Varius sich hinter mir einreihte, so als hätten beide einen geheimen Plan gefasst, den sie, kaum dass die Tür hinter Varius geschlossen wurde, verwirklichten, denn ich spürte plötzlich Varius' Hände, behutsam, auf meinen Schultern. Er machte mir dennoch deutlich, dass eine Flucht unmöglich war. „Okay, Erenya, Zeit endlich alles zu sagen! Komm mit.“ Mir rutschte bei diesen Worten das Herz in die Hose. Hinatas Worte klangen so ernst und als ich aufsah konnte ich denselben Ernst in Varius' Blick erkennen. Irgendetwas schien ich gesagt zu haben, abgesehen davon, dass ich Judars Namen wusste oder was für ein Metallgefäß Kouha besaß, dass die beiden misstrauisch gemacht hatte. Wenn dem so war, hatte ich höchstwahrscheinlich auch das Misstrauen des Generals geweckt. Verdammt. Weder Varius noch Hinata ließen mir eine Wahl und schoben mich zu einer Stelle, an der sie sich mit mir zusammen unbeobachtet fühlten. Weglaufen war sinnlos, ich hatte wohl wirklich keinerlei Optionen mehr zu fliehen. „Also schön, Erenya. Woher weißt du, dass Ren Kouha-sama, ein Metallgefäß hat? Und nein, komm mir nicht mit Allgemeinwissen! Denn selbst mir ist neu, dass er eines hat und du konntest einwandfrei klassifizieren, dass es eine Waffe ist. Wie ist das möglich?“ Ich seufzte. Warum nur hatte ich mich verplappert? Bisher hatte es doch so gut geklappt, meine Freundschaft, wenn man das wirklich so bezeichnen konnte, zu Kouha zu verheimlichen. Doch nun... Musste ich die Karten offen legen. „Erinnerst du dich, an die Geschichte mit meinem Freund aus Kou? Der, dem ich in Balbadd begegnet bin?“ Eigentlich hätte das schon alles sagen müssen, doch Hinata sah mich zweifelnd an. Vielleicht glaubte sie, dass dieser Freund mir alles erzählt hatte. „Ja, der dich bat, ihn zu seinem Hotel zu begleiten.“ Ich sah etwas verlegen weg. Es war schon schwierig genug sich selbst bewusst zu machen, dass man sich gut mit Kouha verstand. Eigentlich war es ein Ding der Unmöglichkeit und ich verstand bis heute nicht, warum er mich angesprochen hatte, aber im Endeffekt war ich froh darüber. „Der Name meines Freundes ist... Kouha Ren.“ Hinatas schien so überrascht, dass sie erst einmal nach Luft schnappte. Fangirl eben. Das machte dieses klärende Gespräch nicht weniger unangenehm. Im Gegenteil. „Du und Ren Kouha-sama... Wieso?“ „Gute Frage. Es kam eines zum Anderen. Wir hatten an dem Abend hohen Besuch im Freudenhaus. Ich habe eine Geschichte erzählt und danach wie gewohnt in der Küche ausgeholfen. Als ich nach Hause wollte, und das habe ich dir bereits gesagt, sprach mich Kouha an. Er bat mich, ihn zu begleiten und eigentlich wollte ich ja nicht. Ich meine... ich bin nicht so ein Mädchen. Ich habe ihm ja angeboten, dass ich eines der anderen Mädchen frage, aber er bestand darauf von mir begleitet zu werden. Naja und... da ich ihm letzten Endes nichts abschlagen konnte... bin ich mit ihm gegangen. Ich hab ihm noch ein paar Geschichten erzählt, er hat mir ein Lied vorgesungen-“ „Ren Kouha-sama hat für dich gesungen?“ Hinata war definitiv ein Fangirl, das gerade in Schnappatmung verfiel. Scheinbar unterschätzte ich das Glück, das ich hatte, Kouha so nahe gewesen sein zu dürfen. „Richtig. Ein tragisches Lied über Tauben und einen Bratenspieß. Er hat eine echt schöne Stimme. So klar und sanft. Aber doch so furchtlos. Sie unterstreicht seinen Charakter.“ „Du hast Ren Kouha-sama singen hören. Wie ich dich beneide.“ „Hinata, hol Luft. Ich würde gerne wissen, wie diese Geschichte weitergeht“, erklärte Varius, der mit einem Schmunzeln zu Hinata sah. „Richtig. Der Kampf am Hotel“, antwortete sie und schien nun gewillt zu sein, von jeder Bewegung Kouhas zu erfahren. „Genau. Wir kamen am Hotel an und bemerkten den Nebel, der unheimlich war. Da ich im Freudenhaus Gerüchte über den Nebel gehört hatte, versuchte ich Kouha irgendwie da rauszuhalten. Allerdings schien er es nicht gerne zu sehen, wenn Fremde seinen Abend ruinierten. Da ich ihn schlecht bevormunden konnte, gab ich ihm meinen Dolch, damit er sich wenigstens verteidigen konnte.“ „Ren Kouha-sama hat deinen Dolch gehalten. Warum hast du das nicht eher gesagt? Wobei... Erenya, gib mir deine Hand!“ „Hinata, ehrlich das ist gruselig. Und vor allem klingt das bei dir so zweideutig.“ Ich errötete und tat alles, um meine Hand von Hinata fernzuhalten. Sie war ein schlimmeres Fangirl als ich. Selbst ich wusch mir die Hände, nachdem ich die meines Lieblingsmusikers gehalten hatte. „Jedenfalls, während des Kampfes, kam ich auf die glorreiche Idee, zwei von Kouhas Leuten helfen zu wollen und wurde in einer Illusion gefangen. Erst durch einen von Kouhas Kriegern konnte ich mich daraus befreien, da war der Kampf bereits in vollem Gange. Und Kouha schwang sein Nyoi Rentou, sein Metallgefäß. Es war unglaublich. Er konnte die Größe seiner Waffe verändern und konnte so fast alleine gegen die Nebelbande ankommen.“ Ich weiß nicht, ob ich vielleicht zu sehr von Kouha schwärmte. Ich meine, er war unglaublich. Und auch noch so stark. Wenn auch ein kleines bisschen psychopathisch. Als Freundin konnte ich gut darüber hinwegsehen. „Und wie kam es dann zu der Verletzung an deiner linken Schulter?“ Eigentlich war das eine der Fragen, die ich gefürchtet hatte, aber in der Tat, sie musste wohl gestellt werden, denn noch schien nichts danach zu schreien, dass ich es mir mit Kassim oder sonst wem verscherzt hatte. „Ganz blöde Sache. Der Anführer der Nebelbande, Kassim, war kurz davor von Kouha niedergerungen zu werden. Mit einem Schlag. Da ich allerdings noch eine Lebensschuld bei Kassim abzuzahlen hatte, warf ich mich dazwischen. Ich hatte Glück, dass Kouha rechtzeitig seine Waffe schrumpfen ließ, sonst wäre der linke Arm, und vielleicht noch mehr von mir, ab.“ Ich hörte ein Klatschen, welches von Hinata ausging. Ich wusste, was sie dachte, und ehrlich, ich hätte doch dasselbe gedacht. „Wie kannst du...? Och, Kleines... Man wirft sich nicht zwischen ein Königsgefäß und einem wahnsinnigen Rebellen. Hat man dir das in deiner Heimat nicht beigebracht?“ Varius sprach aus, was Hinata dachte. Alles andere hätte mich ja gewundert. „Es ging ja gut aus. Ich meine, letzten Endes trat die Nebelbande den Rückzug an. Kouhas Leute haben überlebt, Kouha hat überlebt und wie du siehst, ich auch. Das ist doch alles was man wissen muss.“ „Moment... Du hast danach ja im selben Hotel geschlafen, etwa auch im...“ „HINATA! Verdammt, nein! Das wäre doch echt zu viel gewesen.“ „Aber du hast ihn zum Hotel begleitet...“ „Hinata, ich sagte doch, ich bin nicht so ein Mädchen. Ich wäre danach gleich nach Hause gegangen.“ „Abgeneigt wärst du aber nicht gewesen, richtig?“ Einen kurzen Moment fragte ich mich, was für ein Film hier gerade lief. Und wieso ich so rot wurde. Aber gut, verlegen wurde ich ja schnell. „Wir reden hier von Kouha. Er ist ein Prinz und ich nur eine Geschichtenerzählerin, außerdem hatte ich ihn gerade kennengelernt und sicher, er ist charmant und niedlich und es fällt mir schwer ihm was abzuschlagen, aber...“ „Du wirst rot.“ „Varius, nicht du auch noch... könnten wir bitte wieder zum Thema kommen?“ Ich versuchte meine Verlegenheit so gut es ging zu verbergen. Ich meine, was malten die Beiden sich hier aus? Dass ich Gefühle für Kouha entwickelt hatte. Gut, freundschaftliche Gefühle ganz klar. Und ich bewunderte und respektierte ihn und ich mochte ihn ja auch, aber mehr... Ich war doch viel älter als Kouha, gefühlte hundert Jahre. Warum musste das alles plötzlich so kompliziert werden? „Ich habe in einem anderen Zimmer übernachtet. Habe am nächsten Morgen mit Kouhas Gefolge gegessen und danach Kouha getroffen und ihm von meiner Herkunft erzählt. Er erklärte mir, dass die Person, die mich in dieses Land gebracht hat, vielleicht in Verbindung zu anderen Leuten in Kou stehen könnte. Er hat mich damit indirekt eingeladen, ihn nach Kou zurückzubegleiten, aber wie ihr sicher wisst, habe ich mich dagegen entschieden. Das ist im Prinzip die ganze Geschichte und auch der Grund, warum ich weiß, was für ein Metallgefäß Kouha hat.“ „Na schön, dass ist dann geklärt, auch wenn ich dich wirklich dafür beneide. Du warst Ren Kouha-sama so nahe und er bot dir an mit ihm zu reisen... Warum hast du abgelehnt?“ „Ich bin nicht der Mensch, der seinen Freunden gerne zur Last fällt. Und so gesehen hatte Kouha zu diesem Zeitpunkt schon mehr als genug für mich getan. Mehr konnte ich da nicht verlangen.“ Beide seufzten im Chor. Augenscheinlich hatte ich wieder etwas Dummes getan, aus deren Sicht. Aber ich war mir sicher, dass es nicht falsch war, Freundschaftsdienste nicht überzustrapazieren zu wollen. „Also gut... Du bleibst du, selbst wenn ein Prinz dich bei sich haben will. Oh man, dass nächste Mal wenn dich eine Obrigkeit indirekt fragt, sag JA!“ Liebevoll strich mir Varius über den Kopf. Wahrscheinlich lief das wirklich so in dieser Welt, aber ich würde mich wohl niemals an so etwas gewöhnen können. „Aber noch eine Frage, wer ist dieser Muu Alexius?“ Bei Hinatas Frage, wich mir so ziemlich alle Farbe aus dem Gesicht. War das hier echt kein Allgemeinwissen? Hatte ich mich noch schlimmer verplappert, als nur mit der Sache mit Kouha? „Muu Alexius. Der Bezwinger von Barbatos und Anführer des Fanalis Corp. Kennt man ihn nicht?“ Fragend sah ich zu Varius auf, der nur grinste. „Nicht überall. Aber ja, Muu Alexius ist der Bezwinger von Barbatos. Und der Anführer des Fanalis Corps. Wirklich interessant, dass du das weißt, Kleines. Vor allem was sein Metallgefäß ist.“ „Uhm... In meiner Heimat...“, fing ich an, hoffend, dass diese Ausrede noch etwas ziehen würde. Doch anhand von Varius und Hinatas Gesichtern konnte ich sehen, dass diese sie nicht mehr befriedigte oder beruhigte. „Deine Heimat, die keiner erreichen kann... Woher wisst ihr von den Fanalis? Oder von diesem Muu Alexius? Wer hat euch das erzählt? Du sagst, es gibt keine Magie bei euch und doch, kannst du zaubern... Es gibt einfach zu viele Dinge, die diese unerreichbare Heimat unglaubwürdig machen. Selbst wenn es ein weit entferntes Land ist, die Regeln sollten immer noch dieselben sein, wie für alle anderen Menschen dieser Welt.“ Ich seufzte. Wahrscheinlich hatte ich mich zu sehr in Ausreden verstrickt. Mein Fandomwissen war mir im Endeffekt zum Verhängnis geworden. Und noch mehr Lügen konnte ich nicht erzählen. Vielleicht, war es auch gut so. Ich holte tief Luft und überlegte, was ich sagen sollte, doch letzten Endes, entschied ich mich für die Wahrheit. „Es ist halb wahr. Meine Heimat kann keiner erreichen und ich weiß daher nicht, wie ich hier her kam. Aber in meiner Heimat, kennt man diese Welt. Die Wahrheit ist... Ich komme aus einer anderen Welt.“   **~~**   Nachdem ich Hinata und Varius fast die ganze Wahrheit über mich erzählt hatte, war die Zeit des Abendessens gekommen. Wirklichen Hunger hatte ich nun nicht mehr, da die Stimmung zwischen Hinata, Varius und mir doch eher bedrückter wurde. Kein Wunder, die Bombe, die ich hatte platzen lassen, lag fernab dessen, was sie vielleicht in Wahrheit erwartet hatten. Dennoch, sie sagten nichts, als ich mich neben sie setzte und ein paar Bissen von dem Abendessen nahm. Es war keine gute Stimmung, weswegen ich mich schnell von den Anderen trennte, um zurück an Deck zu gehen. Es gab da Dinge, über die ich mir erst einmal klar werden musste und dazu brauchte ich ein wenig Ruhe. Erneut. Es fühlte sich an, als wollte ich vor Hinata und Varius fliehen. Vielleicht war das auch gerade der Fall. An Deck achtete ich darauf, dass ich wirklich ungestört war. Erneut sollte der Magi mich nicht mit Quallen bewerfen, oder mit Fisch. Es ging darum, dass ich kurz Zeit bekam, über Hayatos Angebot nachzudenken. Ich wusste, dass es für mich auf alle Fälle nicht in Frage kam, der Armee beizutreten. Noch dazu war ich nicht für so etwas gemacht. So etwas sollte ein General wie Hayato wissen. Ich ging daher davon aus, dass dieses Angebot eher für Varius oder Hinata galt. Allerdings wollte ich auch nicht in Nantou bleiben. Etwas in mir sagte mir mit Gewissheit, dass dies nicht das Ziel war. Und diese Gewissheit, hinterließ ein reißendes Loch der Zweifel. Noch vor drei Monaten hatte ich geglaubt, dass Sindria mein Ziel sein sollte. Mittlerweile bröckelte selbst diese Entschlossenheit. Nicht, das ich nicht schon vorher hin und wieder gezweifelt hätte. Aber selbst da hatte ich noch genug Entschlossenheit aufbringen können, dass es sich richtig anfühlte. Selbst als ich geglaubt hatte Spartos zu sehen, war ich mir sicher gewesen, doch nun, nach drei Monaten, war da nichts mehr. Es fühlte sich an, als wäre ich wieder an der Stelle, an der ich zu Beginn in Balbadd gestanden hatte. „Mann, Ugo... warum konntest du mir nicht wenigstens sagen, was ich hier soll? Ich wollte doch nur nach Hause.“ Seufzend rieb ich mir den Kopf. Die Frage, was ich hier sollte, war berechtigt. Oder warum ich überhaupt bei Ugo gelandet war. Während der Reise mit den Piraten waren da diverse Erinnerungen zurückgekommen. Ugo, der Ort, an dem ich mich befunden hatte... Von dort aus hatte Aladdins Reise begonnen. Irgendetwas nagte an mir, dass ich dort gewesen war. An dem Ort, der wohl eigentlich nur für Magis bestimmt war? So sicher war ich mir da nicht. In einigen Punkten war ich wirklich nicht Fandomsicher. Ebenso, was das schwarze Rukh anging. Ich fühlte mich nicht verdorben oder korrumpiert oder wie auch immer man „depravity“ übersetzen wollte. Ich hasste mein Schicksal jetzt nicht mehr als gewöhnlich und war auch nicht gewillt, diese Welt komplett ins Chaos zu stürzen. Es machte daher keinen Sinn, auch wenn der Fanfiction-Autor in mir immer noch an der Theorie hing, dass die schwarzen Rukh ein Zeichen dafür war, dass ich die Macht hatte, das Schicksal zu ändern. Sicher, mit meinem Fandomwissen hätte ich das gekonnt. Allerdings... „Es hätte doch jeder Andere sein können. Vielleicht wäre jemand ohne Fandomwissen sogar besser gewesen.“ Das war der einzige Entschluss, den ich noch festhalten konnte. Wer auch immer mich hierher geschickt hatte, oder eher zu Ugo, hatte sich bei mir geirrt. Ich war nicht in der Lage mehr Gutes zu tun und ich würde mich davor hüten, diverse Schicksale zu verhindern. Allerdings, wenn das so weiter ging, zweifelte ich daran, dass ich es nicht schon getan hatte. Viele der Menschen, die mir begegnet waren, waren mir vollkommen Fandomfremd. Es hatte sie so gesehen nie gegeben und doch war ich nun bei ihnen. Vielleicht hatte ich schon ein Leben gerettet, dass ein anderes, Wichtiges schützen würde, obwohl es vergehen musste. „Verdammter Schmetterlingseffekt.“ Es hätte mir wirklich sehr geholfen, wenn ich ein Zeichen erhalten hätte, was ich tun sollte, was man von mir erwartete, oder was Ugo sich dabei gedacht hatte. Nur ein kleiner Hinweis hätte mir vielleicht geholfen, nun zu entscheiden, ob Sindria immer noch der nächste Schritt war oder ob ich nicht doch einen anderen Weg einschlagen sollte. Es war zum Mäuse melken. Ich wusste zwar, was ich wahrscheinlich nicht sollte, oder was ich selbst nicht wollte, ich wusste aber nicht, was meine Bestimmung war. „Als wäre ich wirklich ein Mensch dieser Welt...“, dachte ich bitter. Denn abgesehen von den Fandomevents, wusste ich, wie die Menschen dieser Welt, nicht, was mich erwartete. Insofern blieb sich diese Welt wenigstens treu und auch noch verdammt gerecht. „Geschichtenerzählerin?“ Ich zuckte zusammen, als ich die Stimme eines Mannes hinter mir hörte. Dennoch drehte ich mich um und sah in das schwach beleuchtete Gesicht eines Kriegers, der mir zwei Flaschen entgegen streckte, die mir sehr vertraut waren. Der Alkohol. „Ii-sama bittet darum, dass Sie diskret damit umgehen.“ Was der Krieger meinte war: 'Trink das bloß nicht vor den Augen der Mannschaft'. Wie gut, dass ich das nicht vor hatte. „Werde ich. Danke.“ Damit niemand sah, was der Krieger mir überreicht hatte, ließ ich die Flaschen in meiner Tasche verschwinden, die ja nun mehr als genug Platz bot, so ganz ohne die Ölflaschen. Perfekt also. Wobei mir als Inhalt Papier und Feder mit etwas Tinte lieber gewesen wäre. In der Dunkelheit hätte ich allerdings nichts schreiben können. Ich wartete, bis der Krieger weg war und musste schon in mich hinein schmunzeln. „Nicht ganz das Zeichen, was ich erwartet habe, aber okay, ich gehe zu Varius und trink mit ihm einen. Das hat er sich verdient.“ Dieser Gedanke war wirklich lächerlich, aber man musste die Zeichen nehmen, wie sie kamen. Und gerade rieten sie mir, mich volllaufen zu lassen, auch wenn diese zwei Flaschen alkoholischer Flüssigkeit sicher nicht reichen würden. Außer, dieser Körper war noch weniger trinkfest, als der aus meiner Welt. Und der konnte immerhin eine ganze Flasche Sarotti Schokolikör kippen, ohne dass ich unfähig war ordentliche Sätze zu bilden.   Es hatte nicht lange gedauert, bis ich Varius gefunden hatte, allerdings war ich nicht sofort zu ihm gegangen und hatte mich versteckt, da er in ein Gespräch mit Hinata verwickelt war. Eines, das zu der interessanten Sorte anzugehören schien, weswegen ich nicht anders konnte, als zu lauschen. „Das erklärt einiges, auch wenn es schwer zu verdauen ist.“ „Ich konnte mir ja schon schwer vorstellen, wie es sein muss, in einem fremden Land fernab der Heimat zu sein, dann aber in einer anderen Welt...“ „Du glaubst ihr, Hinata?“ „Du ihr doch auch. Es klingt unglaubwürdig sicher, aber für sie war Magie sicher auch so ein unglaubwürdiges Konzept. Die eigentliche Frage ist nun aber, was machen wir jetzt? Ich würde gerne eine Zeit lang bei Ii-sama bleiben. Es ist die Chance einer Legende nahe zu sein.“ Ich hörte ein Seufzen von Varius. Eines, das mir aus der Seele sprach, denn Hinatas Fangirltum konnte man schon fast in die Kategorie Fanatismus einteilen. Dennoch, es machte sie sympathisch und wenn Chen sie liebte, konnte es doch nicht so schlimm sein. „Ich dachte, du willst nach deinem Herren suchen.“ „Wer weiß wo der ist. Er geht, wohin der Wind ihn führt. In der Armee habe ich größere Chancen ihn zu finden, immerhin hat er gute Beziehung zu ihnen.“ „Richtig, du hattest eine militärische Ausbildung und dein Herr hat dich und Chen nach Abschluss sofort eingestellt. Chen hat uns das erzählt. Du solltest dich da ganz gut einfügen können.“ Hinata nickte, verschränkte aber die Arme und sah ernst zu Varius. „Damit bleibst nur noch du. Was wirst du tun? Ich meine, drei Monate sind vergangen. Wenn du die Route von Cassius noch weißt, kannst du sicher Ii-sama oder die Anderen fragen, ob sie dir auf den Weg zurück helfen können.“ Varius schwieg. Ich sah, wie sein Kopf sich gen Boden neigte. Er schien mit sich zu ringen, ich fragte mich nur, warum. Es war doch nur logisch, dass er seine Freunde suchen würde. Wahrscheinlich hätte ich nicht anders reagiert. „Ich weiß nicht, ob ich so einfach gehen kann.“ Hinata dachte kurz nach, schien aber schnell zu erkennen, was er meinte. „Verstehe. Du machst dir Sorgen. Vor allem jetzt, nachdem du die Wahrheit erfahren hast. Du solltest mit ihr darüber reden. Auch wenn sie dich wahrscheinlich vor ihre eigenen Wünsche stellen wird und sagen wird: 'Geh, Varius, ich komme schon irgendwie alleine zurecht.'“ Ich blinzelte. Versuchte Hinata mich gerade nachzuäffen? Sehr schlecht. Diese gekünstelte hohe Stimme war unmöglich meine. Oder doch? „Mir würde es zumindest besser gehen, wenn ich weiß, dass sie in guten Händen ist. Das jemand bei ihr ist, der ihr helfen und ihr das Maß an Sicherheit bieten kann, das sie im Moment braucht. Es ist... uhm... kompliziert. Wie soll ich das sagen... Sie ist wie meine kleine Schwester. Zwar älter, aber in Sachen Naivität und Gutmütigkeit ebenbürtig. Sie geht einfach so mit Fremden mit, obwohl sie wissen sollte, dass es für Mädchen aus dem Freudenhaus nicht gut ist... Sie wirft sich zwischen ein Königsgefäß und einem Kriminellen, sie gibt Informationen kostenlos an Reisende raus. Sie macht sich kaputt, wenn sie weiter in Konflikte gerät, die sie dazu zwingen, Dinge zu tun, an denen sie zerbricht. Ich würde es begrüßen, wenn sie ihre Reise nach Sindria fortsetzen würde, oder sich hier in Nantou niederlässt. Wo ist mir eigentlich egal, solange ich Gewissheit habe, dass es ihr gut geht, da wo sie gerade ist.“ Nachdem, was Varius erzählte, hielt selbst ich es für besser, wenn ich mich irgendwo niederließ. Ich konnte es aber nicht. „Du weißt, dass Verweilen für sie keine Lösung sein wird. Auch wenn ich es niedlich finde, dass du wie ein großer Bruder reagierst.“ Hinata kicherte, wurde aber schnell wieder ernst. „Sie gehört nicht in unsere Welt. Dass sie solange durchgehalten hat, verdankt sie wahrscheinlich Menschen wie dir, allerdings wird das nicht ewig halten außer...“ „Außer?“ „Außer sie kann alles hinter sich lassen. Familie, Freunde, Existenz, Erinnerungen. Wenn sie das alles hinter sich lassen kann, wäre sie wahrscheinlich in der Lage, sich hier bei uns einzuleben. Überleg doch mal. Sie könnte als Geschichtenerzählerin durch die Welt reisen. Selbst die Piraten haben ihre Geschichten geliebt. Sie kann außerdem schreiben. Stell dir vor, sie würde ihre eigenen Geschichten schreiben und erzählen. Damit könnte sie wahrscheinlich selbst den Abenteuern von Sinbad bedrohlich werden.“ Ich verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Was Hinata sich da ausmalte, klang so gar nicht nach mir. Auch wenn ich gestehen musste, dass dieser Plan, hier eine schriftstellerische Karriere zu beginnen wahrscheinlich greifbarer war als in meiner eigenen Welt. Allerdings bezweifelte ich, dass sie so gut gelesen wurden wie Sinbads Abenteuer. Magical Girls hatten eben schlechte Karten gegen einen feuerspeienden Ja'far. Dennoch, es war niedlich zu hören und irgendwie schön zu wissen, was sie von meinen Fähigkeiten als Geschichtenerzählerin hielt. „Vielleicht, kannst du sie überzeugen hier zu bleiben. Sich anzusiedeln, oder zu reisen. Dann könntet ihr gemeinsam nach Cassius und den Anderen suchen. Du könntest sie nach Reim mitnehmen, ihr deine Familie und deine Schwester vorstellen. Cassius Vater kann ihr vielleicht auch helfen. Alles, was sie braucht, ist der Schubs in die richtige Richtung.“ Varius seufzte. Er schien wirklich mit diesem Gedanken zu spielen, oder zumindest abzuwägen, ob es möglich war. Ich fühlte mich verraten, auch wenn ich wusste, dass Hinata es nur gut meinte. „Ich werde darüber nachdenken. Danke, Hinata.“ „Nicht dafür. Wir werden ihr helfen, irgendwie. Wie dem auch sei, ich geh schlafen. Du solltest das auch tun.“ Hinata gab Varius einen sanften Klaps gegen die linke Schulter, bevor sie sich abwandte und in meine Richtung kam. Eilig drückte ich mich gegen mein Versteck, hoffend, dass sie mich nicht entdeckte. Und sie tat es nicht. „Wird schwer dich zu überzeugen, wenn du alles gehört hast, oder Kleines?“ Es hätte mir klar sein müssen, dass Varius mich bemerkt hatte. Seinem Fanalis-Gehör entging eben nichts. „Könnte schwer werden, ja. Du kannst es aber gerne versuchen. Wie wäre es, wenn wir dazu etwas trinken, ein wenig reden und... naja... einfach den Abend ausklingen lassen?“ Während ich sprach, zog ich die beiden Flaschen mit dem Alkohol heraus und reichte Varius eine, der mir ein warmes Lächeln schenkte. Er setzte sich auch sogleich auf den Boden und deutete mir an, es ihm gleich zu tun. Ein melancholisches Gefühl machte sich in mir breit, als ich mich neben ihn setzte. Ich erinnerte mich an das erste Gespräch, welches ich mit Varius geführt hatte, damals am Abend am Lagerfeuer. Es schien sich nichts zwischen uns verändert zu haben, abgesehen davon, dass ich nun mit Gewissheit wusste, dass er mich als kleine Schwester sah. „Du verträgst das?“, fragte er plötzlich, als ich meine Flasche öffnete und daran roch. Sake. Wahrscheinlich hatte er bemerkt, wie ich mein Gesicht verzogen hatte, denn mit Sake verband ich keine leckeren Erinnerungen. Im Gegenteil. Aber, was besseres hatte ich nicht und mit Schokolikör brauchte ich die nächsten Tage, Wochen oder Monate nicht rechnen. „Werden wir sehen. Wenn ich vor dir betrunken bin, trag mich ins Bett.“ Ich wartete, bis Varius seine Flasche öffnete und hielt ihm meine entgegen, damit wir anstoßen konnten. „Oh, du erlaubst mir, dich zu tragen? Es gab eine Zeit, da hast du mir gedroht, wenn ich das angedeutet habe.“ „Nun weiß ich ja, dass ich wie eine Schwester für dich bin.“ Varius schüttelte grinsend den Kopf und stieß mit seiner Flasche vorsichtig gegen meine, bevor er sie an die Lippen hob und leise flüsterte „Auf Tiberius.“ Mit einem kräftigen Schluck huldigte er seinem besten Freund, der nicht mehr war und ich seufzte andächtig, nahm ebenfalls einen Schluck aus der Flasche und verzog das Gesicht. Definitiv Sake. „Wie sieht es bei dir aus. Hast du Geschwister?“ Es herrschte einen kurzen Moment Stille zwischen uns, bevor Varius mit einer Frage das Gespräch mit mir suchte. „Ich bin ein Einzelkind. Wenn meine Eltern noch ein Kind bekommen hätte, wäre ich die ältere Schwester. Der Plan sah mal vor, drei Jahre nach mir noch ein Kind zu bekommen.“ „Was hat diesen Plan verhindert?“ „Die Entwicklung des Sozialsystems, denke ich. So sicher bin ich mir aber nicht. Das sind die Gründe die meine Mutter mir zumindest genannt hat.“ Erneut nahm ich einen Schluck von dem Sake. Ich wusste, es würde nicht helfen, aber für den Augenblick konnte ich vielleicht erneut meine Heimat vergessen. Die Toten Hosen hatten Recht, kein Alkohol war eben auch keine Lösung. Zumindest nicht im Moment.   **~~**   Dass dieser Körper nicht trinkfest war, wurde mir bewusst, als ich am nächsten Morgen aufwachte und mein Magen gegen jegliche Bewegung rebellierte. Ich erinnerte mich noch dunkel daran, das ich meine Flasche getrunken hatte und Varius mir noch liebevoll seinen Part aufgedrückt hatte. Kurzum, der Mistkerl hatte mich abgefüllt. Na schön, es gab für alles ein erstes Mal. Selbst in dieser Welt. Ein Schnarchen neben mir ließ mich zusammen zucken. Ich spüre einen mächtigen Körper unter mir beben und versuchte trotz Migräne mehr von meiner Umgebung wahrzunehmen. Da lag er, Varius, an dem ich mich gekuschelt hatte, als wäre er ein überdimensionaler Teddybär. Sofort wich ich von ihm, wach und peinlich berührt. So nahe, wie ich Varius gerade oder eher in dieser Nacht gewesen war, war ich noch keinem Mann in dieser Welt gekommen. Alkohol war wirklich ein Teufelszeug, vor allem in diesen Massen. Nie wieder also. „Nom... ist schon Morgen?“ Ich hoffte, dass Varius es nicht bemerkt hatte, wie dicht wir aneinander gelegen hatten und selbst wenn, es hätte ihn wohl nicht gestört. Er hätte sicher so etwas gesagt wie, dass es normal sei und ich mir keine Sorgen machen musste. „J-Ja. I-Ich denke schon.“ Er musste es einfach bemerken, immerhin stotterte ich. Wie peinlich. Schnell überprüfte ich meine Kleidung, alles lag wie es liegen sollte. Darum musste ich mir also keine Sorgen machen. „Ah... okay... Gute Nacht.“ Varius hatte es wohl doch nicht bemerkt. Er griff zu der Decke, drehte sich um und schnarchte sofort wieder. Mich hingegen hatte der Schock gut genug geweckt, um mich daran zu hindern noch einmal etwas Schlaf zu suchen. Auch wenn alle Anderen schliefen, die Zeit bei den Piraten hing ihnen scheinbar in den Knochen und bei mir sollte es wohl nicht anders sein. Doch seltsamerweise, vielleicht auch, weil meine Ohnmacht mir einiges an Schlaf beschert hatte, fühlte ich mich bereit für das was noch kommen würde. Und zuallererst sollte ein Gang an Deck kommen, denn diesen Brummschädel konnte ich nur mit etwas Frischluft loswerden. Vorsichtig erhob ich mich und stieg über die Schlafenden, immer bedacht sie nicht zu treten oder zu wecken. Ich schaffte es schließlich raus aus dem Schlafbereich in die Freiheit des Deckes, die mir mit erfrischenden Regen entgegenschlug. Regen... die Wolken vom Vortag hatten es ja schon angedeutet und so wie es hier in diesen Gewässer ums Wetter stand, zweifelte ich, dass der Regen sich sobald verziehen würde. „Da bist du, Nebelkrähe.“ Kopfschmerzen und diese Stimme. Ich wusste, dass das keine gute Kombination werden würde. Wahrscheinlich wollte Judar Teil zwei von Loki hören. Dem war ich ihm schuldig geblieben. Aber gerade hatte ich nicht einmal die Konzentration dafür. „Dir auch guten Morgen, Judar.“ „Woher weißt du das, Nebelkrähe?“ Vielleicht lag es daran, dass ich noch den Restalkohol zu verdauen hatte oder aber an den Kopfschmerzen oder aber das eben Morgen war, ich verstand nicht, was der Magi meinte. „Woher soll ich was wissen? Das es ein guter Morgen ist? Ist so eine Redewendung, das muss nicht heißen, dass der Morgen wirklich gut ist.“ „Das meine ich nicht. Woher kennst du meinen Namen?“ Die Frage mitsamt der Erkenntnis, dass ich ihn soeben bei seinem Namen genannt hatte, traf mich wie ein Faustschlag. Richtig. Der Hohepriester war mir noch nicht vorgestellt worden und dennoch war mir, wenn ich mich recht erinnerte sogar mehrmals, sein Name über die Lippen gekommen. Mein Fandomwissen würde wirklich noch die Schlinge sein, an der ich mich selbst aufknüpfen konnte. Die Frage war nur, was antwortete ich Judar darauf? Ein „Du siehst aus wie ein Judar“ würde es sicher nicht glaubwürdig machen. Gleichzeitig durfte ich aber nicht zu lange über meine Ausrede nachdenken, denn sonst hätte das Judars Misstrauen nur noch mehr erregt. Woher konnte ich also seinen Namen kennen? „Die Rukh haben ihn mir gesagt.“ Noch bevor sich ein klarer Gedanke geformt hatte, war mein Mund mir zuvor gekommen und sprach aus, was halbwegs glaubwürdig klang. „Auf dem Markt, als du mir freundlicherweise meinen Stab gebracht hast. Dafür danke ich dir übrigens. Du hast mir damit sehr geholfen.“ Ohne viel darüber nachzudenken, was ich tat, verbeugte ich mich etwas vor Judar. Ich war ihm wirklich dankbar für den Lieferservice, allerdings wusste ich noch nicht, wie ich ihm das zeigen konnte, außer eben mit einer Verbeugung. „Wie geht die Geschichte mit Loki weiter?“ Judar ließ sich nicht in die Karten schauen. Er zeigte nicht, ob er mir glaubte oder nicht, stattdessen kam er zu einem anderen Thema, das ihm wohl auf dem Herzen brannte. Die Fortsetzung, die ich ihm versprochen hatte. Am frühen Morgen. Aber gut, ich wollte ja nicht so sein und augenscheinlich war er am Vortag auch nicht mehr ganz so anstrengend für die anderen Leute an Bord gewesen. Das war für Judars Verhältnisse ein deutliches Zeichen, dass er brav war. Und solange er mich nicht wieder mit Meeresgetier bewarf, sollte er seine Fortsetzung bekommen. „Darf ich dir die Geschichte im Trockenen erzählen? Ich bin nicht Baldr. An mir prallt der Regen nicht ab wie an einem Schutzschild.“ Ich sah gen Himmel, von dem immer mehr Fäden fielen. Wenn ich Judar hier draußen die Geschichte erzählte, würde ich mir sicher den Tod holen. Vom Hohepriester wollte ich gar nicht erst reden, auch wenn ich mich fragte, was er bei Regen hier an der Luft machte.   Das Judar Lokis Ende nicht gefiel, hätte mir klar sein müssen. Aber ich wollte auch nicht die Tatsachen, wie sie waren, verschönern. Unglaublich war an der Sache nur, dass Judar Worte wie „unfair“ in den Mund nahm, als er Lokis Schicksal gehört hatte. Unfair hätte ich es zwar nicht genannt, aber Judars und meine Auffassung von Fairness lagen doch schon in gewisser Weise weit auseinander. Wenn es nach ihm ging, musste ich diese Geschichte ändern. Mir fiel nur nicht ein wie, denn es war nun einmal eine Tatsache. Genauso war es Tatsache, dass Judar mehr wollte. „Erzähl mir eine andere Geschichte!“, hatte er gefordert und erst die Tatsache, dass es Frühstück gab, hatte mich gerettet. Ohne den Magi im Schlepptau war ich in den zweckentfremdeten Speisesaal angekommen, froh darüber, dass Judar aufgegeben hatte. Ich war mir nämlich wirklich nicht sicher, was ich ihm noch über Loki erzählen sollte, wobei ich immer noch auf die Kamigami no Asobi Serie oder die Avengers zugreifen konnte. Meine Erinnerungen an letzteres waren eher schwach und Kamigami brachte Judar vielleicht noch auf blöde Gedanken. Allerdings hatte ich auch keine Wahl, denn Papier, Tinte und Schreibgerät fehlten mir, sodass ich nicht einfach mal eine eigene Geschichte schreiben konnte. Vielleicht konnte ich aber jemanden fragen, ob ich das bekam, was ich brauchte. Fragen kostete nichts. Mit diesem Entschluss, setzte ich mich an den Tisch und starrte auf die Schüssel mit Reisbrei. Super... der Appetit war mir vergangen, aber immerhin gab es keinen Varius, der mich vor versammelter Mannschaft füttern würde. Dennoch nahm ich den Löffel und tunkte ihn in den Brei. Seufzend sah ich auf und erkannte an der Tür eine Person, die mir vertraut war. Daria. Es war ein seltsames Gefühl, sie nun zu sehen, nachdem ich die Wahrheit über sie erfahren hatte, doch das Gefühl dauerte nicht lange an, denn kaum, dass sie mich erblickt hatte, machte sie kehrt. Sie schien zu fliehen, was mich doch schon sehr verletzte, denn davon abgesehen, dass sie mich an die Piraten verkauft hatte, waren wir doch so etwas wie Freunde gewesen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hatte sie mir nur etwas vorgespielt, um mein Vertrauen zu gewinnen. Das war ihr teilweise auch gelungen. Hinata hatte wohl Recht damit, dass ich naiv war. Es wäre nichts neues gewesen, wenn ich Menschen für etwas hielt, als das sie sich selbst nicht sahen, zumindest nicht in der Beziehung mit mir. Am Besten war, ich schloss das Kapitel Daria. Es würde mir nichts bringen, weiter darüber nachzudenken. Solange sie mich nicht persönlich auf den Grund des Meeres verfrachten wollte, konnte es mir egal sein. Allerdings hatte diese Begegnung bewirkt, dass ich nun noch weniger Hunger hatte. Ich nahm zwei Löffel von dem Brei und teilte ihn letzten Endes mit einem abgemagerten, ehemaligen Gefangenen neben mir. Hinata hätte mich erschlagen, wenn sie das gesehen hätte.   Ich hibbelte auf der Stelle herum, an der mich ein Krieger stehen gelassen hatte, kurz nachdem ich ihn gefragt hatte, ob es denn möglich sei, mir Papier, Tinte und Schreibgerät zu geben. Der Krieger hinterfragte nicht einmal, wozu ich das wollte, was mich vermuten ließ, dass er wohl dachte, dass ich meiner Familie einen Brief schreiben wollte, um ihnen zu berichten, dass es mir gut ging. Ich hatte in der Tat daran gedacht, Assad und den Mädchen einen Brief zu schreiben, allerdings wusste ich nicht, wie ich ihnen diesen zukommen lassen sollte. Wahrscheinlich würde ich ihn erst einmal aufheben, bis sich die Gelegenheit dafür bot. Das Zweite, was ich tun wollte, war meinen Kopf freizubekommen. Zwar waren die Stimmen aufgrund meiner Kopfschmerzen gerade verstummt, aber es würde Momente geben in denen sie dennoch ihr hässliches Haupt erhoben und mich in den Wahnsinn trieben. Während ich auf den Krieger wartete, dachte ich nach. Was würde ich jetzt schreiben? Was brannte mir am meisten auf der Seele, was für eine Idee wollte unbedingt das Licht der Welt erblicken? Ich musste grinsen, als ich mich erinnerte, was Hinata gesagt hatte. In meiner Welt war es schwe,r Schriftstellerin zu werden, aber hier, wo alles, was es gab, Schriften über Geographie, Geschichte, Politik und so weiter waren, und eben Sinbads Abenteuer, hatte ich doch gute Chancen. Es wäre sicher lustig zu sehen, wie Sinbad erfuhr, dass er nun Konkurrenz hatte. 'Ein Versuch ist es doch wert. Die Frage ist, was kann ich schreiben, dass übergreifend viele anspricht... Nein... das ist der falsche Weg. Zu Schreiben, um Sinbad herauszufordern. Reiß dich zusammen. Wenn du Literatur schreibst, dann um Menschen glücklich zu machen. Sie etwas Leid vergessen zu lassen, Hoffnung zu säen. Das ist etwas, dass diese Welt braucht. Wahrscheinlich kommt Sinbads Geschichte deswegen so gut an. Sie erzählt einen Aufstieg, den sich wohl viele wünschen.' Es war wirklich nicht leicht, sich etwas einfallen zu lassen. Aber es war richtig. Ich sollte nicht schreiben, um einen Sinbad von seinem literarischen Thron zu stoßen. Ich sollte schreiben, weil ich Menschen zum Lächeln bringen wollte, so wie ich es Zuhause auch getan hatte. „Hier ist das was Ihr gewünscht habt.“ Ich sah zu dem Krieger auf, der vor einigen Minuten losgezogen war, um mir das Gewünschte zu bringen. In seiner Hand hielt er Papier, ein Tintenfässchen und einen Pinsel. Na schön, es war keine Schreibfeder und kein Gelstift, aber es würde gehen. Ich verbeugte mich zum Dank und nahm das entgegen, was mir gereicht wurde. Mein Herz schlug wild vor Aufregung und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wieder ich sein zu können.   **~~**   Auch wenn während der Reise das Wetter stürmischer wurde und man mir angeraten hatte, nicht an Deck zu gehen, konnte ich doch nicht die ganze Zeit eingepfercht unter Deck sein. Zumal ich hin und wieder die Flucht vor Judar suchte, der mir immer noch gehörig auf die Nerven ging, weil er wollte, dass ich Lokis Geschichte umschrieb. Er trieb mich oft genug in die Enge, so dass ich Variationen von Lokis Geschichten erfand, oder ihm einfach Episoden von Kamigami no Asobi erzählte. So z.B auch von Lokis Liebesringen, mit denen er einen Gott und ein Menschenmädchen aneinander gefesselt hatte und sie erst voneinander loskamen, wenn sie sich einander näherten. Witz an der Sache war, dass Loki es so ausgedrückt hatte, dass die beiden sich verlieben müssten. Die Wahrheit war, sie sollten sich einfach nur besser kennenlernen. Allmählich gingen mir aber die Ideen aus und an Deck, weit weg von Judar zu sein, entpuppte sich als zwar stürmische und nasse Angelegenheit, aber auch als eine abwechslungsreiche. Immerhin konnte ich so meine Gedanken revidieren, dass wir nahe an einer Insel vorbei segelten. Es gab nie einen Tag, an dem ich nicht das Festland sah. Ich sah zwar nur Steinstrände, Felsen und Wälder, die dahinter hervorragten, aber es war, vor allem im Sturm, ein atemberaubender Anblick. Ich hatte mir sogar den Spaß erlaubt, eine der leeren Alkoholflaschen mit einem zusammengerollten Papier zu füllen. Eher mit zwei. Einen Brief und einer Kurzgeschichte von einem heiligen Stein, der seine Farbe änderte, weil ein Fluch auf ihm lag. Jeder, der diesen Stein erblickte und die rote Farbe sah, wusste, dass er sterben würde. Lediglich die Protagonistin der Kurzgeschichte, die diesen Stein in einen Stab eingearbeitet hatte, blieb von diesem Schicksal verschont. Sie führte ihn mit sich, hütete ihn wie einen Schatz und hinterließ auf ihrer Reise eine Spur des Todes. Am Ende der Geschichte erkannte die Protagonistin, dass der Stein sie nur benutzt hatte, um seine Mordlust zu stillen. Sie zerstöre ihn, starb aber dabei, weil sie über die Jahre eins mit dem Stein geworden war. Mit einem Grinsen musste ich daran denken, wie Varius den Stab von Nel angestarrt hatte. Scheinbar hatte er die Parallele erkannt. Ich konnte ihn aber beruhigen und erklärte ihm, dass man so etwas in meiner Welt als Horror bezeichnete. Er war nicht damit einverstanden, dass ich auch nur irgendjemand Anderem diese Geschichte präsentierte. Vermutlich aus Sorge, dass mir dann was passieren könnte. Deswegen, weil die Wahrscheinlichkeit so unglaublich gering war, dass derjenige, der die Flaschenpost fand, mich treffen würde, warf ich dieses Werk über Bord. Ich hatte mich nach diesem besonderen Versand von Post zurückgezogen, mied allerdings die unterste Etage des Schiffes. Wir alle konnten uns zwar so frei wie möglich bewegen, aber die unterste Etage war besser bewacht als die Kronjuwelen der Queen. Was auch immer da unten war, mein Kopf sagte mir, dass es ein „Wer auch immer“ sein könnte, ich wollte es eigentlich gar nicht wissen. Noch dazu, brauchte ich mehr Bewegungsfreiraum nicht. Ich war schließlich nicht Daria, die immer wieder die Flucht ergriff, sobald sie Varius, Hinata oder mich sah. Ihre Bewegungsfreiheit war damit stark eingeschränkt, denn wir drei bevorzugten es, nicht ständig aufeinander zu hocken. Die Reise musste damit für sie wie ein Albtraum sein. Ich erkannte sogar, dass Hinata ihren Spaß daran gefunden hatte, Daria auf diese Art und Weise zu erschrecken. Sie hatte sich an einem Tag sogar die Mühe gemacht und sie verfolgt, unauffällig. Wenn man so etwas bei der militärischen Ausbildung in Kou lernte, hatte sie ihr Wissen definitiv missbraucht, aber verübeln konnte es ihr wohl niemand.   Es war der letzte Abend, vor unserer Ankunft in Nantou. Das Schiff schaukelte, denn ein neuer Sturm hatte seine Klauen nach dem unsinkbaren Kriegsschiff ausgestreckt. Ich hatte mir einen recht ruhigen Platz gesucht, um erneut meine Gedanken und Ideen niederzuschreiben. Insgesamt war das der zweite Stapel Papier, der nun daran glauben musste, denn der Erste hatte nicht lange gehalten. Mit Sicherheit fragten sich die Krieger, was ich mit dem Papier machte, aber sie gaben mir erneut ein paar Blätter ohne Diskussion. Insgeheim trauerte ich mittlerweile sogar um die Kurzgeschichten, die ich in Balbadd zurück gelassen hatte. Hätte ich mir nur gemerkt, was ich genau geschrieben hatte... Es brachte im Endeffekt wenig sich zu beklagen. Ich hatte immerhin neues Papier und das bettelte mich förmlich an, mit meinen kreativen Ergüssen beschmutzt zu werden. Es dauerte nicht lange, bis die Ruhe und meine Gedanken mich in das Innere meiner Welten geführt hatten und ich ohne nachzudenken mit dem Pinsel die ersten Worte geschrieben hatte. Eine Geschichte über Loki war, wahrscheinlich dank Judars penetranten Generve, in seiner Entstehung. Es war sogar in der Tat ein Ende, dass nicht ganz so beschissen für Loki ausging. Anders als im Mythos, fand mein Loki einen Weg, das Netz, welches er entwickelt hatte, zu zerstören. Logisch, wenn man bedachte, dass er es entwickelt hatte und damit auch alle Schwächen kannte. Jeder Erfinder baute schließlich kleine Schwächen ein, die er zur Not selbst nutzen konnte, wenn es darauf ankam und Loki war ein Trickster, warum sollte er auf so etwas verzichten? Loki konnte sich in meiner Version also befreien und schwor Rache, dass man versucht hatte, alles, was er den Asen gegeben hatte, gegen ihn zu verwenden. Einen seiner Verfolger ließ er mit Illusionsmagie aussehen wie er. Er selbst nahm die Gestalt des Verfolgers an. Niemand merkte es, obwohl der falsche Loki immer wieder versicherte, dass er nicht der Gejagte war. Niemand glaubte ihm, denn die Asen gingen davon aus, dass dies wieder einer von Lokis Tricks war. Sie bemerkten so nicht einmal, wie der richtige Loki der Strafe, die ihm zugestanden hätte, beiwohnte. Niemand hatte den Unterschied bemerkt, nicht einmal seine Frau. Ich holte tief Luft und dachte darüber nach, ob das wirklich einer der Tricks war, die Loki anwenden würde. Ohne Google und Recherche, war das schwer zu sagen, weswegen ich mich nur auf mein Wissen verlassen konnte. Letzten Endes war es aber egal, denn diese Geschichte war für Judar, auch wenn er wahrscheinlich nicht gerade viel Dankbarkeit dafür übrig haben würde und er davon ausging, dass es eine Selbstverständlichkeit war. Man hatte den Hohepriester definitiv verzogen und jeglicher Versuch, das zu korrigieren würde zum Scheitern verurteilt sein. Ich brauchte es wohl gar nicht versuchen... „Nebelkrähe, was machst du da?“ Ich erschrak, als ich plötzlich Judars Stimme neben mir hörte. Aus einem Reflex heraus drückte ich das Papier an mich, als versuchte ich zu verstecken, was ich geschrieben hatte. Es war immerhin noch nicht fertig. „Musst du mich so erschrecken?“ „Ich hab dich zweimal angesprochen, Nebelkrähe. Also, was machst du da?“ „Nichts wichtiges... ich schreibe einfach nur ein wenig. Mehr nicht.“ „Was schreibst du? Ist es eine Neufassung von Lokis Geschichte?“ Innerlich war mir nach heulen zumute, denn Judar hatte voll ins Schwarze getroffen. Wenn er jetzt schon dachte, dass ich alles tat, was er wollte, na dann Prost Mahlzeit. Da er aber nachfragte, ging ich davon aus, dass er es noch nicht gelesen hatte. Glück gehabt. „Nein. Das ist ein Brief an Freunde aus Balbadd. Nur weil du mich nervst, schreibe ich sicher nicht die Geschichte um.“ „Aber das Ende ist doof. Warum kann es nicht wie das eine sein, von dem anderen Loki? Nur mit weniger Funkel.“ Ich seufzte. Judar konnte wirklich nerven, wenn er etwas wollte. Ich fragte mich, wie die Menschen in seinem Umfeld das nur aushielten. „Das ist eben das Ende, das ihm vorherbestimmt ist.“ „Warum muss es ihn erwischen und nicht jemand anderen?“ Schweigend sah ich Judar an. Diese Worte, sie erinnerten mich an den Manga. Als er sein Schicksal hinterfragt hatte. Warum er Al Thamen in die Hände gefallen war und nicht Yunan, Scheherazade oder Aladdin. Der Gedanke daran, dass er so war, wie er jetzt vor mir stand, weil ihm dieses Schicksal zuteil geworden war, zerriss mir das Herz. Und gleichzeitig... „Die Ereignisse die uns widerfahren, machen uns zu den Personen, die wir sind. Lokis Strafe hat viele andere Asen geprägt. Sie wären nicht das, was sie geworden sind, wenn nicht all das passiert wäre.“ „Aber das ist nicht fair. Loki war im Gegensatz zu den Anderen cool. Also ändere das. Sorg dafür, dass er entkommt.“ Ich seufzte. Sicher, ich hatte die Geschichte bereits geändert, aber zum Einen war sie noch nicht fertig und zum Anderen fragte ich mich, ob es richtig war. Wie widersprüchlich war ich denn, wenn ich mir in dieser Welt geschworen hatte, keine Ereignisse zu ändern, es aber mit einer Geschichte tat, weil Judar mich darum bat. „Ich kann die Geschichte ändern, ja. Aber es ist doch fraglich, ob die Veränderung zu etwas führen würden, das dir gefällt. Man mag zwar das Schicksal an diesem einen Punkt verändert haben, aber das was kommt, könnte noch viel schlimmer sein.“ „Wenn Loki frei ist, passiert doch nichts schlimmeres.“ „Ragnarök war also harmlos?“ „Ragnarök?“ Judar horchte auf und ich erinnerte mich dunkel daran, dass ich bei dem Part, an dem Loki mit den Gedärmen seines Sohnes am Felsen gefesselt und von Skadis Schlange verätzt wurde, aufgehört hatte. Ragnarök hatte ich vollkommen außer Acht gelassen. „Richtig Ragnarök. Das ist der Kampf zwischen den Göttern und Riesen, wie er prophezeit wurde. Es war dieser Krieg, der den Untergang der Welt hervorrief. Als Ragnarök begann, konnte sich Loki von seinen Fesseln lösen.“ Judars Augen leuchteten, als er die Geschichte hörte, oder zumindest erfuhr, dass Loki sich befreien konnte. Das sein Ende noch schlimmer sein würde, als nur an einen Felsen gekettet zu sein, bereitete mir Unbehagen. Aber Geschichten mussten eben so erzählt werden, wie sie niedergeschrieben worden waren.   **~~**   Ich hatte letzten Endes vor dem Kampf Heimdalls gegen Loki gestoppt. Irgendwie war es mir gelungen, Judar davon zu überzeugen, dass ich etwas Zeit zum nachdenken brauchte, um mich daran zu erinnern wie es weiterging. Schonfrist also. Wobei ich mir den restlichen Abend über die Mühe gemacht hatte, dem Magi aus dem Weg zu gehen. Nun, am Morgen, kurz vor unserer Ankunft in Nantou, musste ich mir keine Sorgen machen. Judar würde tun, was ein Judar eben so tat. Die nächste Begegnung, sollte es noch einmal eine geben, wäre dann in Balbadd. An der Reling stehend sah ich, was mir im Sturm verborgen geblieben war, oder eher dank felsiger Umgebung. Der Sturm hatte sich rechtzeitig vor der Ankunft gelegt, fast, als wollte man all jenen, die heute ihre Reise beendeten, unter angenehmen Umständen begrüßen. Ich hätte wohl nie die Einfahrt zu Nantou gesehen, denn sie lag hinter Klippen verborgen. Doch nun, da wir in diese Bucht einfuhren, konnte ich die Dächer der Stadt sehen. Sie waren im asiatischen Stil, was nur noch einmal deutlich unterstrich, dass ich in Kou war. Im Kaiserreich. Welch Ironie, dass ich, wenn ich mit Kouha gegangen wäre, diesen Ort, oder eher dieses Land schon viel früher hätte sehen können. Vielleicht war das der Wink des Schicksals, der mir zeigen sollte, dass Sindria niemals mein Ziel hätte sein sollen. Wie deprimierend. Ich wandte meinen Blick ab und sah hinter mich, in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Die Stadtmauer, welche die Stadt umgab, schien an einigen Stellen rußig schwarz zu sein und an Andere wieder weiß, so als wären diese gerade neu gebaut worden. Das wäre zumindest logisch gewesen, wenn diese Mauer mal in einem Krieg teilweise zerstört worden war. Mein Blick wandte sich wieder nach vorne. Hinter all den Häusern, immer weiter gerade aus, ragte ein Palast über die Dächer. Dort würde also Judar unterkommen. Wie passend. Ich ließ meinen Blick noch etwas über die Stadt hinweg schweifen. Felder leuchteten auf, was mir sagte, dass hier die Erde wohl fruchtbar war. Vielleicht waren es auch Reisfelder, denn mal ehrlich, irgendwoher musste der Reis für den Reisbrei kommen. Die Bergkette, die ich am Horizont sah, schien die Stadt in sich einzuschließen und im Westen, dort wo die Berge sich zu einem Gebirge auftürmten, verschwanden ihre Spitzen hinter einer dichten Wolkendecke. Ein Maler hätte dieses Bild sicher besser einfangen können, als ich es mir Worten getan hätte. An sich waren Beschreibungen ja schon immer meine Schwäche gewesen, weil ich nie genau wusste, worauf ich mich fokussieren sollte, wenn der Anblick so unglaublich war. Ja, Nantou war unglaublich, selbst wenn jeder andere es als nichts besonderes gesehen hätte. Diese Welt, die mir fremd und bekannt gleichzeitig war, war auch in jeglicher Hinsicht besonders für mich. Ich spürte diesen Hunger in mir anschwellen. Den Hunger, mehr von dieser Welt zu sehen. Mehr lernen zu wollen und vielleicht auch zu erfahren, warum ich hier war. Ich hörte Schritte neben mir, konnte aber den Blick von der Stadt nicht abwenden. „Das Wetter in dieser Region wird von dem 45. Dungeon, Vinea, beeinflusst. Du kannst ihn nicht sehen, weil er sich im Westen hinter den Wolken verbirgt. Allerdings scheint er die Stürme und Niederschläge förmlich anzuziehen.“ Ich sah nun doch neben mich und erkannte Hayato. Um meine Manieren stand es in dieser Welt wohl wirklich schlecht, wenn ich einen General seines Kalibers nicht standesgemäß grüßte. Allerdings wusste ich nicht einmal, wie eine standesgemäße Begrüßung aussehen sollte, wenn er neben einen stand. „V-Vinea?“, fragte ich leise noch einmal nach. Dunkel erinnerte ich mich daran, wer der Eroberer von Vinea war. „Richtig. Sagt dir der Name etwas? Haben die Piraten mal über den Dungeon gesprochen?“ Sofort schüttelte ich den Kopf, spürte aber die Röte in meine Wangen schießen. Ich konnte dem General ja schlecht erzählen, dass ich bereits wusste, wer diesen Dungeon erobern würde. Nein, das war keine gute Idee. „Ich... uhm... hab mich nur gerade an etwas erinnert. Aus meiner Heimat. Mehr nicht. Verzeiht, ich wollte euch nicht beunruhigen.“ Es war schwer, aus Hayatos Gesichtszügen zu lesen, ob er mir glaubte oder nicht. Deswegen ließ ich es und sah stattdessen wieder zu der Stadt. Gleichzeitig stellte ich mir eine Frage. Was machte das Kaiserreich mit den Schätzen, die sie aus den Dungeons holten? Worin investierten sie diese? „Ich gehe davon aus, dass Ihr jetzt nicht nur hier steht, um mich noch einmal über meine Erlebnisse bei den Piraten zu befragen, richtig?“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der General wirklich nicht nur einfach so neben mir stand. Vielleicht bildete ich mir aber auch zu viel ein und es war wirklich nur ein Zufall. „Der Hohepriester braucht etwas Gesellschaft und es scheint, dass er sich gut von dir unterhalten fühlt. Ich begrüße es sehr, wenn du mich zum Palast begleitest, um ihn noch etwas zu beschäftigen.“ Mein Albtraum wurde wahr. Dabei war ich froh gewesen, Judar nicht mehr über den Weg laufen zu müssen, damit er nicht das grausige Ende von Loki erfuhr. Und nun lud Hayato mich in den Palast ein. Super. Vielleicht war es besser, wenn ich ablehnte. Oh man, dass nächste Mal wenn dich eine Obrigkeit indirekt fragt, sag JA! In meinem Kopf hallten Varius' Worte wieder. Hayato zählte zur Obrigkeit und er lud mich nicht nur indirekt in den Palast ein. Im Gegenteil, er schien es sogar irgendwie zu erwarten, was ich nachvollziehen konnte. Judar war anstrengend und wenn man die Möglichkeit hatte, mal etwas Ruhe von dem Schelm zu bekommen, nahm man sie wahr. Aber gut, was hatte ich schon für Möglichkeiten? Ich hatte sowieso noch keinen Plan, also konnte ich auch genauso gut noch etwas den Magi bespaßen. Irgendwann hatte er sicher auch die Nase voll von den Geschichten. „In Ordnung.“ „Sehr schön. Wir sehen uns dann an Land.“ Hayato wandte von mir ab, was mir noch einmal deutlich zeigte, dass er dieses Gespräch mit mir wirklich gesucht hatte. Diese Bitte war ihm scheinbar so wichtig gewesen, dass er für einen kurzen Moment seine eigentliche Aufgabe, was auch immer das war, liegen gelassen hatte. Wie ich ihn aber als Kapitän des Schiffes einschätzte, wenn es denn die Aufgabe eines Kapitäns war, würde er überwachen, dass beim Anlegen nichts schief ging. Saam hatte das auch immer so gehalten. „Ach, da fällt mir ein...“ Hayato hielt inne und wandte sich noch einmal zu mir um. Etwas lag da in seinen Augen verborgen. Ein Lächeln? Nein, eher etwas wissendes. „Ich soll dir herzliche Grüße von Kouha-dono ausrichten.“ Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da wurde ich schon rot. Grüße von Kouha an mich? Das war irgendwie niedlich, doch gleichzeitig fragte ich mich, woher Hayato wusste, dass ich Kouha kannte. Er musste etwas wissen. Damit waren wir dann wohl quitt. Hosted by Animexx e.V. 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