Down Hill 2: Efrafa von Sky- ================================================================================ Kapitel 1: In Sicherheit ------------------------ Helles Licht blendete ihn, als er langsam die Augen öffnete. Sofort musste er sie wieder zukneifen und er drehte den Kopf weg, um dieser starken Lichtquelle auszuweichen. Nur langsam schaffte er es, sie an diese neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen und sich ein wenig umzuschauen. Viel sah er nicht und sein Kopf fühlte sich bleischwer an. Ihm war furchtbar heiß und er spürte seine Kleidung wie eine zweite Haut an seinem Körper kleben. Er war völlig durchgeschwitzt und er spürte, wie sein Gesicht glühte. Außerdem war ihm schlecht. Aber wo war er denn? Es roch irgendwie nach Desinfektionsmitteln und er spürte, dass er in einem Bett lag. Und das Zimmer sah aus wie eine Krankenstation. Konnte es vielleicht sein, dass er in einem Krankenhaus lag? Ja, wahrscheinlich war es das. Er war vermutlich in einen Unfall geraten und war dann bewusstlos geworden, weil er sich wahrscheinlich noch den Schädel angeschlagen hatte. Was für ein Glück, dachte er sich und atmete erleichtert aus. Es war alles nur ein Traum. Ein völlig verrückter Traum. Suchend begann Mello nun damit, seinen Kopf zu bewegen und einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Doch er fand keines. Ja aber wieso gab es denn keine Fenster hier? Es war wohl besser, wenn er nachsehen ging. Also setzte er sich auf, spürte aber sogleich die Schmerzen in seiner unteren Körperhälfte, die die schrecklichen Erinnerungen an die Horrorstunden wieder zurückholten, die ihn fast an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten. Und mit einem Male kam ihm die schreckliche Erkenntnis, dass das kein Traum gewesen war und er keinen Unfall gehabt hatte. Es war alles wirklich passiert. Er war von diesem Psychopathen stundenlang vergewaltigt und später bei seiner Flucht mit der Machete verletzt worden. Dann war er in einen Schacht gestürzt und im Hell’s Gate gelandet. Dieser Horror war wirklich passiert und er hatte diese entsetzliche Hölle mit eigenen Augen gesehen und war mittendrin gewesen… Doch wie war er aus dem Hell’s Gate rausgekommen und wieso war er noch nicht tot? Hastig sah er sich um und bemerkte, dass es noch weitere Betten gab. In einem davon lag ein blondhaariger Junge, der mit dem Rücken zu ihm gekehrt lag und dessen Augen bandagiert waren. Wohl durch die Geräusche aufmerksam geworden, setzte sich der Junge auf und wandte den Kopf Mello zu, dann hustete er kurz und bemerkte „Oh, du bist also wach. Und ich dachte schon, du wärst ins Koma gefallen.“ „Wer… wer bist du und wo bin ich?“ „Keine Angst, du bist in Sicherheit. Momentan sind wir beide auf der Quarantänestation von Efrafa II. Wir befinden uns also in Ebene 2, direkt unter Ebene 3, die auch als Todeszone bekannt ist. Mich kannst du ruhig Echo nennen, das ist mein Deckname für Down Hill. Und wie darf ich dich…“ Wieder musste der Junge heftig husten und er wirkte auch nicht gerade gesund. Offenbar war er krank und befand sich deshalb hier. „Mello“ antwortete der 24-jährige. „Und wieso bin ich auf der Quarantänestation?“ „Keine Ahnung. Vermutlich weil du krank bist oder der dringende Verdacht auf Krankheit besteht. Ich hab mir die Grippe eingefangen und musste deshalb hierher. Es gibt leider nicht genug Medikamente in Down Hill, um alle Häftlinge zu versorgen und sie sind eh sehr schwer zu beschaffen. Und um zu verhindern, dass sich Krankheiten verbreiten, werden Infizierte sofort isoliert. Darf ich raten? Du bist ein Rookie, oder?“ „Ja“, antwortete Mello nach kurzem Zögern, da er sich erst mal wieder daran erinnern musste, was noch mal ein Rookie war. „Und wie bin ich hierher gekommen?“ „Das weiß ich nicht. Ich bin schon seit vorgestern hier und kriege deshalb nicht viel mit. Aber gleich müsste jemand kommen, der dir weiterhelfen kann.“ So ist das also, dachte Mello und legte sich wieder hin. Ich bin tatsächlich in Efrafa. Es hat tatsächlich ein verdammtes Wunder gegeben, das mich genau hierher gebracht hat. In diesem Moment wurde er so von seinen Gefühlen überwältigt, dass ihm die Tränen kamen. Tränen der Erleichterung, dass er noch am Leben war und dass er endlich in Efrafa war. Mehr noch, man hatte sich um seine Verletzungen gekümmert und er lag in einem Bett und nicht etwa in einer schmutzigen und schäbigen Zelle. Konnte es wirklich sein, dass er endlich in Sicherheit war? Allein der Gedanke wäre zu schön um wahr zu sein. „Hey“, hörte er Echo sagen, der sich aufrecht hinsetzte und ein fröhliches Lächeln auf den Lippen hatte. „Ganz egal was dir auch zugestoßen sein mag, hier kann dir nichts mehr passieren. Glaub mir, Efrafa ist der sicherste Ort innerhalb von Down Hill. Hier passen wir alle aufeinander auf und halten zusammen.“ Na Echo schien ja echt zuversichtlich zu sein. Doch so wirklich fiel es Mello schwer zu glauben, dass ihm nichts mehr passieren konnte. Nicht nach dem, was er erlebt hatte. „Und wie lange…“ „Ah!“ rief Echo sofort. „Rhyme ist auf dem Weg hierher.“ Rhyme… das war doch eine der Personen, die Kaonashi genannt und die er als vertrauenswürdig eingestuft hatte. Ja genau. Er hatte ihm angeraten, in Efrafa nach Rhyme, Morph oder Christine zu fragen, wenn er dorthin kommen sollte. Wer wohl dieser Rhyme war? Die Tür wurde geöffnet und herein trat ein groß gewachsener Mann von vielleicht 26 Jahren, womöglich auch etwas älter. Er hatte schneeweißes Haar, Augen mit einer außergewöhnlichen magentafarbenen Iris und eine sanfte und ruhige Ausstrahlung. Sein Lächeln hatte etwas sehr friedliches und als Mello ihn so sah, konnte er in diesem Moment irgendwie nicht anders, als an das Meer zu denken. Selten hatte er bei einem Menschen eine solche Ausstrahlung gesehen und irgendwie hatte er etwas von einem Fels in der Brandung oder von einem sanften Riesen. „Hey Echo, wie geht es dir denn? Immer noch Halsschmerzen?“ „Zugegeben, ich muss noch husten, aber es geht besser. Nur das Fieber will einfach nicht runter. Aber ansonsten ist alles in Ordnung. Rhyme, liest du mir nachher was vor, solange Morph nicht zu mir kommen kann?“ „Klar, mach ich. Er hat mich sowieso darum gebeten und mir auch Bescheid gegeben, wo ihr stehen geblieben seid. Das war doch El-Ahrairah und das schwarze Kaninchen von Inlé, richtig?“ „Nein, die Geschichte hat mir Birdie schon vorgelesen. Als Nächstes kam die Geschichte Die Sache mit König Berser-Kerl.“ „Ach so. In Ordnung, Echo. Wenn ich fertig bin, lese ich dir das Kapitel gerne vor.“ „Super!“ Damit drückte Rhyme dem Jungen eine Tablette und ein Glas Wasser in die Hand. Danach ging er zu Mello und lächelte freundlich. Er strahlte etwas sehr Warmherziges aus, was Mello selten in dieser Art gesehen hatte. Irgendwie schien ein inneres Licht von diesem Menschen auszugehen, welches selbst die schlimmste Dunkelheit erleuchten mochte. Rhyme war ein sehr charismatischer Mensch, aber auf eine sehr warme und positive Art und Weise. „Hi, ich heiße Rhyme. Ich gehöre zum Down Hill Untergrund und möchte dich herzlich in Efrafa Willkommen heißen. Ich muss schon sagen, du hattest wirklich großes Glück. Dein Blutverlust war bereits lebensbedrohlich und es ist wirklich ein Wunder, dass du hier bist. Es ist noch niemandem gelungen, dem Hell’s Gate zu entkommen.“ „Woher weißt du davon?“ „Das haben wir sofort am Geruch deiner Kleider gemerkt. Es gibt nur einen Ort in Down Hill, der so stark nach Verwesung und Fäulnis riecht. Deshalb mussten wir deine Kleidung verbrennen und dich augenblicklich in die Quarantänestation bringen, um das Seuchenrisiko einzudämmen.“ „Seuche?“ Rhyme nickte und begann nun damit, Mellos Fieber zu messen und seinen Puls zu prüfen. „Den Patriarchen zufolge hatte es nach dem Ausbruch aus dem Asylum viele Tote gegeben, die dann in den Ecken langsam verwesten. Die daraus entstandenen Gase und die teilweise miserablen hygienischen Zustände haben dafür gesorgt, dass eine Seuche fast drei Viertel der Gefängnisinsassen dahingerafft hat. Darum wurde die unterste Ebene, die ursprünglich ein riesiger Maschinenraum werden musste, in eine Leichendeponie umfunktioniert, um zu verhindern, dass so etwas wieder passiert. Und um das Risiko minimieren, mussten wir deine Kleidung vernichten und dich vor allen anderen Häftlingen isolieren.“ „Und was ist mit dir?“ Rhyme lächelte etwas verlegen und erklärte „Ich kann nicht krank werden, selbst wenn ich wollte. Und da Dr. Helmstedter und Birdie derzeit in Efrafa I sind, bin ich hier so etwas wie der Krankenpfleger. Solange du auf der Quarantänestation bist, bin ich der Ansprechpartner für dich. Du hast sicherlich viele Fragen, oder? Um vorweg die Frage zu beantworten, wie du hergekommen bist: Kaonashi hat dich hergebracht und gesagt, du hättest versucht, zu uns zu kommen und wärst an Sigma und Scarecrow Jack geraten. Dein Zustand war wirklich kritisch und Dr. Helmstedter und Birdie mussten dich operieren. Nicht nur, dass sie deine Wunden nähen mussten, du hattest eine Rippenprellung, eine Platzwunde an der Schläfe und außerdem andere unschöne Geschichten, die ich vor Echo lieber nicht laut erwähnen will.“ „Kaonashi hat mich hergebracht? Wer… wer ist er eigentlich?“ „Er ist der Shutcall der ersten Ebene, die Core City genannt wird. Er gilt als eine der stärksten und gefährlichsten Insassen von Down Hill und gelegentlich gerät er mit unserem Shutcall immer wieder aneinander. Für gewöhnlich ist er eher ein Einzelkämpfer und schert sich nicht um andere. Es wundert mich wirklich, dass er dir geholfen hat. Vermutlich hat dein Kampfgeist oder dein immenses Glück bei ihm Eindruck hinterlassen. So… du hast 40°C Fieber und deine Wunden sind leicht entzündet. Hast du starke Schmerzen?“ „Nur wenn ich mich allzu viel bewege…“, murmelte Mello, war aber mit den Gedanken ganz woanders. Er konnte es nicht glauben, dass Kaonashi tatsächlich ein Shutcall war. Davon hatte dieser nie etwas erzählt und es war ihm ein Rätsel, wieso ein Shutcall, der außerdem als Einzelgänger bekannt war, ihm half zu entkommen und ihn dann auch noch hierher brachte. Warum? Wieso hatte Kaonashi das für ihn getan? Das waren Fragen, die Mello bei seiner Verfassung und den jetzigen Umständen wohl nicht so schnell beantworten würde. „Okay“, sagte Rhyme schließlich und begann Handschuhe anzuziehen. „Wenn Birdie später zur Visite kommt, kann sie dir etwas gegen die Schmerzen geben. Ich habe dazu leider keine Befugnis und kann auch keine Spritzen setzen. So, als erstes sollten wir dich kurz waschen. Du…“ „Was willst du?“ rief Mello, als er das hörte und sofort setzte er sich auf, woraufhin sein gesamter Körper wieder von starken Schmerzen erfasst wurde. Dieser Typ, den er nicht einmal kannte, wollte was mit ihm machen? Allein der Gedanke war schrecklich. Niemand durfte ihn anfassen, geschweige denn ihn so sehen. Niemand durfte ihn anfassen. Er wollte schon aufstehen, doch Rhyme drückte ihn sanft aber dennoch bestimmt wieder aufs Bett. „Ganz ruhig“, sprach er besänftigend. „Du brauchst keine Angst zu haben. Niemand hier will dir etwas tun und ich kann gut verstehen, wie du dich fühlen musst. So ein Erlebnis vergisst man nicht so schnell und es war sicher sehr schlimm für dich.“ „Es ist wirklich alles in Ordnung“, versicherte Echo ihm. „Mach dir keine Sorgen. Rhyme ist der aufrichtigste Kerl, den du hier in Down Hill finden wirst. Er würde niemandem etwas tun.“ „Ich lass mich von niemandem wieder anfassen, klar? Also bleibt weg, oder ich…“ Doch Rhyme hielt ihn weiter fest und versuchte Mello zu beruhigen. Und da er selber so eine unfassbare Ruhe und Sanftmut ausstrahlte, verlor der angeschlagene 24-jährige seine Angst. Größtenteils lag es aber auch an dem hohen Fieber, dass er eh kaum Energie hatte. Rhyme legte eine Hand auf Mellos Schulter und seine magentafarbenen Augen ruhten auf den Verletzten. „Ich kann dir sehr gut nachfühlen, was du für Alpträume durchleben musstest. Jeder von uns hier hat in diesem Gefängnis Schreckliches erleben müssen. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Solange du in Efrafa bist, hast du nichts zu befürchten. Hier wird dir keiner etwas tun. Leg dich ruhig hin und Echo kann ja aufpassen, dass ich nichts Dummes anstelle.“ „Ganz recht, ich hab meine Ohren überall!“ rief der Junge und lachte. Er wirkte sehr gut gelaunt, trotz seines bescheidenen Gesundheitszustandes und wahrscheinlich rührte seine gute Laune daher, um die Stimmung zu lockern. Mello war zwar immer noch nicht wohl bei der ganzen Sache, aber da er zu erschöpft war, um sich zu bewegen, ließ er Rhyme seine Arbeit machen. Gegenwehr hätte er eh kaum leisten können bei seinem Zustand. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als sei er von einer Dampfwalze überrollt worden und das Fieber raubte ihm zusätzlich jegliche Energie. „Dass du schwitzt, ist ein gutes Zeichen“, sagte Rhyme schließlich. „So wirst du auch schnell wieder gesund. Und gleich bekommst du auch erst mal etwas Vernünftiges zu essen. Und wenn du möchtest, kannst du ja auch zuhören, wenn ich Echo etwas vorlese. Normalerweise macht das ja Morph, weil er der beste Vorleser ist, aber hier auf der Quarantänestation hat nur zugelassenes Personal Zutritt. Und das wären Dr. Helmstedter, Birdie und ich.“ „Wozu liest du denn vor? Kann der Junge nicht selbst was lesen?“ Er sah wie Echos Lächeln schwand und er den Kopf senkte. Und auch Rhyme wirkte bedrückt. Offenbar hatte Mello ungewollt in einer tiefen Wunde herumgestochert. „Echo kann nicht mehr lesen. Er ist blind.“ „Was?“ Mello hielt die Augen auf Echo gerichtet, der langsam die Bandagen abnahm, sodass seine geschlossenen Lider zu sehen waren. Als er sie öffnete, sah der 24-jährige, was mit dem Jungen nicht stimmte: er hatte keine Augen mehr. „Sigma hat ihn vor vier Jahren zusammen mit einigen anderen Rookies verschleppt, da war Echo gerade erst 12 Jahre alt. Er nahm ihm seine Augen, um sie seiner Trophäensammlung hinzuzufügen und seitdem er hier in Efrafa ist, liest Morph ihm jeden Tag etwas vor, weil Echo nicht mehr in der Lage ist, irgendetwas zu lesen.“ Schließlich legte Echo die Bandagen wieder an und legte sich hin. „Andere hatten eben nicht so viel Glück wie du. Manche haben ihre Familien verloren, bevor sie nach Down Hill kamen. Ehepartner, Freunde, Familien, Kinder. Wir konnten überleben, weil wir uns zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen haben, in welcher der Zusammenhalt untereinander stärker ist als woanders in diesem Gefängnis und wir nie unüberlegt handeln. Unter unserem Shutcall konnten wir eine geordnete Gruppe aufbauen, die zu den stärksten in Down Hill zählt, direkt neben Songan und Konngara. Hier kämpfen die Starken, um die Schwächeren zu beschützen und jeder hat hier seine feste Aufgabe. Und Echo hat damals sein Augenlicht geopfert, um unseren jetzigen Shutcall zu retten. Aus diesem Grund beschützen wir ihn auch. Wir versuchen nach den Regeln und Prinzipien einer vernünftigen Gesellschaft zu leben und uns unsere Menschlichkeit zu bewahren, um einander zu helfen. Deswegen gibt es innerhalb von Efrafa auch keine solchen Übergriffe wie du sie erlebt hast und wenn, dann werden sie hart bestraft. Im Grunde ist Efrafa eigentlich das Paradies von Down Hill. Alles, was wir tun müssen ist, auf die Befehle unseres Shutcalls zu hören und ihm loyal zu bleiben. Dann können wir hier meist ein ruhiges Leben führen. Wir haben unsere eigene Logistik, direkten Zugriff auf Schmuggelwaren, Waffen, medizinisches Personal und saubere Quartiere. Dass du hergekommen bist, war die vernünftigste Entscheidung, die du treffen konntest.“ Rhyme schlug langsam die Decke beiseite und begann damit, Mello die Bandagen abzunehmen und ihn zu waschen. Er ging dabei sehr professionell vor und machte es fast schon, als wäre es für ihn reine Routine. Das erleichterte es auch Mello ein Stück weit, diese beschämende Prozedur über sich ergehen zu lassen. Natürlich war es ihm immer noch furchtbar unangenehm und er schämte sich auch. Vor allem aber musste er sich an diese Vergewaltigung zurückerinnern und an die Qualen, die er dabei erlitten hatte. Nachdem Rhyme fertig war, behandelte er die Wunden mit einer Salbe und bandagierte sie wieder. Im Anschluss half er Mello dabei, einen Pyjama anzuziehen. „Er ist leider etwas groß, weil es manchmal schwer ist, vernünftige Kleidung zu bekommen, die auch hundertprozentig passt. Ich leih dir übergangsweise ein paar meiner alten Klamotten, solange du noch keine eigenen hast.“ „Gibt es hier keine Gefängniskleidung oder so?“ „Nein. Wir tragen meistens die Sachen, mit denen wir hier hergebracht wurden und der Rest unserer Kleidung wird uns dann zugeschickt.“ Schließlich, als Mello umgezogen war, hob Rhyme ihn hoch und legte ihn ins Bett daneben, damit er das andere neu beziehen konnte. Dabei wurde schnell klar, wie kräftig er eigentlich war. Obwohl er nur gut fünfzehn bis zwanzig Zentimeter größer war, konnte er Mello problemlos hochheben. „Und wieso seid ihr hier?“ „Wir sind Ghosts, so wie die meisten neueren Insassen. Schwerkriminelle findest du hier meistens nur unter den Patriarchen. Es gibt hier aber auch ein paar, die waschechte Reds sind.“ „Reds?“ „So werden Rebellen, Oppositionelle und aktive Systemfeinde genannt. Die Farbe Rot ist eine sehr beliebte Farbe unter den Widerstandskämpfern und deshalb wirst du hier als Red bezeichnet, wenn du als Regimefeind eingeliefert wirst. Echo zum Beispiel ist der Sohn einer Rebellenfamilie und der Einzige, der von dieser überlebt hat.“ „Und du?“ „Ich bin ein Ghost. Über mich gibt es nicht viel Spannendes zu erzählen. Ich hab ein einfaches Leben zusammen mit meinen Freunden geführt, bevor wir auseinandergegangen sind. Dann hat mich die KEE erwischt und ich bin hier aufgewacht.“ Schließlich hatte Rhyme seine Arbeit beendet und legte Mello wieder in sein Bett zurück und deckte ihn zu, dann legte er ihm einen feuchten Lappen auf die Stirn, um wenigstens für ein bisschen Kühlung zu sorgen. Mello fühlte sich vollkommen erschöpft und kraftlos und er bezweifelte, dass er wirklich noch großartig etwas ausrichten oder von hier abhauen konnte. Er war müde und er merkte jetzt auch deutlich, dass er Hunger und Durst hatte. „Wie lange war ich denn eigentlich weggetreten?“ „Drei Tage hast du auf der Intensivstation gelegen, dann wurdest du hergebracht und hast den ganzen Tag geschlafen. Also summa summarum bist du schon vier Tage hier. Nur ist dein Fieber erst gestern ausgebrochen, also kann es sein, dass du noch ein paar Tage hier bleiben musst. So, ich bin gleich wieder zurück.“ Damit verabschiedete sich Rhyme und verschwand aus dem Zimmer. Aber kurz darauf kam er mit einem Tablett zurück. Das erste stellte er auf einem kleinen Tischchen neben Echos Bett ab und holte schließlich Mellos, wobei er erklärte „Vinny meinte, Hühnersuppe wäre das Beste gegen Grippe, Erkältung und Fieber. Passt aber auf, er liebt es gerne scharf und deshalb kocht er auch etwas schärfer.“ Es gelang Mello mit Rhymes Hilfe, sich aufzusetzen und etwas zu essen. Es gab zu der Suppe noch drei Scheiben Brot und als er den ersten Bissen gegessen hatte, bemerkte er auch, wie hungrig er eigentlich war und selten war er so dankbar über eine warme Mahlzeit gewesen. „Wenn du einen Nachschlag willst, musst du nur Bescheid sagen. Wir haben frische Vorräte reinbekommen und da wird eben auch etwas mehr gekocht.“ „Wie jetzt? Gibt es hier keine Gefängniskantine?“ „Die gab es mal, aber inzwischen ist sie umfunktioniert worden. Wir bekommen gewisse Grundnahrungsmittel über eine festgelegte Lieferroute und verteilen sie dann an die Insassen. Zum Beispiel Nudeln, Brot, Reis. Ein Mal in der Woche gibt es auch Fleisch, aber da es kein frisches Gemüse oder Obst gibt, haben die Patriarchen Beziehungen zu den Gefängniswärtern an der Erdoberfläche, die uns mit weiteren Gütern beliefern. Über Doktor Helmstedter haben wir ebenfalls eine eigene Schmuggelroute und bekommen auf diese Weise auch Waffen und andere Güter geliefert.“ Offenbar hatten sich die Insassen über die Jahre gut organisiert. Echo fügte nach kurzer Überlegung noch hinzu „Im Grunde kannst du Down Hill wie eine unterirdische Gefängnisstadt betrachten. Ebene 0 und Ebene 2 sind die Stützpunkte der verschiedensten Gruppen und waren zu Anfangszeiten Gefängnisse. Core City ist die Hauptstadt. Früher war das mal die Verwaltungsebene mit VIP-Zellen gewesen, die relativ luxuriös im Vergleich zu denen im Asylum sind. Dort findest du nicht nur das Bordell und die ganzen Anlagen, sondern auch Geschäfte. Tattoostudios, einen Friseur, Warenhändler und anderen Schnickschnack. Wenn du etwas brauchst, findest du es in Core City. Hier auf Ebene 2 gibt es hin und wieder mal Ärger mit den anderen Gruppen, weil die nämlich an unsere Schmuggelwege kommen wollen. Aber zum Glück haben wir Christine und die anderen. Die beschützen unseren Stützpunkt. Naja, ich will mal nicht so viel auf einmal erzählen. Mit der Zeit findest du schon noch heraus, wie hier der Hase läuft und dann verstehst du auch die Struktur im Gefängnis. Solange du hier noch auf der Quarantänestation festsitzt, wirst du vom Efrafa-Alltag eh nicht viel mitkriegen. Erst mal solltest du wieder gesund werden.“ „Genauso wie du“, fügte der Weißhaarige noch hinzu und setzte sich schließlich auf einen Stuhl. „Also… Da ich gerade Luft habe, lese ich ein Kapitel vor, wie versprochen.“ „Toll, danke!“ rief Echo begeistert und aß weiter. Mello selbst bekam nicht viel von dem mit, was Rhyme da vorlas. Er merkte nur nebenbei, dass es offenbar eine Art Fabel über ein Kaninchenvolk war, welches von einem Fürsten angeführt wurde, den man auch den Fürst mit den tausend Feinden nannte. Nicht gerade die Art von Lektüre, die er selber unbedingt lesen würde, aber er hatte sowieso nie sonderlich viel vom Lesen gehalten. Er hörte aber trotzdem zu, da er ahnte, dass es eventuell die einzige Unterhaltung in den nächsten Tagen sein würde. Nachdem er aufgegessen hatte, legte er müde den Kopf ins Kissen und schloss die Augen. Es war schon ein seltsames Gefühl nach allem, was ihm passiert war. Er hatte die Hölle gesehen und nun war er in Sicherheit. Man kümmerte sich um ihn und keiner versuchte, ihm irgendetwas anzutun. Selten war Mello so erleichtert gewesen wie in diesem Moment. Er war dieser Hölle entkommen… Kapitel 2: Unruhige Nacht ------------------------- Nach einem langen und sehr tiefen Schlaf wachte Mello auf und fragte sich, wie spät es wohl gerade war. Ein Blick auf die Uhr an der Wand verriet ihm, dass es halb vier Uhr morgens war. Irgendwie kam ihm das gar nicht so vor, aber hier in diesem Gefängnis, wo es weder Tag noch Nacht gab, verlor man wahrscheinlich irgendwann das Zeitgefühl. Es war dunkel hier drin und er hörte Echo leise schnarchen. Vielleicht sollte er auch noch ein wenig schlafen. Vielleicht wäre das ja die vernünftigste Idee gewesen, denn Schlaf war ohnehin das beste Mittel gegen Fieber. Doch irgendwie fand er keine Ruhe. Sein Hals fühlte sich sehr trocken an und außerdem knurrte sein Magen. Oh Mann… kaum, dass er in Sicherheit war, schien sein Leben offenbar nur noch aus Essen, Trinken und Schlafen zu bestehen. Mit etwas Mühe schaffte er es, aus dem Bett zu steigen und auf eigenen Beinen zu stehen. Neben seinem Bett standen Schuhe, die allerdings nicht seine waren. Und auf der Kommode lagen zwei schwarze zusammengefaltete Shirts, zwei Hosen und Unterwäsche. Offenbar hatte Rhyme sie vorbeigebracht, während er geschlafen hatte. Da Mello aber sowieso schon kaum Energie hatte und froh war, wenn er alleine laufen konnte, beschloss er, einfach im Pyjama zu bleiben. Er ging ja eh wieder ins Bett zurück, da lohnte es sich sowieso nicht, sich umzuziehen. Langsam wagte er die ersten Schritte, musste sich aber an der Wand abstützen, da seine Beine wie aus Gummi waren und kaum Kraft hatten, um sein Gewicht zu halten. Ihm wurde kurzzeitig schwarz vor Augen und er merkte so langsam, dass sein Kreislauf echt im Keller war. Er wankte durch den Raum und erreichte eine Tür. Als er sie öffnete, erreichte er einen langen Gang, der zu mehreren Stahltüren führte. Offenbar war er wieder in einem Zellentrakt, nur war dieser bei weitem besser in Schuss als der Westblock in Ebene 0. Stellte sich jetzt nur die Frage, wohin er gehen sollte. Denn er hatte echt keine Ahnung, wo er jetzt genau war und wo er was fand. Er trat langsam auf den Gang und spürte den kalten Boden unter seinen nackten Füßen. Es war still hier, sehr still. Ob hier alle etwa schliefen? Offenbar hatten sie ihren eigenen Tagesrhythmus entwickelt und es gab hier an diesem Ort ohne Tageslicht dennoch so etwas wie Tag und Nacht. In dem Fall konnte er wohl nicht damit rechnen, dass er hier jemanden finden würde. Und hoffentlich verlief er sich nicht, denn irgendwie sah jede Tür gleich aus. Der Gang wurde nur sehr schwach beleuchtet, sodass man sich ungefähr orientieren konnte. Aber sonderlich viel half ihm das auch nicht wirklich weiter. Mello wollte gerade weitergehen, da hörte er das Geräusch schwerer Stiefel und ehe er sich versah, kam ein Schatten um die Ecke und zuerst wusste er nicht, ob er vielleicht abhauen sollte. Doch da war es auch schon zu spät und er sah eine Frau um die Ecke kommen. Sie trug eine Militärsjacke, ein weißes Shirt und khakifarbene Hosen. Sie hätte vielleicht wie eine typische Soldatin ausgesehen, hätte sie nicht diese Rastalocken gehabt, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte. An ihrem linken Auge hatte sie ein schwarzes Tribal Tattoo und auf ihrem Gesicht zeichneten sich harte Züge ab und man sah ihr an, dass sie keinen Spaß verstand. Vom Alter her schätzte Mello sie um einiges älter als er selbst. Vermutlich um die 40 Jahre, vielleicht auch etwas älter. Sie trug ein Maschinengewehr bei sich und kaum, dass sie ihn sah, richtete sie den Lauf auf ihn. „Was hast du hier zu suchen?“ fragte sie in einem strengen Kasernenton. Sofort hob Mello die Hände, um zu signalisieren, dass er unbewaffnet war. „Ich wollte nicht umherschleichen, ich…“ „Wer bist du? Ich hab dich hier noch nie vorher gesehen.“ „Ich bin neu hier. Mein Name ist Mello und ich…“ „Schon gut Christine, er gehört jetzt zu uns.“ Eine weitere Frau kam hinzu, die aber etwas jünger war als diese Christine. Sie hatte ordentlich frisiertes blondes Haar und trug einen Arztkittel, außerdem war sie Brillenträgerin. Sie wirkte etwas jünger und lebhafter und hatte ein fröhliches Lächeln auf den Lippen. „Er ist…“ Es mochte an den High Heels liegen, die diese Frau trug, als sie plötzlich falsch auftrat und der Länge nach vornüber zu Boden fiel. Mello sah sie etwas ungläubig an und fragte sich, was das wohl für eine war. Christine half der Frau hoch, die sich den Staub von der Kleidung klopfte und jammerte „Ach Mann… ich hab doch tausend Mal gesagt, sie sollten doch öfter mal den Boden wischen. Das ist so ekelhaft. Es ist so… so schmutzig hier.“ Schließlich, nachdem sie ihre Brille wieder aufgesetzt hatte, räusperte sie sich und reichte Mello zur Begrüßung ihre Hand, an der sie einen weißen Latexhandschuh trug. „Hallo Mello, ich bin Birdie, die medizinische Assistentin von Dr. Helmstedter und für die Betreuung der Patienten zuständig. Christine hier ist die rechte Hand unseres Shutcalls und gleichzeitig auch der Shutcall der Festung Helena. Sie hat hier heute die Nachtwache inne. Aber sag mal, was schleichst du hier durch die Gegend? Du solltest auf der Quarantänestation bleiben, bis du wieder gesund bist. Ansonsten steckst du hier noch alle anderen an und wie haben hier mehr Kranke, als wir uns in unserer Situation erlauben können!“ „Ich hatte Durst und keinen Plan, wo ich hin sollte.“ „Ach so. Na da kann ich dir auch gerne helfen. Aber erst mal solltest du zurück auf die Station, ich komm gleich vorbei und dann können wir einander besser kennen lernen.“ Damit begleitete Birdie ihn zurück und er blieb noch an der Zimmertür stehen, als er hörte, wie die Ärztin erneut stürzte und der Länge nach hinfiel. So langsam verstand er, wieso sie „Birdie“ genannt wurde. Irgendwie schien die Frau eine Vollmeise zu haben. Ihm entging nicht, dass Christine ihn misstrauisch anfunkelte und wartete, bis er wieder im Quarantänezimmer war. Ihr Auftreten sprach eindeutig dafür, dass sie Soldatin war. Mit Sicherheit war sie eine ziemlich gefährliche Frau, mit der man sich besser nicht anlegen sollte. Nein, sie wusste sich sehr gut zu verteidigen. Insbesondere gegen Männer. Mello legte sich wieder ins Bett und kurz darauf kam Birdie herein. Kaum, dass sie an Echos Bett vorbei kam, geriet sie wieder ins Stolpern, konnte sich aber noch im allerletzten Moment fangen und stellte schließlich eine Trinkflasche auf dem Tisch ab und dazu noch einen Teller mit einem dick belegten Brötchen. Dankbar dafür nahm Mello beides an, denn er kam sich vor, als würde seine letzte Mahlzeit Tage zurückliegen. „Wie geht es dir sonst? Hast du irgendwelche Schmerzen oder Beschwerden?“ „Mein Kreislauf ist echt im Arsch, aber… komischerweise sind die Schmerzen fast weg.“ „Ich hab dir ein Schmerzmittel gegeben, als du geschlafen hast. Du darfst Christine diese ruppige Behandlung nicht ganz so übel nehmen. Sie ist wirklich eine wunderbare Person, sie hatte wahrscheinlich nur einen schlechten Tag.“ Aha… und an den guten Tagen hält sie mir wohl ein Messer an die Kehle, dachte sich der 24-jährige und nahm einen Schluck Wasser. Es schmeckte deutlich nach Leitungswasser, aber das war wohl ein Zustand, an den er sich wohl gewöhnen musste. „Eines musst du mir mal erklären“, sagte Birdie, während sie sie nun damit begann, mit einem kleinen Handstaubsauger die Krümel wegzusaugen. Und sie machte auch keine Anstalten, damit aufzuhören. Ganz offensichtlich hatte sie einen Sauberkeitstick. „Wie hast du es denn aus dem Hell’s Gate rausgeschafft?“ „Du weißt davon?“ „Ganz Efrafa spricht über kaum etwas anderes. Vor allem, weil es noch nie jemandem gelungen ist. Also erzähl schon: wie ist dir das bis dahin Unmögliche gelungen und das dann auch noch in diesem Zustand?“ Mello dachte wieder zurück an diese schrecklichen Horrormomente im Hell’s Gate. Das Surren der Fliegen und der infernalische Verwesungsgestank. Die Berge von verrotteten Leichen und die Hilfeschreie der Sterbenden. Allein der Gedanke daran war beängstigend und trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Er erinnerte sich, wie er verzweifelt versucht hatte, den Luftschacht zu finden und wie er dann vor Erschöpfung zusammengebrochen war. Wie dieses Wesen mit der Kapuze ihn gefunden und ihn bei seinem richtigen Namen genannt hatte. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr so wirklich. Da war jemand bei mir gewesen und hat mich getragen. Ich glaube… es war Matt.“ „Matt?“ fragte Birdie, doch es hörte sich nicht danach an, als wolle sie fragen, wer denn bitteschön dieser Matt war. Nein, sie schien ganz genau zu wissen, von wem die Rede war, nur schien sie es nicht wirklich glauben zu können. „Also ich weiß nicht… Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass er je gesagt hätte, dass er irgendwo hingehen würde. Und dann hätte er dich doch persönlich hergebracht.“ „Du kennst Matt?“ rief Mello und wurde dabei versehentlich so laut, dass Echo durch den Lärm wach wurde. Dieser gähnte leise und setzte sich auf. „Was ist los? Was schreit ihr so herum?“ Doch Mello hatte für ihn jetzt keinen Kopf, sondern ihn interessierte nur eines. Nämlich die Frage, was Birdie mit Matt zu schaffen hatte. „Ist er hier?“ „Äh ja… er ist…“ „Ich muss zu ihm und zwar sofort.“ Mello wollte wieder aufstehen, doch Birdie ließ das nicht zu und drückte ihn aufs Bett zurück. Hätte der 24-jährige kein hohes Fieber gehabt, dann hätte er sich locker zur Wehr setzen können. „Nichts da“, erklärte die Ärztin entschieden. „Du bleibst hier in Quarantäne, bis du wieder gesund bist und keine Ansteckungsgefahr mehr besteht. Wir können nicht riskieren, dass mehr Leute als nötig krank werden.“ „Ja aber…“ „Kein Aber. Matt läuft dir schon nicht davon und wenn du erst mal wieder gesund bist, hast du alle Zeit der Welt, um mit ihm zu reden. Tut mir leid, aber als Ärztin kann ich es nicht verantworten.“ „Geht es ihm wenigstens gut?“ „Es geht ihm bestens. Viel eher solltest du dir Sorgen darum machen, was mit dir ist. Immerhin liegst du hier nach einer Operation und mit hohem Fieber. Du kannst froh sein, dass du noch lebst. Wenn ich dir also einen guten Rat geben darf: leg dich hin, schlaf viel und erhol dich. Je schneller du gesund wirst, desto schneller siehst du deinen Freund wieder. Aber eines würde ich dann noch gerne wissen: was genau hast du mit Kaonashi zu tun?“ „Wieso fragst du? Was weißt du über ihn?“ wollte Mello wissen, denn nachdem er von Rhyme bereits erfahren hatte, dass dieser maskierte Kerl doch tatsächlich ein Shutcall sein sollte, machte dieser ihn sowieso schon neugierig. Birdie nahm ihre Brille ab und begann die Gläser zu putzen. Echo, hatte sich wieder hingelegt und war wohl wieder eingeschlafen. „Kaonashi ist vor knapp drei Jahren nach Down Hill gekommen. Er hat schon damals eine Maske getragen und keiner hat je sein Gesicht gesehen. Kaum, dass er hier war, tötete er die Shutcalls, die die Gebiete innerhalb von Core City kontrolliert hatten und übernahm damit die gesamte Ebene. Obwohl er immer alleine kämpft, hat er problemlos Rikers Bande ausgelöscht und er lässt auch kaum eine Gelegenheit aus, um uns zusätzlich Ärger zu machen. Er und unser Shutcall stehen auf Kriegsfuß und er hat auch schon zwei Mordanschläge verübt, die wir aber glücklicherweise vereiteln konnten. Deswegen wundert es mich, warum er dich zu uns bringt. Einige vermuten, du könntest ein Spion sein, den er geschickt hat.“ Irgendwie fiel es Mello schwer zu glauben, dass Kaonashi wirklich so war. Zugegeben, der Kerl war ihm zwar nicht ganz geheuer, weil er ihn nicht hundertprozentig einzuschätzen wusste, aber er hätte nicht gedacht, dass er dermaßen brutal und grausam war. „Ich weiß auch nicht, wer er ist“, gab er schließlich zu. „Als ich aufgewacht bin, war er ebenfalls da gewesen. Zusammen mit einem Kerl, der sich Horace Horrible nannte. Er hat mir alles erklärt und als ich im Westblock war, hat er mir geraten, hierher zu kommen und er hat mir geholfen, aus der Zelle zu entkommen. Mehr war da nicht und ich würde ja selber gerne wissen, warum er mir geholfen hat.“ Birdie nickte nur, wirkte aber nicht ganz überzeugt von Mellos Geschichte. Natürlich konnte er gut verstehen, warum sie ihm kaum glaubte. Was hatte ein so gefährlicher Shutcall denn davon, einem Rookie zu helfen, den er nicht mal kannte? Natürlich war das mehr als fragwürdig und er wäre genauso misstrauisch an ihrer Stelle. Schließlich aber brach Birdie ihr Schweigen und meinte „Nun, jedenfalls scheinst du bei Kaonashi offenbar eine weichherzige Seite offenbart zu haben. Wer weiß… vielleicht mag er dich ja und hat eine kleine Schwäche für dich. Und nun spielt er die Rolle des geheimnisvollen und dennoch aufopferungsvollen Beschützers. Ich hab ja schon immer gewusst, dass er kein schlechter Mensch ist.“ Und das sagte sie mit einem so unschuldigen und naiven Lächeln, dass er sich so langsam fragte, ob Birdie nicht wirklich eine Vollmeise hatte. „Aber sag mal: weshalb haben sie dich eigentlich hergebracht?“ „Höchstwahrscheinlich, weil mein richtiger Name nicht bekannt ist.“ „Ach so, dann bist du also ein Ghost. Nun, die meisten Rookies, die hier reinkommen, sind entweder Reds oder Ghosts.“ „Und du?“ „Ich bin ebenfalls ein Ghost. Vor meiner Einlieferung vor acht Jahren habe ich als Ärztin in einem Krankenhaus in Tokyo gearbeitet, weil ich in den USA keine Anstellung gefunden habe. Na jedenfalls habe ich dann die Bitte von einer Widerstandsgruppe erhalten, sie zu unterstützen und das habe ich dann auch getan. Immerhin hatten sie keine Papiere mehr und konnten nicht ins Krankenhaus. Aber dann hat uns die KEE gefunden und ich bin hier gelandet. Inzwischen habe ich aber den Status als Medic.“ „Medic?“ „Ja genau. So werden die Leute in Down Hill genannt, die eine medizinische Ausbildung haben. Wie zum Beispiel Ärzte, Chirurgen und Krankenpfleger… Wenn sie sich dafür entscheiden, als solche hier zu arbeiten, genießen sie eine Art Sonderstellung. Das heißt, sie haben keine Gefahr durch die Gewalt anderer zu befürchten. Denn da seit 15 Jahren kein Personal mehr von der Oberfläche runter nach Down Hill kommt, gibt es also auch keine Ärzte. Und da es hier oft zu Übergriffen und Bandenkriegen kommt, werden Medics immer gebraucht. Und damit man sie erkennt, tragen sie alle eine Arztuniform.“ „Wie es aussieht, ist das hier eine Art Miniaturstaat innerhalb eines Gefängnisses“, stellte Mello fest, als er sich das alles durch den Kopf gehen ließ. „Und wieso hast du die Widerstandskämpfer unterstützt, wenn du doch wusstest, wie gefährlich das ist?“ Birdie zuckte naiv lächelnd mit den Schultern und erklärte „Ich wollte das Richtige tun. Nicht mehr und nicht weniger. So, aber jetzt leg dich lieber noch etwas hin und versuch etwas zu schlafen. Schlaf ist sowieso das beste Heilmittel gegen Krankheit.“ Und nachdem Birdie nach einer kurzen Kontrolle die letzten Krümel entfernt hatte, verabschiedete sie sich und ging. Mello nahm noch einen Schluck aus der Wasserflasche und legte sich dann auch wieder hin. Aber einschlafen konnte er irgendwie nicht. Denn nun, da er wieder ein klein wenig bei Kräften war, kamen auch die Bilder zurück. Die Erinnerungen und die Angst, die er im Westblock durchlebt hatte, war wieder sehr präsent in seinem Bewusstsein. Und immer wieder hatte er das schrecklich entstellte Gesicht seines Vergewaltigers vor Augen, wie er ihm ins Gesicht lachte und mit dieser rauen und unmenschlichen Stimme „kleines Schweinchen“ flüsterte. Auch wenn er jetzt endlich in Sicherheit war und ihm so etwas Schreckliches hoffentlich nicht noch mal passieren musste, würde es dennoch eine Weile dauern, bis er dieses Trauma wirklich verarbeitet hatte. Und insgeheim wünschte er sich, dass Birdie oder Rhyme da wären und er sich mit ihrer Hilfe von diesen Horrorerinnerungen ablenken konnte. Einfach nur um nicht mehr daran denken zu müssen, was ihm widerfahren war. Rhyme hatte sich unbemerkt aus Efrafa davongeschlichen, ohne dass jemand etwas bemerkt hatte. Umso besser. Es hätte nur für Komplikationen gesorgt und schlimmstenfalls hätte es noch fatale Konsequenzen für die anderen gehabt. Eigentlich wollte er sich so schnell nicht wieder mit ihm treffen, aber nach der „Sitzung“ beim Doktor brauchte er jetzt unbedingt jemanden, mit dem er offen reden konnte. Es war finster, da nachts von 23 bis 5 Uhr die Lichter automatisch gedimmt wurden, damit sich die Generatoren nicht überlasteten und man auf die Weise eine Art Tag-Nacht-Rhythmus beibehalten konnte. Natürlich gab es dennoch genügend Leute, die wach blieben und diese Dunkelheit auch für Angriffe nutzten, aber auch für die Fälle hatte sich Efrafa bestens vorbereitet und Nachtwachen eingeteilt. Und darin lag die Schwierigkeit: unbemerkt vorbeizuschleichen, ohne Verdacht zu schöpfen. Zum Glück war es ihm gelungen, an Christine vorbeizukommen, ohne dass sie ihn bemerkte. Danach war er einfach in den Lüftungsschacht geklettert und war dann an dem Seil nach unten geklettert. Normalerweise würde er ja Fiver fragen, aber inzwischen kannte er den Weg in und auswendig und den Jungen um die Zeit wach zu machen wäre auch nicht sehr nett gewesen. Schließlich hatte er sein Ziel erreicht und kroch aus dem Schacht heraus. Er war in einer Art kleinen Wohnung, in der es ein großes Bett, einen Tisch, einen Gaskocher, einen kleinen Kleiderschrank und sogar einen Fernseher mit DVD-Player gab. Dort lief gerade Bambi und auf dem Bett saß Clockwise, ungeduldig und mit deutlicher Unruhe und Rastlosigkeit in seinen Augen. Für gewöhnlich war er ja ein wahrer Sonnenschein, aber heute war ihm seine Sorge deutlich anzusehen. Als er sah, wer durch den Luftschacht in sein Zimmer gekommen war, sprang er auf und eilte zu seinem Besucher hin. „Rhyme“, rief er und umarmte ihn. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich zu sehen. Ich hatte irgendwie so ein ganz merkwürdiges Gefühl gehabt, dass du vielleicht nicht kommen würdestm weil dir irgendetwas zugestoßen ist.“ „Es geht mir gut“, versicherte Rhyme ihm, auch wenn das nicht gerade die ehrlichste Antwort war. Es war ihm schon mal deutlich besser gegangen und schuld daran war nur der Doktor. Clockwise musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu küssen und sofort erwiderte Rhyme den Kuss. Auch wenn sie sich zuletzt vor einer Woche gesehen hatten, fühlte es sich für sie beide wie eine Ewigkeit an. Wie gerne hätten sie sich doch jeden Tag gesehen. Am liebsten hätten sie jede einzelne Sekunde miteinander verbracht, aber es sollte nicht so sein. Denn es gab Dinge, die bedeutend wichtiger waren und für die sie ihre Beziehung zueinander nun mal zurückstellen mussten. „Wie geht es dir denn?“ fragte Rhyme schließlich und Clockwise schaltete nun den Fernseher aus. „Ach wie soll es mir schon gehen?“ entgegnete der 25-jährige Schauspieler und seufzte. „Es gibt immer viel zu tun. Wenn ich nicht mit Horace für die Theatervorstellungen probe, darf ich Kaonashi seine Präparate hinterherschmeißen, weil der Sturkopf es nie lernt, dass er auch diese nehmen muss und dass es nicht reicht, bloß viel Milch zu trinken und gesund zu essen. Zwischendurch hatten er und Horace sich mal wieder ein wenig gezankt und momentan ist wieder etwas Ruhe eingekehrt. Aber sag mal, was macht denn eigentlich der Rookie, den ihr bei euch auf der Krankenstation habt?“ „Er ist inzwischen wieder wach, ist aber gesundheitlich stark angeschlagen und er wird deshalb noch eine Weile brauchen, bis er wieder genesen ist. Wieso seid ihr denn eigentlich so interessiert an diesem Mello?“ Doch auch Clockwise wusste da keine genaue Antwort und zuckte unsicher mit den Schultern. „Also was das betrifft, hat Kaonashi nichts Direktes gesagt. Ich weiß nur, dass Mello ein alter Freund von diesem Matt ist und aus dem Waisenhaus stammt, von welchem Nine uns erzählt hat. Ich hab auch keine Ahnung, was an ihm so ungewöhnlich ist. Das einzig Merkwürdige war, dass er ins Hell’s Gate hinabgestürzt ist und von Umbra gerettet wurde.“ „Umbra?“ fragte Rhyme ungläubig und schüttelte den Kopf. „Was hat er mit Umbra zu schaffen?“ „Keine Ahnung. Aber Kaonashi und Horace vermuten, dass zwischen Mello und Umbra eine Verbindung existieren muss. Oder aber Mello hat irgendetwas an sich, das Umbra anlockt.“ „Und was plant Kaonashi jetzt?“ „Er will Mello noch mal aufsuchen, wenn die Luft rein ist. Ich denke mal, er will ihn benutzen, um vielleicht so an Informationen über Umbra zu kommen und herauszufinden, was Hi… äh… Doktor Helmstedter plant. Vielleicht schafft er es ja, ihn als Verbündeten für unseren Plan zu gewinnen. Dann hätten wir zumindest mehr Chancen. Und hast du schon etwas in Erfahrung bringen können?“ Doch was das betraf, musste Rhyme ihn enttäuschen. „Leider nein. Helmstedter denkt nach wie vor, dass Kao damals gestorben ist und da Horace sich gut getarnt hat, scheint er wohl noch keinen Verdacht zu schöpfen. Lediglich über mich weiß er ja Bescheid… und nutzt das natürlich auch aus.“ Hierauf ergriff Clockwise seine Hand und hielt sie fest. Sie fühlte sich so warm an, obwohl sie eigentlich kalt sein sollte. Genauso wie das Innere von Rhymes Körper. Dann schließlich lehnte sich der Schauspieler an ihn und ergriff seinen Arm. „Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass er dir etwas antut. Vielleicht wäre es besser, wenn du den Untergrund verlässt und dich uns anschließt. Bei uns bist du sicher und wir halten zusammen so wie damals.“ „Das kann ich nicht“, seufzte Rhyme. „Wenn ich es tue, dann wird Helmstedter den anderen etwas antun und das kann ich nicht zulassen. Allein der Gedanke, dass er Echo für seine Experimente benutzt, ist schrecklich und auch wenn der Untergrund sich mit Helmstedter verbündet hat, sie sind gute Menschen und sie sind meine Freunde.“ „Dann versprich mir wenigstens, dass du uns sofort holen kommst, wenn du in Schwierigkeiten stecken solltest. Du weißt, ich liebe dich und ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dich zu verlieren. Vorher würde ich Helmstedter eigenhändig töten.“ „Das weiß ich, aber ich will nicht, dass noch einer meiner Freunde zum Mörder wird.“ Hieraufhin nahm Rhyme Clockwise in den Arm und hielt ihn fest. Dieser erwiderte diese innige Geste und wünschte, sie könnten sich für immer so nah sein. „Es tut mir leid“, sagte der Schauspieler nach einer Weile, als er in Rhymes magentafarbene Augen sah. „Das alles wäre nicht passiert, wenn ich damals den Mut besessen hätte, ihn zu töten. Dann wären wir jetzt alle nicht hier und du und Kao hättet nicht so leiden müssen.“ Doch Rhyme lächelte nur und streichelte sanft den Kopf seines Freundes. „Du kannst nichts dafür“, erklärte er. „Wir waren Kinder gewesen und hatten eh keine Perspektiven. Keiner hat dir je Vorwürfe gemacht. Weder ich, noch Kaonashi oder Horace. Die Vergangenheit ist nicht zu ändern. Alles, was wir tun können ist, die Zukunft zu ändern. Und deshalb muss jeder von uns Opfer bringen, damit wir diesen Alptraum beenden können. Eines verspreche ich dir: wenn wir es geschafft haben und Helmstedter tot ist, dann wird es zwischen uns beiden keine Abschiedsküsse mehr geben. Ganz egal ob wir hier rauskommen oder nicht. Und wer weiß… vielleicht hat Kaonashi ja noch einen Plan. Wenn er schon ein Auge auf Mello geworfen hat und dieser sogar schon von Umbra gerettet wurde, dann kann es doch nur eine Frage der Zeit sein, bis wir die letzten Rätsel gelöst haben und endlich wissen, was wirklich in Down Hill vor sich geht. Doch jetzt will ich erst mal nicht mehr daran denken. Wenn ich schon gleich wieder zurückgehen muss, dann will ich wenigstens die kurze Zeit mit dir genießen und nicht über andere sprechen.“ Damit drückte Rhyme Clockwise aufs Bett und küsste ihn erneut. Dieses Mal länger und viel leidenschaftlicher. Dieser Kuss wurde sofort erwidert und Clockwise schlang seine Arme um ihn. „Du hast Recht“, sagte er schließlich und hatte sein Lächeln wiedergefunden. „Und nachdem ich schon mit anhören musste, wie Horace und Kao ihren Spaß haben, ist eine kleine Entschädigung deinerseits mehr als angebracht. Also halte dich bloß nicht zurück, klar? Wenn die mich schon mit ihrem Gestöhne die ganze Zeit wach halten müssen, dann können wir sie doch jetzt genauso gut mit unserem Gestöhne aus dem Bett schmeißen. Nur so als kleine Rache, was meinst du?“ Bei dem Gedanken musste Rhyme lachen. „Manchmal bist du wirklich durchtrieben, mein Lieber.“ „Ach komm, das liebst du doch an mir.“ Und damit zog Clockwise seinen grünen Kapuzenpullover aus. „Genauso sehr wie ich dich liebe. Auch mit diesem Körper.“ Kapitel 3: Dr. Helmstedter -------------------------- Einige Tage vergingen, in denen Mellos Fieber unverändert blieb. Die meiste Zeit verbrachte er mit Essen, Trinken und Schlafen und wenn er gerade nicht schlafen konnte, unterhielt er sich mit Echo, oder hörte zu, wie Rhyme ihm etwas vorlas. Schließlich war der Junge wieder so weit gesund, dass er die Quarantänestation verlassen konnte und das bedeutete, dass Mello erst mal wieder alleine war. Die Zeit in Quarantäne war wirklich anstrengend, vor allem weil sie so langweilig war. Notgedrungen hatte er damit angefangen, Bücher zu lesen, da er sich während seiner Wachphasen ja irgendwie beschäftigen musste, um nicht noch vor Langeweile draufzugehen. Schließlich aber kam eines Tages überraschend Besuch, mit dem er gar nicht gerechnet hatte. Es war Kaonashi, der durch einen der Luftschächte hereingekommen war. Wie immer trug er seine Maske und den langen khakifarbenen Kapuzenmantel. „Hey, dir scheint es ja ganz gut zu gehen wie ich sehe“, bemerkte er und setzte sich auf das leere Bett neben Mello. „Und? Wie ist dein Eindruck so bisher von Efrafa?“ Mello fragte sich, was Kaonashi wohl hier zu suchen hatte, aber er ahnte, dass er höchstwahrscheinlich keine Antwort darauf bekommen würde und entschloss sich einfach dazu, ehrlich zu antworten. „Nun ja, außer der Quarantänestation hab ich bisher nicht viel gesehen. Dafür bin ich aber schon Rhyme, Birdie und Christine begegnet und diesem Jungen namens Echo. Die scheinen hier eine sehr strenge Ordnung in diesem Lager zu haben.“ „Das kann man wohl sagen. Efrafa ist besser organisiert als jedes andere Lager hier in Down Hill. Das ist auch der Grund, warum sie so stark sind. Sie beschützen einander und haben ein strenges, aber dennoch geordnetes Regime, in welchem jeder seinen vorgesehenen Platz hat. Eigentlich ist es der perfekte Ort für Rookies, wenn es da nicht einen entscheidenden Haken gäbe.“ „Und der wäre?“ Kaonashi verschränkte die Arme und schwieg einen Moment. Irgendetwas ging ihm in diesem Moment durch den Kopf, nur konnte man wegen der Maske nicht sehen, was er gerade dachte oder fühlte. Doch allein schon an seiner Körpersprache ließ sich erkennen, dass er wegen irgendetwas wütend war. Er kämpfte mit einem tief sitzenden Hass oder Groll. „Der Shutcall von Efrafa hat sich mit dem Teufel eingelassen und beschützt ihn. Antworte mir mal ehrlich: was ist für dich ein Monster? Ist es ein Mensch, der durch eine Verkettung schrecklicher Umstände seine Menschlichkeit verliert, jemand der nie Menschlichkeit besessen hat oder jemand, der nur nach außen hin seine Menschlichkeit verloren hat?“ Was sollte diese Frage jetzt? Irgendwie verstand Mello nicht so wirklich, warum Kaonashi ihn ausgerechnet so etwas fragte, aber er hörte schon von der Stimme her, dass ihm diese Frage anscheinend sehr wichtig war. Er stellte sie nicht nur deshalb, um ihn zu testen, oder um ihn auf eine bestimmte Lösung zu bringen. Nein, diese Frage war auch emotionaler Natur und das hatte er bisher noch nicht erlebt. Also dachte er nach und kam zu dem Entschluss „Also das größte Monster ist jemand, der noch nie Menschlichkeit besessen hat. Danach würde ich den wählen, der seine Menschlichkeit verliert und zu einem Monster wird.“ „Verstehe“, sagte der Maskierte und nickte. „Dann wären wir beide der gleichen Ansicht. Ich will dir deshalb einen guten Ratschlag geben, den du besser beherzigen solltest, wenn du eines Tages hier tatsächlich rauskommen willst: halte dich von Dr. Helmstedter fern und sag ihm nichts von deiner Begegnung mit Umbra. Sprich am besten mit niemandem darüber und belass es dabei, dass ich dich hergebracht habe. Glaub mir, es wird nichts Gutes dabei herauskommen, wenn du aus dem Nähkästchen plauderst und mit den falschen Leuten darüber sprichst. Ansonsten wirst du selbst hier in Efrafa nicht mehr sicher sein.“ „Wieso denn?“ fragte Mello, der nicht verstand, was das alles zu bedeuten hatte. „Wer oder was ist denn bitteschön Umbra?“ „Vielleicht erinnerst du dich noch an den Typen mit Kapuze, dessen Gesicht man nie sieht. Er geistert schon seit Jahren hier in Down Hill herum, taucht ebenso plötzlich auf wie er verschwindet und Kugeln können ihn scheinbar nicht töten. Da er der menschlichen Sprache nicht mächtig ist und Worte nicht zu verstehen scheint, existiert die Theorie, dass es sich um einen Häftling handelt, der im Hell’s Gate aufgewachsen ist und dann irgendwie in die obere Ebene gelangt ist. Aber Fakt ist: Umbra ist ein Monster der zweiten Art. Es war mal ein Mensch und für seinen jetzigen Zustand ist Dr. Helmstedter verantwortlich.“ Wie jetzt? Irgendwie verstand der 24-jährige gar nichts mehr und musste sich das von Kaonashi näher erklären lassen. „Dr. Helmstedter forscht seit Jahrzehnten am perfekten Menschen und schreckt dabei auch nicht vor Experimenten an lebenden Körpern zurück. Entweder malträtiert er sie so lange, bis sie sterben, oder aber er macht aus ihnen Freaks. Umbra ist das Produkt seiner Arbeit. Eine Kreatur, die man nicht töten kann und die wirklich alles Menschliche verloren hat und weder eine Persönlichkeit, geschweige denn überhaupt ein Sprachvermögen besitzt.“ „Und warum tut sich der Untergrund mit so einem Typ zusammen, der an Menschen experimentiert?“ „Es ist eine Art Zweckbündnis. Denn Helmstedter ist hier der einflussreichste Mann in Down Hill. Er mag zwar aufgrund seines Alters nicht danach aussehen, aber er ist extrem gefährlich. Wenn du nicht auf dem Seziertisch enden willst, solltest du deine Begegnung mit Umbra verschweigen. Ebenso dass es offenbar an dir interessiert ist. Da wird nichts Gutes dabei herausspringen.“ Mello erinnerte sich zurück, wie er inmitten dieses Leichenberges gelegen und dieses Wesen mit der Kapuze gekommen war. Wie es ihm sein Blut verabreicht und ihn bei seinem richtigen Namen gerufen hatte. Verwirrt schüttelte er den Kopf. „Ich kapier es nicht. Wenn der Kerl im Hell’s Gate nicht Matt war, wer ist es denn bitteschön dann?“ Nun war es Kaonashi, der wirklich verwundert war und direkt fragte „Wie kommst du darauf, dass es dein Freund war, den du gesucht hast?“ „Als ich da unten war, hat er mich bei meinem richtigen Namen genannt. Und es gab in meinem ganzen Leben nur folgende Menschen, die ihn kannten: meine tote Familie, L und Watari und Matt. Und außer Matt sind alle tot. Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass Matt mich gerettet hatte. Und jetzt das… Ich würde echt gerne wissen, was hier für eine Scheiße abläuft. Was ist das hier überhaupt für ein Ort, wo so ein Monster durch die Gegend spaziert und wo ein Doktor an Menschen experimentiert?“ „Tja, das wüsste ich auch gerne“, gestand Kaonashi und stand nun auf, woraufhin er den Raum durchwanderte. „Weißt du, ich bin nicht als Gefangener nach Down Hill gekommen. Ich bin freiwillig hier.“ „Wieso?“ „Ich habe eine alte Rechnung mit dem Doktor zu begleichen. Aber vor allem will ich auch herausfinden, was er im Schilde führt, was es mit Umbra auf sich hat und welchen Daseinszweck ein unterirdisches Gefängnis wie dieses hier hat, in welchem man zulässt, dass die Häftlinge das Kommando inne haben. Das sind so Fragen, die mich beschäftigen. Dr. Helmstedter ist übrigens auch kein Häftling wie alle anderen. Er war damals der behandelnde Arzt hier und als vor 15 Jahren der Ausbruch aus dem Asylum stattfand, ist es ihm gelungen, genug Häftlinge auf seine Seite zu ziehen, um nicht auch noch getötet zu werden. Efrafa beschützt ihn und Helmstedter wiederum unterstützt den Untergrund. Du solltest besser aufpassen, Mello. Dieser Mann ist das größte Monster, das du je in deinem Leben treffen wirst. Menschliches Leben bedeutet ihm rein gar nichts. In seinen Augen sind wir alle nur Ressourcen für seine Arbeit und mehr nicht. Also sprich mit ihm nicht über uns oder über Umbra.“ Helmstedter… der Name sagte ihm etwas. Ja, er hatte diesen Namen in der Fallakte im Büro des Westblocks gelesen, als er die Informationen zu Sigma und Scarecrow Jack überflogen hatte. Dann war das also der zuständige Gefängnisarzt von Down Hill? „Was genau weißt du über diesen Dr. Helmstedter?“ „Mehr als jeder andere Insasse. Er entstammt einer deutschen Arztfamilie, die in den 60er Jahren in die USA ausgewandert ist. Sie sind sehr einflussreich gewesen und einige von ihnen haben entweder als KZ-Ärzte gearbeitet, oder aber sie haben die Gefangenen des DDR-Regimes medizinisch betreut.“ „Klingt nicht gerade nach einer Karriere, die man im Lebenslauf angeben kann“, stellte Mello fest und Kaonashi nickte zustimmend. „Ich sehe schon, du erkennst recht schnell, was das bedeutet. Jedenfalls konnte man diese Familie fast schon mit einem Mafiaclan vergleichen. Ausnahmslos jeder in der Familie war Arzt. Die Männer genauso wie die Frauen und sie alle waren genauso kaltherzig, menschenverachtend und skrupellos wie ihre Eltern. Nach außen hin wahrten sie immer den Schein einer perfekten und hoch angesehenen Familie, doch hinter der Fassade taten sich wahre Abgründe auf. Nicht selten haben sie die Patienten in den Krankenhäusern als lebende Versuchskaninchen für neue Behandlungsmethoden und Medikationen missbraucht und alles erfolgreich vertuscht, wenn etwas schief gelaufen ist und die Patienten aufgrund dessen verstarben.“ So langsam verstand Mello die Zusammenhänge. Dieser Dr. Helmstedter war nach Down Hill gekommen, weil die Insassen offenbar für irgendwelche Studien benutzt werden sollten und die Öffentlichkeit nicht davon erfahren durfte. Und wer würde denn schon nach ein paar verstorbenen Häftlingen fragen, die ohnehin schon von der Gesellschaft geächtet wurden? „Dann war Down Hill nicht nur ein Gefängnis, sondern auch eine Versuchsanstalt?“ „Der Verdacht liegt jedenfalls nah.“ „Und was ist mit dem Rest der Familie?“ „Tot. Eines Nachts ist ein Feuer ausgebrochen und die Familie ist in den Flammen umgekommen. Dr. Hinrich Helmstedter ist der letzte Überlebende dieser Familie und er treibt weiterhin sein Unwesen. Die Polizei geht von Brandstiftung aus. Bei so vielen Feinden, die die Familie hatte, hätte mich etwas anderes auch nicht wirklich gewundert. Jedenfalls gehe ich davon aus, dass Umbra ebenfalls das Ergebnis eines Experiments von Dr. Helmstedter ist. Zumindest ist dieser Gedanke sehr plausibel, wenn man bedenkt, was für eine Kreatur Umbra eigentlich ist. Jedenfalls stellen sich folgende Schwierigkeiten, die ich zu bewältigen versuche: ich will herausfinden, wer Umbra ist oder besser gesagt war, was Dr. Helmstedter mit diesen ganzen Experimenten bezweckt und ob Down Hill wirklich eine Versuchsanstalt ist. Außerdem gibt es noch ein paar andere Rätsel, die ich lösen will und vielleicht kannst du mir helfen, wenn du wieder gesund bist. Womöglich finden wir tatsächlich einen Weg hier raus und können aus Down Hill entkommen.“ Als Kaonashi das sagte, glaubte Mello seinen Ohren nicht trauen zu können. Es gab tatsächlich einen Weg aus Down Hill? „Es gibt einen Weg, wie man von hier entkommen kann?“ „Es gibt immer einen Weg, wenn man kreativ und ideenreich genug ist. Aber erst einmal solltest du darüber schweigen und gesund werden. Im kranken Zustand kannst du eh nichts ausrichten. Ich werde jetzt sowieso gehen, weil ich noch einige Dinge zu erledigen habe. Aber ich komme noch mal vorbei. Bis dahin vergiss nicht, dass man die Ratschläge anderer Insassen beherzigen sollte, wenn man hier drin überleben will.“ „Besonders die eines Shutcalls?“ „Insbesondere die. Denn wenn ein Shutcall Ratschläge erteilt, ohne direkt eine Gegenleistung dafür zu verlangen, sind sie mehr wert als alles, was du hier sonst bekommst. Ach ja und noch etwas: wenn du mal durch die Lüftungsschächte abhauen willst, solltest du nach Fiver und Sezru rufen. Alleine verirrst du dich nur.“ Damit verschwand Kaonashi wieder durch den Lüftungsschacht und war verschwunden. So war Mello wieder alleine, aber diese ganzen Dinge, die er erfahren hatte, stimmten ihn nachdenklich. Irgendwie verstand er das nicht. Er war wirklich sicher gewesen, dass dieser Kapuzentyp Matt gewesen war. Wer auch sonst wäre es denn sonst gewesen? Nur er kam infrage, denn seine Familie, Watari und L konnten es ja nicht sein. Die waren tot. Wer also kannte denn sonst seinen richtigen Namen? Oder waren damals irgendwelche Informationen nach außen gesickert, sodass seine wahre Identität doch bekannt worden war? Tja, um das herauszufinden, brauchte er deutlich mehr Informationen. Und wahrscheinlich würde er sie noch früh genug bekommen, wenn er erst mal die Quarantänestation verlassen konnte. Eine Weile saß Mello da und dachte nach, dann öffnete sich die Tür und hagerer Mann knapp Ende 50 kam herein. Er hatte sein längst ergrautes Haar zurückgekämmt und trug eine Brille. Ein kühles und überlegenes Lächeln, welches von Kaltblütigkeit und hoher Intelligenz zeugte, spielte sich auf seine Lippen und irgendwie hatte Mello nicht gerade ein sonderlich gutes Gefühl. „Schönen guten Tag“, grüßte der Mann und kam zu ihm hin. Er machte sich nicht die Mühe, ihm die Hand zu geben, sondern überflog stattdessen sein Klemmbrett. „Ich bin Dr. Hinrich Helmstedter, der Arzt dieser Einrichtung. Ich war für die operativen Eingriffe zuständig, die an deinem Körper durchgeführt werden mussten.“ „Danke deswegen“, kam es von Mello, der irgendwie nachfühlen konnte, warum Kaonashi diesem Kerl nicht über den Weg traute. Er hatte zwar schon immer ein gewisses Gespür für Leute gehabt, denen er lieber nicht vertraute, aber dieser Doktor übertraf alles bisher da gewesene. „Und? Wie war die Erfahrung im Hell’s Gate?“ „Wie der Name schon sagt: es ist die Hölle.“ Dr. Helmstedter sah ihn nicht an, sondern schien mehr an der Untersuchung seines Patienten interessiert zu sein. Er begutachtete die genähten Wunden und stellte offenbar etwas enttäuscht fest „Sie verheilen sehr gut. Auch die Entzündungen sind zurückgegangen. Und nun…“ Der Arzt unterbrach, als die Tür geöffnet wurde und Rhyme hereinkam. Er blieb abrupt stehen und Mello sah sofort die Angst in seinen Augen. Angst vor Helmstedter… „Was willst du hier?“ fragte der Doktor unwirsch. „Ich bin mitten in einer Untersuchung.“ „Entschuldigung, Dr. Helmstedter“, kam es von Rhyme, der fast schon eingeschüchtert den Blick senkte. Obwohl er danach aussah, als könnte er es locker mit dem Doktor aufnehmen, hatte er regelrecht Angst vor ihm und Mello ahnte, dass da wohl einige Leichen im Keller waren. Was wohl der Grund für Rhymes Angst vor Dr. Helmstedter war? Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, als wollte er das lieber nicht herausfinden. „Ich wollte ihm seine Medikamente bringen und seine Wunden untersuchen.“ „Das tue ich bereits“, entgegnete Helmstedter mit eiskalter Stimme und wandte sich wieder Mello zu. „Und nun bitte unten rum freimachen.“ „Was?“ Der 24-jährige glaubte, nicht recht zu hören, als so etwas von ihm verlangt wurde. Insbesondere von so einem Typen, dem er normalerweise lieber aus dem Weg gegangen wäre. Irgendwie beschlich ihn ein ganz mieses Gefühl dabei und er warf dem Arzt einen feindseligen Blick zu. Doch das kümmerte diesen wenig. „Ich muss auch deine anderen Verletzungen untersuchen. Du hattest mehrere Analfissuren und eine Darmblutung. Also wenn ich bitten darf… Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.“ „Dr. Helmstedter“, kam es schließlich von Rhyme, der nun ganz kleinlaut geworden war und irgendwie deutlich zusammengeschrumpft war. „Vielleicht wäre es ihm lieber, wenn ich diese Untersuchung durchführen würde und…“ „Ich bin hier der behandelnde Arzt“, erklärte der 58-jährige und rückte seine Brille zurecht. „Und von einem Fehlkonstrukt wie dir muss ich mir keine Vorschriften machen lassen. Du verschwendest meine kostbare Zeit, also geh mir aus den Augen. Ich will dich in einer Stunde in meinem Büro sprechen. Dort werden wir noch mal in aller Ruhe über dein ungebührliches Verhalten sprechen.“ Rhymes Gesichtsfarbe wich und Mello ahnte, dass dem Ärmsten noch etwas Schlimmes bevorstand. So wie er reagierte, würde ihn nichts anderes verwundern. „Ja, Dr. Helmstedter.“ Rhyme warf Mello einen Blick zu und dieser Blick sagte in diesem Moment alles: tu, was der Doktor verlangt. Als Rhyme den Raum verlassen hatte, begann Mello seine Hose auszuziehen, dann seine Unterhose. Dabei ruhte der Blick des Doktors die ganze Zeit auf ihm. Er hörte, wie sich Dr. Helmstedter einen Handschuh überstreifte und wie er dann sagte „Nach vorne beugen und die Beine etwas spreizen.“ Es war so unsagbar demütigend, insbesondere nach den Horrorstunden im Westblock, die er durchlebt hatte. Und auch wenn es nur eine Routineuntersuchung sein würde, er wusste, dass dieser Dreckskerl von Doktor genau beabsichtigte, ihn mit dieser Aktion zu quälen. Er befolgte die Anweisung des Doktors und spürte dann auch kurz darauf, wie diese behandschuhte Hand seinen Schließmuskel abtastete und sich langsam ein Finger in sein Innerstes schob. Es fühlte sich so falsch und künstlich an. Er biss die Zähne zusammen und fühlte wieder diese bohrende Scham. Und er wusste, dass der Doktor genau das beabsichtigt hatte. „Das sieht auch soweit gut aus. Es scheint alles erstaunlich schnell zu verheilen. Ein wenig zu schnell…“ Als er bemerkte, wie unangenehm Mello diese Prozedur war, schnaubte er verächtlich und meinte „Ihr jungen Leute habt aber auch wirklich nicht mehr den leisesten Funken Rückrad. Allesamt vollkommen verweichlicht und weinerlich. Die Menschheit steht mit einer solch verwöhnten und gleichzeitig so verweichlichten Generation vor dem Abgrund. Die Jugend von heute ist aber auch zu gar nichts mehr zu gebrauchen.“ Der soll mal lieber sein Maul halten und sich selbst mal den Arsch aufreißen lassen, dachte Mello sich nur, sagte aber lieber nichts. Nicht, nachdem er erlebt hatte, wie viel Angst Rhyme vor ihm hatte und nachdem Kaonashi ihn schon eindringlich vor diesem Kerl gewarnt hatte. Wenn Helmstedter wirklich so gefährlich war, sollte er lieber vorsichtig sein. Noch mal so ein Erlebnis wie im Westblock wollte er lieber nicht riskieren. „Ich bin ohnehin der Meinung, dass man selbst schuld ist, wenn so etwas passiert. Wer sich nicht zur Wehr setzen kann, der braucht sich nicht wundern, wenn ihm so etwas passiert. Genauso wie dein Freund…“ „Wen meinen Sie damit?“ Mello zuckte zusammen, als der Doktor nun damit begann, einen zweiten Finger hinzuzunehmen und diese langsam zu bewegen. Es tat etwas weh, aber nicht mehr ganz so schlimm wie vor ein paar Tagen noch. Doch das Schlimmste war, dass Helmstedter schließlich einen ganz empfindlichen Nerv ertastete. Er verkrallte die Hände ins Bettlaken und spürte, wie sein Körper auf diese Berührung reagierte und wie leichte Lustschauer von ihm Besitz ergriffen. „Mit deiner Prostata scheint auch alles in Ordnung zu sein.“ Doch Helmstedter hörte nicht auf damit und kam schließlich wieder auf Mellos Frage zurück. „Vor vier Jahren wurde ein junger Mann zu mir gebracht. Er hatte schwere Kopfverletzungen und ebenfalls Spuren einer Vergewaltigung. Zum Glück wurde er noch rechtzeitig zu mir gebracht, ansonsten wäre er gestorben.“ „Und wie hieß er?“ „Er nannte sich…“ Bevor Dr. Helmstedter weitersprechen konnte, unterbrach ein lauter Lärm ihn. Schreie waren von draußen zu hören und Schüsse ertönten. Sofort zog Helmstedter seine Finger wieder heraus und nahm den Handschuh ab. Sichtlich verärgert verzog er das Gesicht. „Was hat dieser Lärm denn jetzt schon wieder zu bedeuten? Kann man hier nicht ein Mal in Ruhe arbeiten?“ Er erhob sich und ging zur Tür. Wütend rief er „Was hat dieser Krach zu bedeuten? Ich habe hier eine Untersuchung zu machen.“ „Wir haben wieder einen Angriff aus Konngara“, antwortete eine Stimme und obwohl Mello sie aufgrund des Lärms kaum verstehen konnte, glaubte er, diese Stimme zu kennen. Sofort zog er seine Hosen wieder an und lief zur Tür, da hörte er die Stimme wieder und dieses Mal deutlicher. „Es wird nicht lange dauern, also gedulden Sie sich bis dahin noch etwas. Wenn wir sie beseitigt haben, dürfte es wieder Ruhe geben.“ Mello hatte die Tür fast erreicht und sah einen rothaarigen jungen Mann in einer schwarzroten Lederjacke, der Handschuhe trug und einen kämpferischen und ernsten Eindruck machte. Er war nicht sonderlich groß gewachsen, machte aber den Eindruck, als könnte er dies locker durch seine Kampfbereitschaft und seine Autorität perfekt ausgleichen. Was aber an ihm auffiel, war eine Fliegerbrille, die er trug. Sie kam Mello bekannt vor, sah aber anders aus, da es sich um ein anderes Modell handelte. Doch das Gesicht dazu war gleich geblieben. Er hätte es unter tausenden wiedererkannt und dennoch konnte er nicht wirklich glauben, dass dies hier gerade wirklich passierte und seine Augen ihn nicht täuschten. Nach all den Erlebnissen erschien ihm dies wie ein verrückter Traum oder wie eine Illusion. Aber es war die Realität und er stand wirklich vor ihm. „Matt…“, kam es von Mello, der den Rothaarigen mit Fassungslosigkeit in den Augen ansah. „Bist… bist du es wirklich, Matt?“ Kapitel 4: Verletzte Gefühle ---------------------------- Der Rothaarige mit der Fliegerbrille wandte sich zu Mello, als dieser ihn ansprach und sah ihn mit seinen dunkelbraunen Augen an. Ja, es war ohne Zweifel Matt… Irrtum ausgeschlossen. Irgendwie kam ihm dies in diesem Moment mehr wie ein verrückter Traum vor. Vier Jahre lang hatte er vergeblich nach Matt gesucht und versucht, ein Lebenszeichen von ihm zu erhalten. Und jetzt? Jetzt standen sie sich einfach gegenüber, als hätte es diese vier Jahre nie gegeben. Noch nie war Mello so erleichtert wie in diesem Moment gewesen, Matt wiederzusehen. „Matt…“ Doch anstatt mit Freude und Erleichterung reagierte der Angesprochene mit einem eisigen Blick, den er Mello zuwarf. „Geh wieder auf die Quarantänestation zurück“, wies dieser ihn an und wandte sich um. „Ich hab jetzt keine Zeit fürs Babysitten.“ Wie vom Donner gerührt stand Mello da und konnte nicht fassen, was Matt da gesagt hatte. Sie sahen sich nach vier Jahren wieder und dann noch an einem solchen Ort und alles, was sein bester Freund ihm sagte, war nur, dass er wieder verschwinden sollte? „Matt, was ist denn verdammt noch mal los mit dir?“ rief er und wollte sich ihm schon in den Weg stellen, da stieß Matt ihn beiseite und zog eine Pistole. Als zwei Männer um die Ecke kamen, die offenbar auf der Flucht waren und verletzt waren, verfinsterte sich Matts Blick und er schoss. Er traf die Männer in den Kopf und tötete sie damit sofort. Diese Aktion schockte Mello umso mehr und für einen Moment war er sich nicht sicher, ob ihn seine Augen nicht vielleicht täuschten und ein ganz anderer Mensch vor ihm stand. Matt wirkte auf einmal so fremd auf ihn… so kalt und skrupellos. Kurz darauf kam aus derselben Richtung wie die Männer die Frau mit den Rastalocken und dem Gesichtstattoo, die Mello schon gesehen hatte. Es war Christine. Sie hatte einen Mann bei sich, der stark humpelte und offenbar eine Schusswunde am Bein hatte. „Boss, der hier ist als Letzter übrig. Was sollen wir mit ihm machen?“ Wortlos richtete Matt seine Pistole auf die Stirn des Mannes und feuerte ohne zu zögern ab. „Wir nehmen keine Gefangenen“, erklärte er in einem kalten Ton. „Gefangene bedeuten eine erhöhte Gefahr für uns. Schick Hiram nach Efrafa I, er soll dort die Lage prüfen. Morph soll derweil herausfinden, ob Konngara weitere Angriffe plant.“ „Verstanden, Boss.“ Damit schulterte Christine ihr Maschinengewehr und ging. Mello stand immer noch wie erstarrt da und konnte nicht glauben, was er da gerade erlebt hatte. Matt hatte gerade eben einfach so drei Menschen erschossen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und Christine hatte ihn Boss genannt. „Matt, was zum Teufel wird hier gespielt und wieso hat sie dich Boss genannt? Warum hast du diese Typen abgeknallt und was ist hier los? Antworte mir!“ Damit packte Mello ihn am Arm, doch Matt riss sich sogleich wieder los und stieß ihn von sich. „Ich hab gerade nicht die Nerven für diesen Kindergarten, Mello. Ob du es noch nicht mitgekriegt hast, aber unser Stützpunkt wird gerade angegriffen und da hab ich weitaus bessere Dinge zu tun, als mich mit dir herumzuärgern.“ Doch das wollte der 24-jährige nicht zulassen. Er wollte endlich wissen, was hier gespielt wurde und warum sich Matt so seltsam verhielt. Das war doch nie und nimmer er. „Was ist mit dir los, verdammt? Was soll dieses Getue hier bitte?“ „Wir reden später.“ Das war alles, was Matt noch zu sagen hatte. Er ging den Gang runter und Mello sah, wie mehrere Leute ihm folgten und wie Matt ihnen lautstark Anweisungen gab wie ein Offizier seinen Untergebenen. Das alles war so konfus, dass er wirklich gar nichts mehr verstand und kurzerhand beschloss er, ihm zu folgen. Er sah auch nicht ein, wieso er hier noch weiter auf der Krankenstation bleiben sollte wie ein kleiner Junge. Erstens war er ein Jahr älter als Matt und zweitens fühlte er sich sowieso wieder fit genug und von Fieber merkte er auch nichts mehr. Und jetzt, wo er Matt endlich wieder sah, wollte er auch nicht einfach so tatenlos herumsitzen, nachdem er vier Jahre vergeblich auf der Suche gewesen war. Er wollte endlich Antworten haben, insbesondere für Matts kaltherziges Verhalten ihm gegenüber. Es konnte doch nicht sein, dass er selbst nach vier Jahren immer noch sauer wegen diesem Streit gewesen war. So nachtragend war Matt einfach nicht. Oder lag ein anderer Grund vor? Wenn ja, welcher? Mello verstand es einfach nicht und lief deshalb Matt hinterher. Sie erreichten eine Art große Halle, wo mehrere schwer bewaffnete Leute standen. Matt ging direkt zu einem Mann hin, der dunkelrotes Haar, etwas zynische Gesichtszüge und pechschwarze Augen hatte. Er trug einen beigefarbenen Hut mit schwarzem Band. Er hatte einen recht lässigen Kleidungsstil und allein schon vom Gesicht her erkannte Mello, dass er Japaner war. „Morph, wie ist die Lage?“ „Da kommt gleich noch eine Staffel auf uns zu. Sie haben zwei Maschinengewehre und einen Flammenwerfer.“ „In Ordnung. Christine soll mit ihrer Einheit in Stellung gehen. Auf mein Kommando wird das Feuer eröffnet. Wie verläuft die Evakuierung?“ „Soweit ganz gut. Birdie bringt Leaks, Echo und die anderen in die Sicherheitsräume.“ „In Ordnung. Du gibst uns zusammen mit Rhyme, Vinny und MacKenzie Rückendeckung.“ „Hab verstanden, Boss.“ Schon wieder „Boss“. Wieso nannten sie Matt denn so? War er etwa vielleicht… Nein, völlig ausgeschlossen. Zwar waren ihm so einige Sachen zuzutrauen, aber nie und nimmer war er der Anführer von dem Laden hier. Das war einfach nicht Matts Art. Doch irgendwie schien er in einer verkehrten Welt zu sein, denn er sah tatsächlich, wie Matt Anweisungen erteilte und jeder sie auch befolgte. Das alles war so verrückt, dass er für einen Moment wirklich ernsthaft mit dem Gedanken spielte, dass das hier vielleicht ein Traum war und er noch tief und fest schlief. Ja, das wäre vielleicht eine logischere Erklärung als die Tatsache, dass Matt jetzt plötzlich zum Oberboss dieses Ladens mutiert war. Lärm ertönte und sogleich wurde er am Kragen gepackt und hinter einem Container gezogen. Es war der Typ mit dem Hut. „Steh da nicht so blöd rum, wenn du nicht abgeknallt werden willst. Entweder gehst du in Deckung, schnappst dir ne Knarre oder verschwindest von hier.“ „Kann mich mal jemand aufklären, was hier abläuft?“ „Die aus Konngara greifen mal wieder an. Wäre auch verwunderlich gewesen, wenn es mal nicht so wäre. Und du bist dann also der Rookie, den sie hergeschleppt haben, was?“ „Ja. Und wer bist du bitteschön?“ „Morphius Black, Morph geht aber auch.“ Damit drückte der Japaner ihm eine Beretta in die Hand. „Ich hoffe du kannst mit einer Waffe halbwegs umgehen. Schieß auf jeden, der eine Waffe auf uns richtet und gib ihnen Saures, bevor sie es mit uns machen können.“ Damit zog Morph selbst zwei Glocks und hielt sich bereit. Und kaum, dass die Tür geöffnet wurde und mehrere bewaffnete Männer hereinstürmten und eine Gewehrsalve hereinbrach, erwiderten die Efrafanier das Feuer und auch Mello schoss. Es war total verrückt und so wirklich konnte er das nicht glauben. Das hier war das ausbruchsicherste Gefängnis der Welt, in welchem es keine Wachen gab und hier drin herrschten Szenen wie im Krieg. Was war denn bloß los mit diesem Gefängnis? Das war ja schlimmer als im Ghetto. Es gelang ihm schließlich, einen der Konngara-Bewohner in die Brust zu treffen, andere wurden von Christines Maschinengewehr niedergemäht. Erbarmungslos regneten die Kugeln auf die Feinde nieder, bis dann der Flammenwerfer zum Einsatz kam. „Zurück!“ rief Matt und kam mit zwei anderen aus der Deckung hervor und wich vor den Flammen zurück. „Schmort in der Hölle, scheiß Efrafa-Pack!“ rief der Angreifer und lachte wie ein Wahnsinniger, als er eine Feuerwelle auf seine Feinde losließ. Die Flammen waren gewaltig und es war so heiß, dass einem die Augen brannten. Aufgrund der enormen Hitze schaffte es kaum jemand, Gegenwehr zu leisten und dann breitete sich langsam aber sicher das Feuer aus, als es auf brennbare Dinge übergriff. Morph sprang auf und eilte davon und zuerst glaubte Mello, der Kerl hätte irgendwie Schiss gekriegt, doch dann bemerkte er, wie der Japaner zu einer Art Sicherungskasten lief und diesen öffnete. Kurz darauf aktivierte sich eine Sprinkleranlage. Dieser plötzliche Regenschauer sorgte für Verwirrung bei den Konngara-Bewohnern und das nutzte Christine aus. Sie rannte zu dem Pyromanen hin, schlug ihm das Gewehr ins Gesicht und schoss ihm in die Schläfe. Ehe sich Mello versah, hatten die Efrafanier den Kampf gewonnen und alle Eindringlinge erschossen. Matt begann nun zusammen mit zwei anderen, die Waffen aufzusammeln, die die Toten bei sich hatten. Als das Feuer gelöscht war, schaltete Morph die Sprinkleranlage aus. „Okay Leute, hier wären wir fertig. Christine, Clyde, Bane und Sniper, wir werden die Tore prüfen. Morph, schnapp dir ein paar Leute, die sollen hier aufräumen.“ „Alles klar, Boss.“ Damit kam Morph zu Mello hin und legte eine Hand auf seine Schulter. „Komm, pack mal mit an. Wir müssen den Müll hier wegschaffen.“ Damit schnappten sie sich die Leichen und schleiften sie zu einer Tür, die ein wenig an die eines Speiseaufzugs erinnerte. Morph öffnete sie und hievte den ersten Leichnam hoch und warf ihn runter. Mello erstarrte, als er erkannte, was die Leute vorhatten: sie wollten die Toten den Schacht hinunter ins Hell’s Gate werfen. Allein bei dem Gedanken daran musste er sich wieder an die Bilder erinnern, die er dort unten gesehen hatte. „Was ist?“ fragte Morph ihn. „Hast du Schiss vor den Leichen?“ „Ihr wollt die da runterwerfen?“ „Klar, wo sollen die denn sonst hin?“ entgegnete der Japaner. „Beerdigungen sind in einem unterirdischen Knast dummerweise nicht möglich, also entsorgen wir sie sofort. Wenn sie hier liegen bleiben, setzt irgendwann die Leichenfäulnis ein und binnen kürzester Zeit haben wir hier eine Seuche am Hals. Versuch die dann mal in den Griff zu kriegen. Also stell dich mal nicht so an und mach hinne. Sonst sind wir hier noch den ganzen Tag beschäftigt.“ „Brauchst mich nicht gleich so anzumachen.“ „Ach ja?“ fragte Morph und begann sich nun eine Zigarette anzuzünden. „Soweit ich gehört habe, ist das doch deine größte Spezialität, oder nicht?“ Mello warf nun selbst den Toten den Schacht hinunter und wandte sich an Morph. Er hatte keine Ahnung, was für ein Problem dieser Kerl mit ihm hatte und was diese Feindseligkeit sollte, aber er hatte keine Lust, sich das auch noch gefallen zu lassen. „Was willst du damit sagen, hm?“ Der Japaner blies ihm den Zigarettenrauch ins Gesicht und erklärte „Dass ich im Gegensatz zu dir meine Freunde nicht verprügle oder sie als Schwuchteln beschimpfe. Ist mir scheißegal, wer du bist und was du bisher in diesem Gefängnis erlebt oder gesehen hast. Glaub bloß nicht, du könntest hier Mitleid heucheln mit deiner Geschichte, das interessiert hier niemanden. Wir alle haben Verluste gemacht und sitzen größtenteils unschuldig im Gefängnis. Viele haben ihre Familie verloren und werden sie nie wiedersehen. Ehepartner, Verwandte, Kinder… Und Typen wie du, die meinen, einen auf einsamen Rebell zu machen, gehören nicht hierher. Wenn du es nicht auf die Kette kriegst, dich hier unterzuordnen und dich der Lebensweise von Efrafa anzupassen, hast du hier nichts verloren, so sieht es aus.“ Nun reichte es Mello endgültig und er schlug mit der Faust gegen die Wand. „Was zum Teufel hast du für ein Problem mit mir? Ich kenn dich nicht mal und schon machst du mich von der Seite an oder was?“ Dieser Morph ging ihm ziemlich auf den Zeiger und am liebsten hätte er ihm eine reingehauen. Woher nahm der sich denn bitte das Recht, ihn herumzukommandieren und ihn so dermaßen anzumachen? Er kannte ihn erst seit ein paar Minuten und konnte ihn jetzt schon nicht leiden. Morph funkelte ihn finster an und packte ihn am Kragen. Da der Kerl fast so groß wie Rhyme war, musste Mello schon zu ihm hochschauen. Für einen Asiaten war Morph ziemlich groß geraten. „Ich sag dir, was mein Problem ist: wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann sind das Leute, die andere Menschen für etwas verurteilen, für das sie niemals verurteilt werden sollten. Damit meine ich nicht nur das Kira-Regiment, das selbst Leute aus dem Weg räumt, die nicht in die Vorstellung einer perfekten Welt passen, sondern auch Leute wie du, die meinen, sie müssten andere zusammenschlagen und an die KEE verpfeifen, nur weil sie schwul sind.“ Wie bitte? Was hatte der sich denn bitteschön zusammengereimt? Nun platzte Mello endgültig der Kragen. „Was geht dich das denn bitteschön an, was in meinem Privatleben abläuft?“ „Weil Matt ein guter Freund von mir ist und ich ihn beschützen will. Nicht nur, weil er hier das Sagen hat, sondern weil ich auch an ihn glaube. Er hat verdammt viel gelitten. Nicht zuletzt wegen dir.“ „Was hab ich denn bitte damit zu tun?“ „Wegen dir ist er doch erst hier in Down Hill gelandet!“ Mello erstarrte und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Er konnte nicht glauben, was Morph da gesagt hatte und woher der sich denn bitte diese Behauptung rausnahm, dass er für Matts Inhaftierung verantwortlich gewesen war. Nun verlor er endgültig die Beherrschung und schlug zu. Er verpasste Morph einen direkten Faustschlag ins Gesicht und hätte wahrscheinlich noch mal zugeschlagen, wenn ihn da nicht jemand gepackt hätte. Es war Rhyme, der offenbar schon wieder zurück war. „Leute, wir wollen uns doch nicht streiten“, rief er und versuchte die angespannte Situation mit einem Lächeln zu überspielen. „Wir haben doch gerade erst die Konngaras bekämpft, da sollten wir uns nicht auch noch untereinander bekämpfen.“ „Ich sag dir nur eines“, sprach Morph weiter und hob seinen Hut auf, der ihm bei dem Schlag vom Kopf gefallen war und setzte ihn wieder auf. „Wenn du deine homophoben Sprüche nicht für dich behältst, dann wirst du hier nichts mehr zu lachen haben. Lass dir das mal gesagt sein. Und wenn du dich mit dem Shutcall von Efrafa anlegst, dann legst du dich mit uns allen an.“ Damit ging Morph und Mello blieb mit Rhyme zurück und musste das erst mal verdauen. Dann aber ballte er die Hand zur Faust und schlug gegen die Wand. Dabei war es ihm vollkommen egal, dass es ziemlich wehtat. „Was zum Teufel ist sein Problem?“ „Morph meint es nicht böse“, versuchte der Weißhaarige zu beschwichtigen und klopfte Mello auf die Schulter. „Es ist nur so, dass er sehr feste Prinzipien hat und für diese nach Down Hill gekommen ist. Er hat eben seine Geschichte, genauso wie wir alle und Matt ist ein sehr wichtiger Freund für ihn. Sie sind sozusagen beste Freunde. Ich werde noch mal mit ihm reden.“ Beste Freunde? Ja aber… ich bin doch Matts bester Freund. Oder etwa nicht? Irgendwie fühlte sich Mello elend und er vernahm ein flaues Gefühl in der Magengegend. Zuerst verhielt sich Matt komplett schroff und abweisend ihm gegenüber und jetzt war er als bester Freund auf einmal abgeschrieben worden? Wieso nur? Hatte Matt ihn etwa tatsächlich komplett aus seinem Leben gestrichen? Was hatte er denn falsch gemacht, dass so etwas passieren musste? Er verstand das alles nicht und musste unbedingt mit Matt reden. „Rhyme, wo finde ich Matt? Ich muss mit ihm reden.“ Der Weißhaarige nickte und lief los. „Komm mit, ich bring dich hin. Alleine verläufst du dich hier nur.“ Mello folgte ihm durch eine Reihe von Gängen, bis sie zu einem Tor kamen, welches gerade verschlossen wurde. Matt unterhielt sich gerade mit zwei schwer bewaffneten Männern und machte einen sehr beschäftigten Eindruck. Zielstrebig ging er direkt zu ihm hin. Fest entschlossen, sich nicht schon wieder abwimmeln zu lassen und die Sache endlich zu klären. „Matt, ich will jetzt endlich Antworten haben!“ Der 23-jährige drehte sich um und warf Mello einen recht frostigen Blick zu. „Kein Grund, deswegen gleich so ein Theater zu veranstalten“, meinte er nur und steckte seine Pistole ein. „Also was willst du?“ „Kannst du dir das nicht denken?“ rief Mello wütend. „Ich suche dich seit knapp vier Jahren, nachdem du spurlos verschwunden bist und kaum, dass wir uns wiedersehen, verhältst du dich so komisch. Was genau wird hier eigentlich gespielt und wieso nennen dich alle hier Boss?“ „Weil ich der Shutcall von Efrafa bin“, erklärte Matt und machte Mello damit endgültig sprachlos. Matt war ein Häftlingsboss? War das hier irgendwie so etwas wie versteckte Kamera oder was war hier los? Das war doch nie und nimmer Matt. Es sah ihm doch überhaupt nicht ähnlich, plötzlich hier einen auf Boss zu machen und so etwas hier zu machen. „Ja, der Witz war gut“, meinte Mello schließlich und zwang sich zu einem Lachen, aber Matt lachte nicht. Es war sein voller Ernst gewesen. „Ich bin vor knapp vier Jahren hergekommen. Kurz, nachdem ich die Wohnung nach unserem Streit verlassen habe, wurde ich nahe der Gasse zwei Häuser weiter niedergeschlagen und bin hier drin aufgewacht. Ich bin dann zusammen mit einigen anderen am Point Zero aufgewacht und von Sigma und Scarecrow Jack verschleppt worden. Nachdem sie über mich hergefallen sind, wollten sie mich zu einem Pet machen. Echo hat mir zur Flucht verholfen, indem er sich für mich geopfert hat. Ich bin dann nach Efrafa gekommen, habe den Untergrund ins Leben gerufen und bin nun der Shutcall.“ Wie bitte? Matt war fast direkt vor der Haustür niedergeschlagen und verschleppt worden? Das würde zumindest erklären, warum das Handy dort gelegen hatte. Mello starrte ihn fast schon fassungslos an. „Matt… ich…“ „Wenn dieser Streit nicht gewesen wäre, dann wäre ich jetzt nicht hier, klar? Weißt du, ich hab mir schon einige Dinge von dir anhören müssen. Und für vieles hätte ich wirklich mal etwas sagen sollen, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Aber ich hätte nie damit gerechnet, dass du mich mal verprügeln würdest.“ „Es tut mir ja leid, Matt. Ich hab damals überreagiert und ich hatte auch ein schlechtes Gewissen deswegen. Aber ich war eben halt so geladen, weil du mir unterstellt hast, ich wäre schwul. Das hat mich so aufgeregt.“ „Und deswegen wirst du gleich so ausfallend und schlägst mich zusammen? Im Ernst, mir reicht es mit dir. Du wirst dich doch sowieso nicht ändern und du kapierst es einfach nicht.“ „Was denn?“ Matt wandte sich zum Gehen, doch Mello hielt ihn fest. Sie sahen sich das erste Mal nach vier Jahren wieder und das erste, was sie taten, war, sich zu streiten. Nach all der Zeit war Matt immer noch wütend auf ihn und genau das wollte Mello jetzt endlich geklärt haben. „Matt, du bleibst jetzt hier, verdammt! Ich hab vier Jahre nach dir gesucht und ich will das jetzt endlich zwischen uns beiden klären. Also…“ Ein heftiger Faustschlag traf Mello direkt ins Gesicht und warf ihn zu Boden. Er konnte nicht fassen, dass Matt ihn gerade wirklich geschlagen hatte. „Sprich nie wieder in diesem Ton mit mir. Und überhaupt: was willst du denn bitteschön noch klären? Es ist doch alles gesagt worden. Wir sind nichts weiter als Freunde, die ab und zu miteinander Sex haben. Und damit hat sich die Sache.“ Diese Worte hatten etwas Schmerzhaftes und Bitteres an sich, als Matt sie aussprach. Sie hinterließen bei Mello den unangenehmen Geschmack einer Zurückweisung. Es tat weh, so etwas von Matt zu hören und seine Brust schnürte sich schmerzhaft zusammen. Und als Matt ging und ihn einfach zurückließ, musste Mello erkennen, dass seine schlimmste Angst wahr geworden war. Der Streit von vor vier Jahren war endgültig zu viel gewesen. Und Matt würde ihm diese Worte so schnell nicht verzeihen. Natürlich sah er Matt immer noch als Freund an. Er erkannte irgendwie auch keinen Grund, warum es anders sein sollte. Aber dennoch tat es ihm so unendlich im Herzen weh, dass Matt ihm das gesagt hatte. Warum nur? Warum schmerzte es so sehr, wenn Matt seine Worte von damals wiederholte und eigentlich genau das aussprach, was er immer gedacht hatte? Sie waren Freunde, die ab und zu mal Sex hatten… nicht mehr und nicht weniger. Doch jetzt hatte Mello das Gefühl, als würden diese Worte nicht mehr exakt das wiedergeben, was er wirklich fühlte. Mutlos sank er auf dem Boden zusammen und lehnte mit dem Rücken zur Wand. Irgendwie verstand er das alles nicht mehr. Er verstand sich selbst nicht mehr und ihm war einfach nur zum Heulen zumute. „Scheiße…“ Schritte kamen näher und als er aufsah, erkannte er, dass es Rhyme war. Mitfühlend senkte dieser den Blick, dann aber reichte er Mello die Hand, um ihm hochzuhelfen. „Gleich ist Essenszeit. Na komm, gehen wir erst mal und lassen den Dingen ihre Zeit. Das beruhigt sich schon wieder.“ „Vier Jahre…“, murmelte Mello und stand auf, hielt aber den Blick gesenkt. „Vier Jahre sind vergangen und er hat mir bis heute noch nicht verzeihen können.“ Kapitel 5: Schwieriger Start ---------------------------- Sie steuerten einen großen Raum an, der offensichtlich eine Gefängniskantine war. Viele Plätze waren schon besetzt und es wurde sich teilweise lautstark unterhalten. Rhyme stellte sich in einer Warteschlange an und nahm sich ein Tablett, dazu Teller und Besteck und ein Aluminiumbecher, da es hier offenbar keine Gläser gab. Mello tat es ihm gleich. Aufmerksam sah sich der 24-jährige um und fragte „Sind die alle hier Bewohner von Efrafa?“ „Ja“, antwortete der Weißhaarige. „Momentan zählen wir knapp 200 Mitglieder allein in Efrafa II. In Stützpunkt No. 1 in Ebene 0 sind noch mal 100. Alle von denen haben sich dem Untergrund angeschlossen und kämpfen aktiv. Es gibt aber auch einige, die nicht aktiv kämpfen, sondern stattdessen andere wichtige Aufgaben innehaben. Einige von ihnen wirst du schon noch kennen lernen. Und mit den Regeln wirst du auch recht schnell vertraut werden. Das Leben hier ist ziemlich gut strukturiert und es geht zwar laut zu, aber Schlägereien oder Streitigkeiten sind hier nicht allzu häufig. Meist werden sie rechtzeitig beendet, bevor es eskalieren kann.“ Langsam kamen sie in der Warteschlange weiter vor, bis dann jemand nach vorne ging. Es war Matt und er hatte Echo in Begleitung. Die beiden gingen einfach vor, ohne sich anzustellen und ließen sich als Nächstes bedienen. Bevor Mello fragen konnte, was das sollte, erklärte Rhyme es ihm. „Hier gibt es auch Leute mit Privileg. So zum Beispiel der Shutcall, Dr. Helmstedter, Echo, Christine und Morph. Sie sind die wichtigsten Leute hier im Untergrund und Echo bekommt Sonderrechte, weil er Matt das Leben gerettet hat und unter seinem besonderen Schutz steht. Außerdem kann er sich nicht allzu gut orientieren.“ „Ist Matt eigentlich immer so kaltherzig?“ „Naja, es kommt drauf an… Heute ist er schlecht gelaunt, weil wir wieder mal einen Angriff aus Konngara hatten. Aber ansonsten ist er bei Feiern auch immer dabei und man kann Spaß mit ihm haben. Es ändert aber nichts daran, dass er hier als Shutcall das Sagen hat und das auch den anderen klar machen muss. Hier gibt es nämlich so einige, die scharf auf seinen Posten sind. Aber keiner traut sich an Morph und Christine vorbei. Die beiden sind quasi seine Leibwächter und seine Stellvertreter.“ Morph und Christine. Die beiden waren nach Matt die wichtigsten Personen in Efrafa und Kaonashi hatte gesagt, man könne ihnen vertrauen. Nur wirkten sie nicht gerade vertrauenswürdig auf Mello. „Was genau ist denn der Untergrund eigentlich? Irgendeine Art Geheimorganisation im Knast oder wie?“ Rhyme musste überlegen, wie er das am besten erklären konnte. Schließlich waren sie als Nächste bei der Essensausgabe. Es gab Gemüsereis mit Schnitzel. Als Nachtisch gab es einen Apfel. Sie setzten sich direkt neben Christine, die wie immer einen sehr ernsten Blick hatte und ihre Jacke ausgezogen hatte. Erst jetzt sah Mello, dass nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre Arme tätowiert waren. Es waren auch Tribal Tattoos, aber vor allem las er je zwei verschiedene Schriftzüge. Auf ihrem rechten Unterarm las Mello die Worte Honora Jacentes, was so viel wie „Ehre den Gefallenen“ auf Latein bedeutete und auf ihrem linken standen die Worte „Never Forget“. „Hi Christine“, grüßte Rhyme sie. Die Frau mit den Rasterlocken hob den Blick und grüßte kurz zurück. Offenbar schien sie an einem Smalltalk nicht sonderlich interessiert zu sein, doch dann richtete sie überraschend das Wort an Mello. „Du kannst gut zielen“, bemerkte sie und trank einen Schluck Wasser. „Und im Umgang mit Waffen hast du offenbar auch schon Erfahrung, oder?“ „Ja, ich bin schon mal hin und wieder in eine Schießerei geraten, als ich Geldgeschäfte für die Mafia abgewickelt habe.“ „Wenn du hier in Efrafa bleibst, könnte ich dich gut in meiner Gruppe gebrauchen. Vorausgesetzt natürlich, du kannst Regeln einhalten und Befehle zuverlässig ausführen.“ Bot Christine ihm gerade wirklich einen Job an und zeigte Interesse an seinen Fähigkeiten? Das verwunderte ihn schon, da sie ja immerhin bei seiner nächtlichen Rundtour mit einem Maschinengewehr auf ihn gezielt hatte. Aber da es offenbar wichtig war, hier in Efrafa eine Aufgabe zu haben, um seinen Beitrag zu leisten, war das doch eine gute Gelegenheit. Und Christine schien hier sehr viel Einfluss zu haben. „Klar, kein Problem“, sagte er schließlich und nickte. „Aber sag mal… was genau ist der Untergrund eigentlich?“ „Wir sind eine Gruppe, die aktiv auf einen Ausbruch aus Down Hill hinarbeitet“, erklärte Christine ihm. „Und wenn uns dies gelungen ist, werden wir das Regime stürzen und die Willkür der KEE beenden und dafür sorgen, dass Down Hill dichtgemacht wird. Das sind die Hauptziele. Wir sind quasi eine Widerstandsgruppe in einem Gefängnis. Ins Leben gerufen wurde sie von unserem Shutcall.“ „Und wieso bist du hier?“ „Das ist eine lange Geschichte“, antwortete sie und man sah ihr sofort an, dass sie nicht darüber sprechen wollte. „Ich habe Verbrechen begangen, für die ich ursprünglich die Todesstrafe bekommen sollte, aber stattdessen wurde ich nach Down Hill gebracht.“ „Ich hab gehört, du bist auch Shutcall. Stimmt das?“ „Ja. Ich hab vorher in der Festung Helena gelebt und bilde die Frauen im Nahkampf und im Schusswaffengebrauch aus. Als Matt mich dann gebeten hat, in Efrafa zu bleiben und mich dem Untergrund anzuschließen, bin ich dieser Bitte nachgekommen. Ich leite zusammen mit Hiram die Frontlinie.“ „Hiram?“ „Er ist meist im ersten Stützpunkt und ist quasi meine Stellvertretung. Ich kenne ihn schon lange vor meiner Zeit hier in Down Hill. Wir sind quasi Kollegen gewesen.“ Christine hatte ihren Teller leer gegessen, stand dann mit dem Teller auf und entschuldigte sich kurz. Mello begann nun selbst zu essen und merkte erst jetzt, wie hungrig er eigentlich war. Rhyme hingegen schien nicht sonderlich viel Appetit zu haben. „Wenn du übrigens noch Hunger haben solltest, kannst du dir noch einen Nachschlag holen. Reis, Kartoffeln und Nudeln bekommen wir genug.“ „Wie werden die ganzen Lebensmittel überhaupt nach Down Hill geliefert?“ „Es gibt spezielle Aufzüge“, erklärte Christine, die mit ihrem Teller zurückgekommen war. „Insgesamt gibt es drei. Einer liefert die Lebensmittel hier nach Efrafa, einer nach Konngara und der dritte hält quasi in der Mitte zwischen den beiden Lagern. Dieser wird dann nach Core City gebracht. Die Lieferungen enthalten die wichtigsten Grundnahrungsmittel für die Insassen. Wasser müssen wir aus der Leitung nehmen, aber es ist so sauber, dass man es ohne Bedenken trinken kann. Luxusgüter wie frisches Gemüse und Fleisch, Obst oder Alkohol, Tabak, Kaffee und dergleichen werden geschmuggelt. Im Grunde genommen funktioniert das so: die Wärter, die vor 15 Jahren getötet wurden, verfügten über Karten, mit denen sie Bestellungen aufgeben können. Die Geräte dafür sehen wie EC-Automaten aus. Über diesen kann man bis zu einem gewissen Rahmen Bestellungen pro Monat durchführen und diese werden dann ins Gefängnis geliefert. Die Besitzer dieser Karten sind sozusagen die Schmuggler. Diese verkaufen ihre Waren in Down Hill und lassen sich mit Stoff, Gift oder Koffern bezahlen.“ Als sie bemerkte, dass Mello mit den drei Begriffen nicht wirklich etwas anfangen konnte, erklärte sie es. „Stoff bedeutet im Knastjargon Alkohol, Gift sind alle Arten von Drogen und Koffer sind Zigarettenschachteln.“ „Und wieso wird hier nicht mit Geld gezahlt?“ „Wozu denn? Hier kann man mit Geld nichts anfangen und die Menge, die man an den drei Dingen hereinschmuggeln kann, ist äußerst gering und auch nicht alle Karten sind dafür freigeschaltet. Nur knapp vier Karten sind dafür autorisiert. Und da Stoff, Gift und Kippen eben die beliebtesten Konsumgüter unter den Insassen sind, wurden sie als Zahlungsmittel eingeführt.“ „Und wer hat alles solche Karten?“ „Eine Karte ist in unserem Besitz, eine in Konngara, eine hat Big Daddy, der Leiter des Rotlichtviertels in Core City und eine ist im Besitz des Shutcalls von Core City, nämlich Kaonashi. Die fünfte ist verschollen. Mit diesen fünf Karten kann man sich auch eine Waffe oder andere technische Geräte liefern lassen. Eigentlich sind diese Karten hier die Lebensquelle von Down Hill. Nur taugen die Karten nicht zum Ausbruch.“ Ja, das wäre auch sonst etwas zu einfach gewesen. Nur stellte sich Mello jetzt die Frage, ob man nicht vielleicht über die Luftschächte oder die Aufzüge rauskommen konnte. Es war zumindest eine Idee. Doch diese wurde von Christine direkt abgeschmettert. „Du wärst nicht der Erste, der diesen Gedanken hatte. Tatsächlich haben vor fünf Jahren zwei Frauen versucht, über den Fahrstuhl nach draußen zu kommen. Allerdings fährt der Fahrstuhl normal nur bis zur dritten Ebene, nämlich in die Todeszone. Er kann nur von außerhalb des Gefängnisses noch höher fahren. Den Schacht hinaufklettern funktioniert auch nicht. Erstens sind die Wände so glatt, dass sie keine Haltemöglichkeiten bieten, außerdem werden bei Kontakt sofort Stromschläge durchgeleitet, die dich sofort töten. Und die Flucht durch den Lüftungsschacht ist ebenfalls zwecklos. Innerhalb des Gefängnisses sind sie sehr groß, aber ab der dritten Ebene sind sie nicht größer als der Durchmesser von Arnold Schwarzeneggers Armen in seinen besten Jahren. Da passt kein Mensch durch. Und selbst wenn, der Schacht führt lediglich bis zum Generator in der dritten Ebene.“ Dann hieß es also, man musste durch die Todeszone, um nach draußen zu kommen. Irgendwie war das recht vorhersehbar gewesen. Wer auch immer die Anlage gebaut hatte, er war ein Profi. „Und was genau erwartet einen dann in der Todeszone?“ „Darüber gibt es nur spärlich Informationen. Automatische Schussanlagen, Giftgas, Feuer, Sprengfallen… Außerdem ist die Todeszone wie ein gigantisches Labyrinth aufgebaut und viele der Türen sind geschlossen und lassen sich nicht öffnen. Und wenn man den falschen Weg läuft, stirbt man. Diese Informationen haben wir durch unzählige Versuche zusammengetragen, als es mehrere Leute versucht haben, die Todeszone zu überlisten. Aber Fakt ist: der richtige Weg hindurch ist durch die Türen versperrt. Folglich also kann man nicht lebend hindurch, sondern landet automatisch in einer Sackgasse.“ Das hieß dann also: sie mussten einen Weg finden, erst mal an den Fallen vorbeizukommen und dann die Türen zu öffnen. Danach stiegen zumindest die Chancen, hier rauszukommen. „Aber zerbrich dir mal nicht so schnell den Kopf darüber“, sagte Christine schließlich und aß dann auch schon ihre zweite Portion auf. „Erst mal solltest du dich mit den Bewohnern von Efrafa besser bekannt machen. Rhyme, Echo und Morph kennst du ja schon bereits, genauso wie Birdie und Dr. Helmstedter.“ „Was ist eigentlich mit diesem Morph los? Ist er irgendwie mit dem falschen Fuß aufgestanden oder wie darf ich sein Verhalten verstehen?“ Mello erklärte ihr die Situation und so wie Christine aussah, verwunderte sie dieses Verhalten nicht. Nachdem sie gegessen hatte, holte sie eine Zigarettenschachtel hervor, nahm sich eine heraus und zündete sie an. „Es ist eben so, dass Morph was gegen homophobe Leute hat. Er hat da so seine Erfahrungen gemacht.“ „Ist er etwa schwul?“ „Das solltest du ihn lieber selber fragen. Ich tratsche nur ungern über das Privatleben anderer. Ist nicht meine Angelegenheit und ich hab auch nicht das Recht dazu, darüber zu reden. Aber wenn es stimmt und du hast was gegen Schwule, dann solltest du das nicht so laut herausposaunen. Hier gibt es einige, die in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung sind, eben weil ein Mangel an Frauen da ist. Und da wirst du dir nicht gerade Freunde machen.“ Wenn das stimmte und Morph war schwul, dann erklärte das sein Verhalten vorhin. Naja, vielleicht konnte er diese Angelegenheit noch irgendwie klären. Als die Essenszeit vorüber war, erhoben sich nach und nach alle von ihren Plätzen und verließen den riesigen Saal. Mello, der irgendwie keinen Plan hatte, wohin er gehen sollte, wollte sich erst mal an Rhyme halten, doch der musste sich entschuldigen. „Ich muss zu Dr. Helmstedter. Er wartet sicher schon auf mich.“ Doch ihm war deutlich anzusehen, dass er lieber nicht gehen wollte und inzwischen verstand Mello auch wieso. Dieser Doktor war nichts Weiteres als ein perverser Sadist. Und fraglich war, ob Rhyme überhaupt wusste, was der Kerl für ein Mensch war. „Kaonashi hat gesagt, der Kerl würde Experimente an Menschen durchführen. Stimmt das?“ Als er den Namen erwähnte, weiteten sich Rhymes Augen vor Schreck und hastig schaute er sich um, als wolle er sichergehen, dass niemand sie gehört hatte. „Was hat er dir gesagt?“ „Nicht viel. Nur dass ich mich vor dem Doktor in Acht nehmen und nur dir, Morph oder Christine vertrauen soll.“ Irgendetwas wusste Rhyme, was er nicht sagen wollte, das sah man deutlich. „Er hat Recht. Dr. Helmstedter ist sehr gefährlich und du kannst dir nicht vorstellen, wie weit seine Macht im Gefängnis reicht. Auch, dass er Experimente an Menschen durchführt, ist wahr. Aber sprich nicht mehr von Kaonashi, okay? Zumindest nicht hier.“ „Wieso?“ „Weil er ein Feind ist, deshalb. Wenn du so locker von ihm sprichst, gerätst du noch in Verdacht, mit ihm gemeinsame Sache zu machen und das wäre lebensgefährlich für dich. Er hat schon zwei Mal einen Anschlag verübt, der nur knapp vereitelt werden konnte. Deshalb solltest du lieber vor den anderen Stillschweigen über ihn bewahren. Der Einzige, mit dem du eventuell darüber reden könntest, wäre Morph, weil er vieles nicht ganz so eng sieht wie die anderen.“ Damit verschwand Rhyme und irgendwie hatte Mello das Gefühl, als würde der Kerl vor ihm weglaufen. Etwas ratlos verließ er nun den Saal und fragte sich, wohin er jetzt gehen sollte. Er beschloss einfach mal, sich etwas umzusehen. So fand er auch vielleicht raus, an wen er sich wenden konnte. Also ging er ein wenig durch die Gänge und fand nach einer Weile eine Art Aufenthaltsraum, wo ein paar Männer zusammen saßen und Karten spielten. Dann fand er eine Art Werkstatt und ein Lager. Schließlich aber gelangte er in ein Zimmer, wo er Morph fand, der mit einem Buch in der Hand auf einem Sofa saß und Echo etwas vorlas. Er unterbrach aber sofort, als er Mello sah und sein Blick wurde ernster. „Was willst du?“ „Ich…“ „Mello will sicher wissen, wo er sein Quartier hat“, meldete sich Echo sofort, bevor Mello die Chance bekam, weiterzusprechen. „Da er ja aus der Quarantänestation raus ist, bekommt er ja jetzt sein Zimmer.“ „Ah verstehe“, murmelte der Rothaarige und klappte das Buch zu und erhob sich. „Ich komm gleich wieder, Echo. Dann lese ich das Kapitel zu Ende.“ „Ach was, ich komm eben mit. Ist doch eh langweilig, hier herumzusitzen.“ Damit erhob sich der Blinde und nahm Morphs Hand, um sich besser zurechtzufinden. Mello entging nicht, dass er dabei übers ganze Gesicht strahlte und irgendwie eine sehr vertraute Atmosphäre zwischen den beiden herrschte. „Dann komm mal mit, Neuer“, sagte Morph nur und ging zusammen mit Echo zur Tür. „Ich zeig dir, wo du dein Quartier hast.“ Also folgte Mello ihm und merkte, dass Morph immer noch ziemlich kühl ihm gegenüber war und ihm diese Sache mit Matt offenbar sehr übel nahm. Und genau das wollte er jetzt klären. „Du hör mal, Morph… Nur um das endlich klarzustellen: ich hab Matt nicht an die KEE verpfiffen. Ich hab nicht mal gewusst, dass er verhaftet wurde. Stattdessen hab ich die letzten vier Jahre damit verbracht, nach ihm zu suchen, bis ich hier gelandet bin, okay?“ „Und wieso machst du dir die ganze Mühe, wenn er doch nur ein Freund ist?“ „Ich hab Matt im Waisenhaus versprochen, auf ihn aufzupassen und er ist der einzige Mensch, der mir wichtig ist, kapiert?“ „Dafür scheinst du ihn nicht sonderlich gut zu behandeln, findest du nicht? Weißt du, ich glaube du erkennst nicht, wie sehr du mit deinen Aktionen genau die Menschen von dir stößt, denen du wichtig bist und im Grunde machst du dir alles nur selber kaputt. Erklär mir mal eines: was ist denn bitte so schlimm daran, vom anderen Ufer zu sein?“ „Na weil das unnormal ist und ich find es irgendwie unvorstellbar, auf andere Kerle zu stehen.“ Natürlich klang das aus seinem Mund vielleicht nicht ganz so überzeugend. Immerhin hatte er ja eine Sexbeziehung zu Matt gehabt und er rechnete auch damit, dass Morph genau damit argumentieren würde. Doch stattdessen schwieg dieser nur eine Weile lang, dann blieb er stehen und drückte Echos Hand fester. „Du hast doch echt keine Ahnung“, sagte er schließlich. „Leute wie du verurteilen die Menschen einfach so und prangern sie für etwas an, für das sie nichts können und machen es sich sehr bequem. Aber du erkennst nicht, was du damit anrichtest.“ „Wieso? Bist du etwa schwul?“ „Und wenn es so wäre?“ fragte Morph und sah ihn finster an. „Du nennst das vielleicht abartig, aber glaubst du, man sucht sich das aus? Ich hab es mir jedenfalls nicht ausgesucht. Du kommst mit deinen Vorurteilen schnell daher und benutzt deinen besten Freund als Matratze, weil dir gerade danach ist. Und wenn du die Schnauze voll von ihm hast, stößt du ihn von der Bettkante, ohne auch nur eine Sekunde an Matts Gefühle zu denken.“ Damit ging Morph weiter und bog den Gang nach links ab und kam schließlich zu einer Tür, die er aufschloss und dann öffnete. Der Raum war nicht gerade der größte, besaß aber ein Bett, einen Schrank, einen Tisch und es hingen ein paar Poster an der Wand. Es sah aus, als würde hier schon jemand wohnen. Als Morph Mellos irritierten Blick sah, erklärte er „Der vorherige Bewohner ist tot. Wurde von einem Konngaraner abgeknallt. Und da sich der ganze Aufwand nicht lohnt, belassen wir die Zimmer so. Ich zeig dir eben noch den Waschraum und die Duschen.“ Damit ging die Tour weiter und schließlich öffnete Morph eine Tür, auf der „Laundry“ stand. Er fand dort mehrere Waschmaschinen und Berge von Wäsche. „Es gibt hier zwei Waschräume und in jedem Raum stehen zehn Maschinen. Jeder bekommt einen Tag zugeteilt, an welchem er waschen darf. Da du Sonntag hergekommen bist, ist der Sonntag auch dein Waschtag, also heute. Der Duschraum ist zwei Türen weiter.“ Damit ging Morph zur übernächsten Tür und öffnete sie. Sie fanden mehrere Gemeinschaftsduschen. „Es gibt hier zwei Gemeinschaftsduschen und eine Einzeldusche. Die Einzeldusche ist für die Frauen. Wir haben hier auch heißes Wasser, allerdings würde ich an deiner Stelle früh aufstehen, da die Duschen recht schnell besetzt sind. Wenn viel Betrieb ist, solltest du dich beeilen, da sonst der ganze Ablauf gestört wird. Essenszeiten sind um 8 Uhr, 13 Uhr und 18 Uhr. Nachtruhe ist von 22:30 Uhr bis 5:30 Uhr. Während der Zeit werden Nachtwachen eingeteilt, da wir auch nachts mit Angriffen rechnen müssen. Als Neuer wirst du dich mit Christine abwechseln. Da heute dein erster Tag ist, fängt deine erste Schicht ab morgen an und geht von 22:30 Uhr bis 2 Uhr, danach löst Christine dich ab. Ihr könnt aber auch zwischendurch die Schicht tauschen, das müsst ihr dann aber untereinander abklären.“ Morph brachte Mello zurück zu seinem Zimmer und erklärte ihm, er müsse noch seine Kleidergrößen bei ihm abgeben, damit er eigene Kleidung bekam. Das waren ziemlich viele Infos auf einmal, aber zumindest hatte Mello schon mal ein paar Dinge, an die er sich halten konnte. Schließlich verabschiedete sich Morph, wobei Echo aber noch sagte „Wenn du willst, kannst du ja mitkommen. Morph ist echt der beste Vorleser, den du finden wirst.“ Doch Mello lehnte mit der Erklärung ab, dass er noch mal nach Matt sehen wollte. „Der ist gerade im ersten Stützpunkt, um dort alles zu regeln. Er wird wahrscheinlich erst am Abend wieder zurück sein.“ Nun, in dem Fall nahm Mello dann schließlich das Angebot an, nachdem Echo ihn fast schon stürmisch bedrängte. Also gingen sie wieder zurück zum Aufenthaltsraum. Doch mit einem Male hatte Mello irgendwie ein ganz seltsames Gefühl. Eine Gänsehaut überkam ihn, als er einen lauten, rasselnden Atem hörte. Auch Echo hörte ihn und blieb stehen, wobei er sich an seinen japanischen Begleiter klammerte und dabei zitterte. „M-Morph…“ Dessen Augen weiteten sich und langsam wanderte seine Hand zu einer der Glocks, die er bei sich trug. Auch Mello blieb stehen und erstarrte, als er diesen vertraut klingenden Atem hinter sich spürte. Langsam drehte er sich nach hinten und sah in die pechschwarze Finsternis, die sich unter der Kapuze verborgen hatte. Es war dieses unheimliche Wesen aus dem Hell’s Gate. Kapitel 6: Schmerzen -------------------- Clockwise wälzte sich unruhig im Bett herum und fand einfach keinen Schlaf. Allein der Gedanke daran, was Rhyme alles durchmachen musste, machte ihn fast verrückt. Er versuchte sich zwar nichts anmerken zu lassen, aber inzwischen war es jetzt die dritte Nacht, in der er kaum Schlaf fand. Am liebsten wäre er über die Luftschächte wieder nach Efrafa geschlichen und hätte Rhyme in seinem Zimmer aufgesucht. Das wäre eigentlich kein Problem, nur war er schon das letzte Mal Gefahr gelaufen, entdeckt zu werden. Aber andererseits… er vermisste Rhyme. Ja verdammt, er wollte ihn wiedersehen, in seinen Armen liegen und ihm sagen, wie sehr er ihn liebte. Zuerst überlegte er, ob er mit Horace darüber sprechen sollte, ließ es dann aber. Der sorgte sich ja schon bereits um Kaonashi und hatte noch genug andere Dinge zu tun. Sein maskierter Jugendfreund hatte wieder einen seiner Schübe, die unter Umständen lebensgefährlich sein konnten. Außerdem waren sie äußerst schmerzhaft und da würde Horace ohnehin keinen Schlaf finden. Also was tun? Die Tür zu seinem Zimmer ging auf und er sah Horace, der ziemlich erschöpft aussah. „Kannst du mal kurz kommen? Sein Zustand hat sich rapide verschlechtert und er hat starke Schmerzen in der Brust. Außerdem hat er Schwierigkeiten beim Atmen.“ „Klar, kein Problem.“ Clockwise holte seinen Koffer unter dem Bett hervor und kramte eine Spritze hervor, die er mit einer leicht gelblich schimmernden Flüssigkeit aufzog. Horace wirkte etwas skeptisch. „Meinst du echt, du kommst mit der Spritze überhaupt durch, wenn er sich in diesem Zustand befindet?“ „Wenn man weiß, an welchen Stellen es geht, klappt das schon. Das sollte erst mal helfen, die Ausschüttung der Stresshormone stark zu reduzieren und auch die Schmerzen zu lindern. Damit kann ich seinen Zustand wieder stabilisieren. Naja, man kann meiner Familie ja so vieles nachsagen, aber in solchen Momenten bin ich froh, dass ich auf Hinrichs Anweisung hin mein Medizinstudium durchgezogen habe. So kann ich mich ja gut um Kaonashi kümmern, wenn er wieder seine Schübe hat.“ Clockwise ging nun ins Zimmer nebenan, wo Kaonashi auf dem Bett lag. Obwohl man aufgrund der Maske nichts sehen konnte, war ihm doch anzumerken, dass er starke Schmerzen hatte. Und teilweise waren seine Gliedmaßen stark versteift. „Hey Kao, lebst du noch?“ „Pah, ich werde euch alle noch überleben“, gab dieser mit schwacher Stimme zurück. Sein Atem ging flach und kurz und er war schweißgebadet. „Mir ging es noch nie besser.“ Er war ein ziemlich schlechter Lügner, aber er war eben auch nicht der Typ Mensch, der so etwas wie Schwäche zeigte. Er hatte nie geweint oder Angst gezeigt. Und das hatte Horace schon immer so anziehend an ihm gefunden. Er selbst war schon immer der besonnene Part gewesen, aber Kaonashi war impulsiv und zeichnete sich in gewissen Situationen auch durch eine gewisse „Wildheit“ aus. Er war ein Kämpfer durch und durch, in jeder Hinsicht und er sah sich in der Pflicht, auch für die anderen stark zu sein. Schon seit damals, als er klein war. „Habt ihr auch daran gedacht“, brachte Kaonashi mit Mühe hervor „auch die Türen zu sichern? Ich hab keine Lust, dass einer dieser Schwachköpfe reinschneit und Ärger macht, während ich hier liege und mich nicht bewegen kann.“ „Kein Problem. Überlass das nur uns“, sagte Horace und streichelte ihm sanft den Kopf. Das Erste, woran Kaonashi denken konnte, während er hier lag und Qualen litt, war ihre Sicherheit. Manchmal konnte er wirklich ruppig und auch ein Idiot sein, aber er war auch der beste Freund, den man sich wünschen konnte. Schon immer hatte Kaonashi auf sie aufgepasst, seit sie sich kennen gelernt hatten. Vorsichtig stach Clockwise die Nadel in den Hals seines Freundes und injizierte ihm das Mittel. Es wäre zwecklos gewesen, es an einer anderen Körperstelle zu versuchen. „Dein letzter Schub ist jetzt knapp sechs Jahre her“, stellte er schließlich fest. „Die Zeitabstände werden immer größer. Das ist zumindest ein gutes Zeichen.“ „Aber dafür werden sie umso schlimmer“, gab Horace zu bedenken, während er seinem Freund durchs Haar streichelte. „Ich hab die leise Sorge, dass jeder Schub sein letzter werden kann. Clocky, du bist hier der Mediziner im Team und du kennst seine wahre Verfassung besser als jeder andere. Wie schätzt du die Sache ein?“ „Nun, sie machen zwar den Anschein, als würden sie immer gefährlicher werden, aber es sieht schlimmer aus als es eigentlich ist. Es sind ja zum Glück immer nur Muskelgewebe und Sehnen betroffen, aber nie lebenswichtige Organe. Natürlich sind die Schübe immer sehr schmerzhaft, aber sie gehen nach knapp 20 Stunden auch wieder weg und in der Zeit ist es wichtig, dass er ruhig liegen bleibt.“ „Haha, sehr witzig“, grummelte Kaonashi. „Als ob ich mich in dem Zustand bewegen könnte.“ „Und wieso kriegt er kaum Luft?“ „Das wird vermutlich daran liegen, weil die Lungen sich momentan nicht vollständig ausdehnen können. Es hat also nichts Ernstes zu bedeuten. Ich denke mal, ich übernehme jetzt mal die Schicht und bleib bei ihm und du legst dich noch ein bisschen hin.“ „Bist du dir sicher?“ fragte Horace, denn er sah, dass auch Clockwise ein wenig Schlaf gut gebrauchen konnte. Doch dieser schüttelte nur den Kopf. „Ich kann gerade eh nicht schlafen. Und wenn etwas sein sollte, kann ich ihm immer noch helfen.“ Doch Horace sah sofort, dass Clockwise nicht so ganz ehrlich mit ihnen war und er seufzte. „Darf ich raten? Du kannst kein Auge zumachen, weil du dir Sorgen um deinen Schatz machst, wetten?“ Der blonde Schauspieler errötete und schien wütend zu sein. „Ich dachte, ich hätte dir schon oft genug gesagt, du sollst damit aufhören, mein Gesicht zu analysieren.“ „Dafür brauch ich keine Mikroexpressionen zu analysieren. Das würde doch sogar ein Blinder sehen. Hey, jetzt mach dich nicht verrückt. Rhyme ist stark und wenn wir jetzt einknicken, war unsere ganze Mühe umsonst. All die harte Arbeit, die wir reingesteckt haben…“ „Wir müssen Geduld haben und uns auf das Wichtigste zu konzentrieren“, kam es vom Bett her. „Wenn wir es richtig angehen, können wir noch einen weiteren Verbündeten dazugewinnen und Nine sagte auch, dass Mello wahrscheinlich eine wichtige Schlüsselfigur ist. Er vermutet, dass der Kerl nicht ohne Grund nach Down Hill gebracht wurde und deshalb sollen wir uns weiter mit ihm beschäftigen. Aber erst mal geben wir ihm etwas Zeit, sich in Efrafa einzugewöhnen. Ich hab ihn vor dem Doktor gewarnt und Rhyme hat sowieso ein wachsames Auge auf ihn. Da kann ich mir diese kleine Auszeit auch gönnen.“ „Derselben Meinung bin ich auch. Du solltest dich wirklich schonen“, pflichtete Clockwise bei und begann nun damit, Kaonashi näher zu untersuchen und somit festzustellen, wie es um ihn stand. Zugegeben… gut stand es nicht um ihn. Sein linker Arm war komplett steif und ließ sich nicht bewegen, auch sein Kopf ließ sich kaum bewegen und das Gleiche galt für sein rechtes Bein. Aber zumindest schien das Schmerzmittel zu wirken. So langsam schien er sich etwas mehr zu entspannen und das war schon mal ein gutes Zeichen. Kurz darauf war ein leises Atmen zu hören und es klang deutlich danach, als wäre er eingeschlafen. Erleichtert atmete Horace auf und rieb sich müde die Augen. „Als er plötzlich zusammengebrochen ist, hab ich schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Aber zum Glück war es dann doch nichts Lebensgefährliches. Wenigstens schläft er jetzt, dann bekommt er glücklicherweise nicht allzu viel davon mit. Und jetzt zu dir: ich kann dich gut verstehen, dass du Angst um Rhyme hast. Das ist mir schon seit einiger Zeit aufgefallen. Du magst zwar ein guter Schauspieler sein, aber dein Gesicht verrät dich trotzdem. Ich glaube, ich hätte an deiner Stelle auch Angst, wenn ich wüsste, was mein Partner alles durchmachen müsste. Wenn ich ehrlich bin, würde ich Rhyme sofort da rausholen und den Doktor und seine Assistentin sofort umbringen. Aber hier geht es um mehr als nur um Rache für das, was der Doktor uns angetan hat. Es geht auch darum, dass wir endlich erfahren, was der Sinn und Zweck dieser ganzen Experimente ist.“ „Ich weiß“, seufzte Clockwise und rieb sich müde die Augen. „Und ehrlich gesagt frage ich mich manchmal, ob das alles hier hätte verhindert werden können, wenn ich damals den Mut aufgebracht hätte, ihn eigenhändig zu töten.“ „Schlag dir das aus dem Kopf. Du hattest genauso viel Angst wie wir und du hast uns schon genug damit geholfen, als du den Zweitschlüssel geklaut und uns zur Flucht verholfen hast. Außerdem bist du hier der Jüngste in der Gruppe. Hör auf, dir hier für irgendetwas die Schuld zu geben und belass es dabei. Du gehörst zu uns und es wird auch nie anders sein. Und da ist es ganz egal, wer du bist. Hey, ich mach dir einen Vorschlag: ich werde eben kurz in Efrafa nach dem Rechten sehen und mich bei Rhyme nach dem Stand der Dinge erkundigen. Soll ich ihm irgendetwas ausrichten?“ „Nein. Ich glaube, er weiß schon, was ich ihm sagen würde.“ Horace nickte und gab Clockwise eine freundschaftliche Umarmung, bevor er den Lüftungsschacht hochkletterte. So setzte sich der blonde 25-jährige hin und hielt bei seinem Freund Wache. Er überlegte kurz und schaltete dann den Fernseher ein, um sich Susi und Strolch anzusehen. Doch kaum, dass der Film lief, kam eine Regung vom Bett her und er hörte Kaonashi, der mürrisch grummelte „Schmeiß einen anderen Film ein. Ich hasse diese verdammten Köter.“ „Ich dachte du schläfst.“ „Ich wollte euch nur die Gelegenheit zum Reden geben. Also… wärst du so freundlich und würdest diesen Mist da ausmachen? Hauptsache es hat nicht mit Hunden zu tun.“ Damit nahm Clockwise die DVD raus und überlegte kurz. „Was hältst du von Die Schöne und das Biest?“ „Na meinetwegen. Ich krieg dich wohl schlecht dazu, mit mir Saw anzugucken.“ „Da hast du Recht“, stimmte Clockwise zu und lachte, dann legte er den entsprechenden Disneyfilm ein. „Ich mag solche brutalen Filme nicht. Da ist mir My Little Pony deutlich lieber.“ Als Kaonashi das hörte, musste er lachen. „Ach Mann, du bist aber auch echt ne Märchenprinzessin, was?“ Clockwise nahm die kleinen Spötteleien von Kaonashi mit Humor auf und sagte nichts weiter dazu. Zumindest war das ein gutes Zeichen, dass sich sein bester Freund so langsam von den Schmerzen erholte. So saß Clockwise an seinem Bett und schaute sich zusammen mit Kaonashi einen seiner Lieblingsfilme von Walt Disney an. Zwischendurch prüfte er aber dessen Zustand und versuchte die steifen Gelenke wieder etwas zu bewegen. „Sieht so aus, als würdest du morgen wohl im Bett bleiben müssen.“ „Shit… Naja, irgendwie hatte ich da schon so im Gefühl gehabt, dass da wieder so ein Schub kommt. Deswegen hab ich gut vorgearbeitet, sodass ich ruhig den einen Tag aussetzen kann. Ah Fuck… und ich dache echt, ich hätte das endlich hinter mir, nachdem es sechs Jahre lang gut gegangen war.“ „Damit wirst du leider leben müssen“, seufzte der 25-jährige und nahm sich eine Tüte mit getrockneten Mangostücken. „Das ist wie bei einem Epileptiker. Es kann jahrelang gut gehen und dann plötzlich kommt wieder ein Anfall. Und glaub mir: wenn du die Präparate nicht nehmen und deinen Körper fit halten würdest, dann hättest du deutlich öfter solche Schübe. Wenn du Glück hast, ist das für die nächsten paar Jahre der einzige.“ „Aber es ist trotzdem frustrierend. Was nützt mir diese ganze Kraft, wenn mein eigener Körper plötzlich so versagt, dass ich mich nicht mal mehr bewegen kann?“ „Ich arbeite noch an einer besseren Therapiemethode, aber hier im Gefängnis sind die Möglichkeiten auch begrenzt. Vielleicht finden wir auch eine Möglichkeit, dir zu helfen.“ „Bevor du mir hilfst, sollten wir erst mal Umbra helfen. Ich glaube, es braucht viel dringender Hilfe.“ „Wieso kommst du jetzt auf Umbra? Hast du ein Verdacht, wer es sein könnte?“ „Ich habe nur eine vage Vermutung und brauche erst mal mehr Indizien. Aber wenn ich mich erst mal wieder richtig bewegen kann, werde ich mich mit Nine beratschlagen, wie wir weitermachen sollen. Er scheint ja mehr zu wissen und kann dann vielleicht auch sagen, was wir bezüglich Mello tun sollen. Ich hab irgendwie das Gefühl, als würde der Kerl noch zu einer sehr wichtigen Figur auf dem Schachbrett werden.“ „Wie ein Bauer, der das Feld durchwandern muss, bis er am Ende zur Dame wird?“ „Genau. Wir wissen, dass er ein sehr enger Freund von Matt ist, dem Shutcall von Efrafa. Er stammt aus demselben Waisenhaus wie er und Nine und hat eine Verbindung zu L. Dann noch zuletzt wirkt er wie ein Magnet auf Umbra. Dieses Wesen hat schon unzählige Menschen getötet und hat nie annähernd menschliches Verhalten gezeigt. Doch kaum, dass Mello nach Down Hill kommt, taucht Umbra nach sechs Monaten wieder auf und rettet ihm das Leben. Und es hat Mellos richtigen Namen gekannt. Das ist schon sehr merkwürdig. Folglich bleibt da nur der Verdacht, dass Umbra jemand aus dem Waisenhaus sein könnte, der Mello näher gekannt hat. Ich finde es ohnehin schon sehr seltsam, dass es immer Waisenkinder sind und dann noch aus zwei Waisenhäusern und nicht einfach nur wahllos ausgesucht. Was mich außerdem neugierig macht, wäre die Frage, warum Mello von der KEE verhaftet wurde. Ist es wirklich nur deswegen, weil er ein Ghost ist? Nein, ich glaube, da steckt noch weitaus mehr dahinter. Mein Gefühl sagt mir, dass er aus einem bestimmten Grund nach Down Hill gebracht wurde und das muss ich noch herausfinden.“ „Vielleicht, weil er eine besondere Wirkung auf Umbra hat?“ „Woher soll Helmstedter das denn bitteschön wissen? Die einzige Erklärung wäre, er wusste von Mellos Vergangenheit, was wiederum die Frage aufwirft, warum er sich ausgerechnet Kinder aus Wammys House ausgesucht und nicht unseres genommen hat. Vermutlich hat es mit ihm zu tun. Nine hat ja schon so einiges angedeutet und wahrscheinlich will er Mello selber noch sprechen. Womöglich verfügt er über besonderes Wissen über dieses Waisenhaus, über welches er mit Mello persönlich reden will.“ „Ich traue diesem Nine nicht so wirklich“, murmelte Clockwise leise, aber laut genug, damit Kaonashi es hören konnte. „Er ist mir irgendwie unheimlich. Allein schon die Tatsache, dass er meinen richtigen Namen und den von Horace kennt, ist schon gruselig genug. Was genau ist er eigentlich?“ „Horace schätzt ihn als einen Soziopathen ein. Eventuell mit traumatischer Kindheit. Nine ist hochintelligent, wahrscheinlich noch klüger als jeder andere hier in Down Hill. Seine Motivation ist es, einen geeigneten Kandidaten zu finden, um das so genannte „siebte Requiem“ auszuführen. Da seine Ziele ähnlich den unseren sind, haben Horace und ich unsere Unterstützung zugesagt, da Eleven nur sehr eingeschränkt agieren kann und sie Nine nicht aus den Augen lassen darf.“ „Und wieso nicht?“ „Weil Nine ein extrem gefährlicher Mensch ist. Auch wenn er uns hilft, so ändert es nichts an der Tatsache, dass er unberechenbar und destruktiv veranlagt ist. Deshalb gehe ich lieber zu ihm hin. Der Kerl hat auch ein leichtes Faible für Psychospielchen. Er ist eine nicht-kannibalische Version von Hannibal Lecter.“ „Na großartig… Nicht nur, dass sich der Untergrund mit einem Monster abgibt, wir haben auch noch ein Monster auf unserer Seite, während dann noch ein weiteres Monster durch Down Hill geistert. Da traut man sich ja kaum noch vor die Tür.“ „Aus diesem Grund habe ich es auch lieber, wenn du hier in Pardarail bleibst. Das ist einer der sichersten Orte in Core City und außerdem brauchen wir dich mit Sicherheit noch.“ Kaonashi musste zwischendurch beim Sprechen immer wieder kurze Pausen einlegen, da er recht kurzatmig geworden war. Doch er schien ansonsten kaum noch Schmerzen zu haben und auch sonst schien er das Schlimmste soweit hinter sich zu haben. Jetzt musste das Ganze nur noch langsam wieder abklingen. „Hast du schon Pläne, was du machen willst, wenn wir wieder raus sind?“ „Klar habe ich die. Wenn wir wieder draußen sind, eröffne ich meine eigene Bar. Und du und Horace, ihr könnt ja ab und zu kleine Auftritte abhalten und wir treffen uns dann abends und trinken einen zusammen. Du, ich, Horace und Rhyme. Genauso wie in den guten alten Zeiten.“ „Und dieser Mello, was ist mit ihm? Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass er für dich nur ein Mittel zum Zweck ist, um ans Ziel zu kommen. Sei mal ehrlich: du interessierst dich für ihn. In dem Fall solltest du noch mal ernsthaft mit Horace sprechen.“ Das war natürlich nur als Scherz gemeint und Clockwise wusste, dass Kaonashi ihm dafür normalerweise einen Faustschlag gegen den Oberarm verpasst hätte, wenn er nicht gerade bewegungsunfähig gewesen wäre. „Fängst du jetzt auch noch damit an? Ich sage es noch mal klar und deutlich: ich hab kein solches Interesse an dem Kerl. Dafür hab ich doch Horace. Nein, ich sehe mich eher als Mentor für ihn. Wenn er hier überleben will, muss er noch eine Menge dazulernen.“ „Ich glaube, du siehst ihn irgendwie als eine Art Freund, kann das sein? Immerhin seid ihr euch sehr ähnlich.“ „Irgendwie hab ich das Gefühl, ihr wollt mir alle mit Absicht irgendeinen Quatsch andichten.“ „Ach was, das redest du dir nur ein. Aber ich finde es gar nicht mal so schlecht, wenn da zwischen euch beiden tatsächlich so etwas wie eine Freundschaft entstünde. Immerhin… seit ich dich kenne, hast du nie den Kontakt zu anderen gesucht, die nicht aus dem Waisenhaus stammten.“ „Frag dich mal wieso“, kam es von Kaonashi, der laut husten musste. „Die Kinder aus normalen Familien wollten nichts mit irgendwelchen Waisenkindern zu tun haben, die das Familienleben nicht kennen und nicht wissen, was es heißt, Eltern zu haben. Das ist etwas, mit dem sie nicht konfrontiert werden wollen, weil sie sonst nämlich den Spiegel ihrer schlimmsten Angst sehen: eines Tages genauso zu enden. Allein gelassen ohne Familie. Die Kinder haben nicht verstanden, was sie da eigentlich getan haben. Sie haben uns gemieden wie Aussätzige, uns schikaniert und uns damit aufgezogen, dass wir keine Familien hatten, weil sie Angst hatten. Angst davor, genauso zu enden wie wir und alles zu verlieren, was sie lieben. Natürlich waren sie sich nicht darüber bewusst gewesen, wie grausam sie waren, immerhin waren sie Kinder. Und wenn man als Waisenkind auch automatisch als Außenseiter abgestempelt wird, da meidet man irgendwann einfach die Gesellschaft von anderen. Da bleiben die Freaks lieber unter sich.“ „Kinder sind wirklich grausam“, bestätigte Clockwise und nickte dabei. „Muss eine echt harte Zeit für euch gewesen sein.“ „Du hast deine Eltern doch auch früh verloren.“ „Ich bin aber in der Familie geblieben. Naja, im Grunde war es auch nur eine andere Art von Waisenhaus, also kommt es ja irgendwie doch auf das Gleiche raus. Und Mello stammt auch aus einem Waisenhaus, da fühlt man sich doch irgendwie verbunden, oder?“ Kaonashi schwieg und dachte wohl selber gerade darüber nach. Als ein Mensch, der es vermied, seine wahren Gefühle zu zeigen, gab er nur ungern so etwas zu. „Ich sehe ihn nicht so direkt als Freund so wie dich und Rhyme“, sagte er schließlich. „Aber er es kann gut möglich sein, dass ich ihn nicht bloß als Mittel zum Zweck sehe.“ „Das ist ja auch erst mal in Ordnung.“ So beließ es Clockwise erst mal dabei und sie sahen sich gemeinsam den Film an, bis Kaonashi dann doch vor Erschöpfung einschlief. Kapitel 7: Friendzone --------------------- Morphs Gesicht war von Entsetzen gezeichnet, als er sah, dass Umbra direkt auf sie zukam. Für einen Moment war es so, als wäre er wie erstarrt, dann aber kam er nach einem kurzen Schreck wieder zu Sinnen. Instinktiv stellte er sich schützend vor Echo und Mello und hob seine Pistolen, bevor er Alarm ausrief. Er rief so laut, dass es das halbe Gefängnis aufgeweckt hätte und in dem Moment schoss er. Mehrere Kugeln trafen Umbra in die Brust und in den Kopf, doch es wankte nur kurz zurück und taumelte, dann preschte es nach vorne und griff an. Es schlug nach Morph, der noch rechtzeitig wegduckte und dann einen Faustschlag in den Brustkorb landete, bevor er sich wieder aufrichtete und seinem vermummten Gegner in die Magengrube trat. „Echo, lauf!“ Der 16-jährige zögerte keine Sekunde lang und eilte zu einer der Türen, von der er wahrscheinlich nicht einmal wusste, wohin sie führte und verschwand durch diese. Kurz darauf eilten mehrere bewaffnete Männer herbei, allen voran Christine, die eine Gatling bei sich hatte. „Weg da!“ wies sie an und sofort packte Morph Mello und flüchtete mit ihm aus der Schusslinie, als Christine auch schon das Feuer eröffnete. Ein einziger Kugelhagel brach herein und währenddessen robbten Mello und Morph über den Boden und gelangten zu den anderen. Mellos Ohren waren wie taub vom ohrenbetäubenden Knall der Kugeln und er fragte sich, was dieses Wesen nur hier zu suchen hatte und wieso alle schossen. „Was zum Henker ist hier los?“ rief er durch das Donnern der Gewehrsalven und kam wieder auf die Beine, als sie hinter den Linien waren. „Was los ist?“ rief Morph und war sichtlich wütend. „Umbra hätte dir noch den Kopf abgerissen, wenn du weiter in der Gegend herumgestarrt hättest. Pass also mal lieber auf und beweg deine Beine, wenn du nicht draufgehen willst.“ Ein lautes, markerschütterndes Schreien war zu hören, das nicht von dieser Welt zu kommen schien. Es jagte Mello einen Schauer über den Rücken und er sah, wie das Wesen mit der Kapuze auf sie zugestürmt kam und einige der Männer vor Angst die Flucht ergriffen als sie erkannten, wie wütend Umbra war. Christine hingegen machte keinen Rückzug und zeigte nicht den leisesten Anflug von Angst. Stattdessen packte sie ihre Gatling und schlug damit nach Umbra, verfehlte es aber und war aufgrund der Waffe nicht in der Lage, schnell genug zu agieren, als das Wesen sich auf einen seiner Angreifer stürzte, ihn am Kopf packte und diesen gegen die Wand schlug. Die Kraft, die dabei freigesetzt wurde, war dermaßen gewaltig, dass es dem Ärmsten sofort den Schädel zermalmte und sich Blut, Knochensplitter und Hirnmasse an der Wand und auf dem Boden verteilten. Im nächsten Augenblick griff Umbra den Nächsten an und riss ihm den Arm ab, als wäre es der einer Puppe. Schreie hallten durch die Gänge und der Geruch von Blut stieg dem 24-jährigen in die Nase und dieser Geruch rief Erinnerungen wach. An die schrecklichen Bilder jenes Ortes, den er für immer vergessen wollte. Und die Schreie… diese schmerzerfüllten Schreie der Sterbenden und Verletzten riefen wieder diese Ängste in ihm wach. Und anstatt, dass diese Männer die Flucht ergriffen und um ihr Leben rannten, kämpften sie trotzdem weiter. „Los doch!“ rief Christine und sah wild entschlossen aus, den Kampf gegen dieses Monster aufzunehmen. „Wir haben es gleich. Versperrt die Fluchtwege und treibt es in die Enge!“ Wie bitte? Die wollten dieses Ding tatsächlich einfangen, nachdem es mit bloßen Händen zwei Männer getötet hatte und offenbar nicht mal mit Kugeln zu töten, geschweige denn zu verletzen war? Wo zum Teufel war er denn hier nur gelandet und was war das für ein Wesen? Warum tötete es diese Leute, wo es ihm doch schon das Leben gerettet hatte? Mello verstand die Welt nicht mehr und sah, wie sie versuchten, Umbra in die Ecke zu drängen und ihn mit Seilen zu fesseln, doch es hatte keinen Zweck. Umbra durchbrach die Blockade, zerfetzte zwei weiteren Männern die Kehlen und stürmte direkt auf Mello zu. Dieser wollte weglaufen, aber Umbra war unglaublich schnell und ehe er sich versah, hatte es ihn gepackt und gegen die Wand gedrückt. Es atmete laut und geräuschvoll und hob zuerst einen Arm, als wolle es auch ihn angreifen, doch da war Morph schneller und schoss. Er traf Umbra ins Genick und in den Rücken, aber auch das zeigte keinen Erfolg. Aber dann ließ es ganz überraschend wieder von Mello ab, raunte ein leises „Mi… ha… el“, bevor es sich umdrehte und verschwand. Zehn bewaffnete Efrafanier nahmen die Verfolgung auf, zusammen mit Christine. Morph ließ die Glock sinken und keuchte. „Verdammt noch mal“, brachte er hervor und lehnte sich gegen die Wand. „Und wir hatten es fast…“ „Was war das gerade?“ fragte Mello, der sich den kalten Schweiß von der Stirn wischte. Als er sich umsah, erkannte er nur ein einziges Blutbad. Insgesamt vier Insassen waren tot, drei weitere schwer verletzt. Nachdem sich das Durcheinander gelegt hatte, kamen Rhyme und Dr. Helmstedter herbei, um die Verwundeten mitzunehmen und sie zu verarzten. Doch bei einem sah es besonders schlimm aus. Sein Arm war nur noch ein blutender Stumpf und einem anderen hatte es das Gesicht regelrecht zerfetzt. Er verstand nicht, wie es nur dazu kommen konnte und warum dieses Wesen hergekommen war. Vor allem aber fragte er sich, wieso so ein Aufwand darum gemacht wurde, es einzufangen und dabei sogar Tote in Kauf genommen wurden. „Kannst du mir erklären, was das für ein Wesen war?“ „Das ist Umbra, das Monster von Down Hill“, erklärte der Japaner und ging los, um einen Transportrollwagen zu holen, um die Leichen draufzuladen. Mello half ihm dabei, um sich wenigstens etwas nützlich zu machen. „Es ist das Ergebnis eines Experiments von Doktor Helmstedter. Er versuchte vor einigen Jahren eine Methode zu entwickeln, um Menschen unverwundbar zu machen. Bei seinen Forschungen entwickelte er ein Mittel, welches das Blut sozusagen „gefriert“. Es verdickt sich und das so stark, dass der Körper zu einem einzigen Schild wird. Dabei senkt sich die Körpertemperatur stark herab. Da sich das Blut bei der Verhärtung dunkelrot bis tiefschwarz färbt, nannte er es das Umbra-Gen, da Umbra das lateinische Wort für Schatten ist. Wir versuchen schon seit längerem, Umbra einzufangen, um somit einen Weg zu finden, diese Fähigkeiten auch auf jemand anderen zu übertragen. Wir hoffen dadurch, auf die Weise unbeschadet durch die Todeszone zu kommen.“ „Und wieso der Aufwand? Wenn der Doktor dieses Monster erschaffen hat, dann sollte er diese Formel doch haben, oder?“ „Eigentlich schon. Allerdings hat Umbra das ganze Labor zerlegt und es ist daraufhin ein Feuer ausgebrochen. Dabei wurden auch die Aufzeichnungen zerstört und Dr. Helmstedter konnte nicht die gesamte Formel im Kopf behalten. Also bleibt uns nur eines übrig: Umbra einzufangen und anhand der Blutproben das reine Umbra-Gen zu gewinnen. Momentan ist das die einzige Möglichkeit, die wir haben. Deshalb nehmen wir dieses hohe Risiko auf uns, auch wenn wir dafür Schwerverletzte und Tote in Kauf nehmen müssen. Es sind dennoch deutlich überschaubarere Verluste als wenn wir durch die Todeszone spazieren.“ Morph ging nach Echo sehen, Mello musste derweil erst mal den Kopf freikriegen nach der ganzen Aufregung. Immer noch hatte er diesen widerlichen metallischen Blutgeruch in der Nase und sein Herz raste vor Aufregung. Dieser verdammte Geruch ließ wieder diese ganzen Ängste hochkommen, die er am liebsten wieder verdrängen würde. Er musste ihn schleunigst los werden und dazu half nur eines: er brauchte jetzt erst mal eine heiße Dusche. Er ging zu seinem Zimmer, schnappte sich ein paar Klamotten, die er noch von Rhyme bekommen hatte und ging zu den Duschen. Nach der ganzen Aufregung hatte er eine heiße Dusche jetzt eh bitter nötig. Es kam ihm sowieso vor, als wäre seine letzte Dusche eine Ewigkeit her. Nun ja… während der Zeit auf der Quarantänestation war er die meiste Zeit sowieso viel zu schwach um aufzustehen und eine Dusche gab es dort nicht. Auf dem Gang traf er Birdie, die eine Schutzmaske, Schutzbrille Handschuhe und einen Schutzanzug trug. Außerdem hatte sie Putzzeug bei sich. Mello blieb stirnrunzelnd stehen, als er sie sah. „Haben wir hier irgendwo Ungeziefer oder was soll die Aufmachung?“ „Ich geh diesen Dreckstall aufräumen“, erklärte sie und dann kam es wieder, dass sie irgendwie falsch auftrat und der Länge nach hinfiel. „Wie soll ich denn Ruhe finden, wenn es da drüben überall nach Blut stinkt und so eine Sauerei ist? Es ist ja schon schlimm genug, dass die Gänge hier so verstaubt sind, weil niemand sich an meinen Putzplan hält. Aber die Blutspuren und den ganzen Rest macht natürlich niemand weg! Und überhaupt: Männer sind bei weitem nicht so reinlich wie wir Frauen. Da mach ich es lieber selber, denn da weiß ich auch, dass es auch gründlich weggemacht wird!“ Als Mello ihr hochhalf und die Sachen einsammelte, fiel ihm auf, dass sie sogar Raumspray dabei hatte. Dazu noch zwei Flaschen Reinigungsmittel, Desinfektionsmittel, Scheuermilch, einen Putzeimer und diverse Lappen. Naja… Birdie hatte eben einen Tick was Sauberkeit anging. „Wie kannst du überhaupt Ärztin sein, wenn du Schmutz und Blut so sehr hasst?“ „Weil Medizin und Putzen das Einzige sind, was ich kann, ohne gleich eine Katastrophe anzurichten“, seufzte sie und nahm dankend ihre verlorenen Putzutensilien entgegen, die Mello aufgehoben hatte. „Ich kann nicht laufen, ohne stets und ständig über meine eigenen Füße zu stolpern, ich kann weder nähen noch kochen, geschweige denn irgendetwas anderes. Ich bin sehr tollpatschig und natürlich auch ziemlich naiv. Immerhin hab ich mich schon drei Mal hier in Typen verliebt, die mich später umbringen wollten. Ich bin ein hoffnungsloser Fall was das betrifft, aber hier werde ich wenigstens gebraucht. Also bin ich eben eine Ärztin für die Insassen und versuche, mein Bestes zu geben. Und es stört hier auch niemanden, wenn ich versuche, hier irgendwie ein bisschen Sauberkeit reinzubringen. Naja… zumindest fast… Manchmal gehe ich den anderen doch ziemlich auf die Nerven, weil ich es ihrer Meinung nach übertreibe. Aber allein schon der Gedanke daran, wie dreckig es hier ist und wie viele Keime und Bakterien hier lauern, das ist für mich unvorstellbar. Aus dem Grund dusche ich mich auch mindestens drei Mal am Tag und putze mein Zimmer zwei auch drei Mal.“ Okay… die Frau hat wirklich ein ernsthaftes Problem, dachte sich Mello. Wenn sie draußen ist, sollte sie mal wirklich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. „Na denn…“, meinte Birdie schließlich. „Ich bin dann mal saubermachen. Bis später!“ Damit lief sie weiter und Mello öffnete schon die Tür zu den Duschen, da hörte er, wie sie wieder hinfiel. Naja… sie war wirklich ziemlich tollpatschig und ein kleines bisschen verrückt, aber sie schien ja ganz in Ordnung zu sein im Gegensatz zu Doktor Helmstedter. Als er im Duschraum war, bemerkte er, dass er gerade der Einzige war. Na das traf sich doch ganz gut. Er ging direkt in eine der Duschkabinen und drehte das Wasser auf. Warmes Wasser prasselte auf ihn nieder und erst jetzt merkte er, wie sehr ihm das gefehlt hatte. Es fühlte sich so befreiend an. Eine heiße Dusche… Wer hätte gedacht, dass er mal etwas so selbstverständliches so wertschätzen würde? Nach der ganzen Aufregung hatte er das wirklich gebraucht. Und irgendwie hatte er das Gefühl, als würden ganz neue Lebensgeister geweckt werden. Er hörte schließlich, wie die Tür aufging und noch jemand hereinkam. Sofort hielt er inne und horchte. Dann aber schob er langsam den Duschvorhang beiseite und erspähte Matt, der gerade dabei war, sich auszuziehen und seine Sachen beiseite zu legen. Wie lange es doch her war, seit Mello ihn zuletzt nackt gesehen hatte. Zugegeben, damals vor vier Jahren war sein Freund nicht ganz so durchtrainiert wie jetzt. Er hatte einiges an Muskeln zugelegt und irgendwie schien er ein klein wenig größer geworden zu sein. Dabei wuchs man doch ab 18 Jahren nicht mehr… Nun, vielleicht hatte er das alles auch ein wenig anders in Erinnerung. Er sah einige Narben an Matts Körper. Spuren von Kämpfen, die er geführt hatte. Mellos Blick wanderte langsam Matts Körper hinab und er merkte, dass es ihn erregte. Sein Herz begann schneller zu schlagen und eine gewisse Aufregung überkam ihn. Er konnte sich nicht erklären warum, aber als er Matt so sah, verspürte er den sehnlichen Wunsch, ihm näher zu sein… er wollte bei ihm sein, ihn halten, küssen und ihn spüren. So wie damals, bevor sie voneinander getrennt wurden. Dieses Verlangen war ihm nicht unangenehm, aber schon etwas peinlich. Vor allem hier in der Dusche. „Macht’s dir Spaß, mir beim Ausziehen zuzusehen?“ Mello war fast schon erschrocken, als er plötzlich Matts Stimme hörte, die allein ihm galt und dabei sah ihn der 23-jährige nicht einmal an. Doch dann fing er sich wieder und fragte in seiner üblichen Tonart „Darf man hier nicht mal in Ruhe duschen, oder hast du hierfür auch Sonderrechte?“ Hier warf Matt ihm einen finsteren Blick zu, sagte aber nichts, sondern kam direkt auf ihn zu. Er riss den Duschvorhang auf, ergriff Mellos Handgelenk und drückte ihn gegen die Wand. Jetzt auch erkannte Mello es deutlich, dass Matt tatsächlich größer war als vor vier Jahren. „Ach ja?“ fragte dieser leicht verärgert. „Und was ist das zwischen deinen Beinen?“ Mello brauchte nicht hinzusehen um zu wissen, dass er einen Ständer hatte. Und das machte die ganze Sache nicht gerade einfacher. „Kriegst du jedes Mal gleich einen Ständer, wenn du einem Kerl beim Duschen zusiehst? Oder hast du bloß Druck auf der Leitung, weil dir hier die Frauen fehlen?“ Diese harten Worte versetzten dem 24-jährigen einen Stich ins Herz und er konnte nicht fassen, wieso Matt nur so eiskalt zu ihm war. „Matt, was ist dein Problem, verdammt? Ich hab dir doch gesagt, dass es mir leid tut, dass ich dich geschlagen habe. Glaub mir, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann…“ „Es geht nicht nur darum, dass du mich vor vier Jahren verprügelt hast!“ rief Matt und schlug mit der Faust gegen die Fliesen. Seine Wut und Enttäuschung waren ihm dabei deutlich anzusehen. „Es geht auch darum, was du gesagt hast! Weißt du eigentlich, wie ich mich gefühlt habe, als du mir diese Sachen an den Kopf geworfen hast? Ich bin ja so einiges von dir gewohnt gewesen, aber das war zu viel für mich. Warum bist du überhaupt mit mir ins Bett gegangen? War ich für dich die ganze Zeit nur so etwas wie deine Matratze gewesen oder nur ein kleines Abenteuer?“ So wütend hatte Mello ihn noch nie erlebt und es tat ihm weh, Matt so zu sehen. Er hätte nie und nimmer gedacht, dass er es mal so weit treiben würde, dass Matt mal so eine Wut entwickelte, dass er es nicht mehr mit seiner üblichen Gelassenheit und Gleichgültigkeit abtun und es ihm selbst nach vier Jahren nicht verzeihen konnte. „Wer hat mich denn bitte damals als Schwuchtel bezeichnet und damit gedroht, mir die Zähne auszuschlagen?“ „Das war im Affekt, weil ich so sauer war.“ „Hör mir bloß auf damit, Mihael!“ rief Matt wütend. „Du denkst doch heute nicht anders als damals. Nur wenn man einen anderen Mann liebt, ist man in deinen Augen gleich eine kranke Schwuchtel, die man am besten gleich zusammenschlagen sollte, nicht wahr? Du hast doch überhaupt keine Ahnung… nicht die geringste.“ Damit wandte sich Matt von ihm ab und es sah aus, als wolle er sich wieder anziehen und gehen, aber Mello wollte es nicht dazu kommen lassen. „Was soll ich denn nicht verstehen? Sag es mir doch mal endlich.“ „Wozu denn bitteschön? Damit du wieder auf mich losgehst, mich beschimpfst und verprügelst?“ „Verdammt noch mal es tut mir leid, klar? Ich wollte das alles nicht, das musst du mir glauben.“ „Das tue ich aber nicht. Nicht nach dem, was du mir an den Kopf geworfen hast und mir klar gemacht hast, dass ich für dich nur ein kleiner Spaß im Bett bin, auf den du jederzeit bei Bedarf zurückgreifen und den du genauso jederzeit wieder von der Bettkante schmeißen kannst. Für dich bin ich doch nur zum Sex gut und mehr nicht. Das waren deine Worte. Wir sind nur zwei Freunde, die ab und zu mal Sex haben. Und dabei hab ich mich schon damals in dich verliebt, als du mir die Brille geschenkt hast.“ Mello hatte das Gefühl, in eine bodenlose Tiefe zu fallen, als er das hörte und er konnte es einfach nicht fassen. Matt war in ihn verliebt? Dann war dieser Kuss damals im Waisenhaus also kein Freundschaftskuss gewesen? Aber das würde dann ja bedeuten… …dass Matt schon seit 12 Jahren heimlich Gefühle für ihn hatte. So langsam wurde ihm das wahre Ausmaß seiner Reaktion von vor vier Jahren bewusst. Und in diesem Moment kam er sich selbst so widerwärtig und abstoßend vor. Ja er hasste sich selbst für diese grausamen Worte, die er damals ausgesprochen hatte und dass er nicht erkannt hatte, was wirklich in Matt vorgegangen war. „Wieso hast du nie etwas gesagt?“ fragte er schließlich, doch Matt lachte nur bitter und trocknete sich ab, bevor er sich anzog. Mello drehte derweil das Wasser ab und wickelte sich ein Handtuch um die Hüften. „Warum? Na weil ich wusste, dass du niemals dasselbe für mich empfinden würdest. Für dich war eine Beziehung zu einem Mann schon immer unvorstellbar gewesen, deshalb habe ich mich damit begnügt, wenigstens als dein bester Freund an deiner Seite zu sein, wenn ich dir wenigstens auf diese Art und Weise nah sein kann. Aber es war schwer und als wir an diesem einen Abend betrunken nach Hause kamen und mir dieser Ausrutscher passiert ist, da hatte ich echt Angst gehabt, du würdest mich von dir stoßen und nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Aber stattdessen kam dann diese Sexbeziehung und ich hatte leise Hoffnung, dass du tatsächlich Gefühle für mich entwickeln könntest. Warum sonst hättest du dem Sex zugestimmt? Ich dachte, du bräuchtest deine Zeit und hast dir deswegen diese ganzen Frauenzimmer angelacht, weil du es selbst kaum wahrhaben konntest, dass du Gefühle für mich hast. Deswegen hab ich nichts gesagt und mich damit arrangiert. Aber irgendwann konnte ich es nicht mehr aushalten und ich wollte endlich Gewissheit haben. Deshalb bin ich damals auf das Thema zu sprechen gekommen. Ich hätte mich damit arrangiert, wenn du es erst mal nicht wahrhaben wolltest und vielleicht noch deine Zeit brauchen würdest, um dir deiner Gefühle klar zu werden. Aber ich hätte nie im Leben damit gerechnet, dass du so heftig reagierst, mich verprügelst und mich als Schwuchtel beschimpfst. Ich habe dich geliebt, Mihael. Du warst immer der einzige Mensch gewesen, den ich auch lieben wollte. Aber für dich war ich doch nie etwas anderes gewesen als ein Freund, von dem man sich ficken lassen kann. Die ganze Zeit hast du mich doch bloß für dein eigenes Vergnügen missbraucht und mehr nicht, weil du immer das Sagen haben wolltest. Aber jetzt haben sich die Dinge geändert. Jetzt bin ich hier derjenige, der hier das Sagen hat und ich werde mich garantiert nicht mehr von dir als Sexspielzeug missbrauchen lassen. Du kannst dir gerne jemand anderen suchen, den du zur Triebabfuhr benutzen kannst, aber ich mach das nicht mehr länger mit. Und mir ist auch eines klar geworden: du wirst niemals Gefühle für mich entwickeln, egal wie sehr ich es mir auch wünschen würde. Deshalb gebe ich es auch auf, mir noch irgendetwas zu erhoffen. Ich kann einfach nicht mehr und ich will auch nicht mehr. Noch einmal werde ich mich nicht mehr so verarschen und benutzen lassen. Da kannst du dir einen anderen Idioten suchen.“ Damit zog sich Matt wieder an und verließ die Duschräume. Mello wäre ihm vielleicht hinterhergelaufen, doch das alles war einfach zu viel für ihn. Zu hören, dass Matt seit 12 Jahren in ihn verliebt war, das haute ihm echt vom Hocker. Und gleichzeitig fragte er sich, wie er nur so blind sein konnte. Es hätte doch Anzeichen geben müssen, die er doch eigentlich sofort hätte erkennen müssen. Oder war er wirklich so blind gewesen und hatte diese ganzen Anzeichen einfach nicht gesehen? In diesem Moment war ihm einfach nur zum Heulen zumute. Mutlos sank er auf einem Hocker zusammen und starrte zu Boden. Was war er doch für ein Idiot gewesen. Natürlich konnte er es sich selbst heute nicht vorstellen, mit einem Mann zusammenzukommen. Es fühlte sich da einfach nicht richtig an. Aber bei Matt hatte er nie wirklich daran gedacht und es war ihm vollkommen egal gewesen, weil er sich einfach dachte: „Wir sind Freunde, also geht Sex in Ordnung.“ Verdammt noch mal. Es hatte doch so viele Anzeichen gegeben, die er hätte erkennen müssen. Der Kuss damals im Waisenhaus, dass Matt diese Brille nie abnahm und immer bei ihm blieb, dass er sich so um ihn sorgte und dass er ihn an diesem einen Abend geküsst hatte, als sie betrunken waren. Wenn er noch weiter gesucht hätte, dann hätte er wahrscheinlich noch mehr Anzeichen gefunden. Wie hatte er all die Jahre nur so dermaßen blind sein und seinen besten Freund so sehr verletzen können? So wirklich verübeln konnte Mello es ihm nicht, dass Matt ihm nicht so schnell verzeihen konnte. An seiner Stelle würde es ihm nicht anders ergehen. „Verdammt“, murmelte Mello niedergeschlagen und fuhr sich durch sein tropfnasses Haar. „Ich bin so ein Idiot.“ „Ja, so etwas ist nicht gerade einfach…“ Mello fuhr hoch, als er diese Stimme hörte und musste zuerst mal suchen, bis er dann den Blick hob und dann ein vertrautes Gesicht am Lüftungsschacht sah. Es war Horace Horrible, Kaonashis Begleiter, der ihm zuwinkte. „Was machst du denn hier?“ „Nach dem Rechten sehen“, antwortete der Schwarzhaarige und sein Lächeln war wie das eines Intellektuellen, der auf seine Weise gefährlich sein konnte. „Wenn du willst, kannst du mit mir darüber reden.“ „Nein danke“, sagte Mello nur und stand auf, um sich wieder anzuziehen, aber Horace ließ nicht locker. „Ich bin nicht nur Schauspieler, sondern habe auch einen Doktortitel in der Psychologie“, erklärte er. „Und ich habe selbst die Erfahrung gemacht, was es heißt, einen impulsiven und ruppigen Freund zu haben, der mit seinen Aktionen schneller ist als mit dem Nachdenken.“ „Warum willst du mir helfen? Und wo ist Kaonashi?“ „Der ist momentan noch ziemlich beschäftigt und so komme ich eben vorbei, um mich mal nach dem Stand der Dinge in Efrafa zu erkundigen. Zuerst hatte ich ja eigentlich etwas anderes vor, aber als ich da den Zoff zwischen dir und Matt mitgekriegt habe, da musste ich erst mal mithören, um mir ein Bild zu machen. So wie es aussieht, hast du den Karren ja volle Kanne in den Sand gesetzt. Deshalb kann ich dir nur anbieten, dass wir zwei uns gleich mal ein wenig miteinander unterhalten und ich kann dir vielleicht mal ein paar Ratschläge geben.“ Zuerst war Mello skeptisch, denn bisher hatte sonst nur Kaonashi wirklich Anstalten gemacht, ihm zu helfen. Und nun war es überraschend Horace, von dem er sich noch zu erinnern glaubte, dass dieser noch versucht hatte, Kaonashi davon abzubringen. „Und wie komme ich zu der Ehre?“ „Sagen wir mal so: Kaonashi hat da so eine gewisse Sympathie für dich entwickelt. Also auf freundschaftlicher Basis natürlich. Und da mir Kao sehr wichtig ist, will ich ihm eben so gut es geht helfen. Und wenn es dann eben halt bedeutet, dass ich dir bei deinem Problemchen mit deinem Freund weiterhelfe. Also was ist? Interesse?“ Etwas unsicher dachte Mello noch darüber nach. Dann aber seufzte er geschlagen und nickte. „Wenn du meinst, dass es etwas bringt…“ Kapitel 8: Morph und Christine ------------------------------ Geräuschvoll hatte Matt die Türe zugeknallt und fluchte leise vor sich hin und wollte sich gerade hinsetzen, bis er dann merkte, dass Morph und Christine gerade in einem Gespräch waren. Daraufhin wollte er wieder gehen, um sie nicht zu stören, doch da fragte Christine direkt „Alles in Ordnung, Matt?“ Er atmete tief durch und setzte sich zu ihnen. Morph schenkte ihm ein Glas Schnaps ein und klopfte ihm auf die Schulter. „Ist es wegen Mello? Hat er dich schon wieder so beschimpft?“ „Nein“, murmelte der 23-jährige und stürzte den Inhalt seines Glases hinunter. „Es ist nur…“ Er sprach nicht weiter, denn da raste ein strechender Schmerz durch seinen Kopf wie eine glühende Nadel. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste er sich eine Hand gegen die Schläfe. „Es ist nur so, dass ich immer noch so viel Wut in mir habe, dass ich ihm am liebsten eine reinhauen würde.“ „So viel aufgestaute Aggressionen sind nicht gut“, meinte Morph. „Das gibt nur Kopfschmerzen und Magengeschwüre.“ „Manche Dinge brauchen Zeit“, meinte Christine und trank ihr Glas aus. „Ich kann dich verstehen und niemand würde es dir verdenken. Aber sag mal, empfindest du immer noch etwas für ihn?“ Unsicher zuckte Matt mit den Schultern und musste zugeben „Ich weiß es nicht. Früher hab ich ihn geliebt… Aber jetzt ist das Einzige, was ich hauptsächlich fühle, nur Wut und Enttäuschung. Aber sag mal Christine, wie ist die Verfolgung gelaufen? Habt ihr Umbra einfangen können?“ „Leider ein“, gab die Soldatin zu und schenkte sich nach. „Es ist durch den Schacht abgehauen, der nach Hell’s Gate führt. Ich hab aber Hiram Bescheid gesagt, er soll eine Einheit losschicken. Meine habe ich nach Core City geschickt. Vielleicht haben wir ja Glück und finden es. Jetzt erst mal bleibt nur zu hoffen, dass Zain, Fowler, Sniper und Sancho überleben. Irgendwann müssen wir mal einen Treffer landen und Umbra schnappen, damit die ganzen Opfer nicht umsonst gewesen waren.“ Als Christine das sagte, verdüsterte sich ihre Miene. Sie schien sich an etwas Bestimmtes zu erinnern. An schreckliche Dinge, da sie in dem Moment ihr Medaillon umfasste, welches sie um den Hals trug. Sie hatte es nie abgenommen und es war ihr kostbarster Besitz. „Ja die Sache ist nicht gerade einfach“, bestätigte Morph. „Aber wenn ich etwas neues von meinen Informanten habe, werde ich sofort Bescheid geben. Ich bin aber jetzt gleich noch bei Echo. Ich hab ihm versprochen, ihm noch etwas vorzulesen und nach Umbras Angriff ist er sowieso schon ziemlich verschreckt.“ „Dann geh am besten zu ihm. Er braucht dich jetzt.“ Morph betrachtete Matt etwas skeptisch und sah, dass dieser immer noch etwas geladen war und ihm diese plötzlich eingetretenen Kopfschmerzen ziemlich zu schaffen machten. „Und du kommst wirklich zurecht?“ „Ja, schon in Ordnung. Ich brauch nur etwas Ruhe, das ist alles. Kümmere dich um Echo. Er braucht dich jetzt.“ Morph nickte und stand auf, doch er blieb an der Tür stehen. „Wenn er dir weder so wehtun sollte, sag es mir.“ Matt versprach es und damit verließ Morph das Zimmer, um dafür nach Echo zu sehen. So blieben schließlich nur noch zwei Personen im Raum und eine Weile lang schwieg Christine. Womöglich hätte sie etwas gesagt, aber etwas schien sie davon abzuhalten. Stattdessen begann sie nun damit, ihre Waffe zu reinigen. Matt entging dieser innere Zwiespalt trotzdem nicht und so fragte er „Gibt es etwas, das du mir sagen willst?“ „Nicht direkt“, sagte sie knapp und wirkte sehr nachdenklich. „Ich mag nur diese Stille nicht. Genauso wenig wie ich den Lärm hasse. Außerdem musste ich mich an eine Weisheit erinnern, die mir mein Mann immer gesagt hat, als du von deiner Wut Mello gegenüber gesprochen hast.“ „Du bist verheiratet?“ fragte Matt überrascht. Es war das erste Mal seit ihrer Begegnung, dass Christine etwas von ihrer Vergangenheit preisgab. Ihr Blick senkte sich und fast tonlos erklärte sie „Ich war es.“ Eine Zeit lang schwieg sie wieder, bis sie dann sagte „Wenn man jemanden liebt, sollte man sich niemals im Streit von ihm verabschieden. Man sollte sich immer im Guten verabschieden, denn man kann nie wissen, wann der Tag kommen wird, an dem euch der Tod auseinanderreißen wird. Und dann wird man sich den Rest seines Lebens nur Vorwürfe machen, dass man einander so viele schlimme Dinge gesagt hat und man nie wieder die Chance bekommen wird, sich für diese Worte zu entschuldigen.“ „Rätst du mir jetzt etwa, ich soll Mello all die Dinge verzeihen, die er zu mir gesagt hat?“ „Nein. Aber ich glaube, du bist nicht der Einzige, der leiden musste.“ „Was willst du mir raten?“ „Ich bin kein Mensch, der gerne Ratschläge gibt und ich bin auch nicht sonderlich gut darin. Ich bin nur der Ansicht, dass es niemandem etwas bringt, immer nur an diesem Schmerz und diesem Hass festzuhalten. Um nicht an dem Schmerz zu zerbrechen, muss man nach vorne sehen, weder nach rechts, noch nach links. Man darf niemals zurückblicken und sein Ziel aus den Augen verlieren. Und wenn du nicht in der Lage bist, eines Tages dieses Thema zu klären und mit dir selbst ins Reine zu kommen, dann wird es dich dein Leben lang verfolgen wie eine Narbe. Glaub mir, ich weiß genau, wovon ich spreche.“ „Und wie bist du damit fertig geworden?“ „Gar nicht“, sagte sie und irgendwie erschien es Matt so, als wäre sie in diesem Moment gealtert. Hatte sie vorher noch einen vitalen und starken Eindruck erweckt, wirkte sie in diesem Moment abgeschlagen, erschöpft, müde und ausgezehrt. „Es gibt Dinge, denen kann man nicht entfliehen. Und egal wie weit du auch läufst, sie holen dich ein und verfolgen dich unerbittlich wie Erinnyen. Du hast noch Glück. Deine Geister lassen sich bekämpfen und wenn du die Kraft findest, dich mit Mello auszusprechen und ihm zu vergeben, dann wirst du auch mit dir selbst ins Reine kommen. Mein Rat lautet also daher: überleg dir gut, was du tun willst.“ Eine Weile lang sprach keiner von ihnen ein Wort, dann aber erhob sich Matt schließlich, verabschiedete sich und verließ den Raum. Nachdem Christine ihre Pistole gereinigt hatte, setzte sie sie wieder zusammen und verharrte dann für einen Moment, bevor sie die Pistole lud, den Hahn spannte und dann die Waffe gegen ihre Schläfe drückte. Sie schloss die Augen und legte einen Finger um den Abzug. Es war so einfach… es würde so schnell gehen, auf diese Weise zu sterben. Alles, was sie tun musste war, den Abzug zu betätigen. Sie hatte so vielen Menschen das Leben genommen… so viele Kameraden verloren und nie einen Menschen vergessen, den sie getötet hatte oder jemanden, der an ihrer Seite gekämpft und gefallen war. Sie wollte auch niemanden vergessen, den sie getötet hatte. Nicht nur in Down Hill, sondern auch an der Front. Und als sie daran zurückdachte, da hörte sie wieder die Schreie, den Lärm der Bombenangriffe sah von sterbenden Menschen. Männer und Frauen, Alte und Kinder. Wie viele Jahre war seit Operation Nemesis vergangen? Acht Jahre? Trotzdem verfolgten diese Bilder sie noch Tag für Tag und sie hörte die Schreie der Kinder und ihrer Kameraden. Und immer noch konnte sie den Gestank von Schwarzpulver riechen. Wann würde es wohl endlich vorbei sein? Wann würden diese grauenhaften Alpträume verschwinden und sie nicht mehr heimsuchen? Die einzige Möglichkeit war, es selbst zu beenden. Es hatte sich zu tief in ihr Gedächtnis gebrannt und sie wurde jedes Mal daran erinnert, wenn sie wieder die Schreie von Verletzten und das laute Donnern der Gewehrschüsse hörte. Dann war sie wieder mittendrin und es existierte nur noch dieser eine Instinkt in ihr, den sie ihr damals als Mädchen eingedrillt hatten und der zu einem Reflex geworden war, den sie mehr hasste als ihr eigenes Selbst: der Reflex zum Töten. Es würde wieder passieren, das wusste sie. Deshalb war es unumgänglich, dass sie diesen Weg wählte. Allein schon um zu verhindern, dass es wieder passierte so wie damals. Doch etwas hielt sie davon ab. Sie schaffte es nicht, den Abzug zu betätigen und so ließ sie die Waffe wieder sinken. Fast jeden Tag versuchte sie es und doch hatte sie es nie geschafft, diesen letzten inneren Widerstand zu brechen, der sie an dieses Dasein fesselte. Schließlich atmete sie tief durch und legte die Pistole wieder auf den Tisch, dann öffnete sie ihr Medaillon, in welchem sich ein Foto befand. Sie weinte nicht, als sie dieses warmherzige Lächeln auf dem Foto sah, welches sie seit acht Jahren nicht mehr gesehen hatte. Das gütige Lächeln jener Person, die ihr gezeigt hatte, dass sie keine Kriegsmaschine, sondern ein Mensch war. Jene Person, die durch ihre Hand gestorben war. „Es tut mir leid, Amir…“, sagte sie leise und senkte traurig den Blick. In solchen Momenten fragte sie sich, ob ihr Leben vielleicht anders verlaufen wäre, wenn sie Amir nicht kennen gelernt und weiterhin nur eine einfache Soldatin geblieben wäre. Dann hätte es Operation Nemesis niemals gegeben und sie säße jetzt nicht hier in Down Hill und würde auch nicht mit dem Gedanken spielen, sich endlich selbst die Kugel zu geben. Was, wenn es die Einheit Phoenix nie gegeben hätte? Dann hätte sie ein ganz normales Leben führen können, weitab vom Krieg in staubigen Wüsten, wo man jede Sekunde damit rechnen musste, von einer Bombe oder einer Granate in Stücke gerissen zu werden. Schon verrückt, dachte sie sich. Da wollte ich die ganze Zeit dem Schlachtfeld entkommen und damit auch dem Leben im Krieg und was jetzt? Nun führe ich einen ganz anderen Krieg weiter und kämpfe freiwillig an vorderster Front. Tja, es scheint wohl so, als wäre dies das einzige Leben, was ich noch führen kann… auch wenn ich es hasse und am liebsten davor weglaufen würde. Aber ich bin einfach nicht mehr fähig, ein normales Leben zu führen. Christine versuchte sich an ihre Kindheit zu erinnern. An die großen grünen Felder und Hügel und an das Lied, welches ihr ihre Großmutter beigebracht hatte. Und da ihr dieses Lied gerade so passend erschien, begann sie erst die Melodie zu summen und dann aus dem Gedächtnis heraus das alte Lied aus ihrer Heimat zu singen. „Schlaf, schlaf, Zeit jetzt zu schlafen Schlaf, schlaf, Träume kommen zu dir Träume von Frieden und Freiheit So lächle in deinem Schlaf, liebes Kindlein. Einst erklangen unsere grünen Täler Mit Liedern von singenden Kindern Aber nun schreien die Schafe bis zum Abend Und unsere Hütten sind leer und zerstört Schlaf, schlaf, Zeit jetzt zu schlafen Schlaf, schlaf, Träume kommen zu dir Träume von Frieden und Freiheit So lächle in deinem Schlaf, liebes Kindlein Wir standen mit Köpfen zum Gebet geneigt Während Fabriken unsere Häuser zerstörten Die Flammen schwärzten die klare Bergesluft Und viele waren tot bei Tagesanbruch Schlaf, schlaf, Zeit jetzt zu schlafen Schlaf, schlaf, Träume kommen herbei Träume von Frieden und Freiheit So lächle in deinem Schlaf, liebes Kindlein Wo nur bleibt der Mut unseres Hochlandes Unsere Truppen, einst so erbittert im Kampfe Kauern zitternd und ängstlich wie Vieh Und warten darauf, über den Ozean zu segeln Schlaf, schlaf, Zeit jetzt zu schlafen Schlaf, schlaf, Träume kommen zu dir Träume von Frieden und Freiheit, So lächle in deinem Schlaf, liebes Kindlein Es ist sinnlos zu Flehen und Beten Fort, fort ist alle Hoffnung zu bleiben Schlaf, schlaf, der Anker er wartet Weine nicht in deinem Schlaf, liebes Kindlein.“ Morph klopfte vorsichtig an Echos Tür und schaute hinein. Wie erwartet saß dieser zusammengekauert auf seinem Bett, während er Musik hörte. „Oh“, bemerkte der Japaner sofort. „Sieht so aus, als hätte Leaks den CD-Player wieder zum Laufen gekriegt. Und? Was hörst du denn gerade?“ „Ein altes Green Day Album. Hat Blackavar mir gegeben.“ Morph schloss die Tür und setzte sich zu Echo ans Bett. „Du hast dich sicher ziemlich erschrocken, als Umbra aufgetaucht ist, oder?“ Stumm nickte der blinde 16-jährige und seufzte leise. „Ich hatte solch eine Angst, dass es mich töten würde, dass ich einfach nicht mehr wusste, wohin ich gehen sollte. Ich hab mich so hilflos gefühlt, weil ich nichts sehen kann…“ Hierauf nahm Morph ihn tröstend in den Arm und Echo erwiderte die Umarmung sofort. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe dir versprochen, dich immer zu beschützen, egal was auch kommen mag. Und auch jeder andere hier in Efrafa wird nicht zulassen, dass Umbra, die Cohans oder sonst irgendjemand dir etwas antut. Aber es ist in Ordnung, Angst zu haben. Jeder hätte in deinem Fall Angst gehabt. Soll ich heute Nacht bei dir schlafen, damit du dich sicherer fühlst?“ Dieses Angebot versetzte Echo in große Begeisterung und er strahlte daraufhin übers ganze Gesicht. „Wirklich? Du bleibst heute Nacht echt bei mir?“ Morph schmunzelte, als er sah, wie sehr sich Echo darüber freute und streichelte ihm den Kopf. „Na klar. Ich lese dir auch was vor und…“ „Ach kannst du mir nicht irgendetwas aus deinem Leben erzählen, Morph? Ich meine… wir beide sind jetzt schon ein Jahr zusammen und irgendwie erzählst du mir nie etwas über dich, oder zumindest nur ziemlich wenig. Alles was ich weiß ist, dass du 27 Jahre alt und Japaner bist. Und außerdem wollte ich sowieso etwas wissen.“ „Und was?“ „Warum hasst du Mello denn so sehr und bist so fies zu ihm? Ich weiß ja, dass er nicht immer der Netteste ist, aber er ist doch kein schlechter Mensch. Ich meine, Rhyme und Birdie mögen ihn ja auch.“ „Birdie mag doch jeden in Down Hill, weil sie so naiv ist“, merkte Morph an und lachte etwas abfällig. „Sie würde sogar Godzilla mögen. Aber weißt du Echo, ich hasse Mello nicht. Ich hasse keinen Menschen, denn so etwas verzerrt nur die Sicht der Dinge. Es ist einfach so, dass ich seine Ansichten völlig inakzeptabel finde. Er hat damals einige Dinge gesagt und getan, die wirklich schlimm sind und er hat sich insbesondere gegen Homosexuelle sehr abfällig geäußert. Und genau das kann ich einfach nicht ab. Weißt du, in Japan hat man es nicht gerade einfach, wenn man schon recht früh erkennt, dass man schwul ist. Vor allem nicht, wenn die erste Beziehung der eigene Nachhilfelehrer war.“ „Was?“ platzte es aus Echo heraus, als er das hörte. „Du… du hattest was mit deinem Nachhilfelehrer?“ Morph seufzte und nickte. „Ja, ist ziemlich klischeehaft, ich weiß. Ich war 15 Jahre alt, er war knapp doppelt so alt. Mit ihm hatte ich eine etwas kurze Beziehung, bis dann meine Eltern dahinterkamen. Tja und die waren alles andere als begeistert darüber.“ „Kann ich mir vorstellen. Immerhin war der Typ dein Lehrer und doppelt so alt wie du. Naja wobei… du bist ja auch elf Jahre älter. Wenn meine Eltern noch leben würden, die würden auch erst mal umfallen. Das war doch ein Schock in dreifacher Hinsicht für die, oder?“ Dem konnte Morph nur zustimmen. Er lehnte sich mit dem Rücken zur Wand und legte einen Arm um Echos Schultern. „Es gab sehr viele Auseinandersetzungen zwischen uns und dabei haben sie mir auch mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie das nie und nimmer akzeptieren werden. Sie wollten das Gesicht vor der Öffentlichkeit wahren und machten mir klar, dass sie mich verstoßen würden, wenn ich mir weiterhin solche Eskapaden erlaubte. Ich hatte damals nicht den Mut gehabt, mich gegen meine Eltern durchzusetzen und hab deshalb nachgegeben. Nachdem ich mein Studium beendet hatte, suchten sie mir gleich eine Frau aus, die ich heiraten sollte. Zwar war ich gerade mal 20 Jahre alt, aber sie wollten mich so schnell wie möglich verheiraten, um bloß nicht die Kontrolle über mein Leben zu verlieren und mein Leben bloß in die richtige Bahn zu lenken. Ihr Name war Haruna und sie war eigentlich ganz nett, aber mehr als freundschaftliche Sympathie habe ich nie für sie empfunden. Ich konnte keine Frauen lieben, selbst wenn ich gewollt hätte. Und als dann unsere Tochter Kaguya auf der Welt war, da habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich hatte genug davon, mir von meinen Eltern mein ganzes Leben vorschreiben zu lassen und ein Leben zu führen, welches ich nicht leben wollte. Also setzte ich alles auf eine Karte und stand dazu, dass ich schwul bin.“ „Und wie haben sie es aufgenommen?“ „Naja… meine Eltern haben mich daraufhin verstoßen und gesagt, ich solle mich nie wieder bei ihnen blicken lassen und ich wäre für sie gestorben. Ich war in ihren Augen eine Schande für die ganze Familie und Haruna ist natürlich auch aus allen Wolken gefallen. Sie ist ausgerastet und hat mich auch ziemlich beschimpft. Dann machte sie mir klar, dass ich meine Tochter nie wieder sehen würde und hat dann die KEE gerufen, die mich dann auch gleich mitgenommen hat, ohne dass ich mich von meiner Tochter verabschieden konnte. So bin ich hier gelandet.“ Betroffen ließ Echo den Kopf hängen und schwieg. Sein schlechtes Gewissen war ihm deutlich anzusehen, selbst mit den Bandagen. Er fühlte sich schuldig, dass er diese alten Wunden aufgerissen hatte, nur weil er nachfragen musste. Doch zu seiner Überraschung tätschelte Morph ihm den Kopf und meinte „Du musst kein schlechtes Gewissen haben, nur weil du neugierig warst. Was passiert ist, das ist passiert und ich bin froh, dass ich diesen Schritt gemacht und meine Entscheidung durchgezogen habe. Ich hätte mich schon viel früher durchsetzen müssen, anstatt mich all die Jahre nur unterbuttern zu lassen. Natürlich tut es mir weh, dass ich meine Tochter wahrscheinlich nie wieder sehe und nicht miterleben darf, wie sie aufwächst. Aber jede Entscheidung hat auch ihre Konsequenzen und ich stand vor der Wahl: mich outen und alles verlieren oder weiterhin nach der Pfeife anderer Leute zu tanzen und jemand zu sein, der ich gar nicht sein will. Und wenn ich diese Entscheidung nicht getroffen hätte, dann hätte ich dich niemals kennen gelernt, Echo. Außerdem hätte ich Christine und die anderen nie getroffen.“ „Aber es muss doch trotzdem hart für dich sein, oder?“ „Natürlich. Für niemanden ist dieses Leben hier leicht. Aber wenn man sich hier nicht anpassen und das Beste aus seiner Situation machen kann, geht man hier zugrunde. Und ich habe genug Gründe, um stark zu sein und durchzuhalten, bis wir hier rauskommen. Nicht zuletzt deswegen, weil ich dir ein Leben in Freiheit ermöglichen will, Echo.“ Damit beugte sich Morph zu ihm herüber, hob sein Kinn und küsste ihn. Es war ein vorsichtiger, aber dennoch sehr zärtlicher Kuss, den Echo erwiderte. Dann aber fragte der Junge aus purer Neugier „Wie kommt es eigentlich, dass du als Japaner so gut Englisch sprichst und als was hast du denn gearbeitet?“ „Ich war mal für ein Jahr Austauschschüler in Amerika und habe in Yale auch mein Studium absolviert, um von meinen Eltern Abstand zu gewinnen. Nach meinem Studium war ich Journalist und habe Zeitungsartikel geschrieben. Zuerst nur als einfacher Klatschreporter, dann hab ich mich mehr auf politische Themen spezialisiert.“ „Das stelle ich mir richtig cool vor“, rief Echo begeistert und grinste. „Das Leben als Journalist ist ziemlich aufregend. Da muss man doch viele Berühmtheiten getroffen haben, oder?“ „Ja. Ich hab hin und wieder mal einige von Kiras Ministern interviewt. Aber so Promis aus Hollywood hab ich nicht zu Gesicht bekommen, ist eh nicht meine Welt.“ „Und hast du schon Kira persönlich gesehen?“ „Nein. Kaum jemand hat ihn gesehen, aber ich habe mal ein Interview mit ihm über Computer gehalten. Dabei haben wir über Mikrofon gesprochen und er hat einen Stimmenverzerrer benutzt.“ „Dann hätte es doch jeder sein können, der sich als Kira ausgibt.“ Ja, das war Morph genauso durch den Kopf gegangen. Er war sowieso schon damals sicher gewesen, dass da irgendetwas faul war und seit er in Down Hill war und genug Informationen zusammengetragen hatte, wusste er inzwischen so einiges. Bestenfalls sogar mehr als jeder andere in diesem Gefängnis und sein Wissen würde genügen, um ein ganz neues Licht auf die ganze Situation zu werfen. Insbesondere wenn ans Licht kommen würde, wer wirklich hinter Kira steckte. Aber er schwieg. Ganz einfach aus dem Grund, weil es noch zu früh war und er das Leben seines Informanten nicht in Gefahr bringen wollte. Das war die Pflicht eines Journalisten: seine Quelle geheim zu halten und sie zu schützen. Er war schon immer jemand gewesen, der diesen Kodex unter allen Umständen einhielt und stets eine vernünftige Entscheidung traf, um möglichst wenige Leben in Gefahr zu bringen. Er lebte die Gerechtigkeit auf seine Art und Weise aus, so wie es sein großes Vorbild L immer getan hatte. Und er hatte die Aufgabe genommen, seinen letzten Willen auszuführen und zum siebten Requiem beizutragen, von dem Nine gesprochen hatte. „Also dann, Echo. Was soll ich dir gleich vorlesen?“ Hier dachte der 16-jährige kurz nach. Dann aber hatte er seine Entscheidung getroffen. „Kannst du mir vielleicht mal eine Geschichte aus deiner Heimat erzählen? Es muss doch sicherlich ein paar spannende Geschichten und Märchen geben, oder?“ „Klar“, sagte Morph und dachte kurz nach. „Wie wäre es, wenn ich dir die Geschichte der Mondprinzessin Kaguya erzähle? Sie war übrigens auch die Vorlage für den Namen meiner Tochter.“ „Deine Tochter ist nach einer Prinzessin benannt?“ „Klar. Und die Geschichte ist wirklich gut, ich hab sie als Kind gerne gehört. Die wunderschöne Prinzessin Kaguya, die von fünf Männern verehrt wurde, denen sie je eine unlösbare Aufgabe stellte, damit diese um ihre Gunst kämpfen konnten.“ Kapitel 9: Schwarzes Blut ------------------------- Mello war in sein Zimmer zurückgekehrt und so kam Horace über den Lüftungsschacht ins Zimmer, blieb aber sicherheitshalber im Lüftungsschacht für den Fall, dass jemand kommen sollte. Nach kurzem Zögern begann er zu erzählen, was alles passiert war und Horace hörte ihm aufmerksam zu, wobei er aber die ganze Zeit sehr gebannt auf Mellos Gesicht starrte und den Kopf etwas zur Seite und dieser prüfende Blick irritierte den 24-jährigen etwas. Schließlich aber, als er mit seinem Bericht fertig war, blickte Horace ihn immer noch prüfend an, woraufhin Mello fragte „Darf man fragen, wieso du mich so anstarrst?“ „Ich habe eine Technik erlernt, die es mir erlaubt, Mikroexpressionen zu analysieren und auszuwerten“, antwortete der Schauspieler langsam. „Damit ist es mir möglich, die Gefühle anderer deutlich zu erkennen, sogar wann sie lügen. Auf die Weise kann ich mehr über meine Mitmenschen erfahren, als sie jemals preisgeben wollen. Und mir ist aufgefallen, dass sich deine Augen ein kleines Stück weiten und dein Gesicht offener wird, wenn du Matts Namen aussprichst. Außerdem verziehen sich deine Mundwinkel etwas mehr, als wenn du über etwas anderes sprichst. Man könnte fast sagen dass du schon fast lächeln musst, wenn du von ihm redest. Und genau da sind deine Gefühlsregungen am stärksten. Dein Körper hat mir während deines Berichts klar und deutlich gesagt, dass Matt dir alles bedeutet. Du willst ihm wieder nah sein und was du vor allem empfindest, ist Schuld und Reue für deinen Ausraster damals. Und obwohl sich deine Meinung bezüglich deiner Sexualität nicht geändert hat, so sehnst du dich dennoch nach seiner Nähe zurück. Und jetzt in diesem Moment, wo ich von Sexualität spreche, wandern deine Augen leicht zur Seite und du presst die Lippen zusammen. Ich gehe mal davon aus, dass du schon gewisse Sehnsüchte nach ihm hast und sogar schon an die gemeinsamen Stunden mit ihm zurückgedacht hast, die ihr miteinander verbracht habt. Aber es ist dir peinlich und du willst nicht darüber sprechen. Eben weil du es nicht akzeptieren kannst, dass du vielleicht vom anderen Ufer sein könntest.“ Mello sagte nichts, sondern starrte Horace ungläubig an. Er hatte nur die grobe Zusammenfassung über seine Zeit mit Matt erzählt und dieser Kerl hatte sogar schon durchschaut, dass er ab und zu mal gewisse Gedanken hatte und hin und wieder mal über den Sex mit Matt nachdachte. Das war irgendwie ziemlich unheimlich… „Ich weiß, dass das gruselig sein kann“, meinte Horace schließlich. „Aber das erleichtert mir so einiges in der Psychologie und bei mir kannst du sicher sein, dass ich sehr gut Geheimnisse für mich bewahren kann. Betrachte dich einfach mal als Patient und ich bin der Therapeut, der an die Schweigepflicht gebunden ist.“ „Aha…“, murmelte Mello und war etwas skeptisch, denn er traute dem Braten nicht so wirklich. Als er sich dann aber wieder einigermaßen gefangen hatte, kam er auf das eigentliche Thema zu sprechen. „Jedenfalls… Matt ist total verletzt wegen dem Streit vor vier Jahren und ich hab erst heute erfahren, dass er zwölf Jahre schon verliebt in mich war. Und irgendwie verstehe ich nicht, wie ich das all die Jahre nicht merken konnte.“ „Die Menschen sind im ganzen Leben blind und du wärst gewiss nicht der Erste, dem das passiert. Aber was mag bloße unfruchtbare Reue? Dass du deine Taten bereust, ist der Schritt in die richtige Richtung. Aber um diese Sache endgültig zu klären, musst du dir erst mal deiner Gefühle im Klaren werden. Und Fakt ist: du stehst dir momentan selbst im Weg und machst die Sache unnötig kompliziert. Auf der einen Seite bist du verrückt nach Matt und da sind Gefühle dabei, die über eine normale Freundschaft deutlich hinausgehen. Und du würdest auch dazu stehen, wenn du dich nicht von dem Gedanken abschrecken lassen würdest, dass du dann schwul bist.“ Auch wenn es Mello nur ungern zugab, Horace hatte genau ins Schwarze getroffen. Es war zwecklos zu leugnen, dass sein Interesse an Matt über eine einfache Freundschaft deutlich hinausging und auch sein Problem damit, dass er nie und nimmer die Tatsache akzeptieren könnte, dass er eventuell schwul war, stand ihm eindeutig im Weg. Und genau das war das Schwierige. „Hast du schon mal Gefühle für Mädchen gehabt?“ „Ich war jetzt nicht verliebt wie ein Schuljunge“, gab Mello zu und wandte den Blick ab. „Aber ich fand sie schon verdammt heiß. Und der Sex mit ihnen hat sich auch ganz normal angefühlt und es war auch nicht so, dass ich rein gar nichts dabei gefühlt habe. Deshalb glaube ich auch nicht, dass ich schwul bin. Vor allem weil ich es mir nie und nimmer vorstellen könnte, was mit einem Mann zu haben. Und genau das kapier ich nicht.“ Horace nickte und lächelte wissend, so als hätte er bereits die Antwort. „Weißt du, Mello… ich glaube dir wirklich, dass du nicht schwul bist. Es kann gut möglich sein, dass du eine bisexuelle Veranlagung hast, das wäre eine Möglichkeit. Die andere Alternative hingegen wäre, dass du ein Hetero bist, der auf einen ganz bestimmten Mann steht.“ Sofort schüttelte der 24-jährige den Kopf, denn das klang in seinen Ohren ja doch wirklich mehr als absurd. „Das ist doch Quatsch. Wie soll sich denn ein Hetero in jemanden verlieben, der dasselbe Geschlecht hat?“ „Ganz einfach: man liebt die Person an sich und dabei ist das Geschlecht zweitrangig. Und ich glaube der Fall liegt bei dir vor. Du stehst für gewöhnlich auf Frauen, aber du hast Gefühle für deinen Freund Matt, weil du ihn für seinen Charakter liebst und nicht für sein Aussehen oder sein Geschlecht. Für die Leute gibt es da kaum Differenzierungen. Wenn du dich zu deiner Liebe zu Matt bekennst, stempeln sie dich schnell als schwul ab. Die Frage ist dann, ob du dann in der Lage sein wirst, dennoch zu deinen Gefühlen zu stehen und Matt zu beweisen, dass du zu ihm hältst. Und selbst wenn du schwul wärst, sähe ich da nichts Schlimmes dabei. An sich gibt es weder Gut noch Böse. Erst das Denken macht es dazu. Und ich glaube, dass du an deiner Denkweise mal etwas ändern musst. In deiner Welt gibt es nur Schwarz und Weiß. Aber es gibt auch Grautöne. Und ich glaube, das musst du erst mal lernen. Wenn du wirklich willst, dass Matt dir eines Tages verzeihen soll, dann solltest du zuallererst ehrlich zu dir selbst sein. Wie willst du es denn sonst bei anderen sein?“ „Hattest du denn kein Problem damit, Gefühle für einen Mann zu haben?“ „Nein“, sagte Horace ganz klar. „Ich wusste ganz genau, dass ich für meine Gefühle nichts kann und sie zu verleugnen hätte mich selbst nur unglücklich gemacht. Und ich bin stolz darauf, jemanden zu lieben und dass ich zu meinen Gefühlen stehe. Denn dazu gehört vor allem Mut und Selbstbewusstsein. Aber ich glaube bei dir liegt da das Problem, weil du mit einem Minderwertigkeitskomplex zu kämpfen hast. Du musst immer besser sein als andere, du darfst dir keinerlei Schwächen erlauben und du bekämpfst alles, was dich schwach macht. Deshalb hast du auch Matt vor vier Jahren verprügelt. Weil er die Verkörperung deiner Schwäche ist. Nämlich die Liebe zu einem anderen Menschen. Aber letzten Endes hast du nur deine eigenen Gefühle verleugnet und dich selbst unglücklich gemacht. Und jetzt stehst du vor dem riesigen Scherbenhaufen. Deshalb kann ich dir nur empfehlen: komm zuallererst mit dir selbst ins Reine. Wie willst du dein Problem mit Matt denn bitteschön lösen, wenn du nicht einmal weißt, wie es mit deinen Gefühlen wirklich aussieht und ob du dich auf diese einlassen kannst, ohne gleich wieder in dein Gedankenmuster zu verfallen, du müsstest besser sein als alle anderen? Keiner erwartet das von dir und der einzige Mensch, der dir im Weg steht, bist allein du. Denk mal in aller Ruhe darüber nach und wenn du dir zu hundert Prozent über deine Gefühle im Klaren bist, solltest du mit Matt das Gespräch suchen und um euer gemeinsames Glück kämpfen. Vor allem aber musst du ihm auch beweisen, dass du es ehrlich mit ihm meinst und ihn nicht bloß als ein kleines Sexabenteuer siehst.“ „Ja…“, murmelte Mello nachdenklich und nickte. „Ich glaube du hast Recht. Glaubst du, es gibt überhaupt noch eine Chance mit uns beiden?“ „Nun, einfach wird es garantiert nicht. Dieses Mal wirst du kämpfen müssen, etwas anderes bleibt dir da nicht übrig. Aber wenn du es richtig angehst und aufrichtig zu ihm und vor allem zu dir selbst bist, könnte es klappen. Aber ich bin kein Hellseher, ich bin nur Psychologe und Schauspieler. So, jetzt lass dir mal Zeit, um in Ruhe darüber nachzudenken. Ich bin dann mal wieder weg. War nett mit dir zu plaudern. Also dann… bis zum nächsten Mal. Schau mal in Core City vorbei, wenn du Zeit hast. Dann siehst du auch mal die Hauptstadt von Down Hill.“ Damit verschwand Horace wieder durch die Luftschächte und Mello dachte nach. Konnte es wirklich sein und er liebte Matt trotz der Tatsache, dass er nicht auf Männer stand? Ach Mann, irgendwie war das mehr als verwirrend und er war sich auch nicht so wirklich sicher, was er tun sollte. Das Beste war vielleicht erst mal, wenn er sich die Beine vertrat, oder? Er warf einen Blick auf die Uhr neben seinem Bett. Es war fast 18 Uhr. Gleich würde es Abendessen geben. Nun… eigentlich hatte er nicht sonderlich Hunger, aber vielleicht konnte er ja ein wenig Ablenkung finden. Mit Rhyme konnte er ja wunderbar reden und er verstand sich auch gut mit ihm. Also stand Mello auf und verließ sein Zimmer, dann machte er sich in Richtung Speisesaal auf. Dort hatte sich bereits eine Warteschlange gebildet, aber diese war glücklicherweise nicht allzu lang. „Hey Mello!“ Er drehte sich um und sah Birdie, die übers ganze Gesicht strahlte und wie immer Handschuhe trug. „Alles in Ordnung bei dir? Den Schreck einigermaßen verdaut?“ „Ja… alles in Ordnung. Wie geht es den Verletzten?“ „Dr. Helmstedter ist mit der Operation fertig, aber leider hat es Sancho nicht geschafft. Der Blutverlust war einfach zu groß. Und Zain und Fowler schweben noch in Lebensgefahr. Aber zumindest schafft es Sniper und das ist schon mal eine gute Nachricht.“ Na wenigstens etwas. Aber eines verwunderte ihn schon. „Wieso stellst du dich hier an? Ich dachte, hier gibt es Leute mit Privilegien.“ „Das schon, aber ich mag es nicht, mich vorzudrängeln. Das ist irgendwie unhöflich und so wichtig bin ich ja nun auch wieder nicht. Ich bin leider kein ärztliches Genie wie Dr. Helmstedter und bin im Grunde nur seine Assistentin.“ „Wo steckt der Doktor eigentlich?“ „Er lässt sich das Essen in sein Zimmer bringen, da er es vermeiden will, mit den anderen zu essen. Naja… jeder hat eben so seine kleinen Eigenheiten. Außerdem ist er noch mit Rhyme in einem Gespräch und das wird wahrscheinlich noch etwas dauern. Ach nein… da kommt er ja schon.“ Mello drehte sich zur Tür um und sah tatsächlich Rhyme hereinkommen. Doch er machte nicht gerade den Eindruck, als würde es ihm gut gehen. Er wirkte ziemlich neben der Spur und wankte vielmehr, als dass er lief. An seinen Handgelenken zeichneten sich Spuren von Fesseln ab und er sah auch sonst recht blass aus. Eine böse Vorahnung beschlich Mello. Dieser Anblick erinnerte ihn fast an sich selbst, als er in dieser dreckigen Zelle gelegen hatte, nachdem Scarecrow Jack ihn vergewaltigt hatte. Offenbar gab es auch Übergriffe hier in Efrafa… Vielleicht sollte er besser mal mit Rhyme reden. Mit ihm verstand er sich ja recht gut und er hatte auch den Eindruck, dass man vernünftig mit ihm reden konnte. „Sag mal Birdie, was ist da eigentlich zwischen Rhyme und Dr. Helmstedter?“ „Keine Ahnung, das geht schon seit Rhyme hier in Down Hill ist. Offenbar kennen sie sich noch von früher und soweit ich weiß, war Rhyme mal sein Patient. Der Doktor erzählt aber sowieso nicht viel über sein Leben.“ Schließlich kamen sie mit den Tabletts zu ihrem Platz und Mello wartete schon auf Rhyme, da sah er, wie diesem ein Bein gestellt wurde und er stürzte. Der Verursacher dieses Zwischenfalls war ein tätowierter Mann, von dem Mello sicher war, dass er höchstwahrscheinlich Puertoricaner war. Seine Sitznachbarn lachten bei dem Anblick und sofort rief der Puertoricaner „Hey Rhyme, wie ist es denn so, Helmstedters kleine Schlampe zu sein? Stehst wohl auf alte Säcke, was?“ Rhyme sagte nichts, sondern wollte offenbar eine Konfrontation vermeiden. Doch da trat der Puertoricaner ihn und spuckte aus. „Verpiss dich hier und hör auf damit, meine Luft zu atmen, klar?“ Das reichte Mello endgültig. Dieser Blödmann wollte also Streit? Den konnte er gerne haben. Er stand auf und ging direkt zu dem Tätowierten hin. Dieser war zu sehr auf Rhyme fixiert, um zu merken, wer da auf ihn zukam. Erst als Mello schon fast bei ihm war und er dessen Verärgerung sah, lachte er höhnisch und fragte „Was denn? Bist du auch ein Verehrer dieser kleinen…“ Das letzte Wort konnte er nicht mehr aussprechen, als Mello ihm einen Schlag ins Gesicht verpasste, der sich gewaschen hatte. Der Puertoricaner taumelte nach hinten und schien erst nicht ganz zu verstehen, was das sollte. Dann aber rief er wütend „Was mischst du dich denn ein, Blondie? Suchst du Streit?“ „Du gehst mir auf die Nerven“, erklärte Mello und rieb sich seine Fingerknöchel, die durch den heftigen Schlag etwas schmerzten. „Also halt den Rand, bevor ich ihn dir stopfe, du Penner.“ Das ließ sich der Puertoricaner nicht bieten. Er sah endgültig rot und hasserfüllt funkelte er Mello an. „Du willst es also nicht anders.“ „Los, Rico!“ feuerten ihn seine Kollegen an. „Verpass ihm ein paar!“ Zusätzlich durch die Anfeuerungsrufe der anderen angestachelt, schlug Rico zu, doch Mello bekam sein Handgelenk zu fassen und verpasste ihm noch einen Schlag ins Gesicht, bevor er ihm seinen Fuß auf die Zehen stieß und ihm dann seinen Ellebogen in die Rippen rammte. Ein heftiger Kampf entstand und schließlich konnten auch Ricos Freunde sich nicht mehr zurückhalten. Nun stürzten sich zwei weitere auf Mello und eine Weile lang konnte der 24-jährige sie noch abwehren, doch da kassierte er einen Faustschlag gegen die Schläfe und dann wurde er von hinten gepackt und festgehalten. Und das nutzte Rico natürlich aus, um ihm einen Schlag in den Brustkorb und in die Magengrube zu verpassen. Schlag auf Schlag folgte, aber seltsamerweise tat es nicht ganz so sehr weh, wie Mello eigentlich erwartet hätte. Nun gut, er nahm den Schmerz noch wahr, aber er fühlte sich irgendwie dumpf an. So als würde ein gewisses Taubheitsgefühl von seinem Körper Besitz ergreifen. Aber er spürte noch etwas anderes… Eine seltsame Kälte, die sich in seinem Inneren ausbreitete. Sie fühlte sich so an, als würden seine Adern gefrieren und als würde diese Kälte aus seinem Innersten strömen und sich wie ein schleichendes Gift in seinem gesamten Körper ausbreiten. Er hatte dieses Gefühl schon einmal gehabt, nämlich im Hell’s Gate, bevor er das Bewusstsein verloren hatte. Nur fühlte es sich nicht mehr so schlimm an wie beim letzten Mal. Und da er den Schmerz nicht so stark wahrnahm, nutzte er das natürlich auch für sich und mobilisierte seine Kraftreserven. Er riss sich los und schlug die beiden Kerle, die ihn festgehalten hatten, zu Boden nahm sich dann Rico vor. Eine heftige Prügelei entbrannte und viele hielten sich raus, aber andere wiederum versuchten verbal den Streit zu beenden. Birdie selbst versuchte dazwischen zu gehen und die beiden voneinander zu trennen, kassierte aber von Rico einen Schlag und dieser bekam dafür die Retourkutsche von Mello. „Kommst dir ja wohl richtig stark vor, wenn du eine Frau schlägst, oder?“ Das war nun endgültig zu viel für den Puertoricaner. Nun rastete er endgültig aus und sogleich zog er ein Springmesser hervor und schlug damit nach Mello, doch dieser riss reflexartig seinen Arm hoch, um sein Gesicht zu schützen, da schnitt ihm die Klinge über den Arm. „Das reicht, du Motherfucker. Jetzt bist du tot!“ „Aufhören, alle beide!!!“ Ehe Rico erneut zustechen konnte, kam Christine herbei und schlug ihm das Messer aus der Hand. Dann packte sie ihn mit einer Hand am Kragen und riss ihn von den Füßen. Mello verschlug es die Sprache, als er sah, wie Christine den Kerl mühelos mit einem Arm hochstemmen konnte, der fast so groß war wie sie und dazu noch mehr wog als sie selbst. Es schien sie nicht einmal sonderlich anzustrengen. „Hier wird sich nicht geprügelt, klar? Rico, das reicht endgültig. Der Boss wird sich persönlich um dich kümmern. Also sieh zu, dass du Land gewinnst.“ Und da sich Rico offenbar nicht mit Christine anlegen wollte, machte er lieber einen Abgang und verließ den Speisesaal. Dann wandte sich die Soldatin Mello und Rhyme zu. „Und ihr erklärt mir jetzt, was das sollte.“ „Der Kerl ist mir auf die Nerven gegangen“, erklärte Mello gereizt. „Der spielt sich hier wie der King auf und meint, andere herumschubsen zu müssen, nur um sich aufzuspielen.“ „Stimmt das?“ fragte Christine und half Rhyme wieder hoch. „Hat Rico Ärger gemacht?“ Zuerst haderte Rhyme mit sich, da er offenbar niemanden verpfeifen wollte, aber da er wohl fürchtete, dass dann wohl Mello Ärger bekommen könnte, entschied er sich dann doch anders. „Ja, er war schon vorher auf Ärger aus und hat diese Prügelei provoziert.“ Das schien Christine zu genügen und so wandte sie sich an Mello. „Dann belasse ich es dieses Mal noch bei einer Verwarnung. Aber bei der nächsten Prügelei wird es Konsequenzen geben. Ich dulde hier keine Prügeleien und andere Übergriffe hier, verstanden? Aber sag schon: bist du schwer verletzt?“ „Ich glaub nicht. Er hat mich mit dem Messer lediglich am Arm verletzt.“ „Zeig mal her“, meldete sich Rhyme und sah sich die Schnittwunde an. Mello ging davon aus, dass es ziemlich bluten würde, immerhin war das kein Kratzer gewesen. Es tat auch weh, aber es war kein brennender Schmerz, wie er erwartet hätte. Nein, es fühlte sich kalt an. So als hätte sein Arm zu lange in kaltem Wasser gelegen, sodass er bis auf die Knochen ausgekühlt war. Doch als er seinen verletzten Arm hob, damit Rhyme ihn sehen konnte, stutzte er. Er sah zwar eine Schnittwunde, aber es floss kaum Blut. Lediglich ein paar kleine dunkelrote Rinnsale tropften runter, aber mehr auch nicht. Es war verrückt… als hätte das Messer ihn kaum getroffen. Doch da war noch etwas anderes, das ihn verwirrte. Das Blut in seiner Wunde begann sich schwarz zu färben. Direkt vor seinen Augen. Rhymes Augen weiteten sich vor Fassungslosigkeit, als er das sah und auch Christine wirkte entsetzt. „Was zum…“ Mello tastete vorsichtig in seiner Wunde und sah dann dass Unfassbare: sein Blut hatte eine fast schon zähflüssige Konsistenz angenommen, so als wäre es dabei, sich komplett zu verhärten. Und es fühlte sich kalt an. Der Anblick seines Blutes, welches nicht einmal mehr im Ansatz etwas von menschlichem Blut hatte, ließ ihn fast schreien. Was um Gottes Willen passierte da nur mit ihm und wieso färbte sich sein Blut auf einmal schwarz? Mello stand kurz vor einer Panik. Er begriff nicht, was da gerade mit ihm passierte und was mit seinem Körper passierte. Die ganze Zeit war doch alles gut gegangen, aber jetzt… Warum nur begann sich plötzlich sein Blut zu verändern? „Was… was ist…“ Als er aufsah, erstarrte er, denn Christine zielte direkt mit einer Pistole auf ihn und ihr Blick verriet, dass sie bereit war, sofort zu schießen, wenn er sich jetzt falsch bewegen sollte. „Keine falschen Bewegungen und lass die Hände da, wo ich sie sehen kann.“ „Christine!“ rief Birdie, die das mitbekommen hatte und wollte dazwischengehen. „Was soll das? Nimm die Waffe runter, Mello ist doch kein Feind.“ „Er hat schwarzes Blut in sich“, erklärte Christine und ihr Blick verfinsterte sich. „Er trägt das Umbra-Gen mit sich.“ „Wie bitte?“ Mello war selbst ratlos und verstand rein gar nichts mehr. Doch da packte ihn Christine ihn auch schon und zerrte ihn mit sich. Birdie hingegen ging Morph und Matt holen, die weiter abseits saßen und zusammen mit wenigen anderen ihren eigenen Tisch hatten. Ehe Mello sich versah, wurden ihm plötzlich Handschellen angelegt und er wurde zu einer Tür gebracht. Nachdem Christine sie geöffnet hatte, wurde er hineingestoßen. Er stürzte zu Boden und hatte alle Mühe, sich wieder aufzusetzen. Immer noch zielte die Soldatin mit einer Pistole auf ihn, Rhyme versuchte die Sache zu klären. „Christine, das können wir doch nicht tun. Mello ist doch kein Feind und…“ „Ich habe als rechte Hand des Shutcalls Verantwortung zu tragen“, erklärte sie mit Nachdruck in der Stimme und blieb unbarmherzig. „Wir können kein Risiko eingehen und ihn bei den anderen lassen, wenn er tatsächlich mit dem Umbra-Gen infiziert ist und wir nicht abschätzen können, inwieweit es auch sein Verhalten beeinflusst.“ „Er ist doch nicht Umbra!“ rief Rhyme und gestikulierte dabei die ganze Zeit unruhig mit den Händen. „Es gibt sicher eine vernünftige Erklärung. Ich glaube nicht, dass er genauso ein Experiment ist wie Umbra. Er zeigt doch kein abnormales Verhalten.“ „Das habe nicht ich zu entscheiden.“ Es war zwecklos, mit Christine zu diskutieren. Sie blieb bei ihrer Entscheidung und schließlich kamen Matt und Morph herbei, die Birdie in Begleitung dabei hatten. „Was ist hier los?“ fragte Matt etwas ungehalten und ging direkt zu Christine. „Birdie sagte, es gibt ein Problem?“ „Allerdings“, bestätigte die Soldatin, die immer noch ihre Waffe bereithielt. „Mellos Blut färbt sich schwarz. Er ist mit dem Umbra-Gen infiziert.“ Nun bröckelte diese harte und kalte Fassade in Matts Gesicht und auch er konnte nicht fassen, was er da hörte. Einen Moment stand er regungslos da und musste sich erst einmal sammeln, bevor er eine Entscheidung fällte. „Ich werde alleine und unter vier Augen mit ihm reden. Morph und Christine, ihr kümmert euch um die anderen und beruhigt dort die Situation. Birdie, du und Rhyme geht Dr. Helmstedter benachrichtigen.“ „Okay, Boss.“ Damit gingen sie alle und Matt blieb alleine bei Mello. Er betrat mit langsamen Schritten den Raum, dann schloss er die Tür hinter sich und nahm seine Fliegerbrille ab, um ihm direkt in die Augen zu sehen. In seinem Blick war kalter Ernst, aber auch Erschütterung zu sehen. „Ich glaube, du bist mir ein paar Antworten schuldig, Mihael“, sagte er nun. Und sein Ton verriet, dass da wahrscheinlich noch so einiges auf sie zukommen würde, was nicht gerade erfreulich sein durfte. Kapitel 10: Auf Messers Schneide -------------------------------- Matt hatte sich mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt und die Arme verschränkt, während er auf Mello hinabsah. Sein Blick zeugte von Ernst, aber auch von innerer Zerrissenheit. Eine Weile herrschte unangenehmes Schweigen zwischen ihnen beiden und Mello war sich nicht ganz sicher, was jetzt folgen würde. Er selbst war ja noch völlig durcheinander und konnte nicht glauben, dass sein vermummter Retter aus dem Hell’s Gate ihn tatsächlich mit diesem Gen infiziert hatte, welches sein Blut „gefrieren“ ließ. Schließlich aber seufzte Matt leise und rieb sich kurz die Augen. „Wie konnte das passieren?“ fragte er mit ruhiger und gefasster Stimmer, aber man merkte trotzdem, dass es innerlich bei ihm ganz anders aussah. „Wie bist du an das Umbra-Gen gekommen?“ Unsicher zuckte Mello mit den Schultern und antwortete „Als ich ins Hell’s Gate gestürzt bin, war ich schwer verletzt und konnte mich kaum noch bewegen. Ich war wirklich sicher gewesen, dass ich da unten sterben und dich nie wieder sehen würde. Aber dann kam auf einmal dieser komische Kapuzentyp an. Er hat mir sein Blut verabreicht und es auf meine Wunden getropft. Dann hat er mich gepackt und ich hab das Bewusstsein verloren. Ich wusste ehrlich gesagt selber nicht, was die Aktion sollte und dass ich mit irgendetwas infiziert wurde. Ich war nicht weniger erschrocken wie die anderen, als ich gesehen habe, was da mit meinem Blut passiert. Verdammt noch mal ich hab doch selber keine Ahnung, was hier abläuft.“ Matt wandte den Blick ab und schien nachzudenken. Er war sich offenbar nicht ganz sicher, was er von der ganzen Sache halten sollte. Dann aber fragte er „Wieso sollte Umbra dir das Leben retten, nachdem es bereits so viele Menschen getötet hat?“ „Wenn ich das wüsste, würde ich es dir sagen“, rief Mello. „Ich weiß es doch auch nicht. Zuerst dachte ich ja, dass du das bist, weil Umbra meinen richtigen Namen genannt hat, den außer dir kaum einer kennt außer meiner verstorbenen Familie und L.“ Verwundert runzelte Matt die Stirn, als er das hörte, verzog dann aber das Gesicht vor Schmerz, als ein stechender Schmerz durch seinen Kopf raste und er daraufhin eine Hand an seine Schläfe presste, wo der Schmerz am schlimmsten war. „Wie bitte?“ fragte er verwirrt. „Umbra hat gesprochen?“ „Ja. Es hat aber nur meinen Namen zustande gebracht und ich glaube nicht, dass es mich verstanden hat. Ich wusste ehrlich gesagt selbst nicht, was da um mich herum passiert und da bin ich auch schon auf der Quarantänestation aufgewacht.“ Wieder trat Schweigen ein und Matt dachte angestrengt nach. Er sah sehr ernst aus und Mello verstand nicht wieso. „Das war die ganze Geschichte, mehr ist da nicht. Wärst du also bitte so nett und würdest mir diese Handschellen abnehmen?“ „Das kann ich nicht.“ „Was?“ Matt seufzte und man merkte ihm an, dass er gerade mit sich kämpfte und in ihm ein gewisses Chaos herrschte. „Du hast keine Ahnung, was das für Ausmaße hat, Mihael! Du bist mit dem Umbra-Gen infiziert und das bedeutet nicht nur für dich, sondern auch für uns alle eine große Gefahr. Wir wissen nicht, was das Gen mit dir noch weiter anrichten wird. Du könntest genauso wie Umbra werden und zu einem Monster werden, das keinen Funken Menschlichkeit mehr besitzt und jeden tötet, der ihm über den Weg läuft. Hast du schon mal daran gedacht? Und ist dir überhaupt klar, was das Ziel des Untergrunds ist?“ „Natürlich weiß ich das. Ihr wollt an das Umbra-Gen ran, um auf die Weise durch die Todeszone zu kommen. Das hat mir Morph schon erzählt. Dann nehmt mir doch ruhig Blut ab.“ „Sag mal, wie naiv bist du eigentlich?“ rief Matt wütend und schlug mit der Faust gegen die Wand. „Es wird nicht bloß bei einer Blutabnahme bleiben. Es wird auf Experimente hinauslaufen, weil wir natürlich wissen müssen, wie sich diese Kraft aktiviert und wie man sie extrahieren kann. Das bedeutet, dass du Schmerzen ausgesetzt und gefoltert wirst. Womöglich wird man dir sogar Organe entnehmen oder dir Gliedmaßen abtrennen, um anhand dessen feststellen zu können, wie diese Kräfte funktionieren. Das ist dein Todesurteil!“ „Was?“ fragte Mello und dachte zuerst, Matt wollte ihm bloß einen Schreck einjagen, doch es war sein voller Ernst. „Du… du willst wirklich, dass sie mich aufschneiden? Ist es wirklich das, was du willst?“ „Nein, verdammt!“ rief der 23-jährige wütend, aber wahrscheinlich richtete sich seine Wut nur gegen die ganze Situation. „Natürlich will ich das nicht. Ich bin zwar immer noch verdammt wütend wegen dem Streit vor vier Jahren, aber das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Natürlich will ich nicht, dass du auf dem Seziertisch landest, aber man wird es von mir verlangen als Shutcall. Und außerdem kann niemand abschätzen, was das Gen mit deinem Verstand machen wird. Du könntest zu einem zweiten Umbra werden und dann bleibt uns keine andere Wahl, als dich zu töten.“ Fassungslos starrte Mello seinen besten Freund an und erkannte erst jetzt das ganze Ausmaß der Dinge und was das alles für ihn bedeutete. Er würde tatsächlich so ein Monster werden wie Umbra und dann wahllos jeden töten, der ihm in die Quere kam? Würde er dann sogar Matt nicht mehr wieder erkennen und ihn töten? Allein der Gedanke daran machte ihm Angst. Er wollte das nicht. Nein, er wollte nicht so ein Monster werden. Aber er wollte auch nicht sterben. Doch gab es überhaupt noch Alternativen? Gab es denn überhaupt eine Chance, dass er hier irgendwie unbeschadet wieder rauskam, ohne dass er gefoltert und seziert wurde, oder dass er zu einem Monster wurde und getötet werden musste? „Kann dein toller Doktor nicht irgendein Heilmittel herstellen?“ „Wie denn, wenn er nicht die Zusammenstellung des Umbra-Gens hat? Erkennst du so langsam das Problem? Dein Leben ist quasi vorbei und im schlimmsten Fall wirst du als Forschungsobjekt auf Helmstedters Tisch landen.“ „Aber du bist doch der Shutcall und hast hier das Sagen.“ „Das mag sein, aber mein Posten ist auch das reinste Damoklesschwert. Immerhin habe ich knapp 300 Leute unter meinem Kommando und es werden immer mehr und mehr. Viele von denen sind weitaus stärker und gefährlicher als ich und wenn ich mich nicht behaupten kann, dann wird Anarchie in Efrafa ausbrechen und nicht wenige werden mir nach dem Leben trachten, um die Kontrolle zu übernehmen. Wir sind nicht mehr in Los Angeles, kapiert? Hier herrscht ein tagtäglicher Kampf um Leben und Tod und wenn jemand Schwäche zeigt und einknickt, wird er vernichtet. So sieht hier die Realität aus. Und wenn ich als Shutcall Schwäche zeige und den anderen eine Angriffsfläche biete, werden sich meine eigenen Leute gegen mich verbünden und mir nach dem Leben trachten, um selbst zum Shutcall aufzusteigen. Damit haben sie dann die Kontrolle über Efrafa, der mächtigsten Truppe neben Konngara. Hätte ich nicht genug loyale und mächtige Verbündete und wäre ich nicht so konsequent in meinen Entscheidungen, dann wäre ich längst tot. Ich bin zwar Shutcall und kann alles so machen wie ich es will, das stimmt. Aber die Konsequenzen sind dann eben halt, dass der Zusammenhalt in Efrafa bedroht ist, was dann wiederum zur Folge hat, dass andere Gruppen uns angreifen werden. Und wenn das passiert, stehen unsere Chancen schlecht. Schlimmstenfalls wird Konngara uns vernichten! Aber das war schon immer dein Problem gewesen: du rennst einfach mit dem Kopf durch die Wand, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne auch nur eine Sekunde lang über die Konsequenzen nachzudenken. Das ist mal wieder so was von typisch für dich. Du mit deiner hitzköpfigen und impulsiven Art hast dich doch schon damals in Schwierigkeiten gebracht, weil du nie darüber nachdenkst, welche Konsequenzen deine Handlungen haben.“ „Sprichst du damit etwa wieder auf den Streit an?“ „Das war allgemein auf dein ganzes Leben bezogen“, erklärte Matt, aber man sah ihm an, dass er natürlich auch an ihren Streit von vor vier Jahren gedacht hatte. Und da Mello es gerade angesprochen hatte, kam er auch gleich darauf zurück. „Kaum, dass dir irgendetwas nicht passt, stürmst du einfach nach vorn, lässt dir von niemandem etwas sagen und rennst mit dem Kopf durch die Wand und merkst dabei nicht, was für ein Chaos du damit anrichtest. Und genau das ist es, wovon ich sprach: du wirst dich niemals ändern und da ist es auch völlig gleich, was man dir sagt. Du machst immer und immer wieder denselben Fehler und wunderst dich dann, wenn du dich selbst in eine dermaßen beschissene Lage gebracht hast. Dass du nichts dafür konntest, dass Umbra dich infiziert hat, das ist mir klar und ich glaube dir da auch. Aber du bist in so vielen Dingen so verdammt kurzsichtig und genau das ist es, was immer wieder dazu führt, dass du auf die Schnauze fliegst.“ Mello senkte den Blick und beruhigte sich langsam wieder. Im Grunde stimmte es ja, was Matt da sagte. Er beging immer wieder dieselben Fehler und ritt sich damit selbst von einer Scheiße in die nächste. Erst der heftige Streit, dann seine Horrorstunden im Asylum bei den Cohans und dann die Prügelei mit Rico, die nun zu diesem Ärger geführt hatte. „Mail…“, sprach er nun ruhig und es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er Matt bei seinem richtigen Namen nannte. Es war meist dann, wenn es etwas sehr Wichtiges war und insbesondere sie beide betraf. „Es tut mir wirklich leid, dass ich dir damals so wehgetan habe. Ich weiß ja selbst, dass ich oft genug schneller handle als zu denken und dass ich damit immer wieder denselben Fehler mache. Ich wollte dich niemals so verletzen. Im Grunde genommen wollte ich einfach nur nicht wahrhaben, dass ich mehr für einen Mann fühlen könnte als bloß Freundschaft. Und bis heute hat sich auch nicht viel an meiner Meinung geändert, dass ich nicht schwul bin und es auch niemals sein werde. Aber…“ Er schwieg kurz, denn es fiel ihm nicht leicht, darüber zu sprechen. Matt sagte nichts, sein Gesicht blieb unbewegt und er wirkte noch sehr skeptisch, was diese Geschichte betraf. Dann aber atmete Mello tief durch und erklärte „Dass ich mit dir ins Bett gegangen bin, war nicht bloß irgendein Sexabenteuer für mich. Ich hab mir das die ganze Zeit lang eingeredet, aber ehrlich gesagt hatte ich schon irgendwie mehr empfunden als bloß freundschaftliche Gefühle. Wenn dem so gewesen wäre, dann hätte ich mir diesen Kuss an diesem einen Abend sicherlich nicht gefallen lassen und hätte auch ganz bestimmt nicht ja zum Sex mit dir gesagt. Vor allem dann noch als der Untere… Ich kann es mir bis heute nicht vorstellen, so etwas mit einem Mann zu machen, weil ich diesen Gedanken abstoßend finde. Aber bei dir hatte ich nie ein Problem damit.“ „Weil ich in deinen Augen kein Mann bin, oder wie?“ „Nein, ich hab dich schon als Mann gesehen. Aber in den vier Jahren, wo du nicht da warst und ich überall nach dir gesucht habe, da ist mir klar geworden, wie viel du mir wirklich bedeutest. Als ich im Westblock gelandet bin, hab ich mich mehr oder weniger freiwillig von diesem Psychopathen vergewaltigen lassen, weil ich Angst um dich hatte, da ich dachte, sie würden dich dort auch festhalten. Und ich wollte verdammt noch mal am Leben bleiben, um dich wiederzufinden und mich für die Dinge zu entschuldigen, die ich dir gesagt habe!“ Immer noch sagte Matt nichts. Er stand mit verschränkten Armen mit dem Rücken gelehnt zur Tür und sein Gesichtsausdruck ließ sich nur schwer deuten. Es lag keine Wut darin, aber sonderlich zu freuen schien er sich auch nicht. Dann aber verzog er wieder das Gesicht und presste eine Hand gegen die Schläfe, als er wieder diese stechenden Kopfschmerzen spürte. „Und was erwartest du jetzt von mir?“ fragte der 23-jährige schließlich. „Etwa, dass ich dir freudestrahlend um den Hals falle und dir alles vergebe? Du hast mich beleidigt, mich verprügelt und ich hab mich deinetwegen wie der letzte Dreck gefühlt. Ich kam mir so benutzt vor von dir, dass ich mich selbst gehasst habe. Selbst heute noch bin ich wütend und ich kann das nicht einfach so vergessen. Du hast mir das Herz gebrochen! Deine Einsicht kommt verdammt spät und ich weiß nicht, ob das je wieder zwischen uns so wird wie früher. Dazu ist einfach zu viel passiert. Und ebenso weiß ich nicht einmal mehr, ob ich dich überhaupt noch liebe.“ Diese Worte erschütterten Mello zutiefst, aber was hatte er auch anderes erwartet? Er hatte Matts Gefühle oft genug mit Füßen getreten und ihm das Herz gebrochen. Da konnte er auch nicht erwarten, dass ihm sein bester Freund so schnell vergeben würde. Aber dass dieser schlimmstenfalls tatsächlich in Betracht ziehen würde, ihn zu töten? Das tat Mello am allermeisten weh und schnürte ihm die Brust schmerzhaft zusammen. Er fühlte sich irgendwie machtlos und wusste nicht, was er tun konnte. Tja… da gab es wohl nicht allzu viel. Schließlich aber sagte Matt „Erst einmal werde ich dich von Dr. Helmstedter untersuchen lassen. Und je nachdem, wie seine Diagnose ausfallen wird, werde ich über deine Zukunft entscheiden. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich dir helfen kann. Wenn feststeht, dass du früher oder später zu Umbra wirst, werde ich gezwungen sein, dich zu töten, so leid mir das auch tut. Aber ich kann das Leben eines Einzelnen nicht über das vieler anderer stellen.“ Ja… dessen war sich auch Mello bewusst. Allein schon, wenn er an Echo, Rhyme oder Birdie dachte. Sie hatten ihn mit offenen Armen aufgenommen und er wollte auch nicht zulassen, dass ihnen etwas passierte. Schon gar nicht durch ihn. Geschlagen senkte Mello den Blick und nickte. „Ich hab verstanden. Oh Mann… wer hätte gedacht, dass unser Wiedersehen so aussehen würde? Du als Shutcall in einem ausbruchsicheren unterirdischen Gefängnis und ich infiziert von einem Wesen, das im Labor herangezüchtet wurde. Und du entscheidest über mein Schicksal. So habe ich es mir sicher nicht vorgestellt.“ „Ich mir genauso wenig“, gab Matt zu und fuhr sich durchs Haar. „Und glaub mir, das fällt mir wirklich nicht leicht. Zwar bin ich immer noch furchtbar wütend auf dich, aber du sollst wissen, dass ich dich nicht töten will. Ganz egal, was da zwischen uns vorgefallen ist.“ „Das weiß ich doch auch. Aber bevor ich wirklich zu einem Monster werde und dir noch etwas antue, wäre es vielleicht wirklich besser, wenn ich sterbe. Ich bin wenigstens froh, dass ich noch mal die Chance hatte, dich zu sehen und dir zu sagen, dass es mir leid tut. Trotzdem werde ich wohl noch genug Dinge zu bereuen haben.“ „Mach es mir nicht schwerer, als es ohnehin schon ist. Komm jetzt… je schneller wir diese Angelegenheit hinter uns bringen, desto besser für alle Beteiligten.“ Da es Mello schwer fiel, mit gefesselten Händen aufzustehen, half Matt ihm hoch und sie verließen den Raum. Irgendwie kam sich Mello so vor, als würden sie seinen letzten Gang zum Galgen antreten, der auf ihn warten würde. Was war das nur für eine grausame Ironie, dass er dafür sterben musste, dass dieses Monster, das sie alle Umbra nannten, ihm mit seinem Blut das Leben gerettet hatte. Und dann war es auch noch Matt, der ihn töten würde. Irgendwie war das Ganze doch wirklich zum Heulen. Schließlich erreichten sie Dr. Helmstedters Labor und sie wurden schon von dem Doktor erwartet. „Soso… du bist also ein weiterer Träger des Gens… Es erstaunt mich, dass es mir zuvor noch nicht aufgefallen ist, dass dein Körper von Umbras Blut infiziert wurde. Na dann wollen wir doch mal herausfinden, wie ich das nur übersehen konnte. Also wenn ich bitten darf: oben rum frei machen und auf die Liege setzen.“ Mit beinahe mechanischen Bewegungen folgte Mello den Anweisungen des Doktors. Dieser Gang hier fiel ihm unendlich schwer. Allein der Gedanke, dass ein Wort dieses Mannes genügte, um sein Todesurteil zu besiegeln, belastete ihn. Er hatte Angst vor dem Ergebnis und er hasste sich dafür, dass er Angst hatte. Verdammt noch mal, warum nur musste er sich immer so dermaßen in die Scheiße reinreiten? Dieses Mal würde er gewiss nicht mit einem blauen Auge davon kommen. Unter Matts wachsamen Augen begann der zwielichtige Arzt mit seiner Untersuchung und prüfte Mellos Blutdruck, seinen Puls und seine Herzfrequenz. Er sah sich die Wunde genau an und schließlich begann er noch ein paar weitere oberflächliche Routineuntersuchungen zu machen, bis er dann Mellos Arm abschnürte und eine Spritze holte, um ihm Blut abzunehmen. Mello ließ die ganze Prozedur stillschweigend über sich ergehen und protestierte nicht ein einziges Mal oder versuchte aufzumucken oder wegzulaufen. Es hätte sowieso keinen Sinn gehabt. Wo sollte er denn bitteschön hin? Er konnte schlecht aus Down Hill raus und saß hier fest. So oder so würden sie ihn kriegen und dann würden sie ihn sezieren. Schlimmstenfalls noch bei vollem Bewusstsein, wenn sich herausstellen sollte, dass dieses Umbra-Blut auf Schmerzen oder Ähnliches reagierte. In dem Fall war es besser, er würde gleich hier und jetzt sterben. Als Doktor Helmstedter ihm einige Blutproben entnommen hatte, fiel ihm auf, dass ihm nicht kalt wurde. Selbst sein Arm fühlte sich schon längst nicht mehr kalt an, als hätte der Verhärtungsprozess aufgehört. Womöglich gab es ja einen winzigen Hoffnungsschimmer. Und wenn es nur ein ganz kleiner war, der Matt davon überzeugen würde, ihn nicht zu töten. Schließlich begann der Doktor seine Temperatur zu messen und seine Körperreflexe zu prüfen. Das Ganze zog sich quälend langsam in die Länge und machte die Situation fast unerträglich. Nicht zu wissen, ob man noch eine Chance hatte oder gleich sterben würde, machte den 24-jährigen fast verrückt. Und das sorgte zusätzlich dafür, dass er unruhiger wurde. Zwischendurch warf er kurze Blicke zu Matt, der auch nicht gerade einen entspannten Eindruck machte und etwas ungeduldig wartete, dass Dr. Helmstedter endlich mit den Untersuchungen fertig war und ihnen ein Ergebnis liefern konnte. Doch dieser ließ sich seine Zeit, um seine Arbeit auch gründlich zu erledigen. Schließlich aber begann er damit, Mellos Wunde genauer zu untersuchen und einige Gewebeproben zu entnehmen. „Es ist erstaunlich“, bemerkte er schließlich und ein eiskaltes Lächeln spielte sich auf seine Lippen. „Der Heilungsprozess verläuft deutlich schneller als bei einem normalen Menschen. Jetzt würde mich interessieren…“ Er ließ den Satz unbeendet, denn da holte er ein Skalpell hervor und schnitt wieder in die Wunde. Wieder spürte Mello die Eiseskälte, die sich in seinem Körper ausbreitete und dann in seinen Arm überging. „Und? Wie fühlt es sich an?“ „Es ist kalt in meiner Brust“, murmelte Mello und sah, wie sich das gesammelte Blut in seiner Wunde schwärzte und dann verdickte. Helmstedter nahm auch davon eine Probe. „Aber am stärksten ist es in meinem Arm.“ „Und Schmerzen?“ „Spüre ich zwar, aber nicht mehr allzu stark. Es ist so, als wäre mein Körper irgendwie abgestumpft…“ Schließlich maß der 58-jährige erneut seine Temperatur und machte sich im Anschluss Notizen auf seinem Klemmbrett. Etwas ungeduldig fragte Matt schließlich „Und wie schaut es aus, Doktor? Können Sie schon sagen, ob er eine Gefahr darstellt?“ „Leider nein, erst einmal muss ich sein Blut untersuchen. Was ich aber beobachten konnte ist, dass der Blutgefrierungsprozess scheinbar temporär ist und nicht den gesamten Körper betrifft. Er setzt nur im Falle einer Verletzung ein, stoppt den Blutungsprozess und lässt wieder nach. Aber inwieweit seine Proben brauchbar für die Extraktion sind, lässt sich erst nach eingehender Untersuchung feststellen. Innerhalb von 24 Stunden dürfte ich aber das Ergebnis haben und eine Diagnose erstellen können. Bis dahin würde ich raten, den Infizierten von den anderen zu isolieren und sicherzustellen, dass er nicht entkommen kann. Es wäre äußerst bedauerlich, wenn ich nach Umbra noch ein zweites viel versprechendes Forschungsobjekt verlieren würde.“ Damit warf er Mello einen eiskalten und zugleich überlegenen und heimtückischen Blick zu. Diesem lief ein Schauer über den Rücken und er sah dem Doktor deutlich an, dass dieser es kaum erwarten konnte, ihn auseinanderzunehmen. Unfassbar, dass Matt sich so ein Monster ins Team geholt hatte. Menschenleben waren dem doch völlig egal. „Also gut, ich verlasse mich darauf, dass Sie innerhalb der 24-Stundenfrist eine hundertprozentige Diagnose getroffen haben.“ Da die Untersuchung beendet war, zog Mello sein Shirt wieder an, ließ sich erneut von Matt fesseln und ging mit ihm widerstandslos zur Tür. Als sie gegangen waren und die Tür hinter ihnen zufiel, lächelte Dr. Helmstedter zufrieden und verengte seine Augen zu Schlitzen. „Mihael Keehl und Mail Jeevas… wie erwartet war es die richtige Entscheidung gewesen, sie hierher zu bringen. So langsam aber sicher fügt sich das Puzzle zusammen und schon bald werde ich im Besitz der perfekten Schöpfung sein. Es verläuft wirklich alles hervorragend nach Plan…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)