Vergiss Mein Nicht von miss-always ================================================================================ Kapitel 1: Der Monitor ---------------------- Piep, piep, piep. Ein immer wiederkehrendes, kurzes Geräusch ließ die Ohren Paul's wach werden. Verschwommen klang es, weit weg und nicht so, als würde es etwas bedeuten. Piep, piep, piep. Er spürte, wie sich drei seiner Finger langsam krümmten, eine kleine Bewegung machten, während er einen etwas größeren Atemzug nahm. Wo war er? Das Atmen fiel ihm schwer, als läge ein großer Stein direkt auf seiner Brust. Einige Sekunden verharrte er so, während das leise Piepen nicht aufhörte. Piep, piep, piep. Gleichmäßig wie eh und je klang es, und Paul, der sich nicht wirklich rühren konnte, hätte nur zu gern die Augen geöffnet. Doch irgendwie wollte er noch nicht so richtig. Was war passiert? Sein Kopf war leer, als hätte sich niemals etwas darin befunden. Das Einzige, was dort nun umherschwirrte, waren Fragen über Fragen. Fragen, die keiner beantworten konnte. Die er vielleicht gern hätte beantworten wollen. Als das Piepen auch nach längerer Zeit nicht nachließ, entschloss sich Paul, die Augen zu öffnen. Ganz vorsichtig, mager blinzelnd, schoben sich seine Augenlider nach oben. Er war wach. Der Raum, in dem er sich befand, war groß und weißlich-grau gestrichen; etliche Geräte befanden sich darin, seltsame Geräte. Medizinische Geräte, mit denen er nichts anfangen konnte. In der Ecke weiter hinten im Raum stand ein Stuhl; eine dunkelblaue Jacke hing darüber. Außer einem Bild von einer Blumenvase befand sich nichts dekoratives in dem Raum. Paul versuchte sich aufzusetzen; als er jedoch spürte, wie jeder Knochen im Leib zu brennen schien, blieb er lieber liegen, nachdem ihm ein schmerzerfülltes Stöhnen entwichen war. Wo kam bitte der schlimme Schmerz her? In den nächsten Sekunden wurde ihm bewusst, dass er sich in einem Krankenhaus befinden musste. Zu seiner linken konnte er endlich entziffern, woher das Piepen kam: Es war ein Herzmonitor, und das Piepen kam eindeutig von seinem Herzen. Er atmete tief ein und aus. Die Stille, nur unterbrochen von dem leisen Piepen und dem Surren der anderen medizinischen Geräte, ließ ihn nicht gerade fröhlich werden. Er wusste nicht einmal, wie spät es war, welcher Tag, er wusste gar nichts. Der Raum war dunkel, und Fenster schien es nicht zu geben, soweit er sehen konnte. Sich noch einmal etwas mehr zu bewegen wagte er nicht, aus Angst, die schlimmen Schmerzen würden wiederkehren. Plötzlich ging die Tür auf, und hinein trat eine junge Frau, die ein Krankenschwesternoutfit trug. Sie lächelte leicht, als sie Paul sah; sie nickte ihm freundlich zu und begann sofort, die Instrumente zu untersuchen, sich einige Dinge zu notieren, bevor sie einen kleinen Knopf an Paul's Kopfende drückte. Paul, der die junge Frau nur beobachtet hatte, wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Doch den Part übernahm die junge Frau. „Mister Walker, endlich sind Sie wach. Ich habe soeben einen Arzt gerufen, der sich um sie kümmern wird. Sie waren einen Tag in einem Koma - ähnlichen Zustand; es wird die Ärzte sehr freuen, zu sehen, dass sie wach sind. Wir hatten schon alle Sorge, denn sie... wir waren uns nicht ganz sicher, ob sie überhaupt durchkommen würden.“ Endlich, als wäre Jahre her gewesen, fand Paul seine Stimme wieder, wenn auch leise und leicht kratzig. „Was ist passiert? Wo...?“ „Sie hatten einen schweren Autounfall. Ihr Beifahrer wurde getötet. Das Auto ist in Flammen aufgegangen... man konnte Sie jedoch noch aus dem Wrack retten, bevor der Wagen in die Luft gegangen ist... Sie hatten großes Glück. Allein schon, dass Sie leben. Dass Sie allerdings schon sprechen können, grenzt ebenfalls an ein Wunder....“ Ein Autounfall? Ein brennendes Wrack, aus dem er gerettet wurde? Er konnte sich an keine Szene erinnern, an gar nichts. Nicht an den Unfall, nicht an den Beifahrer,.... und nicht an sein Leben. Dieser Gedanke ließ seine Glieder eiskalt werden, und sein Herz schlug fast schmerzhaft gegen seinen Brustkorb. Sein Leben.. wer war er? Es war alles wie weg. Alles. Schlimmer als in jedem Albtraum breitete sich diese Gewissheit aus und ließ ihn leicht zittern. Das Zittern tat weh. Keine Minute verging, als ein in einen weißen Kittel gekleideter Arzt erschien; er kam so plötzlich in den Raum, dass Paul zusammenzuckte. „Ah, Mister Walker, ein Wunder dass Sie wach sind. Loran, wie sind die Werte...?“, wandte sich der Arzt direkt an die Angestellte, die ihm das Klemmbrett mit den Werten gab. Sie unterhielten sich leise; Paul musste sich keine Mühe geben, zu lauschen. Denn er wollte es gar nicht. Das leise Murmeln der Angestellten nahm er nach einer Weile nur als Hintergrundrauschen wahr; seine Gedanken schweiften ab. Es strengte an, sogar sehr, als er versuchte, sich wenigstens an irgendetwas zu erinnern; doch da war nichts. Es existierte nur das Jetzt. Das grausame Jetzt, das klinische Jetzt. Der Arzt riss ihn aus seinen Gedanken. „Mister Walker, ich muss Sie zur Beobachtung erst einmal hier lassen. Wie fühlen Sie sich? Loran sagte mir, Sie könnten bereits sprechen, das ist sehr gut, das wird die Genesung beschleunigen...“ Paul zögerte einen Moment, bevor er antwortete. Am liebsten hätte er geschrien. „Mir geht es nicht gut. Ich kann mich an nichts erinnern.“ Der Arzt schwieg einen Moment, während er angestrengt auf sein Klemmbrett starrte; dann wand er seine Augen wieder Paul zu. „Hören Sie, Mister Walker... Wir wissen bis jetzt nicht, inwieweit ihr Gehirn wirklich bei dem Unfall beschädigt worden ist. Es liegt ein Schädelhirntrauma dritten Grades vor... Dass Sie überhaupt sprechen können, grenzt an ein Wunder. Wir müssen abwarten. Aber es kann sein, dass die Erinnerung irgendwann plötzlich wiederkommt. Können Sie Ihren Fuß bewegen? Oder besser gesagt, den, der nicht gebrochen ist...“ Paul schluckte; er blickte zum ersten Mal hinunter, auf die schneeweiße Decke, die seinen Körper verbarg, außer das gebrochene Bein, das mit einer dicken Schiene über der Decke lag. Er bewegte seine Zehen und den Fuß, der nicht gebrochen war; es tat nicht weh, doch angenehm war es nicht. Sein Rücken schmerzte. „Sehr gut“, murmelte der Arzt, während er sich diese Entwicklung notierte. Er beugte sich danach zu Paul, leuchtete ihm in die Augen, die Ohren, kontrollierte die Verbände, von denen er sehr viele hatte; die Rippen waren fest eingewickelt, sie waren gebrochen; die Schulter war ausgekugelt und wurde von einer Schlinge gehalten. Etliche Schrammen, Kratzer, Schnitte durch Glasscherben und massenhaft blaue Flecken wurden sichtbar. An seinem linken Arm fand sich eine kleine Brandwunde, die abgedeckt war. Als der Arzt sich vergewissert hatte, dass alles sauber, verbunden und gut gepflegt war, stellte er sich wieder ans Bettende und betrachtete Paul mit einem Ausdruck leiser Sorge. „Es wird lange dauern, bis Sie wieder Sie selbst sind. Sie haben einen langen, schweren Genesungsweg vor sich, und wir können nicht zu hundert Prozent versprechen, dass Sie sich wieder an Ihr Leben erinnern werden....“, erzählte der Arzt, doch Paul unterbrach ihn. „Ich weiß gar nichts mehr, nichts von dem Unfall, nichts von... von meinem Leben, das ist...“ „Ich weiß, Mister Walker, ich weiß. Doch wir gehen der Ursache auf den Grund. Das Trauma ist sehr schwer, deswegen sind solche Verluste nicht selten...Ruhen Sie sich aus. Wenn Sie etwas brauchen, klingeln Sie.“ Der Arzt nickte dem Knopf entgegen, den die Krankenschwester vorhin ebenfalls betätigt hatte. Paul nickte leicht, während er sich mit seiner relativ unverletzten Hand an die Schläfe fuhr und die Augen schloss. Anhand der Tür hörte er, dass der Arzt sich entfernt hatte, ein leises Rascheln verriet ihm aber, dass die Krankenschwester noch im Raum war. „Alles wird wieder gut, Mister Walker. Ruhen Sie sich aus. Ich bin die ganze Nacht noch da, wenn Sie etwas brauchen.“ Paul öffnete die Augen und sah die junge Frau an; sie lächelte zaghaft, während Sie einen kleinen Sack in der Hand hielt. Als sie Paul's Blick bemerkte, sagte sie: „Das sind Ihre Klamotten, zumindest die, die noch gerettet werden konnten... Ich werde Sie reinigen und Ihnen aushändigen, sobald es möglich ist.“ Paul nickte; bevor sie sich jedoch davon stehlen konnte, murrte er leise: „Es ist nachts...?“ „Ja, zwei Uhr, um genau zu sein.“ „Danke.“ Sie lächelte und schloss leise die Tür hinter sich und ließ den jungen Mann in seinem Schmerz und seinem leeren Gedächtnis allein. Er konnte sich einfach keinen Reim machen, aus nichts. Da war einfach nichts, außer den jetzigen Erlebnissen im Krankenhaus. Wer war er? Wie alt war er? Hatte er eine Familie? Wer hatte mit ihm im Wagen gesessen? Alles Fragen, die er nicht beantworten konnte. Er hatte jedoch noch nicht die Kraft aufbringen können, den Arzt oder die Schwester darum zu bitten. Zu sehr grub sich der Schmerz des Unfalls noch in seiner Glieder, und er sank vorsichtig zurück ins Kissen, um hoffentlich in einen tiefen Schlaf zu fallen. Das Piepen des Monitors nahm er irgendwann nicht mehr wahr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)