Kirschblütenträume von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Es ist so ungerecht!“ Seufzend ließ sie sich auf der Couch des geräumigen Wohnzimmers nieder, zog die Beine an ihren Körper und betrachtete missmutigen Blickes die Wand. Keiner konnte sehen, wie erbärmlich sie mit verheultem Gesicht inmitten des Zimmers kauerte. Die Anderen schliefen alle schon. Glücklicherweise taten sie das, denn das bot ihr die Gelegenheit, ihrer tiefen Verzweiflung endlich einmal Luft zu machen. Alleine. Im Dunkeln. Perfekt, um wohlig in Selbstmitleid zu baden. „Einfach ungerecht“, flüsterte sie. „Total fies...!“ Die letzten Tage waren die reinste rosafarbene Folter gewesen. Schlagartig war der Frühling hereingebrochen, nicht ohne in den Herzen der Menschen seine Spuren zu hinterlassen und sämtliche Bäume in der Umgebung mit dieser grässlichen Farbe zu versehen. Ihre Haare trugen ebenfalls diese Farbe. Allerdings unabhängig davon, ob es Frühling war oder nicht. Warum nur mussten sie alle so glücklich sein? Allein heute morgen hatte sie so viele verliebte Paare draußen gesehen - nach dem sechsten hatte sie aufgehört zu zählen - , dass es nicht auszuhalten war. Es war einfach so unheimlich frustrierend. „Jetzt hör schon auf, Nana! Du hast genug geflennt...!“, sagte sie leise zu sich selbst. Eigentlich war sie doch viel zu stark, um hier jammernd herumzusitzen wie eine blöde Heulsuse. Sie hatte Kämpfe auf Leben und Tod bestritten und alles gegeben, was in ihr steckte. All das hatte sie für ihn getan und sie würde noch so viel mehr für ihn tun. Aber wenn es darum ging, ihm zu gefallen, auf diese gewisse andere Art und Weise... Ob es andere Mädchen gab, die genauso verzweifelt vor sich hin jammerten, weil sie um einen Kerl trauerten? Nein, bestimmt nicht. Alle waren glücklich, nur sie nicht. Gedankenverloren strich sie über den Ärmel des Kleidungsstückes, das neben ihr auf dem Polster lag. Und es war nicht irgendein Kleidungsstück. „Yukas Kimono...“, murmelte sie, während sie mit beiden Händen danach griff und das Stück kritisch musterte. Sie hatte es sich, als niemand etwas davon mitbekam, aus Yukas Zimmer geklaut und ins Wohnzimmer mitgenommen. Es war nicht so, dass sie den Kimono behalten wollte. Nein, sie war ein gutes Mädchen und würde ihn ihr auf jeden Fall zurückgeben. Nur einmal... Einmal wollte sie ihn anziehen. Ganz heimlich. Nozomis Kimono war auch hier; er hing über einem Stuhl in der Küche. Aber den brauchte sie gar nicht erst anzuprobieren, er würde ihr ohnehin nicht stehen. Die rote Farbe passte nicht zu ihren Haaren. Der blaugrüne Stoff des Stückes, das sie in ihren Händen hielt, schmeichelte ihr sicher deutlich mehr. Zögerlich erhob sie sich von ihrem Platz und besah sich den Kimono von allen Seiten, bevor sie unbeholfen einen Arm hineinsteckte bei dem Versuch, ihn sich anzulegen. In zwei Tagen fand in Kamakura das diesjährige Kirschblütenfest statt. Gemeinsam mit Kouta und Yuka, Nozomi und Mayu würde sie es besuchen, das stand schon seit einer Weile fest. Und seit sie wusste, dass sie dort hingehen würden, hatte sie sich darauf gefreut - bis jetzt. Jetzt sah sie andauernd überall nur noch diese derartig ätzend vom Frühling beflügelten Menschen, wie sie zu zweit Hand in Hand durch die Straßen schlenderten und strahlten, als wären sie geistig fernab von der Erde in ihrer eigenen rosarot-plüschigen Liebeswelt gefangen. Wie romantisch musste es sein, zusammen mit der geliebten Person zwischen all den beleuchteten Kirschbäumen die nächtliche Atmosphäre zu genießen? Aber sie musste allein dort hingehen. Sicher, ihre Freunde würden bei ihr sein. Und bestimmt würden sie eine Menge Spaß haben in ihrer kleinen Gruppe. Aber ausgerechnet er hatte wieder einmal keine Zeit für sie. Natürlich nicht. Das hatte er nie... Wütend zupfte sie an dem Stoff des Kimonos herum, der scheinbar einfach nicht so sitzen wollte, wie es sich gehörte. Warum mussten diese Dinger denn bloß so kompliziert sein? Ein entnervtes Knurren entwich ihr augenblicklich. Es war kein Wunder, dass er sie nicht zu seiner Frau nehmen wollte. Sie bekam es ja nicht einmal auf die Reihe, sich richtig anzuziehen. Resigniert ließ sie von der festlichen Kleidung ab; der nicht zugebundene Gürtel schleifte über den Boden, als sie grazil wie ein wild gewordener Elefant zum Kühlschrank stapfte. Sogleich stieg ihr ein wundervoll süßer Duft in die Nase, nachdem sie die Kühlschranktür mit äußerster Vorsicht geöffnet hatte - sie wollte schließlich niemanden wecken und dann womöglich erwischt werden - , und sie erblickte den Erdbeer-Schoko-Kuchen, den Kouta heute mitgebracht hatte. Verlockend... Es war zu verlockend. Sie wusste, sie würde Ärger bekommen, wenn sie ihn ohne zu fragen ganz alleine aß. Aber im Augenblick erschien ihr das Problem, das sie deswegen eventuell kriegen könnte, so winzigklein im Vergleich zu dem Problem, das sie die ganze Zeit über schon mit sich selbst ausmachen musste, dass sie nicht lange zögerte und innerhalb weniger Sekunden mit dem Kuchen, einem Teller und einer kleinen Gabel wieder auf der Couch gelandet war. „Das ist so gemein“, flüsterte sie, während sie sich ein großzügiges Stück in den Mund steckte, gefolgt von vielen weiteren. Dabei wollte sie doch überhaupt nicht eifersüchtig sein... Und doch reichte ein einziger flüchtiger Blick auf Kouta und Yuka, die neuerdings besonders vertraut miteinander umgingen, um sie innerlich so stark aufzuwühlen, dass ihr schwindelig wurde. Manchmal küssten sie sich. Und sie lachten andauernd, wenn sie zusammen waren. Ihn hatte sie nicht einmal sonderlich oft lächeln sehen. „Ich wünschte, du könntest jetzt hier sein“, sagte sie ganz leise, als sie das mittlerweile sicher mindestens zehnte Stückchen Kuchen heruntergeschluckt hatte. Er schmeckte sagenhaft lecker, doch richtig darüber freuen konnte sie sich nicht. „Papa...“ Ein plötzliches Geräusch ließ sie irritiert aufschauen - als hätte jemand eine Tür aufgeschoben. Hektisch sah sie sich im Raum um und machte erschrocken einen Satz zur Seite, als sie eine Silhouette erblickte und kurz darauf das Licht angeschaltet wurde. „Uwah...!!“ „Nana...? Was machst du denn hier?“, hörte sie die Silhouette fragen, die sich im Licht schnell als weitaus weniger bedrohlich herausstellte als sie vermutet hatte. „Mayu...?! Naja, ich... ähm... Es ist nicht das, wonach es aussieht!“ Still lag sie unter der Decke des Futons in ihrem Zimmer. Wie lange sie bereits unbeweglich mit offenen Augen dort lag, wusste sie nicht; doch an Schlaf war nicht zu denken. Tagsüber war es ihr noch nicht aufgefallen, aber jetzt, wo sie allein war mit ihren Gedanken, ganz allein und ungestört, fiel ihre eigene Nervosität ihr erst auf. War sie jemals zuvor so nervös gewesen? Ja... das war ich, dachte sie schmerzlich, als sie sich an Momente erinnerte, in denen sie in der Tat mehr als nervös gewesen war. Momente, die sie manchmal noch immer verfolgten, obwohl sie doch längst der Vergangenheit angehörten und nichts mehr zu bedeuten hatten in ihrem neuen Leben bei den Kaedes. Jedoch war es deutlich seltener geworden, dass sie daran dachte. Hier ging es ihr gut. Sie hatte alles; alles, was sie sich immer gewünscht hatte - ein warmes Zuhause, wunderbare Freunde... und ihn. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Jedes Mal, wenn sie an ihn dachte, ging es ihr so. Nein, das stimmte nicht ganz. Erst bis vor Kurzem war ihr bei dem Gedanken an ihn alles andere als nach Lächeln zumute gewesen. Im Gegenteil. Sie hatte sich eingeredet, über ihn hinweg zu sein, sich vorgenommen, auch ohne ihn zurechtzukommen - indem sie seinen Platz einnahm. Indem sie das tat, was er zuvor jeden Tag getan hatte. Sie hatte sich gesagt, dass es nichts nützte, wenn sie traurig war, weder ihr noch ihm; und dass er es niemals gewollt hätte, seinen Platz von einer weinerlichen Göre vertreten zu lassen. Unwillkürlich musste sie lachen. Ja, das war genau der Wortlaut, in dem er es zu ihr gesagt hätte, hätte er gesehen, wie aufgelöst und durcheinander sie an manchen Tagen gewesen war, während ihrer regelmäßigen Streifzüge am Strand Kamakuras. Aber jetzt war sie nicht mehr aufgelöst und sie war auch nicht mehr durcheinander. Beinahe hätte sie geglaubt, sich damit abgefunden zu haben, dass er nicht mehr da war. Sich daran gewöhnt zu haben, die Einzige zu sein, die beim Sonnenuntergang am Strand für Ordnung sorgte. Tatsächlich aber wusste sie in der Sekunde, in der sie seine Stimme hörte und ihn vor sich stehen sah, dass sie die Hoffnung auf seine Rückkehr niemals aufgegeben hatte. Und wenn sie darüber nachdachte, dann war es - neben dem Tag, an dem Kouta und Yuka sie bei sich aufgenommen hatten - der glücklichste Tag in ihrem bisherigen Leben. Er war wiedergekommen. Zu ihr. Und zum ersten Mal hatte er sogar keinerlei Einwände geäußert, als sie ihn in ihre Arme geschlossen hatte. Das Wichtigste hatte sie nur leider völlig vergessen... Zwei Tage waren es bloß noch bis zum diesjährigen Kirschblütenfest. Die Zeit war so schnell vergangen seit sie hier wohnte, dass sie gar nicht die Gelegenheit dazu gehabt hatte, sich auf die neue Jahreszeit einzustellen. So plötzlich war der Frühling gekommen, und jetzt stand bereits das erste große Event vor der Tür, das sie schon lange sehnlichst erwartet hatte. Und ausgerechnet in dem Moment ihres Wiedersehens, von dem sie so oft geträumt hatte, hatte sie nicht daran gedacht, ihm die Frage zu stellen. Ihn zu fragen, ob er mit ihr zum Fest gehen würde. Morgen, dachte sie, Morgen werde ich es tun. Wenn ich an den Strand gehe... Bestimmt wird er dann da sein. Der Gedanke daran fühlte sich seltsam aufregend an. Auch wenn sie es sich nicht allzu sehr anmerken ließ - sie war lange nicht so ruhig wie sie immer tat. Nie hätte sie gedacht, dass ihr so etwas einmal passieren würde. Bisher hatte sie sich nicht sonderlich häufig mit Männern abgegeben; und wenn doch, dann waren es... äußerst unangenehme Begegnungen gewesen. Schon bei Kouta hatte sie sich Mühe geben müssen, ihn nicht gleich wegen Kleinigkeiten zu verurteilen. Anfangs hatte es einige Missverständnisse gegeben, doch zu ihrer Überraschung hatte sich das schnell gelegt, und mittlerweile verstanden sie sich wunderbar. Allerdings war es nicht vergleichbar mit dem, was sie ihm gegenüber empfand. Bei ihm hatte es keine Zeit gebraucht bis sie ihm vertraute. Es hatte nichts weiter gebraucht als eine Begegnung - wenn es auch ein eher unglücklicher Zufall gewesen war - und die darauf folgenden Begegnungen, von denen sie jede einzelne genauestens in ihrer Erinnerung behalten hatte. Obwohl er damals, nun ja, nicht gerade sehr nett zu ihr gewesen war, hatte sie immer irgendetwas davon abgehalten, ihn zu verabscheuen. Jetzt wusste sie auch endlich, was. Hellwach setzte sie sich auf, versunken in ihren Plänen für den nächsten Tag. Vermutlich würde sie am Morgen viel zu müde sein, um irgendetwas zu tun, wenn sie nicht langsam schlief. Dennoch wusste sie, dass sie keine Ruhe finden würde, bevor sie sich in allen Einzelheiten überlegt hatte, wie sie ihr nächstes Aufeinandertreffen angehen würde. Sie wollte nicht nervös sein, wenn sie ihm ihre Frage stellte, deshalb musste sie es vorher wissen. „Was...?“ Verwirrt blickte Mayu zur Tür hinüber. Da war ein Geräusch gewesen. Konnte es sein, dass Wanta...? Nein, das war unmöglich. Wanta schlief draußen. Außerdem hatte es sich eher danach angehört, als hätte jemand eine Schublade oder etwas Ähnliches geöffnet und wieder geschlossen. Eine Weile lang lauschte sie in die Stille hinein, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches mehr ausmachen. Trotzdem entschied sie sich, aufzustehen und nachzusehen. Eingebildet hatte sie es sich nicht, da war sie ganz sicher, und ruhig in ihrem Zimmer zu sitzen, wenn sie wusste, dass jemand im Haus umherschlich, erschien ihr schlicht und einfach nicht richtig. Leise trat sie in den Flur, schaute sich kurz um und bewegte sich dann so unauffällig wie möglich auf das Wohnzimmer zu. Inzwischen bezweifelte sie, dass es eine gute Idee war, ganz alleine nach dem Rechten zu sehen. Was, wenn es ein Einbrecher war...? Sie konnte einen Schatten erkennen. Jemand saß auf der Couch. Zögerlich betätigte sie den Lichtschalter und hätte erleichtert aufgeatmet, als sie die andere Person erkannte, hätte sie sich nicht so erschreckt, weil besagte Person plötzlich begleitet von einem gedämpften Kreischen beinahe vom Sofa fiel. „Nana...? Was machst du denn hier?“, fragte sie und musterte ihr offenbar aufgebrachtes Gegenüber verwundert. Mit ihren dunklen Augenringen und dem viel zu großen Kimono, der offen an ihr herunterhing, erinnerte sie ein wenig an eine zu klein geratene, frustrierte Hausfrau. „Mayu...?!“, brachte sie schrill hervor. „Naja, ich... ähm... Es ist nicht das, wonach es aussieht!“ Amüsiert betrachtete sie ihre Freundin und die Kuchenkrümel, die kreuz und quer in ihrem Gesicht klebten. „So? Es sieht danach aus, als hättest du schlaftrunken Modenschau gespielt und dann eine Konditorei überfallen... Ist das nicht der Kuchen, den Kouta für uns mitgebracht hat?“ „Nein...! Ist es überhaupt nicht!!“, war Nanas energische Antwort. Mayu hob eine Augenbraue. „Warum bist du eigentlich um die Zeit noch wach?!“ „Das Gleiche könnte ich dich fragen...“ Nana seufzte, stellte leise den Teller auf dem Tisch ab und versuchte, sich mit dem Handrücken die Krümel wegzuwischen, was ihr allerdings nur halbwegs gelang. „Ich musste nachdenken“, murmelte sie und klang ziemlich niedergeschlagen. „Und dazu brauchst du einen Kuchen und einen Kimono?“ „Ja!!“ „Psst...! Nicht so laut. Du willst doch nicht, dass die Anderen uns hören, oder?“ Mit traurigem Blick wandte Nana sich ab, ehe sie fragend zu ihr aufschaute und ihre Stimme senkte, als sie wieder das Wort ergriff. „Würdest du mir vielleicht etwas Gesellschaft leisten, Mayu? Du kannst auch den Rest von dem Kuchen haben, wenn du willst...“ „Oh, ich weiß nicht... Sollten wir nicht was für die Anderen übrig lassen?“ Nanas Augen wurden ganz groß und glänzend. Dank ihrer niedlichen Hörner sah sie nun aus wie ein ausgesetztes Kätzchen, was Mayu letztendlich dazu brachte, klein beizugeben. „Hm... na gut, teilen wir uns doch den Rest. Wir kaufen morgen einfach einen Neuen.“ „Toll! Lass es dir schmecken, Mayu! Ich hole dir eine Gabel!“ Sie hatte den Satz nicht einmal zu Ende gesprochen, als sie schon wieder schwungvoll aufgesprungen war, um in der Schublade zu kramen, während Mayu beschloss, auf der Couch Platz zu nehmen. Nana, die kurz darauf bereits wieder neben ihr saß, hielt ihr grinsend das Besteck hin. „Danke, das ist nett“, antwortete Mayu, nahm es entgegen und schnitt sich ein kleines Stückchen ab. „Und... willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt? Du kannst mir alles erzählen.“ „Hey...! Woher willst du wissen, dass mich etwas bedrückt?“ „Weil es offensichtlich ist. Jemand, dem es gut geht, stopft sich nicht im Dunkeln mit Süßigkeiten voll und sieht dabei aus wie eine frustrierte Hausfrau.“ „Haus... frau? Naja, ich...“ Sie konnte sehen, wie ihre Wangen schlagartig eine rötliche Farbe annahmen. „Ich bin traurig, weil... er immer beschäftigt ist. Mein Papa... Wir sehen uns zwar manchmal, aber er hat kaum Zeit für seine kleine Nana... Dabei vermisse ich ihn so...!“ „Hast du denn noch nie mit ihm darüber geredet?“ „Doch, natürlich habe ich das! Neulich erst. Aber ich habe das Gefühl, er nimmt mich gar nicht wirklich ernst...“ Mayu legte den Kopf schief. „Das ist nicht dein einziges Problem, oder?“, fragte sie vorsichtig. „Du bist in ihn verliebt, habe ich Recht?“ „Wah!! Sag das doch nicht so...!“ Inzwischen glich Nanas Gesichtsfarbe beinahe der Farbe der Erdbeercreme zwischen den schokoladigen Schichten des Kuchens. „Also habe ich Recht.“ „... Ja... Nein! Doch, irgendwie schon... Ach, ich weiß nicht...!“ Überschwänglich schaufelte sie sich einige weitere Bissen in den Mund, die sie, wie es aussah, ohne zu kauen herunterschluckte, als hinge ihr Leben davon ab. „Wenn du so weitermachst, wird dir beim Hanami kein Kimono mehr passen.“ „Ist doch egal...! Ich will überhaupt nicht mitkommen, wenn Papa mich nicht begleiten kann!“, quietschte Nana verzweifelt; dann stockte sie plötzlich. „Oh nein! Was ist, wenn er mit einer anderen Frau dort hingeht?“ „Warum sollte er das denn tun? Davon hätte er dir doch sicher erzählt, oder nicht? Du hast doch gesagt, er hätte einfach nur viel zu tun, also-“ „Und wenn doch?“, unterbrach sie ihre Freundin aufgeregt. „Bestimmt kennt er eine Frau, die viel hübscher ist als ich, und die er viel lieber hat... Warum nur, Papa? Warum versuchst du es nicht mal mit deiner Nana...? Das ist so ungerecht...!“ „Wenn das so ist, dann musst du dich eben ins Zeug legen!“, sagte Mayu aufmunternd. „Es gibt keinen Grund, gleich aufzugeben. Wenn du so sehr möchtest, dass er... mit dir ausgeht, dann kannst du es auch schaffen, glaub mir!“ „Und wie...?“ „Vielleicht würde es für den Anfang helfen, wenn du ihn nicht immer 'Papa' nennen würdest.“ Mayu lächelte sanft, und Nana schien sich tatsächlich vorerst ein wenig zu beruhigen. Abwesend starrte sie in die Gegend, vermutlich in Gedanken bei einem möglichen neuen Spitznamen, den sie ihrem deutlich älteren Schwarm geben könnte. Hoffentlich kam sie jetzt nicht auf die Idee, ihn 'Liebling' zu nennen oder dergleichen. Allerdings konnte sie kaum etwas dagegen sagen, sie selbst hatte sich schließlich ebenfalls nicht gerade einen Gleichaltrigen angelacht... „Hör mal, Nana... Wie wäre es, wenn ich dir helfen würde, den Kimono richtig zuzubinden? Dann sieht es bestimmt gleich viel besser aus!“ „Hm... gut. Wenn du das kannst“, murmelte sie und stand auf, als auch Mayu es tat, der sie erwartungsvoll den Rücken zuwandte. „Klar kann ich das“, entgegnete sie, griff nach dem Stoff und machte sich daran, mit ein paar geschickten Handbewegungen dafür zu sorgen, dass die Andere festtauglich aussah - abgesehen von der Größe des Kleidungsstückes. Sie brauchte definitiv etwas Kleineres. „So, das hätten wir.“ Begeistert blickte ihre Freundin an sich herunter, während sie bedächtig über den Stoff strich, als würde sie ein großes Tier streicheln. „Wow...! Das ist toll! Danke, Mayu!“ „Keine Ursache. Jetzt siehst du richtig süß aus!“ „Findest du wirklich? Hihi.“ Bei Nanas Anblick in dem Kimono kamen ihr unwillkürlich Bilder davon in den Sinn, wie sie beide gemeinsam mit ihren Mitbewohnern und ihrer jeweiligen männlichen Begleitung über das Fest schlenderten. Erst alle zusammen, und später getrennt von der Gruppe, alleine mit ihren Begleitern... „Nein... Das wäre zu schön...“ „Was? Hast du was gesagt, Mayu?“ „Ach nein. Ich habe nur...-“ „Du wirst ja auf einmal ganz rot!“ „Werde ich nicht!!“ Nana war glücklich. Bis vor wenigen Minuten war sie es nicht gewesen, aber jetzt war sie es. Sie konnte froh sein, eine Freundin wie Mayu zu haben, die immer, wirklich immer an ihrer Seite war. Sie allein war eigentlich schon Grund genug, das Fest zu besuchen und sich dort einen schönen Abend zu machen. Wenn er schon nicht mitkommen konnte, dann würde sie wenigstens mit ihren Freunden den Frühlingsanfang feiern. Irgendwann würde er ganz sicher die Zeit dazu finden, etwas mit ihr zu unternehmen... und dann würde sie ihm zeigen, wie wichtig er ihr war. Ja. Auf jeden Fall würde sie das tun. „Mayu...?“ „Ja?“ „Würdest du... ähm...“ Sie nahm einen tiefen Atemzug, bemüht, ihre Nervosität zu überspielen. „Möchtest du nicht vielleicht auch... einen Kimono anziehen?“ „Oh... Aber der, den ich übermorgen tragen werde, liegt in meinem Zimmer.“ „Du brauchst nicht in dein Zimmer zu gehen. Du kannst Nozomis Kimono nehmen! Dann würden wir Partnerlook tragen... hihi.“ Kichernd lief sie Richtung Küche, Mayus Bedenken geflissentlich ignorierend, schnappte sich das rote Gewand und hielt es ihr mit ausgestreckten Armen vors Gesicht. „Hier! Zu mir passt er nicht, aber für dich ist das genau die richtige Farbe!“ „Ich weiß nicht, ob...-“ „Nun zieh ihn schon an, na los!“, drängelte sie, schließlich wollte sie nicht die Einzige sein, die in zu großer Festtagskleidung hier herumlief. Außerdem interessierte es sie brennend, wie Mayu darin aussah. Seufzend gab sie sich geschlagen, nahm ihr das Kleidungsstück ab und streifte es sich über ihr Nachthemd, Stück für Stück, bis sie nicht viel später ebenfalls hübsch und festlich gekleidet vor ihr stand. „Du siehst wahnsinnig schön aus...!“, sagte sie, bewundernd ihr Gegenüber musternd, das sich daraufhin verlegen zur Seite wandte. „A-Ach ja? So schön bin ich nun auch wieder nicht...“ „Doch, das bist du! Komm, das musst du dir selbst ansehen!“ Gut gelaunt langte sie nach Mayus Hand und stellte sich mit ihr vor den Spiegel, der am nächsten in ihrer Reichweite lag. Nana trat einen Schritt zurück, sodass sie genau nebeneinanderstanden und ihr Spiegelbild beinahe wie das Motiv eines Gemäldes aussah. Man hätte es nur noch einrahmen müssen. „Ich finde, wir zwei sehen umwerfend aus!“ „Ja... Ja, du hast Recht. Wir sind echte Ladies!“ „Ladies... ja.“ Wie eine echte Lady - was auch immer das genau bedeuten mochte - schmiss sie sich in Pose, zwinkerte ihrer Spiegelung spielerisch zu, während sie mit einer Hand durch ihre Haare fuhr, und brachte Mayu damit lauthals zum Lachen. „Hey... Warum lachst du über mich?“, schmollte sie, obwohl sie ihr dafür aus irgendeinem Grund nicht im Geringsten böse sein konnte. „Ich lache nicht über dich“, sagte Mayu ungewohnt fröhlich. „Was du da eben gemacht hast, hat nur... so witzig ausgesehen. Weil es überhaupt nicht zu dir passt, Nana.“ „Ach nein?“, gab sie nun doch ein wenig verärgert zurück. „Was passt denn deiner Meinung nach besser zu mir?“ „Ich... weiß nicht. Das kann ich nicht erklären. Sei einfach du selbst und tu das, was du immer tust. Ich kenne mich da zwar nicht besonders gut aus, aber... das ist wahrscheinlich auch das Beste, wenn du einem Jungen oder einem Mann gefallen willst...“ „Wie meinst du das?“ Auf einmal zurückhaltender geworden sah Mayu an ihr vorbei, als sie versuchte, ihre Gedanken in Worte zu fassen. „Naja, ich meine... Wenn du dich verstellst, weil du denkst, dass eine bestimmte Person dich dann lieber mag... dann wird es vielleicht eine Weile lang gut gehen, aber sicherlich nicht auf Dauer. Wenn du es wirklich ernst mit jemandem meinst, dann sei einfach so wie du bist. Derjenige, der dich nicht zu schätzen weiß, hätte... dich sowieso nicht verdient.“ Schweigend starrte Nana ihre Freundin an. Ihr wurde mit einem Mal so unheimlich warm. Ob das an dem Kimono lag? Mayus Worte hatten irgendetwas in ihr durcheinandergebracht. Es war wirklich seltsam. Zur gleichen Zeit fühlte sie sich ängstlich und hoffnungsvoll; eine Kombination, die sie in einen außerordentlich merkwürdigen Zustand versetzte. Ängstlich, dass all ihre Bemühungen und Pläne, was den ihr so wichtigen Menschen anbetraf, umsonst gewesen waren. Und doch hoffnungsvoll, denn sie glaubte nicht nur sondern wusste, dass er sie schätzte und dass er es immer getan hatte und auch immer tun würde. Er hatte sie gern und das spürte sie, wann immer sie zusammen waren. Auch wenn er es nicht ständig und überall offen zeigte. So war er eben. Neidisch betrachtete sie Mayu, die, trotz der Tatsache, dass sie ungefähr im selben Alter waren, viel erfahrener zu sein schien als sie selbst. Wahrscheinlich gab es da Einiges, das sie noch von ihr lernen konnte. Ganz bestimmt sogar. „Lass uns... zurückgehen und uns wieder hinsetzen, ja?“, schlug sie zögerlich vor. Mayu war einverstanden, und so hatten sie es sich kurz darauf erneut auf der Couch gemütlich gemacht. Nur sie beide im großen, hellen Wohnzimmer - wie zwei Erwachsene, die sich eine Wohnung teilten und ein spannendes Gespräch unter Frauen führten, von dem niemand etwas mitbekam. So sollte es auch bleiben. Mayu war die Einzige, der sie sich derart anvertrauen wollte, denn sie war auch die Einzige, von der sie sich ehrlich verstanden fühlte. „Sag mal, Mayu... Warst du eigentlich auch schon mal verliebt?“ Die Angesprochene schaute sie an, als hätte diese Frage sie vollkommen aus der Fassung gebracht, was doch eher untypisch für sie war. Normalerweise war Mayu alles andere als leicht aus der Ruhe zu bringen, aber damit schien sie nicht gerechnet zu haben. „Also, ich... Was meinst du mit 'verliebt'...?“, war ihre reichlich eigenartige Gegenfrage. „Was soll ich damit schon meinen? Das Gleiche, was auch du gemeint hast, als du mich vorhin danach gefragt hast!“ „Ähm... naja, ich bin mir nicht sicher. Vielleicht...?“ „Aaah“, machte sie neugierig. „Und... in wen?“ Mayus verdächtig gemurmeltes „Das tut nichts zur Sache“ weckte ihr Interesse erst recht und wie automatisch fing sie an zu überlegen, um wen es sich handeln könnte, der ihre Freundin so verlegen machte. Jedoch brauchte sie nicht lange darüber nachzudenken. Es gab eigentlich nur einen, der in Frage kam. „Ich wusste es, Mayu. Du stehst auf Kouta.“ Prustend drehte Mayu sich zu ihr um und warf ihr einen mörderischen Blick zu. „Nein, das tue ich nicht!!“, sagte sie überzeugend; beinahe gruselig sah sie aus. Nana gluckste vor Lachen. „War nur ein Scherz...!“, kicherte sie amüsiert. „Ich weiß doch, dass du ungefähr das einzige Mädchen bist, das nicht auf ihn abfährt.“ „Sehr witzig.“ „Dann... Dann bist du also in... Ich hatte da ja schon länger so eine Vermutung. Jetzt ergibt auch alles Sinn...“ „... Ja, ist ja gut. Scheint ja sehr offensichtlich zu sein... Verhalte ich mich denn so auffällig?“ „Du hast ihn geküsst!“ „Aber... er hat im Sterben gelegen...!“ „Und dann muss man jemanden küssen? Hilft das etwa...?“ „Nein... aber... ich... Er hat mir geholfen und ich stand tief in seiner Schuld... Da musste ich mich doch irgendwie... bedanken...“ Grinsend lehnte Nana sich auf dem Polster zurück, ehe ihre eigenen Gedanken wieder ins Schweifen gerieten. „Ich habe noch nie jemanden geküsst“, sagte sie verträumt und versuchte, sich vorzustellen, wie sie es tat. Allerdings stellte sich das als schwieriger heraus als sie vermutet hätte. Sie hatte keine Ahnung, wie so etwas sich wohl anfühlte. „Du hast es gut, Mayu...“, seufzte sie schwer. „Du bist mir einen großen Schritt voraus.“ Mayu lächelte. „Eigentlich bin ich dir überhaupt nicht voraus. Ich habe es einfach getan, ohne ihn zu fragen. Ich weiß ja nicht einmal, wie er jetzt darüber denkt... Und es war auch nur ganz kurz.“ „Aber du weißt jetzt wenigstens, wie es ist. Darum beneide ich dich. Ich würde das auch gerne mal einfach so machen...“ „Hmm...“ Eine Weile verging, während der keine von ihnen etwas sagte. Nana war nicht zufrieden mit ihrer derzeitigen Lage. Dass Mayu auf diesem Gebiet so viel mehr wusste als sie, störte sie ungemein, und irgendwann war ihre Neugierde stärker als alles andere. „Kannst du mir nicht irgendwie erklären, wie das ist...?“, fragte sie ungeduldig. Sie hatte es satt, so unerfahren zu sein. „Ehrlich gesagt... nein. Das kann ich nicht erklären“, antwortete Mayu unsicher. Nana verzog beleidigt das Gesicht. „Dann kann es so toll auch nicht sein!“ „Doch, das ist es...! Ein Kuss ist etwas ganz Besonderes. Ich kann es nicht erklären, weil... mir einfach keine Worte einfallen, mit denen ich es beschreiben könnte.“ Erwartungsvoll blickte Nana sie an, in der Hoffnung, dass ihr vielleicht doch noch etwas einfallen würde. Schließlich schaffte Mayu es tatsächlich, sie zu überraschen. „Ich könnte es dir vormachen“, sagte sie leise mit einem fragenden Ausdruck in den Augen. „... Vormachen?“ Sie blinzelte irritiert. „Ja, vormachen. Natürlich nur, wenn du willst.“ „Äh... Du meinst, wir beide? Jetzt? Hier...?“ „Genau das meine ich.“ „Aber das geht nicht! Wir sind beide Mädchen... Ich dachte, dazu braucht man einen Kerl...?“ „Oh, wenn es sonst nichts ist... Soweit ich weiß macht das nichts.“ „Es wird nichts Schlimmes passieren...?“ „Du wirst drei Tage lang mit einem Fluch belegt sein und keine Kontrolle mehr darüber haben, was du tust, aber abgesehen davon wird nichts passieren.“ „...!!“ „Das war ein Scherz. Nein, das macht wirklich nichts. Keine Sorge.“ Nana spürte, wie ihr merklich wärmer wurde. Und inzwischen war sie sich sicher, dass es nichts mit ihrer Kleidung oder der Temperatur, die im Raum herrschte, zu tun hatte. Zwar hatte sie sich gewünscht, dass möglichst schnell der Tag kommen würde, an dem sie jemandem, den sie mochte, auf diese Art nahe kam... aber jetzt gleich? Mayu wartete scheinbar noch auf irgendeine Reaktion ihrerseits, und langsam kam sie sich ziemlich dumm vor. Sie wollte nicht wie ein kleines Kind dastehen, das von nichts eine Ahnung hatte. „Gut, machen wir's.“ „Okay.“ Zunächst in dem Glauben, ihre Brust würde gleich explodieren, weil ihr Herz so schnell klopfte, musste sie sich im nächsten Augenblick beherrschen, nicht loszulachen, als Mayu sich kniend zu ihr vorbeugte. Sie sah aus wie ein Hund. „Hihi... Versuchst du, Wanta nachzumachen?“ „Nana! Das hier ist eine ernste Angelegenheit...! Hör auf zu lachen!“ „Ich kann nicht...“ „Mist... Jetzt muss ich auch lachen...“ Einen Moment brauchten sie, um sich wieder zu beruhigen. Dann startete Mayu einen zweiten Versuch. „Konzentrier dich, Nana. Schließ deine Augen!“, sagte sie absolut ernst. Nana folgte ihrer Anweisung, schloss die Augen und blieb still. Die Tatsache, dass sie nichts sehen konnte, machte sie aus irgendeinem Grund bloß noch nervöser als sie es ohnehin schon war. Zaghaft nahm sie die weichen Lippen ihrer Freundin auf ihren eigenen wahr, spürte, wie sie leichten Druck auf sie ausübten und sich dann wieder von ihr lösten. Langsam öffnete sie die Augen und sah Mayu fragend an. „Das war's schon...?“ „Was hast du denn erwartet?“, entgegnete sie trocken. „Ich weiß auch nicht... Etwas mehr“, sagte sie enttäuscht. Obwohl es sich definitiv nicht schlecht angefühlt hatte. Es war nur irgendwie so... schnell gegangen? Nachdenklich schielte sie zu Mayu herüber. Das musste doch bestimmt auch länger funktionieren... „Ich will auch mal.“ „Was...?“ „Gerade hast du mich geküsst, jetzt möchte ich dich küssen.“ Anscheinend verwundert sah Mayu dabei zu, wie Nana sich von ihrem Platz erhob, sich ihr mit festem Blick gegenüberstellte und sich dann - an der Sofalehne abgestützt - über sie beugte. „Mach die Augen zu.“ Entschlossen näherte sie sich ihrem Gegenüber und schloss selbst die Augen, genau wie zuvor. Nur dass sie sich diesmal deutlich mehr Zeit ließ und ein wenig ihre Fantasie in die Sache mit einbrachte... Auf eine seltsame Art zufriedengestellt ließ sie von der Anderen ab, als sie das Gefühl hatte, es lange genug getan zu haben, blieb aber vorerst in ihrer heruntergebeugten Position dort stehen. „... Wie war das?“, fragte sie rau und kam sich dabei vor wie ein Aufreißer, der gerade einen heißen Fang gemacht hatte. Mayu schaute unschuldig zu ihr auf. „Schokoladig...“, sagte sie knapp. Sie musste zugeben, auf diese Antwort war sie nicht eingestellt gewesen. Ein plötzliches Zischen, dessen Ursache sie nirgendwo ausmachen konnte, ließ sie beide heftig zusammenzucken und reflexartig aufspringen. Panisch suchte Nana den Raum nach potentiellen Beobachtern ab, fand es aber kaum beruhigend, als sie niemanden entdeckte. „... Ich glaube, das kam von draußen“, flüsterte Mayu mit einem gezwungenen Lächeln. „War wahrscheinlich nichts Besonderes... Nur irgendein Geräusch.“ „Meinst du?“, vergewisserte sie sich leise. Ihr war trotzdem mulmig zumute. Warum musste auch aus heiterem Himmel draußen irgendetwas anfangen zu zischen? Das war nicht lustig. Nein. Ganz und gar nicht. Mayu schien den Schock bereits überwunden zu haben, so amüsiert wie sie vor sich hin kicherte. „Weißt du was, Nana? Ich glaube, es ist gar nicht nötig, uns so viele Gedanken zu machen“, sagte sie. „Über das Küssen und über Männer, meine ich... Wahrscheinlich sind wir dafür sowieso noch zu jung.“ „Zu jung...? Sind wir das? Ja... Vielleicht hast du Recht“, murmelte Nana, nicht sicher, was sie davon halten sollte. „Aber wie alt müssen wir denn sein, um diese Dinge zu verstehen?“ „Ich weiß nicht. Irgendwann wirst du es schon merken, wenn du reif genug dazu bist. Vielleicht in zwei oder drei Jahren?“ „Was, so lange?! Aber so lange will ich nicht warten!“ „Wie auch immer... Mit der Zeit wird das alles bestimmt ganz von selbst kommen, und wir sollten uns nicht mit komplizierten Fragen quälen, auf die wir im Moment ohnehin keine Antwort finden.“ Mayu wirkte so zuversichtlich, dass es ansteckend war, und Nana war sich mittlerweile beinahe vollkommen sicher, dass alles, was sie sagte, der Wahrheit entsprach - woher auch immer sie dieses Wissen nahm. „Wir sollten einfach... glücklich sein mit dem, was wir haben. Schließlich haben wir eine ganze Menge.“ Gemächlich schritt Mayu Richtung Küche, machte sich an ihrem - eigentlich Nozomis - Kimono zu schaffen und drehte sich noch einmal zwinkernd zu ihr um. „Sollen wir langsam ins Bett gehen? Wenn wir länger wach bleiben und auf noch mehr komische Ideen kommen, kommen wir morgen gar nicht mehr aus den Federn.“ Nana nickte fröhlich. „Stimmt, wäre wohl besser so... Also dann, gute Nacht, Mayu! Bis morgen!“ „Halt, warte!“, vernahm sie Mayus Stimme hinter sich, als sie heiter an ihr vorbeigelaufen war. „Willst du nicht erst den Kimono ausziehen?“ „Hm, ja, da ist was dran. Hoffentlich merkt Yuka nicht, dass ich ihn mir heimlich von ihr geborgt habe...“ „Geborgt, was? Dann übersieht sie hoffentlich auch die ganzen Kuchenkrümel, die jetzt überall darin festhängen.“ „Was?!“ „War nur ein Scherz!“ „Mayu...!!“ Gähnend streckte sie sich, nachdem sie die leere Schüssel, in der sich vorher ihr Mittagessen befunden hatte, zu dem restlichen Geschirr gestellt hatte, um das Kouta sich später beim Abwasch kümmern würde. Die letzte Nacht war wirklich lang gewesen. Lang, aber ebenso erheiternd, das musste sie zugeben. Mayu schmunzelte, als sie daran dachte. Den ganzen Tag schon warfen die Anderen ihr und Nana verständnislose Blicke zu, weil sie jedes Mal unwillkürlich leise zu lachen anfingen, wenn sie sich ansahen. Ja... Es war wirklich schön gewesen, einmal so ausschweifend mit Nana zu reden, ohne dass ihnen jemand zuhörte oder sich einmischte. Außerdem war sie ziemlich stolz auf sich, ihrer Freundin mit ihren Ratschlägen geholfen haben zu können. Zufällig hatte sie sich bei ihrem gestrigen Gespräch an etwas erinnert, dass sie Yuka einmal vor längerer Zeit hatte sagen hören. Aber das musste Nana ja nicht unbedingt wissen... „Maaayuuu!!“ Fragend schaute sie auf und blickte geradewegs in das strahlende Gesicht der Diclonius, die überschwänglich auf sie zugestürmt kam. „Was ist denn los, Nana? Du bist ja richtig gut drauf!“ „Papa, ich meine... Du-weißt-schon-wen-ich-meine hat gerade angerufen... Er sagt, er kann doch morgen zum Kirschblütenfest kommen und uns begleiten!“, rief sie mit übermäßiger Freude. „Das ist so tooooll! Ich werde ihm ein ganz besonders leckeres O-Bento zusammenstellen und keine Sekunde von seiner Seite weichen!! Er wird stolz auf seine Nana sein, oh ja, das wird er!“ „... Das wird er ganz bestimmt“, sagte Mayu lächelnd. „Und deshalb werden wir auch nachher zusehen, dass wir einen passenden Kimono für dich finden. An diesem besonderen Tag sollst du schließlich auch anständig gekleidet sein!“ „Ja, das machen wir! Ich bin so glücklich! Endlich hat er Zeit, etwas mit mir zu unternehmen... Ich werde mir ganz doll Mühe geben, ihm etwas Gutes zuzubereiten. Als seine Frau muss ich das immerhin können!“ „Richtig... Er wird sich sehr freuen, da bin ich sicher. Auch falls es dir nicht optimal gelingen sollte...“ „Hey, was willst du denn damit sagen?!“ „Nichts, gar nichts! Also, dann... Halte dich schon mal bereit für gleich, wenn wir zusammen losgehen und dir was zum Anziehen suchen. Vorher... habe ich noch kurz etwas zu erledigen“, sagte sie, ging ins Wohnzimmer und schlüpfte in ihre Straßenschuhe. „Was hast du vor?“, fragte Nana interessiert. Mayu grinste sie an, mit einem Mal so gut gelaunt wie sie es schon lange nicht mehr gewesen war. „Ich gehe zum Strand“, antwortete sie, während sie sich bereits auf den Weg zur Haustür machte, und fügte mit lauterer Stimme ergänzend hinzu: „Sag Yuka und den Anderen Bescheid, dass ich gleich wieder da bin!“ Der Himmel war blau und die Bäume standen in voller Blüte. Diesen Tag würde sie sich von nichts und niemandem verderben lassen, das stand fest. Der Frühling war gekommen und das Kirschblütenfest konnte beginnen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)