Wieder in Fluss geraten von Seelenfinsternis ================================================================================ Kapitel 4: Ein Glockenschlag in der Nacht ----------------------------------------- 04 –Ein Glockenschlag in der Nacht Endlich war Chihiro allein, die Stimmen der Anderen entfernten sich immer weiter und waren schließlich nicht mehr zu hören. In der Stille gestattete sie sich schließlich ihrem drängenden Verlangen nachzugeben und endlich den Tränen freien Fluss zu lassen. Sie strömten über ihre Wangen, die sich schnell röteten, sammelten sich an ihrem Kinn und tropften in den staubigen Boden zu Füßen des Drachen. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie erneut mit tränenerstickter Stimme. „Ich bin so dumm gewesen, was mache ich mir eigentlich vor?“ Immer mehr dunkle Flecken bildeten ein seltsames Muster auf der trockenen Erde, auf der sie nun schon eine ganze Weile kniete. Immer wieder zitterte ihr zierlicher Körper, wurde von der Trauer und Einsamkeit geschüttelt. Doch die Anwesenheit der großen Statue hatte auch etwas Tröstliches. Wie auch der leibhaftige Haku strahlte sie eine beschützende Geborgenheit aus und Chihiro ließ sich nur allzu gerne von dieser Aura umfangen. Schließlich kuschelte sie sich an den kühlen Stein und umschlang ihre Knie mit den Armen. „Warum bist du nicht gekommen um mich zu holen? Warum hast du mich allein gelassen“, wisperte sie in die Stille der aufziehenden Nacht. „Ich habe jeden Abend in den Himmel geschaut, ich wollte so gerne von dir zurück gebracht werden. Ich vermisse doch alle so… Dich, Rin, Kamaji. Niemals habe ich euch vergessen, ich habe jeden Tag an dich gedacht.“ Mit einer staubigen Hand wischte sie sich die Tränen von den Wangen und hinterließ eine schmutzige Spur. „Weißt du, als Kind hatte ich immer wieder von dir geträumt“, fuhr sie nun mit fester Stimme fort. „Es war immer der gleiche Traum. Ich lag in meinem Bett und habe geschlafen, das Fenster war offen; ein warmer Sommerwind flatterte in den Vorhängen und plötzlich weckte mich im Traum ein lautes Geräusch von draußen. Ich eilte zum Fenster und dann stand da ein wunderschöner, weißer Drache im Hof.“ Kurz unterbrach sie ihre Erzählung, um sich das Bild aus ihrem Traum wieder in den Geist zu holen und ein versonnenes Lächeln brach durch die dunklen Wolken. „Deine Schuppen funkelten im Mondlicht, genau wie damals, als du mich bei Zeniba abgeholt hast. Dann ritt ich auf deinem Rücken durch die Nacht, immer weiter. Die Sterne am Horizont zeigten den Weg, unter uns flog die Landschaft vorbei; manchmal wurde sie von weichen Wolken versteckt. Du bist immer weiter gen Horizont geflogen, darüber hinaus und plötzlich waren wir wieder in der Geisterwelt.“ Nach Bestätigung suchend hob sie ihren Blick und sah zur Statue des Drachen. Regungslos hatte die ihrem Traum gelauscht. Chihiros Blick glitt erneut über den hellen Stein. Filigran waren die einzelnen Schuppen von einem kundigen Bildhauer modelliert worden, doch kein irdischer Stein konnte den sphärischen Glanz dieser Drachenhaut abbilden. Kein Opal, kein Perlmutt und kein Edelstein der Welt schimmerten schöner als Hakus Körper im Mondschein. Wie in Wasser gefangenes Sternenlicht, sinnierte sie weiter. „Doch dann, kurz bevor wir ankommen, wache ich jedes Mal auf und liege in meinem Bett. Das Fenster ist geschlossen, von draußen ist nur das Rauschen der Stadt zu hören. Nur Flugzeuge sind am Himmel zu sehen. Du bist nicht da. In jeder Nacht, in der ich diesen Traum habe, stelle ich mich danach ans Fenster und spähe in die Dunkelheit hinaus. Seit fast zehn Jahren. In diesen Momenten weiß ich, dass unser Abenteuer kein Traum war und hoffe jedes Mal, dass der Traum ein Zeichen ist, dass du gleich kommst. Aber du bist nicht da.“ Der steinerne Blick des Drachen traf sie vorwurfsvoll, als sie kurz aufsah. „Wie hätte ich denn zu dir gelangen sollen? Ich bin doch nur ein Menschenmädchen! Ich habe keine Macht so wie du“, rechtfertigte sie sich vor dem stummen Tadel. „Als ich ein Kind war, bin in unzählige Male in den Wald gegangen, in dem der Tunnel damals aufgetaucht war. Aber egal wie sehr ich gesucht habe, da war kein Tunnel!“ Inzwischen kniete sie vor dem Sockel der Figur. Sanft strich ihre Hand über den Körper. „Bitte glaub mir, ich habe niemals aufgegeben dich zu finden.“ Ohne Furcht hob sie den Kopf wieder und hielt dem Blick des Flussdrachen stand. Doch nun, da sich ihre Augen endlich von der tränenbefleckten Erde gelöst hatten, entdeckte sie unter dem Dach der Pagode noch etwas anderes. An einen dicken Balken gebunden, hing eine Glocke von der Decke, direkt hinter dem Rücken des Drachen. Das Messing war schon angelaufen und verwittert, trotzdem hatte es der Zeit und der Witterung Stand gehalten und wartete geduldig auf seinen Einsatz. Ein nicht minder verwittertes Seil baumelte aus dem Innern und war an dem Klöppel befestigt. Früher einmal musste diese Glocke prächtig gewesen sein, dachte Chihiro. Das Metall war mit einem aufwändigen Muster verziert, dass durch die Korrosion nur noch zu erahnen war und die Farben der Kordel waren längst verblasst. Ihre Familie war nie besonders spirituell oder gar religiös gewesen, dennoch wusste sie genau, wozu in jedem Tempel eine oder mehrere Glocken angebracht waren. Durch das Läuten versuchten die Menschen die Aufmerksamkeit der Gottheit des Schreins zu erlangen, um danach ihre Wünsche und Gebete vortragen zu können. Plötzlich stand Chihiro auf mit neuem Elan. Das Seil war ziemlich weit oben angebracht, sie musste sich aufs Äußerste strecken, um es erreichen zu können. Entschlossen packten es ihre Hände und sie zog mehrmals daran. Ein dumpfes Läuten ertönte; irgendwo zwischen dem Laut einer hellen Glocke und eines tiefen Gongs. Staub rieselte zu Boden. Als der Klang verhallt war, klatschte sie zweimal in die Hände, wie es die Tradition erforderte und konzentrierte sich auf ihr Gebet an den Gott des Flusses. Haku, ich bin hier! Ich bin an deinem Fluss! Komm zu mir, hol mich zurück! Du hast versprochen, dass wir uns wiedersehen. Die Stille war nun noch dröhnender, noch viel unerträglicher als zu vor. Gespannt lauschte Chihiro in die inzwischen aufgezogene Nacht. Ihr Herz schlug aufgeregt in ihrer Brust, überschlug sich beinahe vor lauter Vorfreude auf ein Wiedersehen. Von draußen war das sanfte Rauschen des Windes zu hören, der sich in den Wipfeln de Bäume verfing und das hohe Gras in ein grünes Meer verwandelte. Sekunde um Sekunde verstrich, doch nichts geschah. Schließlich hielt sie es nicht mehr in Inneren der alten Pagode aus, sie stürmte hinaus und spähte in den klaren Nachthimmel – so wie sie es schon unzählige Male getan hatte. Minute um Minute verstrich, die Zeit verging und Chihro stand noch immer auf der kleinen Lichtung im Wald und sah angestrengt in die Nacht. Dutzende Wolken waren in der Zwischenzeit über sie hinweg gezogen, der Mond wanderte auf seiner Umlaufbahn und hatte ein gutes Stück seines nächtlichen Wegs geschafft und die vielen Zikaden waren trotzdem nicht müde geworden ihr Lied zu spielen. Nur die junge Frau hatte sich in der Zeit nicht bewegt, geschweige denn den Blick von den Sternen genommen. Wie naiv war sie eigentlich, dachte Chihiro schließlich genervt von sich selbst und ihrer dümmlichen Hoffnung. Hatte sie im Ernst geglaubt, sie klingele einmal und wie von Zauberhand stieg Haku aus einer Rauchschwade vor ihren Augen? Ja, der Schrein war mal von irgendwelchen Bauern ihm zu Ehren errichtet worden und die Drachenstatue sah ihm durchaus ähnlich. Aber das hieß noch lange nicht, dass er es mitbekommen würde, wenn eine hirnlose Sterbliche wie sie ihren albernen Sehnsüchten nachhing und mit offenen Auge träumte! Warum quälte sie sich selbst so sehr, warum machte sie sich Hoffnung, wo keine war? Müde und enttäuscht beschloss sie endlich zur Herberge zurück zu laufen und ins Bett zu gehen. Der Weg war nicht weit und die hell beleuchteten Bungalows waren im Dunkeln ohne Probleme zu finden. Leise schloss sie die Tür auf und fand Yaro auf der Couch liegend, der eine seiner geliebten Sitcoms im Fernsehen schaute. „Hey Babe, da bist du ja. Wo bist du gewesen, du warst auf einmal weg?“ Etwas überrascht stand Chihiro im Flur und überlegte fieberhaft, was sie nur antworten solle, während sie ihre Turnschuhe aufband. „Ich… ich hatte mir den Tempel noch etwas angesehen. Ihr wart alle schon weg, da bin ich noch ein bisschen spazieren gegangen“, stammelte sie schließlich verlegen. Wie so oft aber konnte sie auf Yaros Desinteresse an ihrem Leben zählen; er hinterfragte kein Wort noch stellte er Fragen, er begann einfach seinen Monolog: „Wenn du meinst. Du hast hier echt was verpasst, die anderen haben was zu trinken geholt. Aber du hast ja wie immer getrödelt. Jenny, diese Amerikanerin, die hier ihr Auslandssemester macht, war irgendwann so betrunken, dass sie ihr Top ausgezogen hat. Wir haben jetzt ne Wette am Laufen, ob ihre Titten echt sind. Was sagst du? Wenn du willst, kannst du noch einsteigen!“ In diesem Moment spürte Chihiro noch deutlicher das Bedauern, dass es nicht geklappt hatte Haku zu dem kleinen Schrein zu rufen. „Danke, verzichte“, antwortete sie mit all ihrer zur Verfügung stehenden Gleichgültigkeit. Manchmal fragte sie sich ernsthaft, ob Yaro so schlicht im Kopf war, wie er immer tat und die geistreichen Momente, die sie so an ihm schätze, nur gespielt waren nach einem geistreichen Drehbuch, das er zufällig einmal gefunden hatte. Dieser Mann interessierte sich zunehmend nur noch für sich selbst und seinen Spaß. „Ich bin von der langen Reise ziemlich platt, ich geh ins Bett. Gute Nacht“, rief sie durch den Flur, bekam aber keine Antwort mehr. Erschöpft sank sie in die fremden Kissen und musste dem aufwühlenden Tag Tribut zollen; Minuten später war sie fest eingeschlafen. „Wer ist auf die geniale Idee gekommen, die neue Lieferung Kräuter in einem der Dampfbäder stehen zu lassen und dort zu vergessen?“ Hakus Stimme hallte durch das gesamte Treppenhaus, er stand auf dem obersten Treppenabsatz und schaute streng auf das Heer Bediensteter und Frösche herab. Seine Augen hatten jenes kalte und stechende Grün angenommen, dass in den letzten Jahren so typisch für sie geworden war. Erbarmungslos suchte sein Blick nach demjenigen, dem zu verdanken war, dass diese Ladung feinster Lavendel unwiederbringlich verschimmelt war. Frösche, Arbeiter, Yunas und sogar die Aufseher flüchteten aus dem Sichtfeld des Drachen. Sie erinnerten ihn an Kakerlaken, wenn man das Licht entzündete. Rin war die Einzige unter den Angestellten des Badehauses, die die Courage besaß dem Drachen zu widersprechen und damit waren ihr die Bewunderung und der Respekt der anderen sicher. Auch jetzt eilte sie die Treppen hinauf. „Es ist doch keine große Sache“, begann sie ruhig auf Haku einzureden, "„Kamaji hat doch noch genug.“ „Darum geht es nicht“, schnaubte Haku. Ohne ein weiteres Wort zu sagen machte er auf dem Absatz kehrt und kehrte zu seinen Räumen zurück. Doch so einfach wollte Rin ihn nicht davon kommen lassen und eilte ihm nach. „Was ist es dann?“, fragte sie, kurz bevor er wieder in seinem Büro verschwand. Der Perfektionismus des Generalbevollmächtigten war gefürchtet, genau wie seine Wut. Hinter vorgehaltener Hand wurde seitens der Yunas immer wieder getuschelt, dass eine Frau dem Drachen guttun würde; er brauchte dringend ein Ventil für seine Kraft. Es sorgte immer wieder für Klatsch, dass der gutaussehende Flussgott noch immer ohne Gefährtin war. Wollte er keine oder umgab ihn ein dunkles Geheimnis? Rin wusste es besser. Sie wusste, dass Haku Chihiro entsetzlich vermisste, die ihn damals in der kurzen Zeit nachhaltig verzaubert hatte mit ihrer fröhlichen und unbekümmerten Art. Vor allem war sie eine der Wenigen, die nichts auf das Brüllen des Drachen gab, ihm nicht immer seinen Willen gab und ihn so etwas gezähmt hatte. Oh, ihre kleine Sen würde seiner Garstigkeit guttun, dachte Rin – nicht nur heute. Aber die Welt der Menschen und die der Geister waren getrennt und so blieb ihr nichts anderes übrig, als auf ein Wunder zu hoffen. Haku drehte sich kurz zu ihr herum, er war ihr noch eine Antwort schuldig. „Lavendel wächst nur jenseits der Sümpfe, das ist ein Menschenkraut. Der seltsame Eremit, der diesen Garten bestellt, liefert nicht, das heißt, ich muss Nachschub abholen.“ „Verstehe“, erwiderte Rin. Es hatte keinen Sinn mit ihm darüber zu diskutieren. Nötig war es nicht, dass er nun sofort aufbrach, aber sie war der Meinung, dass es für alle Beteiligten nun besser war, dass der Drache an die frische Luft kam. Sie folgte ihm wortlos in sein Arbeitszimmer. „Der Morgen graut. Ich denke, ich werde zum Einbruch der Nacht wieder zurück sein“, sprach Haku nun mit kalter Stimme. „Du kümmerst dich um alles bis zu meiner Rückkehr.“ Er öffnete die große Glastür, die auf einen weitläufigen Balkon führte. „Verstanden“, nickte Rin. Ein warmes Licht blendete die junge Frau plötzlich und nur einen Wimpernschlag später stand der erhabene, weiße Drache vor ihr. Haku knurrte einen Abschiedsgruß, dann erhob er sich elegant in die Lüfte. „Pass auf dich auf“, flüsterte Rin und verfolgte, wie der Drache durch die Wolken schwamm und schon fast am Horizont verschwunden war. Doch plötzlich durchzuckte ihn etwas, wie als durchfuhr ein Blitz den schlanken Körper. Er fiel, immer tiefer und tiefer, bis er fast die Oberfläche des weiten Sees erreicht hatte. Doch kurz bevor er hart auf dem Wasser aufschlug, fing er sich wieder, gewann rasch an Höhe und eilte mit ganzer Kraft genau in die entgegengesetzte Richtung. Gehetzt war er wenige Augenblicke später aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Was war da bloß passiert, überlegte Rin aufgeregt, welche Nachricht hatte ihn erreicht, die ihn so aus der Fassung brachte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)