Merle von LennStar ================================================================================ Hinweis: Einige werden mich schon kennen. Das ist eine der Erzähler-Geschichten, die ich nur auf www.manga-community.de veröffentlicht habe. Ich werde jetzt nach und nach fast alle meine Geschichten hier beim animexx bringen, darunter natürlich auch die Reihe, die auf www.escaflowne zu finden ist. Das wird dann als LMMI passieren, um die Übersichtlichkeit zu gewährleisten. Kritik wie immer herzlich willkommen! Viel Spass! Ein Dieb namens Merle "Wo bleibt denn Neela?" fragte der alte Mann. "Kommt sie heute nicht?" "Doch! Ich weiß auch nicht, wo sie bleibt." Antwortete Saski, ihre beste Freundin. Alle Kinder hatten sich schon um den graubärtigen Erzähler versammelt, von den kleinen, bis zu denen, die eigentlich schon keine Kinder mehr waren. Nur sein größter Fan fehlte noch. Da öffnete sich die Tür, und eine wütende Neela stürzte herein, das letzte Sonnenlicht auf dem Rücken. "Was fällt diesem Flohsack eigentlich ein! Rennt mich fast um, und beschimpft mich dann!" Der Erzähler klopfte zweimal heftig mit seinem Stock auf den Boden. Er war alt, fast zahnlos, und konnte ohne Stock nicht mehr laufen, aber seine Stimme war immer noch kräftig und ausdrucksstark, geschult von der Masse Kinder, die einmal pro Woche zu ihm kamen. "Hört auf zu schimpfen! Und dann erzähl erst mal, was überhaupt passiert ist." "Hab ich doch gesagt. Merle hat mich umgerannt, und dann sollte ich auch noch Schuld sein. Und dann sagte sie noch, ich solle nicht herumlümmeln, sondern etwas vernünftiges tun. Dabei hat sie doch keine Ahnung! Ihre Eltern sind schließlich nicht von den Zaibachern getötet wurden!" Lastende Stille herrschte in dem großen Raum, nur das Prasseln des Feuers war noch zu hören. Neela hatte das ungeschriebene Gesetz gebrochen. Fast alle in diesem Raum waren Waisen, und sie kamen hierher, um zu vergessen, und um sich an Geschichten über ferne Länder, merkwürdige Ereignisse und seltsame Monster zu erfreuen. "Entschuldigung." Sagte Neela kleinlaut. Der Erzähler zeigte streng mit dem Stock auf den Boden vor sich, und Neela setzte sich gehorsam hin. "Sie hat mehr Ahnung, als du glaubst. Auch sie ist eine Waise." "Wie? Aber solange ich mich erinnern kann, läuft sie doch im Schloss herum? Was hat eine Waise dort zu suchen?" Der Geschichtenerzähler strich sich mit der Hand über seinen langen, weißen Bart und meinte "Das ist eine lange Geschichte. Wollt ihr sie hören?" Die Frage war natürlich überflüssig, und so begann er leise zu erzählen... "Es war vor acht oder neun Jahren. Der Bruder und die Mutter des Königs waren schon seit einiger Zeit verschwunden, und Vargas hatte sich des jungen Prinzen angenommen, der damals gerade seinen siebenten Geburtstag hinter sich hatte. Dann eines Tages..." "Das darf doch nicht wahr sein! Schon wieder! Wenn ich diesen verdammten Dieb erwische!" Die Köchin rannte Blitze sprühend durch das halbe Schloss, bis sie vor Vargas stand, der gerade damit anfangen wollte, Van einige schmerzhafte Lektionen mit dem Schwert zu erteilen. "So geht das nicht weiter! Seit zwei Wochen stiehlt dieser Dieb unsere Küche leer. Jeden Morgen fehlt etwas. Jetzt sogar schon Geschirr. Das kann so nicht weitergehen. Ich verlange, dass ihr unverzüglich etwas unternehmt." Die Körpermasse der Köchin, Ergebnis ihres Berufes, bebte in ohnmächtigem Zorn, und Van konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Als ob Vargas Augen im Hinterkopf hätte, drehte er sich um, warf ihm einen seiner "So handelt kein König!" Blicke zu, und versuchte dann die Köchin zu beruhigen. "Ich hatte doch eine Wache abgestellt. Was ist mit der?" "Die ist ein noch größerer Halunke! Hat sich am Wein bedient, und dann ein Nickerchen gehalten." Vargas normalerweise regungsloses Gesicht zog sich zu wie der Himmel bei einem Sommergewitter. Wenn er eines nicht ausstehen konnte, war es diese Art von Pflichtauffassung. Van beneidete den Wächter nicht. Er konnte froh sein, wenn er nicht ausgepeitscht wurde. "Ich werde mich persönlich darum kümmern." Er drehte sich um. "Wir verschieben den Unterricht um zwei Stunden. Geht hinaus, und übt an den Holzpflöcken." "Ja, Vargas." Van seufzte innerlich und machte sich auf den Weg. Vargas folgte der Köchin, um den Dieb ein für alle Mal fest zu setzten. Die Sonne stand noch tief am Himmel, und über dem Wald hing der Morgennebel wie ein Schleier aus Seide. Van stellte das scharfe Schwert an die Seite, und nahm sich eines der Übungsschwerter aus Holz. Da die meisten Krieger Fanelias auf Banditenjagd waren, war er ganz allein hier. Er liebte diese Stille, die am Morgen über diesem Platz hing. Niemand, der stört, und wenn er die Augen schloss, meinte er, das Echo derer zu hören, die hier trainiert hatten. Er wog das Holzschwert prüfend in der Hand, visierte dann sein Ziel an, und schlug zu. Das Krachen seiner Schläge hallte rhythmisch über den leeren Platz und die Sonne bewegte sich bedächtig auf ihrer Bahn entlang. Van wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich erschöpft auf den Boden. >Eigentlich kann der Unterricht heute ausfallen. Kaputt genug bin ich. Leider wird das aber nichts helfen. Vargas lässt das bestimmt nicht gelten. Und dann erst heute Nachmittag! "Königliches Verhalten" Einmal pro Woche diese Folter! Von den Schreibübungen mal ganz zu schweigen. Das kriege ich nie hin.< Van packte das Übungsschwert zu den restlichen und holte das richtige. >Manchmal wünschte ich, ich könnte dich bei den Lehrern benutzen.< Van gab sich einigen Sekunden diesen vergnüglichen Überlegungen hin. Dann beschloss er, erst einmal zu baden. Aber nicht im Schloss. Er wusste eine viel bessere Stelle. Er schlich sich vom Schlossgelände, denn obwohl (oder gerade weil) er der Prinz war, durfte er das Schloss nicht ohne Begleitung verlassen. Er sah sich noch einmal vorsichtig um, und verschwand dann im Wald, auf dem Weg zu einem kleinen See. Nach zehn Minuten hörte er das Plätschern des Baches, der den See speiste. An der Mündung wollte er sich gerade ausziehen, als er ein seltsames Geräusch hörte, das nicht von einem Tier zu stammen schien. Neugierig schlich er sich durch die Büsche. Dann fiel sein Blick auf eine bestimmte Stelle der Uferwiese, und er starrte erstaunt auf die seltsame Gestalt, die dort in der Sonne lag und anscheinend schlief. >Ist das ein Tier?< Aber so sah es nicht aus. Das Wesen hatte zwar ein Fell, aber hatte Ähnlichkeit mit einem Menschen. Dann erinnerte er sich, dass er so ein Wesen schon mal gesehen hatte. In einem Buch über die Völker Gaias. Der Lehrer (der selbe, der versuchte ihm schreiben beizubringen, wie sich Van missmutig erinnerte) hatte erklärt, dass es sich um eine fast verschwundene Art handelte. Der Katzenmensch in dem Buch war aber größer gewesen, größer sogar als ein normaler Mensch. Dieser hier war sogar kleiner als er, also ein Kind. Vorsichtig schlich er sich im Rücken des Wesens heran. Plötzlich zuckten die Ohren, und das Wesen sprang auf. Erschrocken stand Van da, die Hand am Schwertgriff, aber zu überrascht, um sich zu rühren. "Ha!" rief das Wesen mit schriller Stimme und stellte sich kampfbereit hin, die Pfoten erhoben. "Wer bist du, und was machst du hier?" "Du bist ein Mädchen!" staunte Van. "Danke für die Neuigkeit! Ich habe dich was gefragt!" Endlich hatte Van seine Überraschung überwunden. "Das selbe könnte ich dich auch fragen. Das hier ist Teil des Schlosswaldes. Du hast hier nichts zu suchen." "Und du?" "Ich wohne im Schloss. Du aber mit Sicherheit nicht. Wie heißt du?" Das Katzenmädchen schwieg eine Weile und sagte dann "Ich sage dir meinen Namen erst, wenn du mir deinen gesagt hast." Van überlegte einen Augenblick. Die Situation gefiel ihm überhaupt nicht, aber wollte unbedingt wissen, was sie hier tat. "Also gut. Mein Name ist Tojan." So hieß einer der Söhne eines der Minister, die unter der Führung von Vargas Fanelia regierten. "Merle. Du wohnst also im Schloss?" Van nickte >Merle. Komischer Name.< "Was willst du dann hier?" "Baden." Das Katzenmädchen mit dem seltsamen Namen schüttelte sich angewidert, und Van konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Anscheinend hielt sie nicht viel von Wasser. Allerdings konnte es auch sein, dass es ihr einfach zu kalt war. Der See war zu jeder Jahreszeit eisig, aber gerade deswegen war er ja so erfrischend. Das Katzenmädchen machte einen Schritt zur Seite, und Van konnte etwas sehen, das bisher von ihrem Körper verdeckt wurde. Er stutzte, dann klappte sein Kinn herunter, und dann fing er hemmungslos an zu lachen. Merle sah ihn verwundert an, blinzelte dann, legte den Kopf schief und überlegte wohl, ob er verrückt geworden war, und schrie dann wütend. "Was gibt es hier so zu lachen, hä?" "Das Geschirr da!" brachte Van mühsam hervor. Merle warf einen Blick darauf, und sah ihn mit neuem Misstrauen an. "Was ist damit?" "Da ist das königliche Wappen drauf. Das heißt, es kann nur aus dem Schloss sein. Und das bedeutet, du bist der Dieb, der alle in Aufruhr versetzt." Erneut musste Van so lachen, dass ihm der Bauch wehtat. Merle betrachtete ihn, unschlüssig, ob sie sich auf ihn stürzen oder mitlachen sollte. Sie entschloss sich für den Mittelweg. Sie ging ein paar Schritte zurück, nahm dabei den Teller mit, auf dem noch einige Kekse lagen, und setzte sich dann in einiger Entfernung von Van auf den Boden. Sie wartete, bis er aufgehört hatte zu lachen, und fragte dann. "Willst du mich verraten? Ich sage dir gleich, das bringt nichts. Dann verschwinde ich nämlich von hier." Van sah sie an, und komischerweise wich sie seinem Blick aus. "Du gehst nirgendwohin." "Wie kommst du darauf?" fauchte sie "Weil du nicht abgehauen bist, obwohl diese Nacht eine Wache in der Küche saß. Das hätte ins Auge gehen können. Trotzdem hast du wieder etwas gestohlen." Merle gab keine Antwort, sondern zupfte scheinbar uninteressiert an den Grashalmen vor ihr, und so bohrte Van weiter "Wo sind deine Eltern?" Ihr Kopf ruckte hoch, sie sah ihn kurz mit einem merkwürdigen Ausdruck an, dann zuckte sie die Schultern. "Keine Ahnung, wahrscheinlich tot. Solange ich denken kann, habe ich auf der Straße gelebt." Ein tiefer Schmerz durchzuckte Van bei diesen scheinbar gleichgültigen Worten. "Das tut mir leid." "Braucht es nicht." Antwortete sie heftig "Ich komme auch so zurecht." "Meine Eltern sind auch tot." Der Ausdruck in Merles Katzenaugen wurde anders, weicher. "Hast du sie gekannt?" "Ja, aber ich kann mich kaum noch an sie erinnern, zumindest an meinen Vater. Er starb als ich drei war. Und meine Mutter verschwand zwei Jahre später." "Verschwand?" "Ja. Sie ging in den Wald, und kam nicht wieder." Er erwähnte nicht, dass sie auf der Suche nach seinem Bruder war, der ebenfalls verschwunden war, als er gegen einen Drachen kämpfen sollte. Diese Geschichte kannte sicher jeder in Fanelia, und er wollte nicht, dass Merle herausfand, wer er war. Im Moment schien sie jedenfalls bereit, Waffenstillstand zu schließen, auch wenn sie ihn immer noch vorsichtig beobachtete. "Das tut mir leid für dich. Tojan, richtig?" "Äh, ja." "Aber wieso wohnst du dann im Palast? Müsstest du nicht im Waisenhaus sein?" "Nein, jemand hat meinem Vater versprochen, sich um mich zu kümmern. Und du?" "Ich bin abgehauen. War mir zu langweilig." "Und dann hast du beschlossen, dir dein Essen im Schloss zu klauen." Sie warf ihm einen wütenden Blick zu "Ich habe nicht darum gebeten, ins Waisenhaus zu kommen. Die Stadt, aus der ich komme, ist zur Hälfte abgebrannt. Die Bewohner haben uns Straßenkinder die Schuld dafür gegeben. Darum wurden alle hierher ins Waisenhaus gebracht. Sie haben uns in der Nacht überrascht und weggeschleppt. Aber sie haben sich verrechnet. Ich war nicht die erste, die abgehauen ist, und bin bestimmt auch nicht die letzte. Wahrscheinlich ist schon keiner von uns mehr da." "Und wo wollen sie hin?" Merle zuckte mit den Schultern "Einige werden zurück nach Irini gehen, aber die meisten werden sich in alle Winde zerstreuen." Eine Weile schwiegen die beiden. Dann fasste Van einen Entschluss. "Ich mache dir einen Vorschlag." Merle schaute ihn misstrauisch an, und sagte dann entschieden "Ich gehe nicht zurück ins Waisenhaus." "Das meinte ich auch nicht. Ich wollte dir vorschlagen, dass du aufhörst mit stehlen." Merle sprang empört auf. "Soll ich verhungern?" "Lass mich doch erst mal ausreden. Mein Vorschlag ist folgender: Du hörst auf mit stehlen, und ich bringe dir etwas zu essen. Ich komme morgen wieder hierher." Sie schaute ihn verwirrt an. Ein solches Angebot erhielt sie bestimmt zum ersten Mal. "Warum?" "Weil ich nicht will, dass du in der Nacht aufgespießt wirst." "Das passiert nicht. Ich bin ein Katzenmensch, schon vergessen? Ich schleiche lautlos." Van schüttelte den Kopf. "Das wird dir nichts nützen. Du kennst Vargas nicht. Was er macht, macht er gründlich." "Vargas? Das war doch der Typ, der die Truppen angeführt hat, die uns verschleppt haben! Er war es, der mich am ausgestreckten Arm getragen hat, wie einen nassen Sack!" Van konnte nicht anders, er musste über dieses Bild lachen. Schließlich lachte sogar Merle. "Du hast recht. Er hat sich mindestens so leise angeschlichen, wie ich. Ich habe ihn erst bemerkt, als er mich hatte. Also gut, abgemacht. Aber wehe, du hältst dein Versprechen nicht." "Ich schwöre." "Gut. Dann verschwinde." "Wie du meinst. Aber gib mir erst den Teller." Merle schaute zögernd auf ihr Beutestück. "Das kauft eh keiner. Jeder würde sofort sehen, dass es gestohlen ist." Seufzend nahm Merle die Kekse vom Teller, und gab ihn ihm. "Du hast es geschworen, vergiss das nicht." "Sicher nicht." Van ging Richtung Schloss. Als er sich umdrehte, war Merle verschwunden. >Ich bin gespannt, ob sie sich an unsere Abmachung hält. Mein Bad hat sich ja jetzt erledigt. Vargas wird mich schon suchen.< Schnell rannte er zum Schloss, schlich sich hinein, und stellte den Teller an eine Stelle, wo man ihn schnell finden würde. "Da seid ihr ja! Ich habe euch schon gesucht." Aus Vargas Stimme war der Ärger deutlich herauszuhören. "Ich bin ein bisschen durch die Gegend gelaufen. Was habt ihr wegen dem Dieb gemacht?" "Warum fragt ihr? Glaubt ihr, euch vor dem Unterricht drücken zu können?" Van wurde knallrot und stammelte "N... Nein. Ich war nur neugierig." "Wie dem auch sei. Heute nacht wird es keinen Diebstahl geben. Ich werde selbst Wache halten." Van "Ihr? Wegen einer kleinen Diebin?" Vargas runzelte die Stirn "Woher wollt ihr wissen, dass es eine Frau ist?" "Eine Frau?" "Ihr sagtet doch Diebin, oder?" "Oh. Das. Äh, es kam mir so vor. Ich weiß nicht warum, aber ich glaube nicht, dass es ein Mann war." Auf einmal war es sehr heiß im Raum. "Wir werden sehen." "Aber warum haltet ihr selbst Wache? Das ist doch nichts für einen so großen Krieger." Vargas schaute ihn missbilligend an und setzte seine Lehrermiene auf. "Es ist meine Pflicht, für eure Sicherheit zu sorgen. Und es geht nicht, dass irgendwer hier des Nachts im Schloss ein- und ausgeht. Auch wenn es nur ein Dieb ist- oder eine Diebin, wie ihr meint. Und jetzt kommt. Ihr müsst lernen, den Schlag richtig zu parieren." Am nächsten Morgen rannte Van als erstes zur Küche. Vargas war nirgends zu sehen. Aber die Köche bestätigten ihm, dass der Dieb diese Nacht nicht zugeschlagen hatte, und schoben es auf seine Anwesenheit. "Hat bestimmt kalte Füße gekriegt." Sagte ihm einer der Küchenjungen grinsend. Aber Van wusste die Wahrheit. Zumindest hoffte er, dass es so war. Die Köche wunderten sich jedenfalls über den Appetit des jungen Prinzen. Nach dem Schreibunterricht schlich Van sich aus dem Schloss und in den Wald. Er war wachsamer als sonst, aber niemand schien ihm zu folgen. Am See angekommen, schaute er sich suchend um, aber es war niemand zu sehen. "Merle? Wo bist du? Du brauchst keine Angst haben, ich bin alleine." Aber niemand meldete sich. >Sie wird nicht hier sein. Ich habe ja nicht gesagt, wann ich komme.< Er legte sich ins Gras. Der Tag war heute noch schöner als gestern, eigentlich viel zu schade, um ihn hier wartend zu verplempern. Aber es tat gut, einfach nur dazuliegen und nichts zu tun. Nichts außer den Vögeln zuzusehen, die über den strahlend blauen Himmel flogen und das Glitzern zu bestaunen, dass die Sonnenstrahlen auf den kleinen Wellen des Seewassers hinterließen. >Die Wolke sieht aus wie Vargas.< Da war ein Geräusch. Er öffnete die Augen gerade rechtzeitig, um den Wasserschwall hinein zu bekommen, der ihm gerade ins Gesicht klatschte. Mit einem lauten Schrei fuhr Van hoch. Die Antwort war ein unglaublich hämisches Gelächter. "Was soll das?" schrie er Merle an, die sich den Teller geschnappt hatte, und nun im Hocken begann, alles darauf in sich hinein zu stopfen. Mühsam rieb er sich das kalte, kristallklare Wasser aus den Augen. "Ist das der Dank dafür, dass ich mein Versprechen gehalten habe?" "Ich wollte dir bloß zeigen, wie leise ich schleichen kann." Meinte Merle scheinheilig, und blickte ihn mit ihren großen Kulleraugen Verzeihung heischend an. Seufzend gab Van auf. Er beobachtete das Katzenmädchen, wie sie sich voll stopfte. >Wie eine Hauskatze. Und ich füttere sie. Wenn das Vargas wüsste. Er hat sowieso etwas gegen Haustiere, und dieses ist wirklich die Krönung.< Er lächelte bei dem Gedanken. Schließlich sagte er, was ihm schon den ganzen Tag durch den Kopf gegangen war, und ihm deshalb eine harte Rüge seines Lehrers einbrachte, der sich über seine Abwesenheit aufregte. "Ich kann aber nicht jeden Tag kommen. Es würde auffallen, wenn ich auf einmal für zwei esse, und jeden Tag verschwinde." "Dann werde ich wieder stehlen gehen. Ganz einfach." "Aber Vargas schnappt dich!" sagte Van wütend und legte sich ins Gras, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Merle schwieg eine Weile "Dann muss ich in die Stadt. Auch wenn es dort viel schwieriger ist." "Ich will nicht, dass du stiehlst!" sagte Van heftig und gleichzeitig verärgert über sich selbst. Da brachte er sich in Gefahr, dass sein Schlupfwinkel entdeckt wird, und wie dankte dieses Mädchen ihm? Indem sie ihm Wasser ins Gesicht goss. "Was geht dich das an?" fragte sie herausfordernd. Van stand wütend auf "Das geht mich sehr wohl etwas an." Er nahm den leeren Teller und schaute Merle wütend an. "Ich werde mir etwas einfallen lassen. Komm ja nicht auf die Idee, wieder stehlen zu gehen. Morgen komme ich aber erst am Nachmittag." "Bitte, wie du willst. Ich habe ja nichts anderes vor." Verärgert rannte Van zum Schloss zurück, unschlüssig, ob er sein Versprechen weiterhin halten sollte. Van saß wieder einmal beim morgendlichen Schreibunterricht. Die Feder kratzte über das Papier und hinterließ einen großen, zackigen Fleck. Van stöhnte innerlich. Zum Glück hatte es der Lehrer nicht bemerkt. Vorsichtig ließ er das Blatt unter dem Tisch verschwinden und nahm ein neues. Er hatte ja erst zwei Zeilen geschrieben, da würde es nicht auffallen, wenn er neu anfing. Auf einmal hörte er Schreie. Dann rief jemand "Haltet den Dieb!". Van sprang erschrocken auf >Das wird doch nicht Merle sein?< Er rannte hinaus auf den Gang, ohne sich um die empörten Rufe des Lehrers zu hören. Er war noch nicht weit gekommen, da hörte er die unverwechselbare Stimme des Katzenmädchens "Lass mich los, du Grobian!" Van rannte um die Ecke, und lief beinahe gegen Vargas, der Merle an beiden Armen gepackt hatte, und sie von sich weghielt. Merle zappelte, kreischte und schrie, dass es in den Ohren wehtat. Dann sah sie Van und hielt inne. Vargas drehte sich um. "Ihr habt doch Unterricht, mein Prinz." "Prinz?" Merle starrte ihn an, dann Vargas, dann wieder Van, und dann fing sie lauter als zuvor an zu zetern. "Prinz? Von wegen! Ein Lügner ist er! Hah! Ich hätte es mir ja denken können. Das war alles nur ein Trick. Ich sollte dir vertrauen, und dann hättest du mich in die Falle gelockt!" Vargas hatte Mühe, das zappelnde Bündel festzuhalten. "Mir scheint, sie kennt euch, mein Prinz. Würdet ihr mir das erklären?" fragte er gefährlich ruhig. Van wusste nicht, was er sagen sollte. "Äh, na ja, das ist richtig. Wir haben uns zufällig getroffen." Zum Glück für ihn kamen jetzt zwei Wachen, denen Vargas das Katzenmädchen übergab und Van so Zeit hatte, sich etwas auszudenken, dass ihn nicht in Schwierigkeiten bringen würde. "Also, mein Prinz?" Van versuchte, das ehrlichste Gesicht zu machen, zu dem er im Stande war. "Es war vorgestern, als ich geübt habe. Ich habe mich an die Mauer gesetzt, um eine kurze Pause zu machen, da kam sie und ist über mich gestolpert. Und äh, und ich wollte natürlich wissen, wer sie ist. Erst wollte sie mir nicht antworten, aber als ich drohte, die Wachen zu rufen, hat sie mit mir geredet. Das war alles." Vargas sah ihn skeptisch an. "Und was meinte sie damit, dass ihr ein Lügner wäret?" "Oh, ich habe ihr einen anderen Namen genannt. Ich wollte nicht, dass sie weiß, wer ich bin. Schließlich hatte ich sie noch nie gesehen. Sie hätte ein Spion sein können." "Gut gedacht, aber falsch." "Wieso?" "Sie ist ein bisschen auffällig für einen Spion. Es gibt nicht viele ihres Volkes. Und erst recht nicht in ihrem Alter. Ich glaube sogar, ich kenne sie." "Ihr habt sie hierher ins Waisenhaus gebracht. Hat sie mir gesagt." "Richtig, jetzt erinnere ich mich. Das war vor drei Wochen, in Irini. Wie dem auch sei. Wenn sie ein Spion gewesen wäre, hätte sie euch erkannt." "Daran habe ich nicht gedacht." Er meinte, dass ein Spion als Ausrede ungeeignet war, aber Vargas bezog es natürlich auf Vans angebliches Verhalten. "Offensichtlich. Warum habt ihr mir nichts gesagt, als sie wieder weg war?" "Ich habe es nicht für wichtig gehalten. Wenn sie ein Spion gewesen wäre, hätte sie nicht etwas erzählt, was sich so leicht nachprüfen lässt. Vor allem, wenn sie mich wirklich erkannt hätte." Van war richtig stolz auf sich. Er hatte Vargas, wenn auch nur zufällig, mit seinem eigenen Argument geschlagen. Das kam nicht gerade oft vor. Um genau zu sein, war es das einzige Mal, an das er sich im Moment erinnern konnte. Und er war froh, dass Vargas nicht daran gedacht hatte, dass er den Dieb für eine Frau gehalten hatte. Dann wäre sein Schwindel rasch aufgeflogen. Vargas sah ihn noch einen Moment nachdenklich an, aber akzeptierte dann die Erklärung seines Schützlings. Er wollte gerade etwas sagen, als wieder jemand schrie. Dann riefen mehrere Leute durcheinander, so dass nichts heraus zu hören war, dann polterte etwas, gefolgt von einem Geräusch klatschenden Wassers, dem ein Klirren berstender Scherben folgte. Van sah, wie Vargas die Faust ballte und nur mühsam einen für ihn ganz und gar unpassenden Fluch unterdrückte. Er rannte zusammen mit ihm zur Quelle des Geräusches. Sie kamen in einen Gang, an dessen Ende zwei Männer standen und aus dem Fenster schauten. Beide lachten, auch wenn einer von ihnen dabei das Gesicht vor Schmerz verzog. Van bemerkte eine blutende, seltsam runde Wunde an seiner Hand. Dann erkannte er, dass es die beiden Wachen waren, die Merle in den Kerker werfen sollten. Auch Vargas hatte sie erkannt. Er baute sich drohend hinter ihnen auf, und donnerte im Kasernenhofton "Was zum Donner geht hier vor?" Die beiden Männer fuhren wie von der Tarantel gestochen herum, und salutierten automatisch, als ob sie noch bei der Ausbildung wären, und schmetterten ihre Meldung heraus. "Die Gefangene ist gebissen worden, ich bin entkommen, ach Unsinn..." "Unsinn?" dröhnte Vargas Stimme "Das ist noch untertrieben. Was ich hier sehe, ist kein Unsinn, sondern Unfähigkeit! Ihr seid zu zweit und könnt nicht mal auf ein kleines Mädchen festnehmen! Ihr seid eine Schande für ganz Fanelia!" Van hielt sich die Ohren zu, und quetschte sich durch die zwei Soldaten, die Kerzengerade dastanden, und Vargas Schimpfkanonade über sich ergehen ließen. Er schaute aus dem Fenster und nach einer Sekunde völliger Verblüffung fing er hemmungslos an zu lachen. Er lachte so heftig, dass Vargas zur Erleichterung der Männer aufhörte mit Schimpfen und ebenfalls aus dem Fenster blickte. Van sah, wie auch sein Gesicht anfing zu zucken. Der Kampf schien eine Ewigkeit zu dauern, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Er drehte sich um, und schrie die Männer an. "Was steht ihr hier noch herum? Du, geh zu einem Arzt und lass dich verbinden. Und du hilf dem armen Mann da unten. Na los!" Die beiden Männer rannten davon, und auch Vargas ging los, um zu überprüfen, ob vielleicht jemand die Flüchtige erwischt hatte. Van beugte sich wieder aus dem Fenster, um sich den Anblick ganz genau einzuprägen. Sein Lehrer war aus irgendeinem Grund hinausgegangen, wahrscheinlich, um sich bei irgend einem armen Opfer über die Ungehorsamkeit des jungen Prinzen zu beschweren, der bei jeder Gelegenheit davon rannte. Als er unter dem Fenster vorbeiging, musste Merle sich gerade losgebissen haben. Sie war aus dem Fenster gesprungen, und hatte dabei mehrere Farbtöpfe umgestoßen, die ein Maler hierhin gestellt hatte, der gerade eine Pause machte. Die Farbtöpfe waren hinunter gefallen, und dem Lehrer genau ins Gesicht. Nun sah er aus wie ein begossener Pudel, der in eine Färberei geraten war. Er war über und über mit leuchtend roten, Grasgrünen, Himmelblauen und knallgelben Farbklecksen bedeckt. In seiner Wut und Verzweiflung hatte er sich gegen die Wand gelehnt, und mit den Fäusten auf die Steine geschlagen, die nun ebenfalls voll von Regenbogenfarbenen Spritzern war. Van dachte sich, dass das der lustigste Anblick war, den er jemals gesehen hatte. Und dass er jetzt wahrscheinlich einen neuen Lehrer bekommen würde. Missmutig schaute Van auf die Regentropfen, die gegen das Fenster prasselten. Da hatte er mal den ganzen Tag frei, und dann regnete es Bindfäden. Der Lehrer hatte sich wie erwartet aus dem Staub gemacht, und Vargas war wegen irgendwelchen Banditen unterwegs. Kurz gesagt, er hatte alle Zeit der Welt... und wusste nichts damit anzufangen. Er hatte auch keine Lust. Irgendwie vermisste er etwas oder jemanden. >Vargas? Der war schon öfter weg. Der Lehrer? Nein, verrückt bin ich nicht. Merle? Könnte das sein? Sie ist eine solche Nervensäge. Aber zumindest ist sie lustig, im Gegensatz zu allen anderen. Ich habe wegen ihr mehr gelacht, als in den letzten drei Monaten.< Er blinzelte, als ihn ein Sonnenstrahl ins Auge traf. Er schaute aus dem Fenster. >Es hört auf! Ich kann sogar schon wieder die Stadt sehen. Vielleicht komme ich ja doch noch raus, ohne völlig einzuweichen.< In der Tat hörte der Regen schlagartig auf. Die wenigen Tropfen, die noch in die Pfützen fielen, stammten von Blättern oder den Dächern der Häuser. Als Van jetzt das Schloss verließ, trug er nicht nur seine gute Laune, sondern auch etwas zu essen mit sich. Vielleicht war Merle ja noch am See, auch wenn sie glaubte, dass er sie verraten hätte. Er rannte durch den matschigen Wald, und betete, dass sie noch da war. Keuchend erreichte er das Ufer. Der Bach neben ihm plätscherte laut von den Wassermassen, die der Dauerregen hinterlassen hatte. "Merle? Bist du hier? Antwortete doch! Merle! Ich will dir doch nichts tun. Ich habe auch etwas zu essen mit." Aber die einzige Antwort bestand in dem Gezwitscher der Vögel in den Bäumen, die fröhlich die Sonne begrüßten. Van setzte sich seufzend in das lange, grüne Gras. Es war kalt und nass, doch das störte ihn nicht. Gedankenversunken saß er da, und die Sonne schien kräftig auf die Welt herab. Nach einer Weile beschloss er, schwimmen zu gehen. Er zog sich aus, und rannte schnell ins Wasser. Verbissen schwamm er einige Male um den See herum. Die Fische, die seine Besuche schon gewöhnt waren, wunderten sich über seine Ausdauer und blieben vorsichtshalber auf Abstand. Völlig erschöpft kam er wieder an Land, zog seine Sachen an und legte sich in das mittlerweile getrocknete Gras. Es dauerte nur Minuten, bis er eingeschlafen war. Van erwachte, als er eine Berührung spürte. "Merle?" fragte er schlaftrunken. "Falsch geraten." Sagte eine raue Stimme. Van riss die Augen auf. Er wollte sich hinsetzen, aber eine blinkende Klinge und ein hämisch grinsender Mann vor ihm belehrten ihn eines Besseren. "So ist's brav. Was meinst du?" Eine Stimme hinter ihm antwortete. "Ohne Zweifel, er ist es. Haben wir ein Glück!" Der Mann mit dem Schwert bedeutete ihm aufzustehen. Van tat wie befohlen. "Wer seid ihr? Und was fällt euch ein, wisst ihr nicht wer ich bin?" Die Worte der Männer schienen zwar das Gegenteil zu beweisen, aber vielleicht verwechselten sie ihn ja. Aber die Reaktion auf seine Worte beraubten ihn jeder Hoffnung. Der Mann vor ihm verneigte sich spöttisch, ohne ihn aus den Augen zu lassen. "Natürlich wissen wir, wer ihr seid, eure Hoheit." Die Worte trieften vor Sarkasmus. "Und deswegen werdet ihr uns jetzt auch folgen. Drosso wird sehr erfreut über euren Besuch sein." Die Männer führten Van durch den Wald, und während des Marsches hatte er Zeit, sie genau zu mustern. Zu seiner Überraschung waren die beiden Zwillinge. Das selbe, unsympathische Gesicht mit dem selben, ungepflegten Bart über einem hervorstehenden Kinn. Das dreckige Äußere seiner Entführer mit den hinterhältigen Augen schien mit ihrem Charakter überein zu stimmen, wenn er von ihrem Verhalten ihm gegenüber ausging. Schließlich hörte Van die typischen Geräusche eines Lagers. Klirren, das Schnauben von Pferden und gedämpfte Rufe kamen gedämpft durch die Blätter. Seine Entführer grüßten einen Wachposten, der es sich hinter einem Felsen gemütlich gemacht hatte, der ihn vorzüglich gegen Blicke abschirmte. Dann öffnete sich der Wald vor ihm zu einer Lichtung und dort versammelten Männer begrüßten die Ankömmlinge jubelnd. "Was habt ihr denn da für einen Fang gemacht?" "Fang ist der richtige Ausdruck. Wir haben ihn praktisch aus einem See gefischt. Er hat ein kleines Bad gehalten, und sich dann schlafen gelegt. Ich hoffe, er hatte schöne Träume, das Erwachen war sicherlich weniger schön." Grölendes Gelächter begleitete den gelungenen Scherz, worauf hin ein Riese von einem Mann aus dem größten Zelt trat. "Was schreit ihr hier so rum? Wollt ihr, dass man euch bis zum Schloss hört? Elende Bande!" Der Hüne hatte Muskeln wie ein Pferd, und im Gegensatz zu seinen Männern war seine Rüstung von hervorragender Qualität. Ohne Zweifel hatte sie ursprünglich jemand anderem gehört, wie sich deutlich an einigen Stellen zeigte, an denen sie, allerdings mehr schlecht als recht, vergrößert worden war. Vargas hätte einen Schmied, der eine solche Arbeit abgeliefert hätte unverzüglich aus dem Schloss geworfen. Bei seinem Anblick wanderten die pelzigen Augenbrauen des Anführers mehrere Zentimeter nach oben "Na, was haben wir denn da? Wenn das nicht der junge Prinz ist! Ich glaube, die Götter sind und wohl gesonnen." Die Banditen hatten Van in ein Zelt gebracht und festgebunden. Dabei waren sie an einem weiteren Gefangenen vorbei gekommen, der Van nicht unbekannt war. "Eure Majestät!" hatte der Lehrer überrascht ausgerufen, als Van an ihm vorbei gebracht wurde. Da er kein junger Blaublüter war, und dem zu Folge kein hohes Lösegeld bringen würde, musste er im Gegensatz zu Van im Freien bleiben. Van hatte absolut nichts dagegen. Der Gedanke, mit diesem aufgeblasenen Wichtigtuer an einem Ort gefangen zu sein, war das genaue Gegenteil von tröstlich. >Das müssen die Banditen sein, die Vargas sucht. Wenn er wüsste, wie nah sie Fanelia sind. Vielleicht habe ich Glück, und Vargas findet mich. Aber was soll er dann machen? Sie werden mich als Geisel benutzen. Verdammt, ich sitze hier festgezurrt, und kann nichts machen.< Verzweifelt versuchte er, die Fesseln zu lösen, aber die Stricke, mit denen er an eine schwere Truhe gefesselt war, waren viel zu stark und gut gebunden, als dass er sich befreien könnte. Resigniert gab er auf, als die Stricke sich in seine Haut zu schaben begannen. Seine Handgelenke brannten, und die Angst schnürte ihm die Kehle zu. >Warum habe ich auch nicht auf Vargas gehört? Genau deswegen sollte ich doch nie allein das Schloss verlassen!< Tränen fielen durch die staubige Luft des Zeltinneren, und Van weinte leise und verzweifelt vor sich hin. Die Tiere der Nacht ließen ihre Stimmen über das Lager schallen. Vans Tränen waren mit der Zeit getrocknet, aber seine Verzweiflung war nicht geringer geworden. Niemand würde ihn hier finden. Und das Lösegeld, das sie sich vorstellten, war ein Witz. Sie schienen Fanelia wirklich für ein reiches Land zu halten, aber wie er genau wusste, war das nicht die Wirklichkeit. Vor einem Monat erst hatte Vargas sich furchtbar aufgeregt, weil jemand "unnötigen Plunder" für den Hof gekauft hatte, und dabei hatte Van gehört, wie schlecht es stand. Wenn kein Wunder geschah, mussten Leute entlassen werden. Unter keinen Umständen könnte Vargas ein solches Lösegeld aufbringen. Die Räuber würden das für einen Trick halten und weiter wollte er gar nicht denken. Aber wie auch immer, es sah schlecht für ihn aus. In diesem Moment hörte er ein Rascheln hinter sich. Etwas kroch unter der Zeltplane hindurch. Van verrenkte seinen Hals, aber er konnte nichts sehen. Plötzlich spürte er eine Berührung an seinen Händen. Er schrie vor Schreck, aber schon beim ersten Ton legte sich etwas kleines, pelziges auf seinen Mund. "Bist du wohl ruhig? Willst du, dass sie mich auch noch kriegen?" zischte ihn eine Stimme an. "Merle?" "Ruhe!" Van konnte nicht glauben, was passierte. Es konnte einfach nicht wahr sein. "Verdammt, ist das fest." Merle hatte versucht, mit ihren Krallen seine Fesseln durchzuwetzen, aber hatte keine Erfolg. "Da vorne muss irgendwo ein Messer liegen. Sie haben damit meine Fesseln auf die richtige Länge geschnitten." Raunte er ihr zu. Vielleicht war es ja doch kein Traum. "Merle hopste zu der bezeichneten Stelle, und fand die schimmernde Klinge auf einer Kiste." Sie kam zurück, und nach ein paar Sekunden hatte sie die Stricke durchschnitten. Dann schnitt sie ihm die Fußfessel durch, und Van stand schwankend auf, leise stöhnend, als er die blutigen Handgelenke wieder bewegte. "Leise!" ermahnte ihn Merle. "Komm hier lang." Sie kroch wieder unter der Plane durch und Van hinterher. Im Schatten einiger Kisten schlichen sie sich zum Rand des Lagers. Merles Ohren zuckten dabei unentwegt in die verschiedensten Richtungen. Schließlich waren sie am Ende der Lichtung angelangt und Van wollte schon aufatmen. Doch da rief jemand hinter ihnen "Der Gefangene! Alarm!" Van warf einen panischen Blick zurück. Einer der Männer hatte sich vom Lager entfernt, um einem unaufschiebbaren Geschäft nachzugehen, und dabei hatte er sie gesehen. "Lauf!" rief Merle und zog ihn mit sich. Sie hetzten vorwärts, und dank Merles Katzenaugen liefen sie nicht gegen Hindernisse, die das Dunkel vor ihnen verbarg, im Gegensatz zu ihren Verfolgern, die ihrem Missgeschick mit lauten Flüchen Ausdruck verliehen. "Sie holen uns ein!" rief er "Wenn du nicht leise bist bestimmt!" antwortete Merle. Dann stolperte er und blieb keuchend liegen. "Steh auf! Mach schon!" Merle versuchte ihn hoch zu hieven, aber er blieb erschöpft sitzen. "Ich kann nicht mehr." "Du musst!" "Nein, muss ich nicht." Ihm fiel ein, was Vargas mal gesagt hatte "Wenn du gewinnen willst, erwarte das Unerwartete. Und mach selber etwas, mit dem der Gegner nicht rechnet." Sie waren zwei Kinder, auf der Flucht vor einer Meute Geldgieriger Männer. Sie würden erwarten, dass sie ohne zu überlegen davon rennen würden. Und genau das würden sie nicht tun. All das raste in einer Zehntelsekunde durch seinen Kopf. "Im Gegenteil. Wir bleiben hier." "Bist du verrückt?" Bevor Merle sich sagte, dass er es tatsächlich war und abhauen würde, redete er schnell weiter. "Sie werden glauben, dass wir wegrennen. Aber wir werden uns ein Versteck suchen. Du kannst viel besser sehen. Wir werden uns verstecken, wo sie uns nicht finden können, und sie vorbei laufen lassen. Wenn wir uns ausgeruht haben, schleichen wir zum Schloss. Sie werden sich keine Mühe geben, leise zu sein und du kannst sie von weitem hören. So kommen wir unbemerkt hier weg." Merle stand unschlüssig da. "Bitte vertrau mir Merle!" "Dir vertrauen? Ausgerechnet dir?" Sie wollte anscheinend noch etwas hinzufügen, aber dann, ganz plötzlich, entschloss sie sich anders. "Einverstanden. Aber wenn das schief geht, kratze ich dir die Augen aus!" Van musste lachen, unterdrückte es aber sofort wieder. Merle schaute sich suchend um, und tatsächlich fand sie einen geeigneten Platz. Mit klopfendem Herzen und kalten Angstschweiß auf der Stirn folgte Van ihr zu einem umgestürzten Baum, dessen Wurzeln ein großes Loch in den Boden gerissen hatten, als der Baum umstürzte. Sie versteckten sich, und Van schüttete modrige Erde auf sie, um sie noch unsichtbarer zu machen, was ihm einen bösen Blick von Merle einbrachte, die verständlicher Weise etwas gegen Dreck im Pelz hatte. Sie klammerten sich an die Erde. Als ihre Verfolger vorbei rannten, drückte Van seinen Kopf in die Erde. Was Merle tat, sah er nicht. Er hoffte, dass sie sich auf ihre Ohren verlassen konnten, als sie aufstand und ihm bedeutete, ihr zu folgen. Mühsam schlugen sie sich durch das Dickicht, immer wieder lauschend innehaltend. Nach Stunden erreichten sie endlich Fanelia. Der Morgen graute bereits, und die Kälte ließ Van zittern. Merle musste ihn stützen, denn er hatte sich bei einem Sturz in der Nacht seinen rechten Fuß verstaucht. Sie setzte ihn auf der Erde ab, und huschte zum Waldrand um sich umzusehen. So kurz vor dem Ziel wollten sie wirklich nicht noch erwischt werden. "Sag mal Merle, wie hast du es hier draußen eigentlich ausgehalten? Es ist doch eiskalt!" fragte Van, als sie zurück kam. "Ich habe in einer verlassenen Köhlerhütte geschlafen." "Die ganze Zeit?" Merle sagte kein Wort. "Merle?" Sie schaute ihn an, und etwas wie Traurigkeit gemischt mit Resignation lag in ihrem Blick. "Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt allein weitergehst?" Van glaubte sich verhört zu haben. "Was soll das denn heißen.?" "Hast du schon vergessen, wer ich bin? Ich bin ein Dieb, und ich bin schon einmal gefangen worden." Sie stand mit dem Rücken zu ihm da, die Hände hinter dem Körper und scharrte mit einem Fuß im Waldboden. Van sah sie verblüfft an, dann lachte er. "Das ist nicht zum lachen." Sagte sie wütend, und wollte weggehen, aber Van griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Mühsam stand er auf. "Lass mich los." Sagte Merle, und schüttelte seine Hand ab. "Merle. Glaubst du wirklich, ich würde zulassen, dass Vargas dich einsperrt?" Stürmisch umarmte er das Katzenmädchen, das stocksteif stehen blieb. Van lachte, und eine kleine Träne kullerte ihm die Wange hinunter auf Merles Schulter. "Du hast mir das leben gerettet! Dem Prinzen! Er wird nicht anders können, als dir eine Medaille umzuhängen." Merle stand still da, und schließlich fing sie zögernd an zu lächeln. "Na gut. Wenn du das sagst." Van stand glücklich vor ihr, und sah, dass auch in ihren Augen die Tränen schimmerten. "Ich würde gerne sein Gesicht sehen, wenn er mir die Medaille gibt. Ich hoffe, sie ist wertvoll." Dann warf sie sich stürmisch gegen Van, so dass beide unsanft hinfielen. "Danke Van. Weißt du, das Leben als Dieb ist nämlich nicht halb so schön, wie du vielleicht glaubst." Van umarmte sie noch einmal und sagte dann. "Wenn du willst, können wir Freunde sein. Für immer. Einverstanden?" Merle umarmte ihn noch fester, so dass ihm die Knochen weh taten. Schließlich sagte Merle leise. "Ich hatte noch nie einen Freund. Als Waise ist man allein. Man hilft sich gegenseitig, aber niemand riskiert wirklich etwas für den anderen. Ich weiß auch gar nicht, warum ich dir geholfen habe. Einem Prinzen!" Genauso leise antwortete Van "Auch ich habe keine richtigen Freunde. Als Prinz haben alle Angst vor einem. Angst, was passiert, wenn man den Prinzen ärgert, und der sich beschwert. Dabei haben sie keine Ahnung, was passieren würde. Wenn ich zu Vargas gehen würde, und ihm sagen würde, dass mich jemand geärgert hat, würde er mir wahrscheinlich eine Tracht Prügel verpassen, weil ich mir das habe gefallen lassen." Merle lachte "Das würde ich gerne sehen." "Könnte passieren. Wenn ich ihm sage, dass ich mit einer Diebin Freundschaft geschlossen habe... Also, Freunde?" fragte er ernsthaft und hielt ihr seine Hand hin. Merle wischte sich die Tränen aus den Augen und umfasste seine Hand mit beiden Pfoten. "Für Immer." Sie nickten sich wortlos zu, und Merle stand auf. "Dann komm. Ich trage dich noch das letzte Stück. Und dann... dann besuchen wir mal die Küche." Van lachte, und humpelte auf Merle gestützt zum Schloss, wo das seltsame Paar eine Menge Aufregung verursachte. Das Feuer im Kamin war fast hinuntergebrannt. Die Kinder waren von der Geschichte so gefesselt, dass sich niemand darum gekümmert hatte. "...Und seit diesem Tag sind das Katzenmädchen aus Irini und der Prinz- jetzt König- von Fanelia die besten Freunde. Vargas hat sich mit der Zeit an ihren ungestümen Charakter gewöhnt, und auch für die Arbeiter im Schloss wurde sie zu einem vertrauten Anblick." Beendete der Erzähler seine Geschichte. "Aber ihr solltet jetzt nach Hause gehen. Es ist spät." Mit dem üblichen Gemurre standen die Kinder auf und verließen in kleinen Gruppen das Haus. Nur Neela blieb noch. "Hast du noch etwas auf dem Herzen, Kind?" fragte der Erzähler "Weiß man inzwischen, was aus Merles Eltern geworden ist?" Der alte Mann schüttelte den Kopf. "Es gibt keine Spur von ihnen. Weder von ihnen, noch von den anderen Kindern, die damals mit ihr aus Irini hierher gebracht wurden." Neela stand unschlüssig da. Irgendetwas schien in ihr zu arbeiten. Dann hellte sich ihr Gesicht auf, und beinahe fröhlich verabschiedete sie sich. Der Geschichtenerzähler sah ihr verwundert nach, und lächelte dann still vor sich hin. >Vielleicht war das gerade der Anfang einer neuen Geschichte.< dachte er sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)