Etwas endet, etwas beginnt von Cheelm ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Fröhliches Kindergeschrei klingt durch die geschlossenen Fensterscheiben als ich erwache und müde ins kalte Licht der Wintersonne blinzel. Ich fühle mich schlapp und ausgelaugt, wie jeden verdammten Tag. Das helle Kreischen der Kinder ringt mir in den Ohren, oh wie ich es verabscheue. Ich knirsche mit den Zähnen während Hass und Verachtung in mir aufsteigen. "Damit Vitalität und Lebensfreude von den Jungen und Gesunden auf die Alten und Kranken übergeht." Der Satz geht mir nicht mehr aus dem Kopf, ebensowenig wie das aufgesetzte, milde Lächeln der Krankenschwester die mit eben jenem Satz erklärt hatte warum direkt neben dem großen Krankenhauskomplex ein kleiner Kindergarten gebaut worden war. Ein bitterer Geschmack macht sich in meinem Mund breit. Wer auch immer diese idiotische Idee gehabt hatte war ganz sicher nie in seinem Leben ernsthaft krank gewesen. Sonst wüsste er, oder sie, wie sich Sterbende, wie Menschen wie ich, sich fühlen wenn ihnen stets vor Augen geführt wird was für sie doch unerreichbar ist und bleibt. Was für ein morbider Scherz. Ich weigere mich aus dem Fenster zu sehen, die Blagen dabei zu beobachten wie sie umhertollten, fröhlich, unbeschwert und frei von jeglicher Sorge. Es ist der reinste Hohn mir tagtäglich, immer wieder und wieder, zu zeigen was ich alles verloren hatte. Jedes Kinderlachen versetzt mir regelrecht einen Stich ins Herz, weckt mein Bedauern, welches ich doch beerdigt zu haben glaubte. Langsam hebe ich meinen rechten Arm, führe ihn zum Kopf und fahre mir über das geschorene Haupt. Früher hatte ich langes Haar, dass mir nach hinten über die Schulter fiel. Meine Freunde zogen mich immer damit auf dass man mich von hinten für eine Frau halten konnte aber meiner Freundin hatte es gefallen. Ich verharre mit der Hand an meinem Kopf während flüchtige Erinnerungen an sie an meinem geistigen Auge vorbeiziehen. Bilder, Farben und Gerüche, Eindrücke und Emotionen. Nun ist sie fort, ebenso wie mein langes, pechschwarzes Haar. Doch nicht nur Sie, auch Freunde und Familienmitglieder haben sich von mir abgewandt, haben mich aus ihrer Gesellschaft, ja aus ihrem Denken selbst verbannt, fast als wäre ich der Tod selbst. Ich kann sie beinahe verstehen. Der Tod ist ein delikates Thema und es ist einfacher alles was nach ihm riecht wie eine faule Frucht zu entsorgen als sich mit dem übermächtigen Übel auseinanderzusetzen. Doch die Tatsache dass ich sie verstehe macht ihren Verrat an mir nicht weniger bitter. Nun besuchen mich nur noch meine Eltern. Selbst meine ehemals besten Freunde kommen nicht mehr sondern lassen stattdessen leere Mitgefühlsbekundungen und Wünsche über meine Eltern ausrichten ebenso wie die fadenscheinigen Ausreden für ihre Abwesenheit. Alle haben sie zu tun. Prüfungen stehen an und Seminararbeiten müssen geschrieben werden. Niemand hat Zeit mir beim sterben zuzusehen. Die meisten von ihnen haben mich, wie auch meine Freundin, wohl direkt mit der Diagnose beerdigt. Zwei bis Drei Monate. Ich lache heiser und gequält, oder zumindest versuche ich es, doch meiner Kehle entweicht nur ein trockenes Schluchzen. Wieder taucht ihr Gesicht in meinen Erinnerungen auf und löst ein Wechselbad der Gefühle aus. Trauer, Wut, Bedauern und blanke Resignation. Hätte sie nicht wenigstens so anständig sein können zu warten bis ich tot bin um sich einen neuen Freund zu suchen? Ein weiterer Satz hallt durch meinen Kopf, schneidend kalt und voller Hohn. "Ich wollte nicht noch länger warten." Der zweite Monat im Krankenhaus hatte gerade begonnen als sie mich besucht hatte, mit einem jungen Mann an ihrer Seite den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Allein die Erinnerung an ihn bringt mein Blut zum kochen. Sie waren Hand in Hand eingetreten, doch er hatte losgelassen und an der Tür gewartet während sie zu mir ans Bett getreten war und meine Hand ergriffen hatte. Ein belustigtes Schmunzeln lag auf seinen Lippen während er mich gemustert hatte wie ein exotisches Tier im Zoo. Sein ganzer Gesichtsausdruck schrie nach purem Hohn und reinster Schadenfreude ohne den kleinsten Funken Mitleid oder Mitgefühl. "Ich wollte nicht noch länger warten...." Die Erinnerungen verschwimmen doch der Hass bleibt. Am liebsten hätte ich sie beide grün und blau geschlagen doch ich war damals schon zu schwach und erschöpft. Wortlos und mit leerem Blick, nicht in der Lage zu verstehen was gerade vor meinen Augen geschah, hatte ich den Worten gelauscht die meine große Liebe mit zitternder Stimme sprach. Mit jedem neuen Wort, mit jeder neuen Silbe schien ein weiterer Teil von mir zu sterben bis ich nur noch eine leere Hülle war. Unfähig zu antworten hatte ich sie angestarrt, ihr beschämtes Gesicht, ihre zitternden, schweißnassen Hände die sie auf die meinen gelegt hatte. Als das Schweigen zwischen uns für sie zu unerträglich geworden war war sie aufgestanden, hatte eine brüchige Verabschiedungsfloskel gehaucht, mir den Rücken zugewandt und war gegangen. Ich blieb zurück, alleine und verlassen. "Ich wollte nicht noch länger warten." Um mich abzulenken setze ich mich auf und werfe nun doch einen Blick aus dem Fenster. Kaum mehr als 50 Meter von mir entfernt ist ein kleiner Spielplatz der Teil des Kindergartens ist. Einige Jungen rutschen mit spitzen Jubelschreien eine kleine Rutsche hinab in einen großen Sandkasten. Sehnsucht überkommt mich. Wie gern wäre ich nochmal ein Kind. Einfach in den Tag hineinleben, der Existenz des Todes nicht bewusst. Ich komme jedoch nicht dazu mein Wunschdenken weiterzuspinnen denn es klopft an der Tür und ohne auf eine Reaktion zu warten tritt ein Mann herein den ich inzwischen nur zu gut kenne. "Wie fühlst du dich?" fragt der Mann, der wohl Anfang vierzig sein dürfte, und seine gegeelten Haare stets nach hinten gekämmt hat. Eine Frage die er mir jedes Mal stellt wenn er das Zimmer betritt und in selber, gewohnter Routine antworte ich ihm auch: "Beschissen, wie immer." Er seufzt nur und lässt sich auf einen Stuhl vor meinem Bett sinken. Als mich der Seelsorger das erste Mal besuchte warf ich ihn direkt aus dem Zimmer. Ich wollte keinen Berufsheuchler, niemanden der dafür bezahlt wurde Mitgefühl für mich vorzutäuschen. Doch mit jedem Freund, jedem Klassenkamerad und jedem Bekannten der aufhörte mich zu besuchen war es angenehmer geworden eine Person zu haben mit der man reden konnte und die sich regelmäßig eine Stunde Zeit für einen nahm. "Hast du Schmerzen?" "Nein." antworte ich wahrheitsgemäß und wende meinen Blick vom Fenster ab. "Gut." erklärt er mit einem sanften Lächeln und ich glaube ihm sogar dass es ein ehrliches Lächeln ist. Wir unterhalten uns über das selbe Thema wie jeden Dienstag und Donnerstag wenn er zu mir kommt: Den Tod. Darüber wie er Teil allen Lebens ist und darüber wie ihm niemand entkommt, so reich und mächtig man auch sein mochte. Der Tod war absolut und endgültig. "Nichts in dieser Welt ist sicher außer dem Tod und den Steuern." schrieb Benjamin Franklin einmal, und er hatte recht. Für Gesunde mag es grotesk erscheinen wenn man mit Sterbenden über den Tod spricht, ist der Tod doch ein Tabuthema unserer modernen Gesellschaft und das Verdrängen der Endlichkeit eine hohe Kunst, aber mir half es. Die pure Tatsache dass der Tod unausweichlich war, ob ich nun jung starb oder alt, hatte irgendwie etwas tröstendes. Gegen Ende der Stunde kommen wir auf Religionen zu sprechen und ihre Interpretationen vom Tod und dem was folgt. Himmel und Hölle, Verdammnis und Paradies. Ich kann nur müde lächeln wenn ich diese Worte höre. Ich glaube nicht dass es eine gottgeschaffene Religion gibt. Religionen wurden von Menschen für Menschen geschaffen. Nichts an ihnen ist göttlich. Sie sind nur eine Perversion der Ängste und unbeantwortbaren Fragen. Dennoch glaube ich nicht dass mit dem Tod alles endet. Ich glaube, oder vielleicht zwinge ich mich auch nur zu glauben, dass jeder Mensch eine Seele hat. Das Leben ist ein ewiger Kreislauf aus Geburt und Tod und wer weiß, vielleicht wird die Seele wiedergebohren wenn der Körper stirbt, vielleicht wird sie Teil des endlosen Kreislaufs und vielleicht, vielleicht hatte meine Seele in ihrem nächsten Körper mehr Glück. Leise zieht der Seelsorger die Tür hinter sich zu und Stille breitet sich aus. Ich schließe die Augen und lausche andächtig. Das Kindergeschrei ist inzwischen verstummt, vermutlich ist es bereits Nachmittag. Ich bemühe mich gar nicht erst auf die Uhr zu schauen. Was für eine Bedeutung hat die Uhrzeit schon für jemanden wie mich? Während sich die angenehme Ruhe wie ein Schleier über mich legt denke ich darüber nach als was oder wer meine Seele wohl wiedergeboren werden könnte. Möglicherweise ein Wissenschaftler der die Physik revolutioniert oder vielleicht ein weltberühmter Sportler? Ich hoffe zumindest stark dass der nächste Körper länger hält als 23 Jahre... Ich spüre wie ich falle, mein Innerstes zieht sich zusammen, verkrampft sich, während ich mit den Tränen kämpfe. 23 Jahre... Es war einfach so unfair, so ungerecht. Womit hatte ich, hatte meine Seele, das verdient? Noch immer habe ich mich nicht völlig unter Kontrolle, habe noch nicht gänzlich akzeptiert was unausweichlich ist. Ich schniefe und bin froh in diesem Moment allein zu sein. Ich bin jung, wissbegierig und lebensfroh aber ich bin ein Sklave meines Körpers, dazu verdammt mit ihm unterzugehen ohne eine Chance auf Rettung. Meine Seele, mein Wesen, die reinste Essenz meines ganzen Daseins will nichts weiter als leben aber ich bin gefangen in einem sterbenden Körper. Wieso? Wieso ist es anderen vergönnt ein normales Leben zu leben aber nicht mir? Was habe ich dieser Welt getan dass sie mich so behandelte? Welche Regel der Natur verbietet es mir alt zu werden? Welche Logik hat das System der Welt dass es mich in einem solchen Ausmaß bestrafte? Wieder steigt eine dumpfe Wut in mir hoch. Eine Wut auf alles lebende. Ich greife zum Nachttisch und ziehe mit zitternden Fingern eine Packung Zigaretten aus der obersten Schublade. Ich habe nie geraucht, immer abgelehnt wenn meine Freunde mir einen der glimmenden Stengel anboten weil rauchen ja so "cool" sei. Doch jetzt, jetzt wo alles egal ist, flüchte ich mich oft in den beißenden Geruch des Tabaks der meinen überquellenden Emotionen Linderung verspricht. Eigentlich darf im Krankenhaus nicht geraucht werden, aus Brandschutzgründen, aber was interessiert mich das schon. Die Schwestern wissen dass ich rauchte, der Seelsorger weiß es und der Arzt weiß es auch. Niemand hat sich die Mühe gemacht es mir zu verbieten. Stattdessen hatte eines Tages ein Aschenbecher auf dem Nachttisch gestanden. Ich inhaliere den warmen, kratzenden Rauch so tief ich kann und stoße ihn in einem einzigen langen Atemzug wieder aus. Nur mit Mühe kann ich den in mir aufsteigenden Hustenreiz unterdrücken und ich greife rasch zum Wasserglas um Abhilfe zu schaffen bevor ich den nächsten Zug nehme. Langsam beruhige ich mich und eine tiefe Gleichgültigkeit breitet sich in meinem Innern aus. Ich versuche nicht zu denken, starre stattdessen konzentriert auf die schneeweiße Wand an der ein Bild einer idyllischen Waldlandschaft hängt. Bald, bald schon wird dies alles ein Ende haben. Kapitel 2: ----------- Tage vergehen, ziehen an mir vorbei wie die Wolken vor meinem Fenster. Ich spüre wie mich meine Kräfte mehr und mehr verlassen. Es ist ein seltsames Gefühl. Jeden Tag wache ich auf, im selben Bett, im selben Raum, mit der selben beschissenen Aussicht aber jeden Tag bin ich müder, matter, lebloser. Das Leben fließt stetig aus mir heraus und ich kann nichts dagegen tun. Ich bin nichts als ein hilfloser Zuschauer meines eigenen Verfalls. Obwohl ich keine Schmerzen habe fällt mir jede Bewegung schwerer. Jedes heben des Arms, jedes schließen der Hand, selbst das Atmen wird immer mehr zu einem Kraftakt der mich aufzuzehren droht. Ich meine förmlich spüren zu können wie mein Körper langsam kalt und steif wird. Es ist früher Morgen und durch das gekippte Fenster strömt kühle Luft ins Innere des Zimmers. Mit einem resignierten Seufzen stoße ich den trockenen Zigarettenrauch aus und unterdrücke den Hustenreiz als es an der Tür klopft. Ich gebe keine Antwort. Selbst wenn ich eine geben würde wäre das Ergebnis ja doch das Selbe, unabhängig davon wie sie ausfiel. Mit leerem Blick starre ich aus dem Fenster während sich die Tür öffnet und eine Gruppe von Personen eintritt. Ich wende mich ihnen nicht zu, grüße sie nicht, ziehe stattdessen an meiner Zigarette. Aus den Augenwinkeln sehe ich die vertraute weiße Arztkutte doch die Stimme die mich heute anspricht ist mir fremd. Überrascht drehe ich mich um, auch wenn ich eigentlich unwillens bin meine Aufmerksamkeit von der dreckigen Fensterscheibe zu nehmen. Ich erkenne die beiden Schwestern wieder die hinter dem Arzt stehen, doch den jungen Mann, der mich kritisch beäugt, sehe ich zum ersten Mal. "Machen sie die Zigarette aus!" befiehlt mir der junge Arzt prompt und in scharfem Tonfall. Der Befehlston verärgert mich und ohne lange zu überlegen erwiedere ich: "Halten sie sich doch die Nase zu wenn es sie stört." Im Bruchteil eines Augenblicks hat der Arzt, der eben noch in der Tür stand, das komplette Zimmer durchquert und ist über mir. Behutsam aber dennoch mit Nachdruck fischt er sich die Zigarette aus meiner Hand und drückt sie im Aschenbecher aus, zerquetscht sie regelrecht sodass der unverbrannte Tabak aus dem dünnen Filterpapier platzt. Ich kann nicht reagieren. Er ist zu schnell, zu agil, zu... gesund. Ich habe plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge und unverhohlene Abneigung steigt in mir auf. "In den Zimmern darf nicht geraucht werden. Dieser Ort soll Leute gesund machen und nicht krank." belehrt er mich während er wieder einen Schritt zurücktritt. "Ihr Kollege war mir sympathischer," erwiedere ich genervt "kann der nicht kommen während sie mit Greenpeace Wale retten gehen?" Die Spitze trifft den Arzt unerwartet denn seine Gesichtszüge entgleiten ihm für einen Moment vom aufgesetzten Lächeln hin zu einem aufrichtigen Ausdruck der Verblüffung. "Mein Kollege ist im Urlaub." erklärt er langsam während seine Gesichtsmimik wieder zum vorherigen, aufgesetzen Ausdruck zurückkehrt. "Hat er ihnen nichts davon gesagt?" Jetzt wo er es anspricht meine ich mich finster an etwas derartiges Erinnern zu können, allerdings liegt mich nichts ferner als dem unliebsamen Besucher recht zu geben daher zucke ich nur mit den Schultern. "Vielleicht hat er gedacht ich machs nicht mehr so lange." Wieder entgleist dem jungen Mann die Gesichtsmuskulatur. Besonders gut schien er diese ja nicht unter Kontrolle zu haben. Dieses Mal ist er jedoch sichtbar wütend. Der verärgerte Ausdruck in seinem Gesicht überrascht mich, verschafft mir aber eine gewisse Befriedigung. Ich muss grinsen. Seine Atmung wird schwerer und für einen Augenblick macht sich unangenehme Stille im Raum breit bevor er schließlich wieder das Wort erhebt. "Sie sollten über sowas keine Witze machen" erklärt er gepresst bevor er sich mit einem eisernen Schweigen daran macht Spritzen und Medikamente vorzubereiten. Ich lasse die Prozedur widerspruchslos über mich ergehen und mache mich wieder daran mit leerem Blick aus dem Fenster zu starren. Nach etwa 10 Minuten Blut abnehmen, Spritzen und ähnlich sinnlosem medizischen Ritualismus sind sie fertig. Meine Augen liegen inzwischen lauernd auf der oberen Schublade meines Nachttischs in der meine Zigaretten liegen doch er Arzt scheint Gedanken lesen zu können. Wieder bin ich machtlos während er sich die halbvolle Schachtel greift und an eine der Schwestern weiterreicht. "Klingeln sie wenn sie rauchen wollen, dann fährt sie eine Schwester mit dem Rollstuhl nach draußen. Ich wünsche noch einen schönen Tag." Und damit ist er auch schon aus der Tür und außer Reichweite sämtlicher Verwünschungen die ich ihm gerne entgegenschleudern würde. Keine zehn Minuten später betätige ich die Klingel und warte bis sich der etwas beleibtere Körper der diensthabenden Schwester durch die Tür schiebt. "Ich würde gerne rauchen." erkläre ich ihr mit zuckersüßer Stimme. "Wären sie so nett und bringen mich nach draußen?" "Kein Problem." antwortet die Frau kurz angebunden und macht sich in gewohnter Routine daran den Rollstuhl an mein Bett zu schieben. Mithilfe des Haltegriffs über meinem Bett ziehe ich mich selbst in die Waagrechte, doch die Beine gehorchen mir nicht mehr. Kommentarlos hievt mich die Schwester auf den Rollstuhl und legt meine Füße, die kaum noch mehr also loses Beiwerk meines Körpers sind, auf die vorgesehenen Klappen. Mit gewohnter Methodik wickelt sie mich noch in eine Decke bevor wir aufbrechen damit ich ihr draußen nicht erfriere. In den Fluren herrscht gespenstische Stille. Nur die leisen Schritte der Schwester und das mechanische Quitschen des Rollstuhls sind zu hören. Das Schweigen wird zunehmend unangenehmer aber ich wage es nicht die Initative zu ergreifen und etwas zu sagen, ich wüsste auch gar nicht was. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis wir den Krankenhauseingang erreichen und die Glastüren sich mit einem leisen Surren zur Seite schieben um uns den Weg nach draußen freizugeben. Sie bugsiert mich ein Stück in den Krankenhausgarten hinein, übergibt mir die halbvolle Zigarettenpackung in der sich auch mein Feuerzeug befindet und lässt mich dann mit einem gemurmelten "Bin in 10 Minuten wieder da." zurück. Mit einem langgezogenen Seufzen stecke ich mir eine Zigarette an und werfe meinen Kopf in den Nacken. Obwohl der Himmel strahlend blau ist geht ein kühler Wind. Ich schließe die Augen und genieße die zarte Berührung der kühlen Briese auf meiner Haut. Ich inhaliere die frische Luft so tief ich kann durch die Nase auch wenn meine Lunge mit stechendem Schmerz auf deren ungewohnte Temperatur reagiert. Ich meine einen seltsamen, aber nicht unangenehmen, Geruch in der Luft wahrzunehmen. Es fällt mir schwer ihn einzuordnen, ihn zu beschreiben. Vielleicht riecht die Luft hier draußen auch nur so gut weil sie nicht so desinfikationsmittelgeschwängert ist wie die im Innern des Krankenhauses. Langsam reiße ich mich vom Anblick dies tiefblauen Himmels los und bemerke dass eine Person vor mir steht. Wäre die Person von normaler Größe wäre sie mir sicher gleich aufgefallen aber die Person die vor mir steht und mich mit großen Augen anstarrt ist ein Kind. "Hast du irgendein Prob..." meine knurrende, beinahe bösartige, Stimme gerät ins Stocken. Ein Teil von mir weigert sich zuzulassen dass ich so tief sinke dass ich meine aufgestaute Wut an einem kleinen Kind auslasse. Schweigend starre ich den Jungen an der wohl so um die 5 Jahre alt sein wird und vermutlich aus dem angrenzenden Kindergarten ausgebüchst ist. In seinen großen Augen liegt keinerlei Hohn, kein Spott und nicht ein Hauch von Abscheu, nur ehrliche, aufrichtige Neugier und ein wenig Scheu. "Hallo" sagt er schüchtern und mit piepsiger Stimme, die darauf schließen lässt dass er sich selbst nicht so recht wohl in seiner Haut fühlt. Überrascht und unschlüssig wie ich reagieren soll wiederhole ich den Gruß unsicher und mit brüchiger, schwacher Stimme. Der Junge scheint dies als Zeichen zu deuten dass ich ihm freundlich gesinnt bin und kommt einen Schritt näher, mich neugierig von oben bis unten musternd. "Wer bist du?" Drei Worte, eine simple Frage aber sie bringt mich dennoch völlig aus dem Konzept. Wer bin ich? "Ich bin ein junger Mann der im sterben liegt..." möchte ich sagen doch ich zögere. Würde er die Antwort überhaupt verstehen? Wer bin ich denn eigentlich. Mir fällt nichts ein. Gibt es nichts anderes dass mich ausmacht als mein baldiger Tod? Waren Charaktereigenschaften, Gefühle und Erfahrungen angesichts des herannahenden Endes überhaupt von Bedeutung? Urplötzlich gelange ich zu der Erkenntnis dass ich mich nur noch über meinen Tod definiere. Ich fange an zu grübeln. Wie hätte ich mich wohl auf die Frage geantwortet bevor ich die Diagnose bekommen hatte? Wie hätte ich mich beschrieben? Ein junger Student, etwas bequem und faul, mit einem Faible für Videospiele und Pizza? Normal? Normal! Das ist das einzige Wort das mir einfällt und in mir widerhallt. Ich war normal gewesen, der Inbegriff des Durchschnitts. Was bin ich jetzt? Eine Abnormität, eine ungewollte Randerscheinung, eine Entartung der Normalität. Der normale Mensch hat sein Leben. Das Leben verbindet alle Menschen. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner, die minimalste Konstante die sie sich alle teilen. Doch ich stehe außerhalb dieses Kreises. Ich habe kein Leben zu leben, nur einen Tod der auf mich wartet. Mein ganzes verbleibendes Leben ist bestimmt vom Tod. Ich schweige dass Kind an doch es lässt sich nicht irritierend und erwiedert meinen Blick in starsinniger Erwartung. Mit einem geschlagenen Seufzen gebe ich schließlich nach und nenne meinen Namen. Auch der Junge stellt sich vor, sein Name ist Nathan, bevor er mir die Hand entgegenstreckt. Wieder zögere ich einen Moment bevor ich schließlich mitspiele und ihm langsam meine zitternde Hand reiche. Mein Händedruck ist schwächer als seiner und macht mir schmerzhaft bewusst wie sehr mein Körper bereits abgebaut hat. Auch Nathan scheint dass zu bemerken denn er mustert mich erneut, diesmal jedoch kritisch und ohne unbeschwerte Neugier. "Du bist krank." Es ist eine Feststellung, auch wenn er es wie eine Frage klingen lässt. Ich nicke kraftlos. "Wirst du sterben?" Die Überraschung über diese plötzliche Frage geht in der mir aufsteigenden Resigination unter. Ich starre zu Boden, weiche seinem Blick aus und nicke leicht. "Bist du schon aufgeregt?" Für den ersten Moment meine ich mich verhört zu haben. Während mir meine Kinnlade entgleist versucht mein Kopf verzweifelt das Chaos in meinen Gedanken unter Kontrolle zu bekommen doch so sehr ich es versuche, ich kann keinerlei Sinn, keinerlei Kontext ausmachen. Völlig fassungslos starre ich den Jungen an der mit einem unverblümt unschuldigen Gesichtsausdruck zu mir emporsieht, vermutlich in Unkenntnis über das Ausmaß des von ihm gesagten. "Aufgeregt?" wiederhole ich heiser und mit kratziger, aufgebrachter Stimme. "Ja," erklärt das Kind, als wäre es die normalste Angelegenheit der Welt. "Wenn man stirbt geht man auf eine Reise, das hat mir meine Mami erzählt als Omi gestorben ist? Findest du reisen nicht aufregend?" Ich bin perplex, völlig entgeistert und verstrickt in einem Gewirr aus Gedanken und Emotionen. Ich habe einiges an der Erklärung der Mutter auszusetzen aber mir fällt selbst keine bessere, kindgerechte Erörterung ein. Ich weiß nicht was ich sagen soll, weiß nicht was ich denken soll und bin nicht mal nahe daran meine Gedanken geordnet zu haben als sich von hinten Schritte nähern. Nathan verabschiedet sich mit einem kurzen "Tschau"und verschwindet so schnell ihn seine kurzen Beine tragen richtung Kindergarten. Einige Sekunden später schiebt sich die Gestalt der stattlichen Schwester an mir vorbei und mustert mich abschätzig. "Fertig geraucht?" Ich nicke nur und schweige. Ich erwarte dass sie etwas zu dem Jungen sagt denn sie auf jeden Fall gesehen haben muss doch ihre Lippen bleiben geschlossen und während man mich die gefließten Krankenhausflure entlangschiebt frage ich mich ob der Knabe wohl öfter aus dem Kindergarten ausbüchst um Patienten seltsame Fragen zu stellen. Kapitel 3: ----------- Matt scheint das Mondlicht durch das große Wandfenster. Es ist eine kalte, sternenklare Nacht und ich liege regungslos in meinem Bett und starre zum tiefschwarzen Nachthimmel empor. Trotz der dünnen Staubschicht auf dem Glas ist der Ausblick beeindruckend. Aus irgendeinem Grund bin ich tiefenentspannt. Es scheint als würde mich der Anblick des Sternenhimmels beruhigen. Eine Weile lausche ich meiner eigenen, regelmäßigen Atmung ehe ich die vergangene Woche noch einmal vor meinem geistigen Auge Revue passieren lasse. Drei Tage ist das Gespräch mit dem Kind nun her. Ich war noch einige male draußen beim rauchen doch der Junge tauchte kein weiteres Mal auf. Ich habe inzwischen viel nachgedacht, mir viele Fragen gestellt, viele Theorien kreirt und wieder verworfen. Noch immer beschäftigt mich das Gespräch mit dem Kind. Hatte er vielleicht sogar Recht? War der Tod nichts weiter als eine Reise? Irgendwie gefällt mir der Gedanke. Der Tod als Anfang etwas neuem, etwas besserem. Während sich mein Blick in den zahllosen leuchtenden Himmelsgestirnen verliert gehen meine Gedanken auf Wanderung. Ist der Tod womöglich nur eine weitere Phase unserer Existenz? Geht das Leben danach vielleicht einfach weiter, in einer anderen Art und Weise? Warum haben wir solche Angst vor dem Tod? Schließlich ist er nicht zwangsläufig mit Schmerzen verbunden. Ist es nicht viel mehr die Ungewissheit, unser Mangel an Kenntnis, der uns dazu bringt den Tod zu fürchten? Fürchtet der Mensch nicht aus Prinzip alles was ihm fremd ist? Es erscheint nur logisch dass der Tod nichts als ein weiterer Schritt unserer Existenz ist. Die Seele geht auf eine Reise, der Körper bleibt zurück. Ich frage mich wohin mich meine Reise führen wird. Den Himmel? Die Hölle? Ob eine der zahllosen Religionen der Wahrheit entspricht? Ist es denn von Bedeutung? Schon bald werde ich es erfahren. Ich muss lächeln als ich bemerke dass ich fast ein wenig aufgeregt bin, beinahe als könnte ich es nicht mehr erwarten. Langsam macht sich ein pochender Schmerz in meiner Brust bemerkbar. Was für ein grotesker Witz, welch makabere Wendung des Schicksals es doch ist dass ich nun, im Angesicht des Todes, Hoffnung und Zuversicht finde. Ein Gedanke materialisiert sich in meinem Kopf, wird zum Strohhalm an den ich mich klammere. Möglicherweise liegt ja der Sinn meiner Existenz nicht in diesem Leben sondern in dem was nun folgt. Ich kann nicht anders als darauf zu vertrauen, daran zu glauben, dass ich mehr bin als ein Kollateralschaden der menschlichen Rasse. Die tröstende Aussicht auf einen Sinn, einen Grund, eine Bestimmung wärmt mich, stützt mich, gibt mir Kraft. Ich spüre wie mein Körper beginnt schwerer zu werden und mich nach unten zieht. "So fühlt sich also der Tod an." denke ich in aufrichtigem Erstaunen. Es fühlt sich tatsächlich so an als würde es einen Teil von mir dem Himmel entgegenziehen während mein Körper versucht ihn zurückzuhalten. Es ist ein reißen und ziehen, doch es ist verursacht keinerlei Schmerz. Es kommt mir vor als werde ich von zwei Seiten am T-Shirt gezogen. Ich horche in mich hinein, höre meinem Körper beim sterben zu. Der Druck, der plötzlich auf meinem Körper zu lasten scheint ist immens. Ich habe Probleme zu atmend doch statt in eine destruktiven Zustand der Panik zu verfallen bleibe ich ruhig. Vor meinen Augen verschwimmt die Konturen meiner Umgebung. Farben verblassen und werden zu einem dunklen Grau. Ich kann nichts mehr erkennen, nur das Leuchten der Sterne bricht durch die graue Masse die mein gesammtes Sichtfeld auszufüllen beginnt. Meine Atmung gleicht inzwischen mehr einem Röcheln und ich kann kaum noch meine Augen offen halten. Etwas endet, etwas beginnt. Ein erfülltes Lächeln ziert meine blassen Lippen während ich mich langsam von meinem Körper losreise, mich von Fleisch und Knochen löse. Dies ist nicht das Ende. Dies ist ein neuer Anfang. Eine neue Reise. Ein neues Abenteuer. Eine neue Suche nach dem Sinn. Mit etwas Glück ist sie dieses mal von Erfolg gekrönt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)