Besuch mich im Schlaf von Gmork (SJ - "All is forgotten") ================================================================================ 3. -- Immer, wenn der Wecker klingelte und sein erster, plumper Versuch ihn auszuschlagen fehl ging; immer, wenn er sich schmerzhaft seinen Kopf an der Schräge stieß und er sich, verschlafen grummelnd, mit seiner Hand durch die widerspenstigen Haare fuhr; immer, wenn er, kaum etwas sehend, ins Badezimmer taumelte, um einen Schluck Leitungswasser zu trinken; immer, wenn er erkannte, dass er mal wieder viel zu spät dran war und hastig seine sieben Sachen für die Schule packte; immer dann hatte er diesen Geruch in der Nase. Noch bevor er das erste milde Licht oder den schrillen Alarmton seiner kleinen, lästigen Uhr wahrnahm; bevor er zum Tagesanfang die Augen aufschlug, so verriet ihm immer der Geruch, dieser verdammte Geruch, dass er wach war und aufstehen musste, um in einen neuen, stressigen Schultag zu starten, der irgendwann, viele Stunden später, beim Zocken im Spieleladen von Yugis Opa enden würde. Er wusste nicht, wann er ihn zum ersten Mal wahrgenommen hatte, doch anfangs hatte er versucht, es zu ignorieren. Hatte sich einbilden wollen, dass dort nichts war. Kein penetranter Geruch, der ihn jeden Morgen aus dem Schlaf riss und dabei doch nicht so lästig war, wie er sich immer wieder einredete. Oder glaubte. Mittlerweile musste er sich eingestehen, dass er diesen Duft mochte – auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie man an dieser grotesken Mischung aus ungemahlenen Kaffee, Pfefferminz, Benzin und Plastik tatsächlich Gefallen finden konnte. Und doch war er gezwungen, zuzugeben, dass er, immer wenn er abends in sein perfekt gemachtes Bett stieg, sich auf den nächsten Morgen freute, nur um wieder diesen Geruch wahrzunehmen; gleichzeitig beschlich ihn jeden Abend die Angst, am nächsten Tag ohne ihn aufzuwachen. Er hatte, wenn man es so nennen konnte, eine unbegreifliche Sucht entwickelt. Jeden Abend hatte er das Gefühl, nicht allein schlafen zu gehen. Jeden Morgen war ihm so, als wäre jemand heimlich in sein Bett gestiegen und dann noch vor Tagesanbruch wieder verschwunden. Und so seltsam es klang, seitdem fühlte er sich weniger einsam. Als hätte er jemanden an seiner Seite. Vielleicht eine Familie, denn die hatte er, außer seiner Schwester, nie gehabt. Joey Wheeler hatte seinen Wecker einmal zu viel ausgeschlagen und war nun dabei, sich die Lunge aus dem Körper zu rennen, um bestenfalls noch halbwegs pünktlich oder schlimmstenfalls mit einer Verspätung von hoffentlich nur wenigen Minuten im Klassenzimmer zu stehen. Die Hefte und Stifte in seinem Rucksack klapperten im Takt seiner ausladenden Schritte, ungekämmte blonde Haare fielen ihm nervig in die Stirn und obwohl es ein recht kühler Morgen war, hatte er das Gefühl, seine komplette Schuluniform durchgeschwitzt zu haben. Irgendwo in der Ferne schlug eine Uhr acht Mal. Die erste Stunde hatte soeben begonnen, was ihm einen Fluch, dessen Worte lieber nicht wiederholt gehörten, entlockte. Er befand sich noch nicht einmal ansatzweise in der Nähe des Schulgeländes - was seinen Aussichten, bestenfalls noch halbwegs pünktlich oder schlimmstenfalls mit einer Verspätung von hoffentlich nur wenigen Minuten im Klassenzimmer zu stehen, schief grinsend den Garaus machte. Und bei Gott, Joey Wheeler wusste ganz genau, zu wem dieses Grinsen gehörte. Dieses spöttische, arrogante, herablassende... verfluchte Grinsen, das ihn bei jeder sich bietender Gelegenheit aus hämischen blauen Augen anfunkelte. Die Augen, die regelmäßig seinen Nacken durchbohrten, wenn er kippelnd auf seinem Stuhl ganz vorne an der Fensterfront saß und sich mal wieder nicht auf die Formeln und Gleichungen an der Tafel konzentrieren konnte. Der strenge Blick, der ihn provozierte und dessen Eigentümer genau wusste und immer wissen würde, wie er ihn aus dem Konzept bringen konnte. Der Blick – und sein Besitzer – den er hasste und von dem er auf unerklärliche Art und Weise trotzdem irgendwie abhängig war. Joey Wheeler war eine ehrliche Haut und gab so Einiges in seinem Leben zu. Er stand zu seinen Fehlern und brüstete sich lautstark mit seinen Erfolgen - jedoch, dass es ihm Spaß machte, sich mit Seto Kaiba anzulegen, würde er niemals jemandem, nicht einmal seinen besten Freund Yugi, erzählen. Zwar würde er es vor allen anderen abstreiten können, aber leider nicht vor sich selbst. Er liebte es mit ihm zu streiten. Jeder, der die beiden zusammen sah, war sich sofort im Klaren, dass sie sich nicht ausstehen konnten und vermutlich niemals können würden. Dass sie jede Möglichkeit, sich gegenseitig an den Hals zu springen, auszunutzen wussten. Seto Kaiba wartete nur darauf. Und Joey Wheeler empfing jede Spitze, jedes Schnauben, jeden kalten Blick mit offenen Armen, saugte alles regelrecht auf, um es ihn dann mit doppelter Wucht zurückzuschleudern. Tagein, tagaus. Er bot ihm die Stirn, in dem Wissen, dass er der Einzige war, der keine Konsequenzen jeglicher Art vom Eisbeutel – wie er ihn am liebsten nach einem Streit, nachdem ihm sämtliche Argumente ausgegangen waren, nannte – zu erwarten hatte. Jedoch konnte er sich diese Tatsache nicht erklären. Seto Kaiba hatte die Eigenschaft, bei besonders schlechter Laune (was relativ häufig vorkam), jedem, der auch nur ansatzweise zu weit in seinen Tanzbereich von mindestens zwanzig Metern in einem Radius von dreihundertsechzig Grad um ihn herum lief, mit den besten Anwälten Dominos zu drohen. Nur ihm nicht. Egal in welcher Situation, Joey Wheeler hatte nie mit irgendwelchen Folgen – außer allerhöchstens Ignoranz, die nach spätestens zwei Tagen wieder vorüber war – zu rechnen. Vielleicht würde sich das ändern, wenn er dem feinen Herrn einfach mal gepflegt eine mit seiner geliebten rechten Faust verpasste. Aber dafür hatte selbst Joey Wheeler, der sich bekanntlich so Manches traute, nicht den Mut, auch wenn er sich von seinem Erzrivalen dafür immer aufs neue mit äußerst freundlichen Kosenamen betiteln lassen musste – wobei Hündchen oder Töle oder dummer Köter eindeutig auf Platz eins seiner Favoritenliste zu stehen schienen. Zu seinem Leidwesen. Bei allen Beleidigungen, die er sich anhören musste, waren diese mit Abstand die schlimmsten. Keuchend hielt er inne. Es war fünf Minuten nach acht Uhr und noch immer war kein Ziel in Sicht. Er befand sich zwar schon in der richtigen Straße und musste vielleicht nur noch wenige Minuten rennen, doch sein Kreislauf machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Kleine schwarze Punkte blinkten vor seinen Augen auf, sein Magen fühlte sich an, als sei er auf das Doppelte angeschwollen und seine Knie waren plötzlich weich wie Butter. So konnte er auf keinen Fall weiter laufen. Er zwang sich dazu, auf die erste Stunde – Chemie – zu scheißen und ließ sich mit einem erneuten Fluch unter einer großen Eiche sinken. Er bereute es keine Sekunde lang, alles andere wäre nur unglaublich schief gelaufen. Die Umgebung um ihn herum begann sich zu drehen, tausend Ameisen tanzten in seinen Beinen. Die Augen offen zu halten erwies sich als relativ schwierig, sie zu schließen fühlte sich jedoch noch unangenehmer an. Er hatte das Gefühl, dann jeden Moment vom Boden abzuheben – und das war immerhin die Aufgabe von Kaibas Ego und nicht seine. Dieser verdammte Eisklotz! Er verfluchte sich dafür, selbst in solchen Situationen immer wieder an den verhassten Klassenkameraden denken zu müssen. Permanent schlich er in seinen Gedanken herum und immer, wenn er einen Fehler irgendeiner Art machte – sei es in der Schule, bei Duellen oder gänzlich anderen Sachen – so gehörte diese hässliche, ihm herablassende Sprüche zumurmelnde Stimme in seinen Gedanken immer nur einem – dem reichen CEO der Kaiba Corporation. Er war seine lebendig gewordene Stimme der Vernunft – oder eher die Stimme des eigenen Versagens. Denn auch wenn er so ziemlich alles in seinem Leben zugab, er würde niemals jemandem erzählen, dass Seto Kaiba so ziemlich jede Eigenschaft verkörperte, die ihm selbst fehlte. Er hatte alles - Einfluss, überdurchschnittliche Intelligenz und Reichtum in Kombination mit einer großen, selbstbewussten und – für einige vielleicht auch – gutaussehenden Erscheinung. Für einige, jedoch nicht für Joey Wheeler, der sich mit seinen unordentlichen Klamotten, den verstrubbelten Haaren und der großen Klappe wesentlich attraktiver fand. Stolz auf diese Erkenntnis, zog er einen Eisbonbon aus seiner Jackentasche und begann diesen gedankenverloren zu lutschen. Inzwischen hatte sein Körper sich beruhigt und die Umgebung drehte sich auch nicht mehr. Die Ameisen waren aus seinen Beinen verschwunden, doch er fühlte sich noch immer ein wenig unwohl. Die Rinde des Baumstammes fühlte sich angenehm rau an, als er sich dagegen lehnte und den Kopf in den Nacken sinken ließ, während er dabei den stark zuckerhaltigen, irgendwie erfrischenden Geschmack der Süßigkeit genoss. Gleißendes Sonnenlicht brach zwischen den Wolken hervor und traf direkt auf sein Gesicht. Plötzlich war seine Lust auf die Schule komplett verflogen. Es sah so aus, als würde das noch ein richtig schöner Tag werden. Warum da im Unterricht sitzen und sich mit Eisklötzen herumschlagen, wenn man doch einfach mal einen Tag in der Woche sein Leben genießen könnte? Heute stand sowieso nichts besonderes an. Chemie konnte er vergessen, danach kamen noch Mathe, Englisch und Geografie. Ein kurzer, überflüssiger Unterrichtstag. Er bereute es, so früh aufgestanden zu sein und in seinem Kopf spielten sich schon sämtliche tolle Beschäftigungen ab, mit denen er sich die Zeit so viel besser vertreiben könnte. Zocken zum Beispiel, oder im Internet surfen. Dazu würde er sich bei dem Fast-Food-Lokal in seiner Straße ein paar saftige Burger bestellen. Schon bei dem Gedanken daran lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Doch seine überaus appetitlichen Gedanken wurden von etwas überaus Unappetitlichem unterbrochen. Irgendetwas feuchtes schlabberte über seine rechte Hand. Er war schon im Begriff, angewidert aufzuspringen – vielleicht war es eine Nacktschnecke, die seine Hand und den dazugehörigen Arm als neues Erklimmungsziel auserkoren hatte? - als er die Augen aufschlug und sein Blick direkt auf ein weiteres Paar stieß, das treudoof zu ihm aufsah. Ebenso braun, wie seine eigenen. Vor ihm hockte ein kleiner Hund, der anscheinend ziemlich desorientiert war. Wo kam der denn plötzlich her? Suchend schaute Joey sich um. Weit und breit konnte er keinen Hundebesitzer ausfindig machen. „Na, wer bist denn du? Nett, dass du mich besuchen kommst. Was willst du denn von mir?“ Natürlich konnte er keine gescheite Antwort erwarten. Der Welpe verlieh nur seiner Freude Ausdruck, indem er aufgeregt kläffend an ihm hochsprang und ihm nun, anstatt seiner Hand, anscheinend auch noch das Gesicht ablecken wollte. Ziemlich zutraulich, das junge Ding. Sein blondes Fell war zottelig und klamm. Joey hatte den Eindruck, dass sein neuer Freund schon genauso lang an der kalten Luft unterwegs war, wie er. „Bist du ausgerissen? Auch keine Lust mehr auf den tristen Alltag? Oder ist dein Herrchen etwa auch unfreundlich zu dir?“ Für die letzte Frage hätte er sich am liebsten eine reingehauen. War er gerade etwa dabei gewesen, sich mit einem Hund zu vergleichen und Kaiba unfreiwillig als sein Herrchen zu betiteln? Er hatte gerade, gegen seinen Willen, dessen Worte bestätigt. Dem Himmel sei Dank war niemand in unmittelbarer Hörweite. Das wäre ein gefundenes Fressen für den reichen Pinkel. Gott bewahre! Obwohl – das Hundchen sah ihm sogar irgendwie ähnlich mit seinen braunen Kulleraugen und dem verstrubbelten Fell. Abwesend kraulte er den flauschigen Nacken – und zuckte zurück, als seine Haut auf eine unerwartet glatte, kühle Oberfläche stieß. Vorsichtig tastete er danach. An seinem Halsband war dem Hund ein Anhänger befestigt worden. Er sah etwas genauer hin, während sein Träger brav still hielt. Das Kennzeichen war rechteckig und hatte in etwa die Größe einer Streichholzschachtel. Es bestand aus irgendeinem Metall – Joey war sich nicht ganz sicher, doch er tippte auf Edelstahl. Eine Armeemarke. Soweit er wusste, trugen manche Hunde diese Kennzeichen, falls sie mal davon liefen und jemand sie finden sollte. So konnte man einfach und schnell die Familie des Ausreißers ausfindig machen. Jemand hatte etwas eingravieren lassen. Er beugte sich vor, um die Inschrift lesen zu können. Kennzeichnungsnummer, Besitzer und Adresse des Besitzers. Die Straße war ihm nicht unbekannt und ganz in der Nähe. Na bitte, damit konnte er etwas anfangen. „Du wirst schon sehen, wir werden dein Zuhause ganz schnell finden.“ Damit erhob er sich und nahm dabei gleich den Welpen auf den Arm, der seine Chance nutzte und sein Gesicht ableckte, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Er ließ es einfach über sich ergehen und als er sich in Bewegung setzte, spürte er das Stechen in seinen Füßen, die aufgrund des langen Herumsitzens taub geworden waren. „Vielen Dank, dass Sie ihn zurück gebracht haben!“ Joey sah zufrieden dem kleinen Mädchen zu, dass erleichtert ihr Haustier an sich drückte, während er sich mit ihrer Mutter unterhielt. „Mein Kind war ganz verängstigt. Er ist noch so jung und noch nie von Zuhause ausgerissen. Wir sind wirklich erleichtert, ihn wieder bei uns zu haben.“ Das kleine Mädchen grinste ihn breit an und ihre Augen leuchteten. Joey lächelte zurück und kratzte sich am Hinterkopf, wie immer, wenn er verlegen war und um Worte rang. „Kein Problem. Hab ich sehr gern getan. Aber ich muss jetzt los, Schule und so.“ „Verstehe. Wegen uns haben Sie wahrscheinlich ihre erste Unterrichtsstunde verpasst, das tut mir sehr leid.“ „Machen sie sich mal keine Sorgen, Ma'am, ich war sowieso schon viel zu spät dran.“ „Wenn wir das irgendwie wieder gut machen können, dann - “ Doch er unterbrach sie mit einem hastigen Kopfschütteln. „Alles gut. Ich wünsche einen schönen Tag!“ Damit drehte er sich um und lief einfach los. Sie brauchten sich gar nicht zu bedanken. Der kleine Hund hatte ihn mit seiner Armeemarke auf eine Idee gebracht. Er grinste in sich hinein, erfreut über seinen Einfall, wie er Seto Kaiba, der ihn immer wieder als Hund und sich selbst als sein Herrchen betitelte, ein bisschen ärgern konnte. Wenngleich der Stress an seinen Nerven zehrte, glaubte er, dass dieser Morgen – der eigentlich fast so anfing, wie jeder andere auch – noch einige Überraschungsgeschenke auspacken würde. Einige Wochen später saß er kippelnd auf seinem Stuhl auf der linken Seite des Klassenzimmers ganz vorne an der Fensterfront. Er hatte sich einen Bleistift zwischen Nase und Lippen geklemmt und spürte ein Starren in seinem Nacken, das ihn wahrscheinlich direkt nach Alaska schicken sollte. Er grinste in sich hinein, in dem Wissen, dass der CEO ihn mal wieder beobachtete. Oder, dass er zumindest ein, zwei Blicke in seine Richtung riskierte. Bestimmt war der Eisklotz schon wieder genervt über seine zappelige Art. Aber so war er nun mal. Erst Recht, wenn Tristan und Duke hinter ihm saßen. Da musste er einfach Faxen machen – natürlich nur dann, wenn der Lehrer sich umdrehte, um ein paar Formeln an die Tafel zu schreiben. Um seinen Hals baumelte, an einer dünnen Schnur befestigt, eine Armeemarke. Genau so ähnlich wie die am Halsband des kleines Hundes, der ihn irgendwie an sich selber erinnert und ihn somit auf diese Idee gebracht hatte. An jenem Tag war er nicht mehr zur Schule gegangen, sondern hatte geradewegs einen Gravurshop angesteuert. Als er das hatte, was er haben wollte, ging es wieder nach Hause – zum Zocken, Internetsurfen und Burger essen. Nur zu gern wollte er wissen, ob sein Plan schon funktionierte. Ob Kaiba den Anhänger bemerkt hatte? Und wenn ja, würde er verstehen, was dahinter steckte? Mit Sicherheit kannte er die Bedeutung von Armeemarken, wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit Hunden. Er wusste, warum Hunde solche Plaketten trugen - jedoch nicht, warum er es nun auch tat. Und genau deshalb würde diese Kette dem intelligentesten und erfolgreichsten Schüler Dominos einiges zu denken geben. Vielleicht würde sie den reichen CEO sogar verwirren. Und genau das war der Plan: Joey Wheeler wollte Seto Kaiba einfach nur aus der Bahn werfen und zum Nachdenken bringen. Vielleicht war auch ein bisschen Rache dabei. Rache dafür, dass er ihm immer diesen herablassenden Spitznamen hinterher gerufen hatte. Obwohl Joey es liebte, sich mit ihm zu streiten – was er natürlich niemals jemandem erzählen würde. Ihre Hasstiraden in den Pausen und auf dem Schulhof bereiteten ihm, wenn auch gegen seinen Willen, ausgesprochenes Vergnügen und sorgten für Erfrischung in seinen sonst so langweiligen Alltag. Und so seltsam es klang, dadurch fühlte Joey sich weniger einsam. Jeden Morgen, wenn er aufstand und sich für die Schule fertig machte, freute er sich wie ein Kind auf diese Auseinandersetzungen. Der Lehrer wandte sich wieder der Tafel zu, was Joey natürlich sofort ausnutzte und sich wieder nach hinten beugte. In dem Moment fiel ihm ein fabelhafter Witz ein, den er natürlich gleich Tristan gegenüber zum Besten geben musste. Wären da nicht diese Augen gewesen, dieser kühle Blick, der ihn völlig unvermittelt traf, obwohl er doch wusste, dass er permanent unter Beobachtung stand. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht. Der Stuhl rutschte weg. Oh nein, bitte nicht! Nicht schon wieder so eine Blamage vor allen anderen und vor allem.. ihm! Reflexartig krallte er nach irgendetwas, in der Hoffnung sich festhalten zu können. Doch er erwischte nur seinen Hefter, worauf zudem noch sämtliche Stifte lagen, die nun zusammen mit Joey einen Abgang Richtung Boden machten. Der Lehrer hielt inne, drehte sich jedoch nicht zu ihm um. Der wusste bestimmt schon, wer mal wieder Mist gebaut hatte. Dafür lagen sämtliche Blicke der restlichen Klasse auf ihm. Doch er nahm es nicht wahr und ignorierte Tristan und Duke, die unterdrückt in ihre Hefter prusteten und auch Yugi und Tea, die ihn einerseits mitleidig und andererseits vorwurfsvoll ansahen. Seine Aufmerksamkeit galt allein dem Eisklotz – denn er hatte etwas in seinen Augen gesehen, das die Antwort auf seine Spekulationen sein konnte. Natürlich war dieser Moment nur flüchtig, bevor der Blick des Firmenleiters wieder so verschlossen wurde, wie all die tausenden Hochsicherheitstresore, die er zweifelsohne überall in seiner Firma und seiner riesigen Pinkel-Villa bunkerte. Er sah so aus, als hätte er mal wieder einen seiner arroganten Sprüche reißen wollen und es sich im letzten Moment anders überlegt. Na, hast du dich an deinen Worten verschluckt, Kaibalein? Joey war sich sicher gewesen, Erkenntnis seinen Augen gesehen zu haben. Jetzt war ihm absolut klar, dass Kaiba den Anhänger bemerkt hatte. Möge sein Kopfkino beginnen! Ihre Blicke waren noch immer stur aufeinander gerichtet und um Kaibas Gedanken zu bestätigen, wanderte seine Hand fast automatisch zu dem Anhänger um seinen Hals. Sollte er doch mal sehen, ob ihm seine Beschimpfungen noch Spaß machten, jetzt, wo er ihm zugegebenermaßen den Wind aus den Segeln genommen hatte. Wenige Minuten später, nachdem er sämtliche Schulhefte aufgesammelt und sich eine Standpauke von der Lehrkraft angehört hatte, drehte er sich erneut zu seinem Rivalen um. Kaibas Gesicht war ihm zugewandt, doch schien sein Blick durch ihn durch und in eine weite Ferne zu sehen und Joey konnte die vielen, winzigen Zahnräder förmlich vor sich sehen, die fieberhaft in seinem schlauen Kopf arbeiteten. Er grinste zu ihm herüber und sah, wie sich die Augen des CEOs für einen winzigen Moment weiteten. Dann drehte er sich wieder um, damit er nicht tatsächlich noch nachsitzen musste. Irgendwann klingelte es. Er wusste, was jetzt kam. Er würde an Seto Kaiba vorbeigehen und entweder einen aufgeblasenen Spruch oder ein selbstgerechtes Schnauben zu hören bekommen. Worauf er natürlich immer wieder reagieren musste. Nur heute würde er nichts dazu sagen. Er ließ sich Zeit, verstaute seine Schulsachen mit übertriebener Sorgfalt und schaute sogar nochmal unter die Bank, um sicher zu gehen, nichts liegen gelassen zu haben. „Man, Joey! Was machst du denn da drinnen, Alter? Ich dachte, du hast Hunger, also komm aus der Hüfte!“ Tristan. Manchmal nervte es schrecklich, dass seine Freunde immer um ihn herum waren. Er verdrehte die Augen und schulterte seinen Rucksack. Im Vorbeigehen grinste er Kaiba herausfordernd an – doch dieser blieb, für ihn völlig ungewöhnlich, stumm. Ihre Blicke streiften sich nur eine Sekunde lang, danach richtete er seine Aufmerksamkeit, bemüht möglichst desinteressiert zu wirken, erneut auf seinen MAC. Joey spazierte mit guter Laune aus dem Klassenzimmer und freute sich, dass sein Plan anscheinend aufgegangen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)