Besuch mich im Schlaf von Gmork (SJ - "All is forgotten") ================================================================================ 2. -- Warum diese Kette, Wheeler? Kaum hatte er sich innerlich diese Frage gestellt, versuchte er, sie so schnell wie möglich wieder zu verdrängen. Schlimm genug, dass er seine knappe, wertvolle Zeit der Schule opfern musste, nein, nun konnte er sich nicht einmal auf seine Arbeit am Laptop konzentrieren, die er – wohlgemerkt – im Unterricht ausführte. Er blinzelte viele Male schnell mit müden Augen und richtete seinen Blick wieder auf den flimmernden Bildschirm seines Macs. Tabellen und Diagramme blinkten ihm entgegen, doch heute konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Eine permanente Bewegung vor ihm, auf der linken Seite des Klassenzimmers an der Fensterfront ließ ihn alle paar Minuten hochfahren. Der dort sitzende junge Mann hatte sich einen Bleistift zwischen Nase und Lippen geklemmt und wusste anscheinend nicht, wie man anständig einen Stuhl benutzte. Kippelnd hockte er darauf und alberte mit seinen Freunden herum, einen Arm hatte er leichtsinnig über die Lehne gelegt, mit dem anderen konnte er sich mit Ach und Krach an der Schulbank festhalten. Natürlich vollführte er diese Kunststücke immer nur dann, wenn sich der Lehrer zur Tafel abwandte um ein paar Formeln anzuschreiben. Das war sie – die Verkörperung aller negativen und schlechten Eigenschaften eines Menschen... oder zumindest der negativen und schlechten Eigenschaften, die in Seto Kaibas Augen negativ und schlecht waren. Er fragte sich, wie lange Wheeler wohl noch sein wenig vorhandenes Gleichgewicht halten konnte. Beinahe wünschte er sich einen Unfall. Danach würde hoffentlich Ruhe herrschen und seine schlechte Laune vermutlich wieder etwas besser geworden sein. Auch wenn er nur Weniges in seinem Leben zugab – dass er sich gern über die blonde Nervensäge lustig machte und jeder darüber Bescheid wusste, konnte selbst er nicht abstreiten. Seltsamerweise wollte er dies auch gar nicht. Ihre Streitereien und Hasstiraden in den Pausen und auf dem Schulhof bereiteten ihm, wenn auch gegen seinen Willen, ausgesprochenes Vergnügen und sorgten für Erfrischung in seinen sonst so tristen Alltag. Er hatte Spaß daran ihn mit seinen Worten und Blicken zur Weißglut zu treiben, dabei zuzusehen, wie ihm bei jedem Wortgefecht langsam die Argumente ausgingen und ihn auszulachen, wenn er kurz davor war ihm eine zu verpassen, jedoch in dem Wissen, dass selbst ein Wheeler, der sich bekanntlich so Manches traute, es nicht wagen würde die Hand gegen einen Kaiba zu erheben – obwohl dieser ihm regelmäßig mit äußerst... freundlichen Kosenamen wie zum Beispiel „Schwachkopf“, „Spinner“, „Loser“ oder „Hündchen“ betitelte – wobei letzteres eindeutig sein Favorit war. Jeder, der die beiden zusammen sah, war sich sofort im Klaren, dass sie sich nicht ausstehen konnten und vermutlich niemals können würden. Dass sie jede Möglichkeit, sich gegenseitig an den Hals zu springen, auszunutzen wussten. Seto Kaiba wartete nur darauf. Jeden Morgen, wenn er aufstand und sich für die Schule fertig machte, freute er sich wie ein Kind auf diese Auseinandersetzungen. Joey Wheeler hatte sich unterdessen noch weiter nach hinten zu einem seiner Kindergartenmitglieder gelehnt – wahrscheinlich um wieder mal einen seiner hirnlosen Witze zu reißen – und ihre Blicke trafen sich. Damit hatte Kaiba das erreicht, was er sich innerlich gewünscht hatte: Einen kleinen Unfall. Für einen kurzen Moment schien Joey seine Fassung darüber verloren zu haben, so offenkundig von seinem – ja, was eigentlich? Kontrahenten? Erzrivalen? Herrchen? - angesehen zu werden, dass seine Hand abrutschte und er das Gleichgewicht verlor. Der Stuhl begann zu rutschen und er landete mit fuchtelnden Gliedmaßen und einem lauten Krachen auf dem Hosenboden, nachdem er noch verzweifelt versucht hatte, sich irgendwo festzukrallen, um wieder Halt zu finden. Leider war das Ergebnis nur, dass nun auch sämtliche Hefte und Stifte auf seiner Schulbank zusammen mit einem ausgestoßenen Fluch, dessen Worte lieber nicht wiederholt gehörten, einen Abgang machten. Der Lehrer hielt inne, brauchte sich jedoch gar nicht erst umzudrehen, um zu wissen, wer für den Tumult verantwortlich war. Sämtliche Blicke der Schüler lagen auf der blonden Knalltüte und die Stille die sich schlagartig im Klassenzimmer ausbreitete, wurde nur von seinen unerwachsenen Freunden Honda und Devlin durchbrochen, die hinter ihm saßen und sich heimlich ins Fäustchen lachten. Ein letzter Bleistift viel klappernd zu Boden. Normalerweise wäre das der perfekte Zeitpunkt für Seto Kaiba gewesen, um ihn, wie jeden Tag, zu kritisieren, bestenfalls mit einen herablassenden Spruch oder einen entnervtem Schnauben – er wusste, dass das Hündchen jedes Geräusch von ihm richtig deuten würde – doch er konnte nicht. Und er konnte nicht einmal sagen warum. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass Joey Wheeler den Aufruhr um sich herum nicht registrierte, sondern ihn noch immer stur in die Augen sah. Jedoch war sein Blick nicht, wie sonst, angriffslustig und lauernd, sondern einfach nur aufmerksam – mit einer leichten Schamesröte auf den Wangen. Kaiba verstand es nicht, er starrte nur konsterniert zurück und das abfällige „Na Köter, hast du dein Stöckchen gesucht?“ blieb ihm im Halse stecken. Joey schien seine Sprachlosigkeit nicht entgangen zu sein, was er gleich mit einem breiten Grinsen quittierte und schon beinahe provozierend mit einer Hand nach dem Anhänger um seinen Hals griff – was Kaiba wieder zu seiner Frage brachte, die er sich schon eine ganze Weile stellte. Warum diese Kette, Wheeler? Er hatte sie nicht immer getragen, das war eine unumgängliche Tatsache. Seinen Adleraugen wäre dieses Detail, so winzig es auch sein mochte, nicht entgangen und doch konnte er nicht sagen, wann ihm diese Veränderung zum ersten Mal aufgefallen war. Irgendwann war sie einfach da gewesen. Mittlerweile hatte Wheeler sich wieder aufgerappelt, seinen Stuhl zurecht gerückt und sämtliche Schulsachen aufgehoben, die von ihm zuvor unbeabsichtigt auf dem Boden verteilt wurden. Nach der Standpauke des Lehrers und einigen Worten, die sich verdächtig nach „Direktor“, „Elternabend“ und „Nachsitzen“ anhörten, konnte der Unterricht wieder aufgenommen werden. Joey Wheeler drehte sich jedoch noch einmal unauffällig und völlig unbeeindruckt von dem Vortrag um und erwischte Kaiba dabei, der erneut (oder noch immer?) auf diesen seltsamen Anhänger starrte und nicht wusste, ob es sich dabei um eine Provokation seitens des Köters, oder einfach nur um einen verdammt frappierenden Zufall handelte. Das erneute Grinsen, das er erntete, ließ vermuten, dass er mit seinem ersten Verdacht richtig liegen könnte. Warum diese Kette, Wheeler? Er liebte es mit ihm zu streiten. Jeder, der die beiden zusammen sah, war sich sofort im Klaren, dass sie sich nicht ausstehen konnten und vermutlich niemals können würden. Dass sie jede Möglichkeit, sich gegenseitig an den Hals zu springen, auszunutzen wussten. Seto Kaiba wartete nur darauf. Und Joey Wheeler empfing jede Spitze, jedes Schnauben, jeden kalten Blick mit offenen Armen, saugte alles regelrecht auf, um es ihn dann mit doppelter Wucht zurückzuschleudern. Tagein, tagaus. Es war beinahe ein Ritual geworden, an dem jeder ihrer Klassenkameraden teilnahm und sich doch raus hielt. Niemand griff je in ihre Wortgefechte ein, was zum großen Teil auf Kaiba selbst zurückzuführen war. Alle hatten aufgrund seines Einflusses, seiner überdurchschnittlichen Intelligenz und Reichtums in Kombination mit seiner großen, selbstbewussten und – für einige auch – gutaussehenden Erscheinung einen beinahe übertriebenen Respekt vor ihm, den der Brünette selbst teilweise kaum nachvollziehen konnte. Fast alle. Nur Joey Wheeler - der Junge mit den unordentlichen Klamotten, den verstrubbelten Haaren und der großen Klappe, die Kaibas Meinung nach, von einer extrem schlechten Erziehung herrühren musste – traute es sich ihm die Meinung zu geigen. Immer wieder. Jeden Tag. In jeder Situation. Er bot ihm die Stirn. Und ihm gefiel das. Ihnen beiden. Und so seltsam es klang, dadurch fühlte Kaiba sich weniger einsam. Er hatte, wenn man es so nennen konnte, eine unbegreifliche Sucht entwickelt. Besonderen Spaß hatte er daran, seinen Widersacher mit herablassenden Spitznamen einzudecken. Davon hatte er mehr als genug, wobei „Hündchen“ der mit Abstand passendste Ausdruck für ihn war. Und Wheeler hasste gerade diese Betitlung am allermeisten – was ihn natürlich nur noch mehr anspornte. Doch jetzt... Das schrille Klingeln zum Unterrichtsschluss riss ihn aus seinen Gedanken. Rund um ihn herrschte plötzlich ein reges Getümmel aus Schülern, die flink ihre Mappen und Stifte einpackten, um so schnell wie möglich auf den Schulhof verschwinden zu können. Er selbst blieb sitzen. Die Pause verbrachte er meistens in den Klassenzimmern, immer ein bisschen erleichtert, wenigstens für ein paar Minuten Ruhe zu haben. Sein Hündchen ließ sich heute jedoch extra lange Zeit und schien es überhaupt nicht eilig zu haben seine Sachen zu verstauen. Erst, als der ungeduldige Ruf einer seiner Kindergartenfreunde aus dem Flur schallte, verzog auch er sich. Im Vorbeigehen sah er Kaiba offen an, das Grinsen noch immer breit im Gesicht, während seine rechte Hand nebenbei, fast schon unauffällig mit dem Anhänger um seinem Hals spielte. Kaiba sah ihm lange hinterher und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Etwas war anders, seit er diesen Anhänger trug und das gefiel dem Firmenleiter gar nicht. Offensichtlich wollte Joey Wheeler in provozieren. Er gab es nur ungern zu, aber sein verhasster Klassenkamerad hatte damit auch noch Erfolg. Es brachte ihm aus dem Konzept und er war es nicht gewohnt, die Kontrolle zu verlieren. Aber dieser Anhänger, dieser verdammte Anhänger ging ihm einfach nicht aus dem Kopf – und es beunruhigte ihn, dass Wheeler anscheinend genau zu wissen schien, dass er darauf aufmerksam geworden war. Mittlerweile war er sich sicher, dass es sich dabei nicht um einen dummen Zufall handeln konnte, sondern um eine weitere Aufforderung, sich mit ihm zu beschäftigen. Es gelang ihm. Verdammt, aber was wollte er damit bezwecken? Um Joey Wheelers Hals hing an einer dünnen Schnur befestigt eine Armeemarke. Eine Armeemarke für Hunde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)