Early Endings von Shinosuke ================================================================================ Prolog: Vorwort --------------- Hi.  Mein Name ist Daniel Candle. Ich bin sehr aktives Mitglied der Westside und Berater unseres Leaders, Mike Garden. Zumindest einer von zweien, mittlerweile, aber dazu später mehr. Mike und ich sind seit Jahren befreundet und ich würde sogar so weit gehen, dass dieser rothaarige Hitzkopf mein bester Freund ist. Mit seinem „Chef“ so gut befreundet zu sein, ist –sagen wir mal- schwierig. Vor allem mit einem Chef wie Mike. Seine Entscheidungen sind nicht immer unbedingt durchdacht und mehr und mehr motiviert durch nicht unbedeutende Mengen an Drogen. Wir sind uns immer weniger einig und hier kommt der zweite Berater ins Spiel. Andy Ramirez. Ein ziemlich gefährlicher Typ. Skrupellos, aggressiv und einfach unberechenbar. Er hat einen schlechten Einfluss und wenn man auf jemanden wie Mike noch einen schlechten Einfluss haben kann, dann will das schon etwas heißen. Jetzt könnte man sich natürlich fragen, wer auf die dämliche Idee gekommen ist, Andy überhaupt so nah an uns heran zu bringen. Tja. Guilty of all charges. Das war ich. Kapitel 1: Aus der Schule, aus dem Sinn --------------------------------------- Schon kurz nach dem Aufstehen wusste ich, dass es ein guter Tag werden würde. Ich pulte mich aus der zu großen Boxershorts und dem irrwitzig großen T-Shirt, das mal meinem Vater gehört hatte und zog mir die Sachen an, die ich schon gestern in der Schule getragen hatte. Ich stand schon damals auf die Tarnfarbenpullover, die ich auch heute noch gerne trage. Ich bin eben gerne unauffällig und ja, ich weiß: Tarnfarben tarnen einen im normalen Leben nicht. So meine ich das nicht, aber das tut hier nichts zur Sache. Ich kletterte die schmale Treppe zu meinem Dachzimmer runter in den Flur unserer kleinen Wohnung, ging in die Küche und kramte eine Schüssel, etwas Milch und eine Packung Cornflakes hervor. Mein Vater war längst bei der Arbeit und meine Mutter stand meist nach mir auf. Sie war den ganzen Tag zuhause und hatte es nicht eilig, aus dem Bett zu kommen, also schaufelte ich mir die Cornflakes alleine in den Mund. Rückblickend kann ich eigentlich nur den Kopf schütteln, wie gut ich an diesem Tag gelaunt war, aber hinterher ist man eben immer schlauer. Nach dem spärlichen Frühstück machte ich mich im Bad fertig. Ich putzte mir die Zähne, benutzte mein neues Deo und gelte meine Haare vorne ein wenig hoch. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich wenigstens raus, wie diese Frisur annehmbar aussah. Nicht, dass ich das großartig gemocht hatte, aber so trugen eben alle Jungs in meiner Klasse die Haare und ich wollte nicht herausstechen. Wollte ich nie. Ich holte mir meinen Rucksack aus meinem Zimmer und stiefelte los, um Mike abzuholen. Wir hatten den selben Schulweg, naja, fast. Ich wohnte nur ein paar Straßen weiter weg als er, aber morgens machte ich immer  den kurzen Schlenker zu seinem Haus. Mike und Marianne waren unzertrennlich. Schon seit ich mich an sie erinnern kann und das ist schon verdammt lange. Wir gingen zusammen zur Schule, verbrachten die Pausen zusammen und gingen zusammen nach Hause. Nur, wenn ich mich mit Mike zum Spielen traf, war Marianne nicht immer dabei. Wir waren eben Jungs und mal hieß das, dass wir die coolsten waren, mal hieß es, dass wir „eklig und doof“ –nicht meine Worte!- waren. Diese Logik verstehe ich bis heute nicht. Gähnend klingelte ich bei den Gärtners und streckte mich, während ich wartete, dass Marianne die Tür öffnete und ihren Bruder hinter sich her nach draußen schleppte. Man sollte meinen, allmählich wäre ich wach, aber nach dem Aufstehen hatte ich meist immer nochmal eine kurze Phase, in der ich einfach unendlich müde war. Gelegt hat sich das erst vor ein paar Jahren, seitdem bin ich im Grunde sofort wach. Muss man wohl sein, wenn man mein Leben führt… Tatsächlich war es Marianne, die die Tür an diesem Morgen öffnete, aber Mike stand nicht wie sonst verpennt und mit halbherzig über die Schulter geworfenem Rucksack hinter ihr. Irgendwas stimmte nicht. „Morgen.“, sagte ich mit vorsichtiger Zurückhaltung und einer gehörigen Portion Skepsis in der Stimme.  „Hey, Candle. Wir könn‘ los.“, sagte Marianne hastig, wandte den Blick ab und stratzte durch die Tür an mir vorbei. „Ähm.“, merkte ich an, doch Marianne unterbrach mich. „Na los, wir komm‘n noch zu spät!“, sagte sie energisch und zog die Tür zu. „Was ist denn mit-“ Wieder fiel sie mir ins Wort –so aufbrausend kannte ich sie gar nicht… „Micha kann bleib‘n, wo der Pfeffer wächst!“, knurrte sie und stampfte auf, bevor sie mir den Rücken zuwandte und losstiefelte. Ihre roten Haare hingen ihr glatt bis auf die Schultern und wippten bei jedem wütenden Schritt. Ich schüttelte seufzend den Kopf und steuerte die kleine Seitengasse zwischen dem Haus und dem benachbarten Wohnblock an. Dass die beiden Zwillinge sich stritten, kam nur selten vor und dass sie sich so schlimm zankten, dass Marianne nachtragend war, hatte ich bisher nicht erlebt. Sie bewunderte ihn doch so! Was konnte er also getan haben, dass sie so unfassbar sauer auf ihn war? Es bestand für mich kein Zweifel daran, dass Mike es irgendwie verbockt haben musste, denn Marianne war erst einmal grundsätzlich von allem überzeugt, was ihr Bruder tat. Sei es nun, dass er an einem Hot Dog-Stand hochkletterte, um eine Katze zu retten und dann selbst dort oben festsaß oder dass er eine Wärmflasche in den Schnee legte, damit sie eine heiße und eine kalte Seite hatte, Marianne unterstützte ihn immer. Kein Wunder, dass ich neugierig war, als sie es heute nicht tat. Aus Mikes Zimmer hörte ich viel zu lauten Hip-Hop, dessen Text ich selbst als gebürtiger Amerikaner und obwohl ich zweisprachig aufgewachsen war, nicht verstand. Dass das Fenster offen stand, war wohl nur Glück, denn bei der Lautstärke hätte er mich nicht klopfen hören. Mike büchste oft aus und ich kannte seinen Fluchtweg. An der Regenrinne runter auf die Mauer, die aus der Seitenstraße eine Sackgasse machte, auf den Fenstersims der Nachbarn, von da aus rüber auf den großen Müllcontainer und dann auf den Boden springen. Sowohl Mike als auch ich waren den  Weg schon oft genug in beide Richtungen gegangen und diesen Weg nahm ich auch jetzt. Auf die Mülltonne, auf den Fenstersims, hochziehen, auf die Mauer, die kurze Strecke Regenrinne, dann saß ich auf Mikes Fensterbrett. „Mike?“ Er saß auf seinem Hochbett, noch in Boxershorts und T-Shirt, die roten Haare wild verstrubbelt, als stünde sein Kopf wirklich in Flammen. Bei so einem Holzkopf kein Wunder! Entschuldigung, der musste raus. „Hey, Mike! Was soll denn-“ Mike fuhr herum und starrte mich erschrocken an. „Boah, Danny! Schleich dich doch nich‘ so an, ey! Ich krieg‘ ja noch’n Herzinfekt von dir!“, rief er gegen das Wummern der billigen Musikanlage. Meine Antwort ging unter dem Hip-Hop vollkommen unter und Mike quittierte sie nur mit einem lauten „WAS?!“ Er sprang vom Bett und drehte die Musik leiser, bevor er wieder nachfragte. „Ich hab‘ gefragt, warum du nicht mit zur Schule kommst.“, wiederholte ich meine Frage. Krank sah er nicht aus, aber das musste ja noch nichts heißen. Dann wäre Marianne allerdings auch anders drauf gewesen. Wahrscheinlich hätte sie geschwänzt, um sich um Mike zu kümmern und das hätte sie mir an der Tür auch gesagt. Mike verdrehte die Augen und stöhnte genervt. „Man, muss dat sein?! Du nich‘ auch noch!“ Es war also definitiv seine Schuld. „Willst du schwänzen?“, fragte ich und noch in dem Moment wurde mir klar, wie blöd diese Frage war. Was hatte Mike denn bitte sonst vor? „Nee, nich‘ so wirklich.“, sagte Mike und kletterte wieder auf sein Bett. Ich folgte ihm ein paar Schritte, bis ich mitten im Zimmer stand und schob die Hände in die Hosentaschen. „Sondern?“, fragte ich, als Mike nicht weitersprach. War ihm das unangenehm? Wahrscheinlich, weil Marianne auch schon gegen ihn gewesen war. Das verunsicherte ihn, immerhin war er das nicht gewöhnt und nun überdachte er seinen Plan noch einmal. Gut. Wobei die Erfahrung gezeigt hat, dass es manchmal gar nicht so klug ist, Mike Garden Zeit zum Nachdenken zu geben. „Ich geh da nich‘ mehr hin. Gar nich‘ mehr.“ Ich starrte ihn perplex an, denn damit hatte ich nun nicht gerechnet. Zugegeben: Mikes Noten waren nicht die besten, er schwänzte in letzter Zeit öfter und vor ein paar Monaten hatte er sogar angefangen, zu kiffen. Mir gefiel das nicht und auch Marianne war nicht unbedingt glücklich, um es mal vorsichtig zu formulieren, aber er war trotzdem brav weiter hingegangen. „Äh…“, war das erste, was ich herausbrachte und es motivierte Mike glücklicherweise, weiterzusprechen, denn mir fiel tatsächlich nichts ein, was ich dazu spontan sagen konnte. Die Schule abzubrechen kam irgendwie nicht in Frage. Man trat in eine Gang ein, machte seinen Abschluss und suchte sich dann einen Job, so lief das eben. Von diesem Weg abzuweichen, erschien mir völlig… Naja, das ist jetzt offensichtlich, aber: abwegig. „Dat is‘ doch alles kacke. Ich lern‘ da doch eh nix, wat ich später mal brauch’n kann. Dat is‘ doch pure Zeitverschwendung!“ „Wie bitte?“, war meine unkreative Antwort, aber ich war schon froh, überhaupt etwas zusammenhängendes formuliert zu haben. „Wat denn?! Is‘ doch wahr…“, schmollte Mike. „Und wie willst du deine Zeit stattdessen nutzen? Was hast du jetzt vor?“, fragte ich und mein Blick huschte zu der Uhr. Zu spät war ich jetzt so oder so… „Weiß ich noch nich‘… Aber mir fällt da schon noch wat ein! Ich kann mich halt mit so’m Scheiß nich‘ mehr aufhalt’n. Bringt mir doch eh nix!“ Kein Wunder, dass Marianne so wütend war. Mike hatte hohe Ziele gehabt, aber ohne vernünftige Bildung konnte er sich die allesamt in seine widerspenstigen Haare schmieren. Ich seufzte und ließ die Schultern hängen. „Das gefällt mir nicht, Mike. Das ist ‘ne blöde Idee.“ Er sah mich trotzig an. „Muss dir ja auch nich‘ gefall’n! Ich mach dat so. Punkt.“ Er griff sein Kissen und warf es nach mir. Ich wich aus und trat einen Schritt zurück. „Pass mir inner Schule bloß gut auf Marianne auf!“, sagte er mit einem drohenden Unterton, an den ich mich noch gewöhnen würde und ich schluckte. „Ja, is‘ ja gut.“, murmelte ich und hob das Kissen auf, um es ihm wieder hoch zu werfen. „Dann wohl bis später…“, sagte ich unsicher. Diese Situation war befremdlich und sie war mir unangenehm. Ich konnte Mike ja schlecht befehlen, wieder zur Schule zu gehen und auf mein Bitten würde nicht hören, wenn selbst Marianne nichts aus ihm herausbekommen hatte. „Nee, ich treff‘ mich noch mit Tobi un‘ den Jungs. Kanns‘ ja mitkomm’n.“ Tobi und die Jungs waren ein Haufen Neuntklässler, die sich mit Jüngeren umgaben und in diesen Kreisen ihre Drogen verkauften. Sie waren seit zwei Jahren in der Westside und ließen das bei jeder Gelegenheit raushängen. Widerlich. „Nee, danke. Ein anderes Mal, vielleicht.“, murmelte ich und ging wieder zum Fenster. „Dann, ähm, bis dann.“, sagte ich unsicher und schwang mich an der Regenrinne wieder nach draußen. Ich hörte Mikes demotiviertes „Jo, bis dann.“ Noch, dann wurde die Musik wieder lauter und ich machte mich auf den Schulweg. Plötzlich kam mir wieder dieser Gedanke von vorhin. Dass das ein wirklich guter Tag werden würde… Am Arsch… Kapitel 2: Der Sturm vor der Ruhe --------------------------------- „Du has‘ ihn dat einfach machen lass‘n?!“ Ich weiß heute nicht mehr, wie genau es dazu kam. Keine Ahnung, ob ich es verdrängt habe, es einfach schon zu lange her ist oder ob einfach einer der Schläge zu heftig war. Ich weiß noch, dass ich in die Schule ging –ohne Mike, so blöd ich das auch fand- und nach der ersten Stunde stand ich dann plötzlich auf dem Gang, die Arme schützend über den Kopf gelegt und gegen meinen Spint gedrückt. Marianne stand vor mir –über mir viel mehr- und prügelte mit ihrem Diercke-Weltatlas auf mich ein. Um uns herum hatte sich eine Traube starrender Schüler gebildet, denn Marianne Gärtner war jetzt nicht unbedingt für rohe Gewalt bekannt. „Candle, du Vollidiot! Du kanns‘ ihn doch nich‘ noch bestätigen! Wat für‘n Freund bis‘ du eigentlich!? Du bis‘ wahrscheinlich der einzige, auf den er überhaupt hört! Mach dem gefälligst ein Ende!“ Auch, ob sie permanent auf mich einschlug oder ob sie zwischen den Sätzen auch mal kurz eine Pause mit dem Atlas machte, kann ich heute nicht mehr sagen. Die ganze Szene ist ein bisschen verschwommen in meiner Erinnerung geblieben. Vielleicht hätte ich zum Arzt gehen sollen… „Au! Marianne!“, versuchte ich sie aufzuhalten, aber sie drosch einfach weiter auf mich ein. „Un‘ wat wird jetz‘ aus ihm? Has‘ du dir da irgendwat bei gedacht?! Du bis‘ doch sonst immer nich‘ so doof!“, schimpfte sie und ich wurde immer kleiner. „Lass das! Marianne, bitte!“, probierte ich es wieder mit dem selben durchschlagenden Erfolg. Sie schimpfte ungebremst weiter auf mich ein, bis sich endlich jemand erbarmte, dazwischen zu gehen. Ich sah nicht, wer, aber ich erkannte es trotzdem recht schnell. „Whoa, hold it, Mary!“ Ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören und erst als ich sicher war, dass die größte Gefahr sich gelegt hatte, nahm ich die Hände runter. Mein Kopf tat weh und mir war schwindelig... Langsam hob ich den Blick und sah zu Luke Burton, dem eigenwilligen und immer grinsenden Amerikaner, der erst seit ein paar Monaten an unserer Schule war. Er sprach kaum Deutsch, aber damit hatte ich ja weniger ein Problem. Luke hielt Marianne am Arm fest und nahm ihr gerade den Atlas ab, wobei ich von ihrer Gegenwehr verblüfft war. „Finger weg!“, knurrte sie und ich konnte kaum glauben, wie sie sich gegen diesen Jungen auflehnte. So viel ich wusste, gehörte er zu den Jungs, mit denen Tobi sich abgab und mit denen legte man sich im Normalfall nicht an. Schon gar nicht als kleine Maus, Marianne Gärtner. Energisch zog sie den Atlas zu sich und starrte mich wütend an. Reflexartig hob ich die Hände wieder, doch sie drehte sich um und marschierte von dannen. DAS würde noch ein Nachspiel haben. „You alright?“, fragte Luke mich grinsend und klopfte mir gegen den Arm. „Guess so.“, antwortete ich und die meisten Schaulustigen gingen allmählich wieder ihrer Wege. Die Show war vorbei, nun folgte der langweilige, fremdsprachige Teil, der niemanden interessierte. „Just a little dizzy.“, gab ich zu und kramte meine Wasserflasche hervor. Luke wartete geduldig, während ich trank und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Spinde. „What was that all about anyway?“, fragte er lässig und ich schüttelte kurz den Kopf. Nicht unbedingt mein hellster Moment, denn meine Kopfschmerzen wurden dadurch nur schlimmer. „Family business.“, tat ich es ab. Es musste ja noch nicht unbedingt die Runde machen, dass Mike die Schule schmiss. So launisch wie er im Moment war, konnte sich das immer noch ändern. Luke jedoch schien das zu genügen, allerdings konnte er Mike das genauso gut heute Nachmittag noch fragen, wenn die Jungs sich eh trafen. Vielleicht sollte ich doch mitgehen? Nur, um darauf aufzupassen, dass Mike keinen Mist baute… „Well, you should sit down, you’re a little pale, fellow.“, grinste Luke und stieß sich mit etwas Schwung von der Schrankwand hinter ihm ab. Ich nickte –langsam und vorsichtig, immerhin hatte ich dazugelernt. „I guess, I’m gonna see you around.“, fügte er hinzu und obwohl er so freundlich aussah wie immer und obwohl sein Tonfall nichts Böses hatte… Es klang für mich damals schon wie eine Drohung.  „Yeah…“, murmelte ich und hob noch kurz die Hand, als er sich umdrehte und den Flur entlang davonschlenderte. Die nächsten Stunden vergingen schleppend und meine Kopfschmerzen machten das nicht besser. Ich war froh, nicht mit Marianne in einer Klasse zu sein und versuchte, mich in den Pausen möglichst von ihr fern zu halten. Dass ich Mike versprochen hatte, auf sie aufzupassen, war mir bewusst und daran würde ich mich auch halten, aber solange meine eigene Sicherheit dabei zurückstecken musste, konnte das warten. So wie sie vorhin auf mich losgegangen war, würde sich ohnehin so schnell niemand mit ihr anlegen. Am Ende der letzten Stunde saß ich auf heißen Kohlen. Ich hatte meine Tasche gepackt und sprang auf, sobald ich den Gong hörte. „Sitzen bleiben!“, fauchte die dem Burn-Out nahe Lehrerin vorne und ich zuckte zusammen. Ich könnte schwören, sie in den letzten zehn Minuten nicht ein Wort sagen gehört zu haben. „Ich beende den Unterricht, nicht der Gong!“ Ich seufzte und sah sie trotzig an, doch außer den Hausaufgaben hatte sie nicht mehr viel, was sie sagen wollte. Als sie völlig entnervt ihr Einverständnis gab, leerte sich die Klasse innerhalb von kürzester Zeit und ich schlängelte mich durch die Massen an Schülern zum Haupteingang. Heimlich hoffte ich, Marianne wäre schon weg. Ich sollte mich irren, denn die kleine Rothaarige stand mit verschränkten Armen am Eingang. Sie hielt nach mir Ausschau, wandte dann aber den Blick ab und ihre Mine verfinsterte sich. Wenigstens hatte sie kein schweres Buch in den Händen. „Wir können los.“, sagte ich und achtete dabei darauf, nicht in Reichweite zu sein. „Oder wartest du noch auf jemanden?“ Ich wüsste nicht auf wen, aber heute war ja eh nichts normal. Marianne funkelte mich wütend an und ich wich instinktiv einen Schritt zurück. Ich könnte schwören, dass eine Fliege, die zufällig durch ihren Todesblick flog, direkt wie ein Stein zu Boden fiel. Schwer schluckend folgte ich ihr, als sie den eisigen Blick abwandte und vorausstolzierte. Ich nahm das mal als „nein“ und akzeptierte einfach, dass sie nicht mit mir redete. Das war allemal besser, als zu riskieren, wieder geschlagen zu werden. Mitten auf dem Weg überlegte Marianne es sich scheinbar anders. Völlig ohne jede Vorwarnung drehte sie sich plötzlich um und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. Ihr Blick hatte sich nicht verändert, noch immer hatte ich das Gefühl, dass sie mich allein mit einem Blinzeln erschießen könnte. Ich blieb stehen und sah sie verwirrt an –bereit, jeden Moment in Deckung zu  gehen. Ich hatte gehofft, sie sei über diese Phase der Wut hinweg, aber in diesem Alter waren Mädchen einfach unberechenbar. Ein paar Mal schnaubte Marianne wütend und je länger ich sie ansah, desto mehr bekam ich das Gefühl, sie wartete darauf, dass ICH etwas sagte. „Ähm…“, brachte ich nach ein paar weiteren Augenblicken unsicher hervor, aber Marianne hatte scheinbar doch nur auf so einen Anstoß gewartet. „Wat soll dat?!“, fauchte sie und ich klappte meinen Mund erschrocken wieder zu. Ich blinzelte verwirrt, während ich realisierte, dass sie dieses Mal wirklich eine Antwort erwartete. „Was soll … was?“, fragte ich zögerlich, was scheinbar nicht die Antwort war, die sie hören wollte. „Dat weiß‘ du ganz genau!“ Mit energischen Schritten kam sie auf mich zu, während ich bloß unsicher nach hinten stolperte. „Warum folgs‘ du mir?“ Ach, das war ihr Problem… Hä? „Äh, du hast doch auf mich gewartet, oder?“ Sie schürzte die Lippen und verschränkte die Arme. „Un‘ wenn?“ „Na dann… Was ist dann jetzt das Problem? Wir gehen doch immer zusammen nach Hause.“ Nun war es Marianne, die meinem Blick auswich. Sie wusste scheinbar auch nicht so genau, weswegen sie jetzt gerade wirklich sauer war. Beleidigt nuschelte sie vor sich hin, was genau, hatte ich damals schon nicht ganz verstanden und heute bekomme ich das erst recht nicht mehr zusammen. „Marianne, ich find‘ Mikes Entscheidung auch scheiße.“, begann ich einen Versöhnungsversuch. Sofort war sie wieder in Fahrt. „Warum has‘ du dann nix dageg’n gesagt?!“, fragte sie aufgebracht. „Jetz‘ zieht er dat durch!“ Ich hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. „Ich hab‘ versucht, mit ihm zu reden! Er hat nur nicht auf mich gehört!“, verteidigte ich mich. „Dann has‘ du’s nich‘ richtig versucht!“ Ich schluckte. „Was hätte ich denn machen sollen? Wenn er nicht will, kann ich ihn ja nun auch nicht dazu zwingen…“, sagte ich fast beleidigt. „Muss‘ du aber! Sonst kann dat ja keiner!“ Mir fiel nur noch eine Erwiderung ein, aber mit der würde ich sie nur noch mehr aufregen… „Aber ich kann das auch nicht! Ich kann ihn nicht zwingen. Vielleicht kann Tobi ihn umstimmen. Der geht doch auch noch zur Schule.“ Wenn Mike viel Zeit mit Tobi verbrachte, würde er vielleicht doch wieder seine Meinung ändern. Nicht, dass Tobi ein ideales Vorbild war, aber immerhin besser als gar nichts. „Ja klar. Du leb’s auch auf’m Mond, oder?“, fragte Marianne genervt. „Wieso sollte er dat denn tun? Grade Tobi… Ich trau dem nich‘…“ Ich zog den Kopf ein wenig ein und senkte den Blick. „Naja… Kann ja sein… Weiß nicht, und wenn’s nur … zur Rekrutierung an der Schule ist oder so. Wenn er da rumhängt, fängt ihn früher oder später ein Lehrer ein und schleift ihn in eine Klasse.“ Hoffentlich. Marianne wirkte nicht zufrieden. „Hoff‘n wir’s…“, maulte sie und strich sich die Haare wieder hinter die Ohren. So kannte ich sie schon eher. „Candle? Du pass‘ doch auf ihn auf, oder?“, fragte sie zögerlich. Ich seufzte und nickte. „Klar. Mach ich.“ Ich passte also vormittags auf Marianne und nachmittags auf Mike auf.  Ratet mal, wer bestimmt schon mit 20 graue Haare haben wird… Kapitel 3: Probieren geht über Studieren! ----------------------------------------- Als ich mit Marianne bei den Gärtners ankam, war Mike schon weg, aber zum Glück hatte er ja den alten Knochen mit, den er dreist "Handy" nannte. Nicht, dass meins bedeutend besser gewesen wäre, immerhin hatten meine Eltern ähnlich wenig Geld wie Mikes und zum Telefonieren und SMS-Schreiben reichte so ein Uraltmodel ja. Per SMS fragte ich Mike, wo er sich denn mit Tobi und dessen Jungs treffen wollte, da ich "meine Meinung geändert" hatte. Mike schien das erwartungsgemäß gut zu gefallen, denn seine Antwort lautete: "Jau finnd ich gud. wia sint bei dem wk3dänkmal aufm schobelplaz". Dass dieser Kerl die Schule schmiss, war echt zum Heulen... Es wunderte mich allerdings, dass die Gruppe sich so öffentlich traf. Das Denkmal, das an den dritten Weltkrieg erinnerte, war im Grunde das Zentrum der Stadtaufteilung in die Ganggebiete. Das Denkmal selbst waren im Grunde vier schlichte Betonklötze, die einen geviertelten Kreis darstellten, wenn man sie von oben sah. Wie bei einem Amphitheater waren die einzelnen Klötze so gestaltet, dass sie zur Mitte des Kreises ebenerdig waren und dann in breiten Stufen immer höher wurden. Dadurch war das Denkmal zu einem beliebten Treffpunkt geworden, da man sich bequem in kleineren und größeren Gruppen sammeln konnte. An diesem Denkmal trafen die Grenzen von allen vier Stadtgangs zusammen, da der Schobelplatz direkt an den Fluss grenzte, der die South- und Eastside-Gang vom Norden der Stadt abschnitten und die Westside damals noch größer war. Von jedem Betonklotz, der eine der vier Weltkriegsmächte darstellte, ging eine Gangzone aus und um den Platz des Denkmals hatte sich eine Fußgängerzone mit verschiedenen Einkaufspassagen entwickelt. Dass die zwielichte Gruppe um Tobi sich an einem so geschäftigen Ort trafen, erschien mir mehr als merkwürdig, allerdings sagte mir eine innere Stimme, dass selbst diese Typen sich ihre Zeit vermutlich nicht nur mit Drogendeals vertrieben. Das war allerdings nach wie vor das erste, was mir beim Gedanken an die Gruppe durch den Kopf schoss. Ich machte mich also auf den Weg und schrieb meiner Mutter, dass ich erst später kommen würde. Gegessen hatte ich glücklicherweise in der Schule, sodass ich nicht noch nach Hause oder mir unterwegs etwas holen musste. Bald erhob sich vor mir die düstere graue Wand aus Beton aus dem Boden, die mir früher noch viel höher erschienen war. Ich war lange nah dem Krieg geboren worden, aber die Auswirkungen hatte ich noch mitbekommen. Die Armut, die um sich gegriffen hatte, zerstörte Städte und natürlich die vernichtende Wirtschaftskrise, die den USA schließlich den finanziellen Todesstoß gegeben hatten und vor dem meine Eltern damals mit mir hierher geflohen waren. Ich verband mit dem Denkmal die Folgen, nicht den Krieg selbst, aber als einen angenehmen und vor allem angemessenen Treffpunkt hatte ich es nie gehalten. Natürlich saßen die Jungs auf den Stufen des USA-Klotzes, als ich durch den schmalen Abstand zwischen den Klötzen trat. Warum natürlich? Von diesem Klotz aus erstreckte sich das Gebiet der Westside-Gang, der Tobi und die anderen seiner Freunde angehörten. Es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis Mike ihr beitreten würde und so wie ich uns kannten, würden Marianne und ich natürlich mitziehen. Ich konnte mich genauso gut mit dem Gedanken anfreunden. "Dannyyyyyy!", begrüßte Mike mich überschwänglich. Unsere Meinungsverschiedenheit vom Morgen schien er schon völlig vergessen zu haben und bei dem tiefenentspannten Grinsen auf seinem Gesicht musste ich nicht lange rätseln, woran das wohl liegen konnte... Sofort richteten sich alle anwesenden Augen auf mich und ich hob zögerlich die Hand. "Hey...", sagte ich bloß und versuchte, gleichzeitig absolut selbstverständlich und selbstsicher die Stufen zu ihnen hochzusteigen, um mich neben Mike zu setzen und dabei allerdings niemandem in die Augen zu sehen, in der Hoffnung, mich dadurch niemandem erklären zu müssen. Funktionierte natürlich nur mäßig gut. "Wer bist'n du?", fragte ein Junge mit dunkelblauem Sidecut mich, sobald ich mich hingesetzt hatte. "Ähm, ich...", begann ich, doch Mike nahm sich der Sache bereits an. Man mochte ihn für einen Schwachkopf halten, aber er war ein Schwachkopf, auf den ich mich immer verlassen konnte. "Das' Danny, 'n guter Kumpel von mir.", stellte er mich vor und ich sah vorsichtig in die Runde. Tobi lehnte sich vor. "Ah, stimmt, ich hab' dich -glaub' ich- schon in der Schule gesehen. Auch 6B, oder?" Ich nickte. "Bist nich' so gesprächig, was?", grinste Tobi und ich räusperte mich, unsicher, ob ich jetzt etwas sagen sollte oder lieber nicht. "Ich, also... Nein, eigentlich nicht.", sagte ich schließlich kleinlaut, als die anderen mich weiterhin anstarrten. Tobi lachte und beugte sich zu mir, um mir auf die Schulter zu klopfen, was mich nur noch mehr verwirrte. "Is' schon in Ordnung, mir sind die Leute eh lieber, wenn sie nicht so gesprächig sind." Das war heute das zweite Mal, dass ich das Gefühl hatte, bedroht zu werden. Die "Gespräche" mit Marianne jetzt mal ganz außen vor, versteht sich. Ich meinte diese unterschwellige Drohung, die manchmal ganz harmlosen, vielleicht sogar freundlichen Sätzen anhaftete. Erst als ich das realisierte, bemerkte ich Luke Burton, der mit seinem zufriedenen Grinsen hinter Tobi saß. Mike schien die Drohung auch bemerkt zu haben -was mich ernsthaft überraschte-, doch er nahm sie wohl anders war als ich. "Aaaaaach, Danny's voll in Ordnung.", sagte er, streckte sich und drehte sich zu mir. "Stimmt doch?" Ich seufzte und unterdrückte den Drang, ihn zu schlagen. "Ja, ich..." Man, war das blöd... "...schätze, ich bin ... wohl voll in Ordnung." Wieder begann Tobi, laut zu lachen und ein paar der Jungs um ihn ließen sich anstecken. "Schon gut, wenn Mike sagt, dass das klar geht, glauben wir das mal.", grinste Tobi und Mike spiegelte dieses Grinsen stolz wieder. Ich wusste gar nicht, dass Mike schon so sehr dazugehörte, dass er für einen Neuling bürgen konnte, aber vielleicht hatte ich auch einfach ein viel zu verschärftes Mafia-Bild von den Jungs. Ich war ja auch noch nie wirklich mit den Gangs in Berührung gekommen und mit Drogen auch nicht. Klar, ich wusste, was die Gangs bewirken sollten und hatte auch das Prinzip der Leader verstanden, die im Normalfall die Söhne und Töchter der Reichen und Mächtigen waren, aber die Gangmitglieder waren alle älter als Mike und ich damals. Tätowiert werden durfte man auch erst mit 15 und das war noch ein bisschen hin. Dass sich an diese Altersgrenze nicht jeder hielt, war mir natürlich trotzdem klar. Jedenfalls hatte ich mir die Gangs wohl etwas zu klischeehaft vorgestellt. Heute kann ich über das Bild, das ich von ihnen hatte, nur den Kopf schütteln. Ist fast peinlich… Luke war aufgestanden und hatte sich zu mir rüber gesetzt, einen Joint in der Hand und ich schluckte nervös, als er mir das Teil vor die Nase hielt. „Wanna try?“ Ich schob seine Hand  von mir und grinste halbherzig. „Nah, thanks.“, sagte ich noch und der dunkelblaue Sidecut gab ein mitleidiges „Aww“ von sich. „Ein kleiner Feigling, hm?“ Ich sah ihn an so fest ich konnte. „Nee, ich steh nur nicht auf sowas.“, sagte ich und Luke stieß mir mit dem Ellbogen freundschaftlich in die Seite. „C’mon, Danny-Boy!“, ermutigte er mich und die Augen der anderen richteten sich nun auch wieder alle auf mich. „Hast du’s denn schonmal probiert?“, hakte der blöde Sidecut wieder nach. Kurz wich mein Blick zu Mike aus, aber von ihm war hier wohl keine Hilfe zu erwarten. „Äh, nein. Hab‘ ich nicht.“, gab ich schließlich zu und zwei Jungs lachten. Tobi grinste und Mike sah erwartungsvoll zu mir. „Dann wird’s wohl mal Zeit, was? Vielleicht gefällt’s dir ja!“, sagte ein braungebrannter Typ auf der obersten Stufe, den ich von irgendwoher kannte, obwohl ich mir sicher war, dass er nicht auf unsere Schule ging. „Ich will wirklich nicht, okay?“ Ausgerechnet Mike fiel mir in den Rücken. „Jetz‘ mach schon. Is‘ doch wirklich nix dabei.“ Wir hatten nicht oft darüber geredet, aber wenn, dann war das immer sehr ähnlich abgelaufen: Da ist doch nichts dabei – Doch, ist es – Nein, ist es nicht – Doch, ist es wohl! Das sollte ich mir jetzt vielleicht schenken. Ich sah in lauter gespannte Gesichter und ich schloss für einen Moment die Augen, bevor ich seufzend nach dem Joint griff. „Na gut…“, murmelte ich. Luke grinste zufrieden und wenigstens wirkte auch der Sidecut für’s erste besänftigt. Am liebsten hätte ich das verdammte Ding auf dem Boden zertreten oder in den Fluss geworfen, aber das konnte ich mir nicht erlauben. Das einzige, was ich jetzt noch tun konnte, war daraus keine große Nummer zu machen und so zu tun, als sei ich wirklich einverstanden. Ich sparte es mir, noch einmal durchzuatmen, zog an dem Joint und wartete ab. Der Geschmack breitete sich in meinem Mund aus und ich merkte, dass ich mich mit meinem vorgetäuschten Selbstbewusstsein ein wenig überschätzt hatte. Hustend stieß ich den beißenden Rauch aus und schnappte nach Luft, was wohl direkt den nächsten Lacher wert war. Luke war wenigstens so freundlich, mir den Joint –wie immer grinsend natürlich- wieder abzunehmen, bevor er wieder aufstand und sich zurück auf eine höhere Stufe neben Tobi setzte. Mike klopfte mir auf den Rücken, während ich hustete, doch ich winkte ab. „Danke.“, ächzte ich krächzend und vertrieb den Rauch vor meiner Nase mit der Hand. „Whouw…“, machte ich, um die Situation zu überspielen und Sidecut nahm das natürlich wieder mal als Anstoß. War der zu jedem so oder lag es daran, dass ich neu war?! „Und?“, fragte er neugierig. „War gar nicht so schlimm, oder?“ Ich schüttelte den Kopf und räusperte mich ein paar Mal. „Ich sag‘ ja: Ist nicht mein Ding…“, grinste ich heiser. Allmählich ging’s wieder und dieses Mal hatte ich das Gefühl, die Lacher auf meiner Seite zu haben. Der Rest des Nachmittags verlief dann zum Glück entspannter und ich musste auch nicht nochmal etwas probieren. Ich war trotzdem sehr froh, als ich schließlich mit Mike auf dem Rückweg war, ihn bei Marianne abliefern und dann nach Hause gehen konnte, wo meine Mutter schon mit dem wohlverdienten Abendessen auf mich wartete. Lasagne, mhhh! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)