Early Endings von Shinosuke ================================================================================ Kapitel 2: Der Sturm vor der Ruhe --------------------------------- „Du has‘ ihn dat einfach machen lass‘n?!“ Ich weiß heute nicht mehr, wie genau es dazu kam. Keine Ahnung, ob ich es verdrängt habe, es einfach schon zu lange her ist oder ob einfach einer der Schläge zu heftig war. Ich weiß noch, dass ich in die Schule ging –ohne Mike, so blöd ich das auch fand- und nach der ersten Stunde stand ich dann plötzlich auf dem Gang, die Arme schützend über den Kopf gelegt und gegen meinen Spint gedrückt. Marianne stand vor mir –über mir viel mehr- und prügelte mit ihrem Diercke-Weltatlas auf mich ein. Um uns herum hatte sich eine Traube starrender Schüler gebildet, denn Marianne Gärtner war jetzt nicht unbedingt für rohe Gewalt bekannt. „Candle, du Vollidiot! Du kanns‘ ihn doch nich‘ noch bestätigen! Wat für‘n Freund bis‘ du eigentlich!? Du bis‘ wahrscheinlich der einzige, auf den er überhaupt hört! Mach dem gefälligst ein Ende!“ Auch, ob sie permanent auf mich einschlug oder ob sie zwischen den Sätzen auch mal kurz eine Pause mit dem Atlas machte, kann ich heute nicht mehr sagen. Die ganze Szene ist ein bisschen verschwommen in meiner Erinnerung geblieben. Vielleicht hätte ich zum Arzt gehen sollen… „Au! Marianne!“, versuchte ich sie aufzuhalten, aber sie drosch einfach weiter auf mich ein. „Un‘ wat wird jetz‘ aus ihm? Has‘ du dir da irgendwat bei gedacht?! Du bis‘ doch sonst immer nich‘ so doof!“, schimpfte sie und ich wurde immer kleiner. „Lass das! Marianne, bitte!“, probierte ich es wieder mit dem selben durchschlagenden Erfolg. Sie schimpfte ungebremst weiter auf mich ein, bis sich endlich jemand erbarmte, dazwischen zu gehen. Ich sah nicht, wer, aber ich erkannte es trotzdem recht schnell. „Whoa, hold it, Mary!“ Ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören und erst als ich sicher war, dass die größte Gefahr sich gelegt hatte, nahm ich die Hände runter. Mein Kopf tat weh und mir war schwindelig... Langsam hob ich den Blick und sah zu Luke Burton, dem eigenwilligen und immer grinsenden Amerikaner, der erst seit ein paar Monaten an unserer Schule war. Er sprach kaum Deutsch, aber damit hatte ich ja weniger ein Problem. Luke hielt Marianne am Arm fest und nahm ihr gerade den Atlas ab, wobei ich von ihrer Gegenwehr verblüfft war. „Finger weg!“, knurrte sie und ich konnte kaum glauben, wie sie sich gegen diesen Jungen auflehnte. So viel ich wusste, gehörte er zu den Jungs, mit denen Tobi sich abgab und mit denen legte man sich im Normalfall nicht an. Schon gar nicht als kleine Maus, Marianne Gärtner. Energisch zog sie den Atlas zu sich und starrte mich wütend an. Reflexartig hob ich die Hände wieder, doch sie drehte sich um und marschierte von dannen. DAS würde noch ein Nachspiel haben. „You alright?“, fragte Luke mich grinsend und klopfte mir gegen den Arm. „Guess so.“, antwortete ich und die meisten Schaulustigen gingen allmählich wieder ihrer Wege. Die Show war vorbei, nun folgte der langweilige, fremdsprachige Teil, der niemanden interessierte. „Just a little dizzy.“, gab ich zu und kramte meine Wasserflasche hervor. Luke wartete geduldig, während ich trank und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Spinde. „What was that all about anyway?“, fragte er lässig und ich schüttelte kurz den Kopf. Nicht unbedingt mein hellster Moment, denn meine Kopfschmerzen wurden dadurch nur schlimmer. „Family business.“, tat ich es ab. Es musste ja noch nicht unbedingt die Runde machen, dass Mike die Schule schmiss. So launisch wie er im Moment war, konnte sich das immer noch ändern. Luke jedoch schien das zu genügen, allerdings konnte er Mike das genauso gut heute Nachmittag noch fragen, wenn die Jungs sich eh trafen. Vielleicht sollte ich doch mitgehen? Nur, um darauf aufzupassen, dass Mike keinen Mist baute… „Well, you should sit down, you’re a little pale, fellow.“, grinste Luke und stieß sich mit etwas Schwung von der Schrankwand hinter ihm ab. Ich nickte –langsam und vorsichtig, immerhin hatte ich dazugelernt. „I guess, I’m gonna see you around.“, fügte er hinzu und obwohl er so freundlich aussah wie immer und obwohl sein Tonfall nichts Böses hatte… Es klang für mich damals schon wie eine Drohung.  „Yeah…“, murmelte ich und hob noch kurz die Hand, als er sich umdrehte und den Flur entlang davonschlenderte. Die nächsten Stunden vergingen schleppend und meine Kopfschmerzen machten das nicht besser. Ich war froh, nicht mit Marianne in einer Klasse zu sein und versuchte, mich in den Pausen möglichst von ihr fern zu halten. Dass ich Mike versprochen hatte, auf sie aufzupassen, war mir bewusst und daran würde ich mich auch halten, aber solange meine eigene Sicherheit dabei zurückstecken musste, konnte das warten. So wie sie vorhin auf mich losgegangen war, würde sich ohnehin so schnell niemand mit ihr anlegen. Am Ende der letzten Stunde saß ich auf heißen Kohlen. Ich hatte meine Tasche gepackt und sprang auf, sobald ich den Gong hörte. „Sitzen bleiben!“, fauchte die dem Burn-Out nahe Lehrerin vorne und ich zuckte zusammen. Ich könnte schwören, sie in den letzten zehn Minuten nicht ein Wort sagen gehört zu haben. „Ich beende den Unterricht, nicht der Gong!“ Ich seufzte und sah sie trotzig an, doch außer den Hausaufgaben hatte sie nicht mehr viel, was sie sagen wollte. Als sie völlig entnervt ihr Einverständnis gab, leerte sich die Klasse innerhalb von kürzester Zeit und ich schlängelte mich durch die Massen an Schülern zum Haupteingang. Heimlich hoffte ich, Marianne wäre schon weg. Ich sollte mich irren, denn die kleine Rothaarige stand mit verschränkten Armen am Eingang. Sie hielt nach mir Ausschau, wandte dann aber den Blick ab und ihre Mine verfinsterte sich. Wenigstens hatte sie kein schweres Buch in den Händen. „Wir können los.“, sagte ich und achtete dabei darauf, nicht in Reichweite zu sein. „Oder wartest du noch auf jemanden?“ Ich wüsste nicht auf wen, aber heute war ja eh nichts normal. Marianne funkelte mich wütend an und ich wich instinktiv einen Schritt zurück. Ich könnte schwören, dass eine Fliege, die zufällig durch ihren Todesblick flog, direkt wie ein Stein zu Boden fiel. Schwer schluckend folgte ich ihr, als sie den eisigen Blick abwandte und vorausstolzierte. Ich nahm das mal als „nein“ und akzeptierte einfach, dass sie nicht mit mir redete. Das war allemal besser, als zu riskieren, wieder geschlagen zu werden. Mitten auf dem Weg überlegte Marianne es sich scheinbar anders. Völlig ohne jede Vorwarnung drehte sie sich plötzlich um und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. Ihr Blick hatte sich nicht verändert, noch immer hatte ich das Gefühl, dass sie mich allein mit einem Blinzeln erschießen könnte. Ich blieb stehen und sah sie verwirrt an –bereit, jeden Moment in Deckung zu  gehen. Ich hatte gehofft, sie sei über diese Phase der Wut hinweg, aber in diesem Alter waren Mädchen einfach unberechenbar. Ein paar Mal schnaubte Marianne wütend und je länger ich sie ansah, desto mehr bekam ich das Gefühl, sie wartete darauf, dass ICH etwas sagte. „Ähm…“, brachte ich nach ein paar weiteren Augenblicken unsicher hervor, aber Marianne hatte scheinbar doch nur auf so einen Anstoß gewartet. „Wat soll dat?!“, fauchte sie und ich klappte meinen Mund erschrocken wieder zu. Ich blinzelte verwirrt, während ich realisierte, dass sie dieses Mal wirklich eine Antwort erwartete. „Was soll … was?“, fragte ich zögerlich, was scheinbar nicht die Antwort war, die sie hören wollte. „Dat weiß‘ du ganz genau!“ Mit energischen Schritten kam sie auf mich zu, während ich bloß unsicher nach hinten stolperte. „Warum folgs‘ du mir?“ Ach, das war ihr Problem… Hä? „Äh, du hast doch auf mich gewartet, oder?“ Sie schürzte die Lippen und verschränkte die Arme. „Un‘ wenn?“ „Na dann… Was ist dann jetzt das Problem? Wir gehen doch immer zusammen nach Hause.“ Nun war es Marianne, die meinem Blick auswich. Sie wusste scheinbar auch nicht so genau, weswegen sie jetzt gerade wirklich sauer war. Beleidigt nuschelte sie vor sich hin, was genau, hatte ich damals schon nicht ganz verstanden und heute bekomme ich das erst recht nicht mehr zusammen. „Marianne, ich find‘ Mikes Entscheidung auch scheiße.“, begann ich einen Versöhnungsversuch. Sofort war sie wieder in Fahrt. „Warum has‘ du dann nix dageg’n gesagt?!“, fragte sie aufgebracht. „Jetz‘ zieht er dat durch!“ Ich hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. „Ich hab‘ versucht, mit ihm zu reden! Er hat nur nicht auf mich gehört!“, verteidigte ich mich. „Dann has‘ du’s nich‘ richtig versucht!“ Ich schluckte. „Was hätte ich denn machen sollen? Wenn er nicht will, kann ich ihn ja nun auch nicht dazu zwingen…“, sagte ich fast beleidigt. „Muss‘ du aber! Sonst kann dat ja keiner!“ Mir fiel nur noch eine Erwiderung ein, aber mit der würde ich sie nur noch mehr aufregen… „Aber ich kann das auch nicht! Ich kann ihn nicht zwingen. Vielleicht kann Tobi ihn umstimmen. Der geht doch auch noch zur Schule.“ Wenn Mike viel Zeit mit Tobi verbrachte, würde er vielleicht doch wieder seine Meinung ändern. Nicht, dass Tobi ein ideales Vorbild war, aber immerhin besser als gar nichts. „Ja klar. Du leb’s auch auf’m Mond, oder?“, fragte Marianne genervt. „Wieso sollte er dat denn tun? Grade Tobi… Ich trau dem nich‘…“ Ich zog den Kopf ein wenig ein und senkte den Blick. „Naja… Kann ja sein… Weiß nicht, und wenn’s nur … zur Rekrutierung an der Schule ist oder so. Wenn er da rumhängt, fängt ihn früher oder später ein Lehrer ein und schleift ihn in eine Klasse.“ Hoffentlich. Marianne wirkte nicht zufrieden. „Hoff‘n wir’s…“, maulte sie und strich sich die Haare wieder hinter die Ohren. So kannte ich sie schon eher. „Candle? Du pass‘ doch auf ihn auf, oder?“, fragte sie zögerlich. Ich seufzte und nickte. „Klar. Mach ich.“ Ich passte also vormittags auf Marianne und nachmittags auf Mike auf.  Ratet mal, wer bestimmt schon mit 20 graue Haare haben wird… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)