Ich bin bereits tot von Flordelis (John-Cleaver-Reihe) ================================================================================ Kapitel 1: Ich bin auch kein Mensch. ------------------------------------ Mir war schon immer bewusst, dass ich anders bin. Nicht nur weil ich nie etwas mit den Themen aller meiner Mitmenschen etwas anfangen konnte oder weil ich nicht verstand, warum bestimmte Dinge beliebt waren. Nicht, weil ich Fan von außergewöhnlichen Dingen war, die sonst niemand kannte. Ich war selbst im Vergleich zu denen, die anders waren oder so sein wollten, anders. Ich passte nirgendwo dazu, denn ich war – und bin – nicht normal. Normale Menschen bluten rot, wenn sie sich verletzen, es dauert Tage oder sogar Wochen, bis die Wunden verheilen. Wenn ich mich verletze, blute ich rot-schwarz, aber nur für wenige Sekunden, dann ist es, als wäre dort nie etwas gewesen, nicht einmal eine Narbe bleibt zurück. Normale Menschen verteidigen sich mit ihrem Körper oder mithilfe herumliegender Gegenstände gegen Angriffe. Wenn ich angegriffen werde, brechen Ketten aus meinem Rücken, die mir jede Gefahr vom Leib halten. Normale Menschen ernähren sich rein von Lebensmitteln. Ich ernähre mich von den Erinnerungen toter Lebewesen, egal ob Mensch oder Tier. Normale Menschen haben normale Eltern. Mein Vater war ein Dämon. Gut, Dämon ist vielleicht das falsche Wort. Er bezeichnete sich selbst als Verwelkter, kurz bevor er im letzten Jahr starb. Ich weiß nicht, was alles dahintersteckt, da mir vieles selbst jetzt noch vollkommen unverständlich ist, nur dass die Verwelkten fast so alt sind wie die Menschheit, aber ich weiß ganz sicher, dass ein Krieg bevorsteht – und ich stehe auf der Seite der Menschen. Das war keine leichtfertige Entscheidung. Ehrlich, ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich mich für die Menschen entschied, weil ich mich ihnen näher fühlte als den Verwelkten, weil meine Freunde alle Menschen sind und ich sie alle total gern habe. Aber die Wahrheit sieht anders aus. Ich habe so gut wie keine Freunde und ich fürchte, einige von denen sind mir auch vollkommen egal. Man war während Schulzeit stets zusammen, weil es gut war, jemanden zu haben, der einem beim Lernen half, nicht weil man sich mochte und sobald das vorbei war, war auch die Freundschaft vorbei. Inzwischen habe ich sogar nur noch einen einzigen Freund. Die Menschen sind mir nicht egal, aber allein deswegen gibt es keinen Grund für mich, zu ihnen zu halten, denn die Verwelkten sind mir im Gegenzug vollkommen gleichgültig. Ich verspüre keinen Hass ihnen gegenüber, der es erfordert, dass ich sie bekämpfe, sie sind einfach ... da. Ich will auch keinen Ausgleich schaffen, damit der Krieg für die Menschen fairer wird, auch wenn sie das durchaus gebrauchen könnten. Tritt ein Mensch gegen einen Verwelkten an, setzen Sie besser alles auf den Dämon und hoffen, dass es möglichst schmerzlos für den Menschen enden wird, so unausgeglichen ist die Kräfteverteilung. Es gibt nur einen einzigen Grund, wegen dem ich mich für diese Sache entschied, aber das würde ich ihm sicher nie sagen, sonst wäre er am Ende nur eingebildet. Noch mehr als ohnehin schon. Aber ihn in meiner Nähe zu wissen war immer angenehm. Auch in jener Januar-Nacht, in der sogar ich fror, saß er neben mir, auf dem Fahrersitz dieses Mietwagens, und trank einen Kaffee, dessen Duft das gesamte Auto erfüllte und mich allein damit bereits wach hielt. Ich trug einen grauen Wintermantel, einen Schal und Handschuhe und drückte mich dennoch wärmesuchend tiefer in meinen Sitz, während Faren nur eine hellbraune Jacke trug, deren Ärmel sogar hochgekrempelt waren, als spürte er die Kälte gar nicht. „Er könnte sich ruhig mal wärmere Gegenden aussuchen“, brummte er plötzlich und durchbrach die bis dahin herrschende Stille, die ich sehr genossen hatte. Mir war klar, dass er gern Radio hören würde, hatte mir vorhin daher bereits als Vorwand angeboten, die Heizung einzuschalten, aber das war von mir abgelehnt worden. Ein Auto, in dem, mitten in der Nacht, zwei schweigende Männer saßen, war schon auffällig genug, aber es bestand die Hoffnung, dass es im Dunkeln nicht beachtet wurde. Ein Auto mit laufendem Motor jedoch, in dem, mitten in der Nacht, zwei schweigende Männer saßen, lenkte garantiert alle Aufmerksamkeit auf sich. „Die Kälte erinnert ihn an etwas“, erwiderte ich. „Du musst also nicht darauf hoffen, dass er uns mal nach Florida führt.“ „Vielleicht ja der danach?“ Auf meinen tadelnden Blick hin, zuckte Faren unschuldig lächelnd mit den Schultern. „Man weiß ja nie. Und Menschen in Florida sind ja auch kein Freifutter.“ Ich überlegte, ihn darauf hinzuweisen, dass nicht jeder Dämon seine Opfer fraß, ließ es aber gut sein. Faren war nicht dumm und er wusste es besser, er drückte sich manchmal nur unüberlegt aus. Das kannte ich ja schon von ihm, deswegen störte es mich nicht mehr so sehr. „Aber mal im Ernst“, begann er dann erneut, „an was kann einen diese Kälte erinnern?“ „An zu Hause?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht mag er ja Schneemänner?“ Faren schüttelte lächelnd, fast schon grinsend, den Kopf und nahm noch einen Schluck, dann hielt er mir den Becher hin. „Auch etwas?“ „Nein, danke. Ich bleibe heute auch so wach.“ Die Anspannung verhinderte, dass ich einschlief und auch der Kaffee hätte mich gerade nicht wärmen können, also war es besser, wenn er alles für sich behielt, wenn ihm das half. Gleichgültig nahm er selbst einen weiteren Schluck. „Er könnte sich endlich mal zeigen. Das ist so unhöflich.“ „Ich habe dir gesagt, dass du im Motel warten kannst und ich das auch allein geregelt kriege.“ Das gefiel ihm aber nicht wirklich. Er zog die Brauen zusammen. „Damit du mir hier draußen erfrierst? Nee, lass mal.“ Ich wies ihn nicht darauf hin, dass seine Anwesenheit gerade nichts an meinem Frieren änderte, aber ich konnte mir sein Augenrollen auf derartige Worte bereits vorstellen. Er schüttelte sich, worauf sogar sein braunes, schulterlanges Haar, das er wie üblich in einem hohen Pferdeschwanz trug, zu schwingen begann. Einen kurzen Moment lang war ich von diesem Anblick geradezu gefangen genommen, doch dann lenkte mich etwas wieder von ihm ab. In einigen hundert Metern Entfernung war eine Gestalt aufgetaucht, die, selbst in einen dicken Mantel eingehüllt, durch den Schnee stapfte und damit harmlos genug wirkte. „Das ist er“, sagte ich und streckte die Hand bereits nach dem Türgriff aus. „Bist du sicher?“ „Ich kann es fühlen.“ Sie müssen sich vorstellen, dass jeder Mensch, jedes Lebewesen überhaupt, eine eigene Ausstrahlung besitzt, etwas, das es einzigartig macht. Nun ist jedoch die Ausstrahlung eines Verwelkten derart intensiv, dass es in jemandem wie mir, der empfindlich auf fremde Energien reagiert, alles zum Schwingen bringt. Auf keine gute Art jedoch. Wann immer ich mich in der Gegenwart eines Verwelkten befinde, scheint ein ganzes Violinenkonzert in mir Misstöne hervorbringen zu wollen. Ein kreischender Chor aus unzähligen verstimmten Instrumenten, die mir Kopfschmerzen bereiten. Nur wenige waren von dieser Regel ausgenommen. Selbst auf diese Entfernung hin und obwohl ich im Auto saß, war es mir deswegen genau möglich, zu bestätigen, dass es sich um einen Verwelkten handelte. Ich nickte Faren noch einmal zu, dann stieg ich aus dem Wagen. Sofort wehte mir ein schneidender, eiskalter Wind ins Gesicht und ich überlegte tatsächlich, einfach wieder einzusteigen, die ganze Sache zu vergessen und mir lieber ein heißes Bad zu gönnen. Aber von dieser Entscheidung hingen Leben ab und ich war nicht gewillt, auch nur ein einziges zu riskieren, wenn dieses eine möglicherweise Faren sein könnte. Also bahnte ich mir einen Weg durch den Schnee und ließ dabei den Blick schweifen. Es sah nicht so aus, als würde es hier draußen Beute für einen Verwelkten geben, der sich immerhin von Menschen ernährte. Was führte ihn dann hierher? Der Verwelkte vor mir war ein Mann, der unter irgendeinem Pseudonym in dieser Stadt lebte, deren Namen mir stets aufs Neue entfiel. Ich war im Lauf des letzten Jahres einfach in zu vielen Städten gewesen, da konnte ich mir nicht jeden merken. Einst mochten die Verwelkten vielleicht Götter gewesen sein, aber inzwischen waren die meisten nur noch ein Schatten ihrer selbst. Also war es vielleicht gar nicht so falsch, sie zu töten. Zumindest redete ich mir das immer ein, wenn mich Gewissensbisse heimzusuchen drohten. Sein Rücken war gebeugt, sein Gang war schleppend, aber als er mich sah, hellte sein Gesicht sich augenblicklich auf. Was immer er benötigte, er glaubte, es von mir zu bekommen und ahnte nicht, dass er damit erfolglos sein würde. „Eine seltsame Zeit für einen Schneespaziergang“, grüßte der andere mich. Ich wollte aber nicht auf den Smalltalk eingehen, besonders nicht in dieser Kälte. Daher sprach ich ihn einfach mit Namen an: „Guten Abend, Marduk.“ Sein ganzer Körper spannte sich an, von seinem gebeugten Rücken war nichts mehr zu sehen. Er musterte mich mit misstrauischem Blick, überlegte wohl gerade, ob er mich kannte. „Mach dir keine Mühe, wir sind uns noch nie begegnet. Ich kenne dich trotzdem.“ Er zog die Brauen zusammen, sein Blick wurde feindselig. „Gehörst du zum Tötungskommando der Menschen?“ Wenn man nach Verwelkten jagte, kam man nicht darum herum, zu erfahren, dass eine besondere Abteilung des FBI ebenfalls Jagd auf sie machte. Soweit ich wusste bestand diese aber rein aus Menschen. Bislang war es mir gelungen, diesen Leuten erfolgreich auszuweichen und ich plante auch nicht, ihnen jemals gegenüberzutreten. „Nein“, antwortete ich daher. „Ich bin auch kein Mensch.“ Darauf entspannte er sich wieder, ich fuhr bereits mit einer Frage fort: „Wann hast du zuletzt gegessen?“ Dank den Aufzeichnungen meines Vaters wusste ich, dass Marduk sich von Stimmbändern ernährte. Seine alte Stimme war ihm wohl nicht gut genug gewesen, also hatte er sich einfach eine neue genommen – und fuhr damit immer noch fort. „Schon eine Weile her“, antwortete er schließlich mit krächzender Stimme, jedes Wort schien ihm Schmerzen zu verursachen, was mich wieder zu einer bestimmten Frage brachte: „Was tust du hier? Es ist weit und breit kein Mensch zu sehen.“ Statt etwas zu sagen, sah er mich mit einem Blick an, aus dem vor allem eines sprach: Hunger. Ich mochte vielleicht kein Mensch sein, aber das war ihm in dieser Situation wohl einerlei. Er griff nach mir, mit einer Hand, die plötzlich mehr einer Klaue glich, zielte direkt auf meine Kehle. Ich bewegte mich keinen Zentimeter, Ketten brachen aus meinen Schulterblättern, schnitten ohne mein Zutun durch die Luft und durchbohrte den Brustkorb von Marduk. Das war nicht genug, um ihn zu töten, aber immerhin hielt es ihn erst einmal auf, er stoppte tatsächlich. Er sah an sich herab, konnte offenbar nicht glauben, was gerade geschehen war, aber er reagierte auch nicht weiter, wusste wohl nicht, was er tun sollte. Solange die Ketten in seinem Körper waren, konnte er sich nicht heilen und während er derart bewegungsunfähig war, nutzte ich die Gelegenheit. Eine weitere Kette, mit einer Sense am Ende, erschien und trennte Marduk mit einem einzigen Hieb den Kopf ab. Eine solche Verletzung konnte kein Verwelkter heilen, egal wie stark er war, so stand es in den Unterlagen meines Vaters und so war es mir auch einmal von ihm erklärt worden, als mir die Heilungskräfte erstmals aufgefallen waren. Damals hatte er mir aber verschwiegen, was genau ich eigentlich war. Marduks Körper folgte seinem Kopf und stürzte in den Schnee. Ich ließ die Ketten wieder verschwinden, sah auf ihn hinab und fragte mich unwillkürlich, wie bei so einigen anderen Verwelkten, was dieser wohl alles im Laufe seines Lebens gesehen hatte, was ihm widerfahren war. Ich wollte mich das nicht fragen, aber es war ein innerer Drang, dem ich nachgeben musste, das verlangte das Erbe meines Vaters von mir. Obwohl ich meinen Abstand zu Marduk hielt, der langsam in eine ölige Pfütze zu schmelzen begann, drangen Erinnerungen und Eindrücke seines Lebens in mich ein, durchbrachen meine aufgebaute Barriere problemlos und entfalteten sich in meinem Gehirn. Die Bilderabfolgen waren zu schnell, um ihnen zu folgen, die Stimmen verzerrt und überlagert, so dass ich lediglich ein Rauschen hören konnte, das sich rasch zu einem nervenzehrenden Hämmern entwickelte. Die Kopfschmerzen ließen mich schwanken und zwangen mich schließlich in die Knie. Marduk war inzwischen nur noch eine schlechte Erinnerung, eine schwarze Lache im weißen Schnee. Ich presste mir die Hand auf die Stirn, die viel zu heiß geworden war, hoffte auf Linderung, die normalerweise Stunden auf sich warten ließ. Eine Zeit, die ich eigentlich nicht hier verbringen wollte, aber ich fühlte mich nicht fähig, aufzustehen, zum Auto zurückzugehen und dann einfach alles in der Wärme auszusitzen, statt kniend im Schnee, der meine Hose durchnässt hatte und meine Beine zusätzlich mit seiner Kälte lähmte. Das Hämmern in meinem Kopf wurde noch einmal intensiver, ich spürte Angst, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, alles ausgelöst von diesen Erinnerungen, die ich nicht einmal erkennen konnte, die mir nichts sagten, außer dass Marduk sehr lange gelebt hatte. Ich drohte, vornüberzustürzen – da spürte ich bereits, wie jemand mich umarmte, mich mit Wärme erfüllte und die Schmerzen, genau wie die finsteren Emotionen, schrittweise von mir nahm. Als ich den Kopf wandte, entdeckte ich Faren, der neben mir kniete und mir ein zuversichtliches Lächeln schenkte. „Alles klar?“ Im ersten Moment war es mir nicht möglich, ihm zu antworten. Er hatte einen Arm um mich gelegt, um mich zu stützen und neigte den Kopf, als meine Antwort auf sich warten ließ. „Es geht schon“, antwortete ich, bevor er noch etwas fragen würde. „Ich muss mich nur etwas ausruhen.“ „Dann gehen wir besser ins Motel zurück, hier ist es ein wenig zu kalt.“ Damit half er mir wieder nach oben und schleifte mich auch zurück zum Auto. Ja, schleifen, ich hatte immer noch kein richtiges Gefühl in meinen Beinen und war deswegen nicht in der Lage, mich selbst fortzubewegen. Inzwischen war ich das gewohnt und ließ deswegen auch zu, dass er mich ins Auto setzte, als wäre ich bereits gelähmt, aber ganz zu Beginn war es mir unangenehm gewesen, ihn das alles für mich machen zu lassen, egal wie oft er mir versichert hatte, dass es ihn nicht störte. Zumindest anschnallen konnte ich mich selbst, so dass ich bereits fertig war, als er sich ebenfalls ins Auto setzte. Trotzdem warf er mir noch einen besorgten Blick zu. „Alles klar? Bereit für die Fahrt?“ Das fragte er jedesmal, ich weiß bis heute nicht, warum. Ich war noch niemals nicht bereit gewesen, loszufahren, aber es war offenbar eine Art ... Tick von ihm. Statt etwas zu sagen, nickte ich, worauf er sich endlich auf das Fahren konzentrierte und den Wagen startete. Kaum spürte ich die beruhigenden Vibrationen des Motors, sank ich tiefer auf dem Sitz und schloss die Augen, worauf ich, aufgrund meiner Erschöpfung, innerhalb kürzester Zeit eingeschlafen war und von einer längst vergangenen Zeit und einem schicksalsträchtigen Abend auf einem Hügel träumte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)