Giniro no Sora von Schangia (One Shot Sammlung) ================================================================================ Kapitel 1: Wer den Tod fürchtet, will immer so elegant wie möglich sterben -------------------------------------------------------------------------- Katsura Kotarou hatte sich in seinem Leben noch nie vor etwas gefürchtet. Seit er denken konnte, plante er mindestens ein halbes Dutzend Schritte voraus, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Er war gedanklich bereits so viele unsinnige, realitätsferne Szenarien durchgegangen (die letzten Endes nicht eingetreten waren), nur um von seinen Gegnern nicht überrascht werden zu können, dass er manches Mal fast schon ein wenig enttäuscht war, wenn alles reibungslos und ohne Zwischenfälle verlief. Planung gab ihm Sicherheit. Wenn er schon vorher wusste, wie er sich in jeder nur irgendwie möglichen Situation verhalten sollte, musste er nicht fürchten, überrascht und getötet zu werden. Der Tatsache, dass er auf alles vorbereitet war, verdankte er einen Großteil seiner bisherigen Erfolge, und auch wenn ihn einige dafür verspotten mochten, würde er nichts daran ändern. Selbstverständlich hatte er auch seinen Tod bereits bis ins kleinste Detail durchgeplant. Er wäre ein Narr, wenn er das nicht getan hätte; ein inkonsequenter, leichtsinniger Narr, der die letzte große Inszenierung seines Lebens sonst dem Zufall überlassen hätte. Wenn seine Zeit gekommen war, wollte er wie ein wahrer Samurai durch seine eigene Klinge sterben. Er wollte so sterben, wie es Shouyou-sensei versagt geblieben ist. ›Wenn du genug Zeit hast, über einen eleganten Tod nachzudenken, warum lebst du dein Leben nicht stattdessen elegant bis zum letzten Atemzug?‹ Es war nicht so, dass Katsura einen besonders ausgeprägten Todeswunsch hatte. Ganz im Gegenteil; nichts bereitete ihm so großes Unbehagen, als über sein eigenes Dahinscheiden nachzudenken. Doch wenn sein Leben irgendwann enden würde, wollte er nach Möglichkeit für sein Land und seine Überzeugung sterben, angefüllt mit Stolz und ohne jede Reue. Katsura wollte nichts von dem bereuen, das er je getan hatte. Aus Reue und Hass wuchsen Monster, und als Monster konnte er nicht das beschützen, das ihm am Herzen lag. Das Leben eines Monsters war hässlich und nicht wert, beschützt, geschweige denn gelebt zu werden. Katsura Kotarou zweifelte nicht an dem, was er tat. Wenn er zweifelte, bedeutete es das Ende. Aber manches Mal lauerte das Ende so beängstigend nahe hinter ihm, dass er sich die Frage stellte, ob es nicht sowieso alles umsonst war. In solchen Momenten war er froh, einen Gefährten an seiner Seite zu wissen, mit dem er über alles reden konnte. »Elizabeth?« Katsura legte das Dokument, das er bis eben gelesen hatte, vor sich auf den Tisch und wartete einen Moment, ehe er weitersprach. »Wenn ich sterbe, dann hänge meine Leiche so hoch, dass mich alle sehen können.« Elizabeth schaute von der Zeitung auf, legte den Kopf schief und sah ihn fragend an. Als er merkte, wie ernst es Katsura war, faltete er die Zeitung zusammen und schenkte ihm seine gesamte Aufmerksamkeit. »Sie sollen sehen, was ich erreichen wollte. Sehen, was ich nicht imstande war zu erreichen.« Seine Stimme wurde leiser. »Sie sollen sehen, wofür ich mein Leben gegeben habe.« Elizabeth schien kurz zu überlegen, schrieb dann hastig auf ein Schild und hielt es hoch. ›Ein heroischer Tod.‹ Darauf lächelte Katsura bitter und richtete den Blick durch das Fenster nach draußen. »Vielleicht auch einfach nur der Tod eines Feiglings, der nicht bis zum Ende überleben konnte.« Er nahm sich Zeit damit, die Welt draußen zu betrachten, die so viel friedlicher wirkte als all das, womit er sich in diesem Raum beschäftigte. Als Katsura schließlich wieder zu Elizabeth sah, hielt der bereits das nächste Schild hoch. ›Feiglinge sind meist die, die am längsten überleben.‹ Darauf überlegte er lange, ließ sich Zeit mit seiner Entgegnung. »Macht es mich zum Feigling, dass ich mich keinem Kampf gegen die Shinsengumi stelle?« Katsura wusste nicht, ob er sich Elizabeths unzufriedenen Gesichtsausdruck nur einbildete oder nicht. In jedem Fall schien er sehr viel energischer auf das Schild zu schreiben als sonst üblich. ›Gute Anführer lassen ihre Männer nicht in den sicheren Tod rennen.‹ »Es ging mir nie darum, ein guter Anführer zu sein«, antwortete er gedehnt und richtete den Blick gen Boden. »Es ging niemals darum, andere Männer in einen Krieg zu führen, den sie ohne mich vielleicht gar nicht als ihren ansehen würden.« Wenn Elizabeth gekonnt hätte, hätte er bestimmt mit den Augen gerollt, dessen war Katsura sich sicher. Dementsprechend wenig überraschte ihn das nächste Schild. ›Wenn dich das so sehr belastet, schneide dir den Bauch auf.‹ Fast hätte er gelacht. So oft schon hatte er davon gesprochen, sich wie ein ehrenhafter Samurai den Bauch aufzuschlitzen. Meistens dann, wenn all seine geplanten Möglichkeiten damit endeten, dass er dem Feind in die Hände fallen würde. Oder zumindest wenn er dachte, dass dies der Fall sein würde. Denn egal, wie ausführlich Katsura plante, unfehlbar war er nicht, das wusste er. Aber manchmal – auch das wusste er – hörte er auf zu kämpfen, obwohl er noch eine Chance auf den Sieg hatte. »Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Ich kann noch nicht sterben.« Ein schwaches Lächeln fand den Weg auf sein Gesicht, als er das Dokument vor sich wieder zur Hand nahm. »Danke, Elizabeth.« Sein Freund nickte knapp und widmete sich wieder seiner Zeitung. Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gespräch führten, und allmählich wurde er des Themas müde. Für Katsura aber war es jedes Mal von allergrößter Wichtigkeit. Er musste sich vergewissern, dass das, was sie tagtäglich taten, einem Zweck diente. Dass als die Leben, die sie beendeten, nicht sinnlos genommen wurden. Dass sie nicht einfach nur Mörder waren, sondern für das Wohl ihrer Heimat kämpften. Katsura Kotarou hatte sich in seinem Leben noch nie vor etwas gefürchtet. Außer vielleicht davor zu sterben, ohne damit irgendetwas erreichen zu können. Kapitel 2: Die Welt macht dem Platz, der weiß, wohin er geht ------------------------------------------------------------ Es war nicht so, dass Shinpachi unzufrieden mit seiner Rolle war. Die Stimme der Vernunft zu sein lag von jeher in seiner Natur, und weder konnte, noch wollte er sich dem oftmals schon unwirklich scheinenden Schwachsinn um sich herum widerstandslos ausliefern. Wenn er Gintoki und Kagura nicht im Zaum hielt, wer sollte es dann tun? Die Shinsengumi? Aber nicht, wenn sie die Mitglieder schickten, die seine Freunde in Exzentrik fast noch übertrafen. Solche Aktionen endeten meist mit noch mehr Blessuren für ihn, als er bereit war zu erdulden. Shinpachi war auch in keinem Maße ein Mensch, der anderen gegenüber missgünstig oder habgierig war. Ganz im Gegenteil; er war sogar ein wenig stolz auf all die guten, moralisch wertvollen Charaktereigenschaften, die er besaß. Ihm reichte vollkommen aus, was er derzeit zum Leben hatte. Mehr brauchte er nicht. Wenn er also ein so überaus genügsamer, hilfsbereiter Mensch war, warum widerfuhren ihm dann in gepflegter Regelmäßigkeit – grob geschätzt etwa dreimal am Tag – so schreckliche Dinge? Nach langem, angestrengtem Nachdenken musste sich Shinpachi der grausamen Realität stellen: es lag an seiner Rolle. Woran auch sonst? Seine Rolle setzte praktisch voraus, dass er Schlimmes durchleben musste, über das er sich im Nachhinein zur Belustigung der Zuschauer aufregen konnte. Die einzig logische Schlussfolgerung war also, sich eine neue Identität aufzubauen. Und Shinpachi hatte die meiste Zeit seines Lebens damit zugebracht, sich Pläne und Inspirationen für einen Imagewechsel zurechtzulegen. Er brannte förmlich darauf, etwas Neues auszuprobieren. Etwas Besseres. Etwas, das Kagura weniger oft dazu einlud, ihn zu verprügeln. Es lag für ihn nahe, sich zunächst auf Aspekte zu konzentrieren, die zu seinen Stärken zählten und diese dann hervorzuheben. Shinpachi mochte nicht so stark sein wie Gintoki oder Kagura, aber auch er verfügte über ein gewisses Maß an athletischem Geschick. Ohne würde er schließlich einen ziemlich lausigen Samurai abgeben. Sein neues Image würde somit das eines Sportlers sein. Hochgewachsen, ein schlanker aber definierter Körper, eine positive, lebensbejahende Aura – diese Identität stand ihm wirklich gut zu Gesicht. Trotz all seines natürlichen Talents für diese Rolle war er sich dennoch bewusst, dass er zuerst ein wenig in seine neuen Aufgaben herein wachsen musste. Gintoki und Kagura waren seine schärfsten Kritiker, und um sie überzeugen zu können, würde es nicht reichen, ein wenig seinen neu gekauften Tennisschläger durch die Gegend zu schwingen. Erst wollte er ein wenig trainieren. Sein Weg führte ihn in den Park, wo er sich ein ruhiges, abgelegenes Plätzchen suchte, an dem er nicht Gefahr laufen würde, kleine plärrende Bälger mit seinen Tennisbällen zu erschlagen. Die ersten hundert Aufschläge bestätigten Shinpachi in seiner Vorsicht und ließen ihn erkennen, dass angeborenes athletisches Geschick nicht unbedingt bedeutete, für Sportarten geschaffen zu sein. Innerhalb von fünf Minuten hatte er bereits drei Passanten mit mehr oder minder großer Kraft hinter seinen Schlägen getroffen, und langsam aber sicher hatte er die verächtlichen Blicke satt. Frustriert beschloss er, nur noch einen Aufschlag zu versuchen und dann wieder nach Hause zu trotten. Um sich selbst und vor allen den anderen Parkbesuchern etwas zu beweisen, gab er sich die allergrößte Mühe, den Ball gerade in die Luft zu werfen. Dann brachte er sich in Position, und— —sah hilflos dabei zu, wie der Tennisball einem jungen Mann auf den Kopf fiel. Shinpachi wich jegliche Farbe aus dem Gesicht, als er zu dem anderen lief, die überschwängliche Entschuldigung bereits auf den Lippen. »Ah, es tut mir leid, ich— oh, Yamazaki-san!« Yamazaki rieb sich zwar mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf, lächelte Shinpachi aber dennoch an und winkte zum Gruß. »Ich wusste gar nicht, dass du Tennis spielst.« Shinpachi verbeugte sich noch einmal rasch zur Entschuldigung und kratzte sich dann fast schon verlegen am Hinterkopf. »Habe ich bis heute auch nicht. Ich bin noch ein Anfänger, aber ich glaube, allmählich habe ich den Dreh raus.« Das war eine Lüge. Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, weder von den Regeln, geschweige denn davon, wie er den Ball treffen musste, ohne sich oder anderen damit zu schaden. Allerdings war er zu stolz, sich das einzugestehen, und so plapperte er einfach munter drauf los und hoffte, dass Yamazaki ihn nicht ertappte. In der Tat schien Yamazaki entweder nicht zu bemerken, dass Shinpachi ihn anlog, oder es war ihm schlichtweg egal. Er klatschte begeistert in die Hände und strahlte sein Gegenüber an. »Wollen wir dann vielleicht ein Trainingsmatch spielen? Das ist weitaus effektiver, als alleine zu üben.« Shinpachi hätte einfach ablehnen und sich eingestehen sollen, dass er eine Niete im Tennis war. Er hätte sich und Yamazaki so viel damit ersparen können, aber natürlich hatte er das nicht getan. Das wäre viel zu einfach gewesen. Nein, Shinpachi musste sein nicht vorhandenes Können erst so eindrucksvoll unter Beweis stellen und seinen Übungspartner so oft mit dem Ball treffen, dass Yamazaki – der gutmütige, wohlwollende, aufopferungsvolle Yamazaki – ihn bat, das Training frühzeitig abzubrechen. »Ich will dich nicht entmutigen, aber ein Naturtalent bist du nicht«, begann Yamazaki zögernd, aber Shinpachi winkte ab. Auf schonende Worte konnte er nach dieser Glanzleistung verzichten. »Hab ich auch gemerkt.« »Was versuchst du eigentlich, damit zu bezwecken?« Anstatt jedoch eine Antwort abzuwarten, wartete Yamazaki mit einer eigenen Idee auf. »Ein Imagewechsel vielleicht?« Irgendetwas an dieser Vorstellung schien ihn jedoch dermaßen zu amüsieren, dass er so lange laut lachte, bis ihm Shinpachis angesäuerter Gesichtsausdruck auffiel. Augenblicklich hörte er auf und sah ihn versöhnlich an. »Entschuldige.« »Schon okay. Es ist ja auch zum Lachen.« Er zuckte vage mit den Schultern. Die nächsten Worte waren ihm unangenehm, also richtete er den Blick gen Boden. »Aber ich hab einfach das Gefühl, dass mir irgendetwas fehlt, verstehst du?« Darauf musste Yamazaki lächeln. »Ja, das verstehe ich.« Er überlegte kurz. »Wenn es wirklich das ist, das du tun willst, dann darfst du dich von diesem kleinen Rückschlag nicht entmutigen lassen. Versuche es so lange, bis du mit dem Ergebnis zufrieden bist.« Sehr zu Shinpachis Erstaunen machte das tatsächlich Sinn. Er hatte sich viel zu schnell von seinem anfänglichen Versagen unterkriegen lassen. Aber das würde ihm kein zweites Mal passieren. Er musste einfach mit einer Idee aufwarten, die seine letzte um Längen übertraf. Er lächelte nun ebenfalls und nickte zustimmend. »Das werde ich. Vielen Dank, Yamazaki-san!« Da es augenscheinlich nichts brachte, sich nur auf Altbewährtes zu verlassen, entschied Shinpachi sich dazu, etwas ihm vollkommen Fremdes auszuprobieren. Nachdem er sich also genügend Wissen über diverse Jugendsubkulturen angelesen hatte, kam er zu dem Schluss, dass er wohl am wenigsten als Goth taugen würde. Also besorgte er sich schwarze Klamotten, färbte sich die Haare und machte – sehr zu seinem Leidwesen – nicht seine ersten Erfahrungen mit Kajal. Einmal mehr verschlug es ihn in den Park, vermutlich weil es dort genügend Menschen gab, an denen er sein neues Konzept testen konnte. Selbst, wenn – oder gerade weil – ihn die meisten Besucher diesmal mieden. Er wusste nämlich nicht genau, ob es daran lag, dass er sie früher am Tag mit Bällen getroffen hatte, oder daran, dass sie sich vor seinem neuen Outfit fürchteten. Wenn Letzteres der Fall war, fing sein zweiter Testlauf auf jeden Fall gut an. In sich zusammengesunken, ein von schwarzen Klamotten verdeckter Körper, eine kleine graue Wolke über dem Kopf, aus der es unablässig regnete – wenn er es recht bedachte, stand ihm diese Identität vermutlich sehr viel besser zu Gesicht als die vorherige. Dank seines neugewonnenen Selbstvertrauens machte es ihm nicht einmal etwas aus, dass er seine neue Identität wohl noch heute an Kagura würde testen müssen. Die kam nämlich just in diesem Moment auf Sadaharu in den Park geritten und sah sich auf der Suche nach ihrem nächsten Opfer aufmerksam um. Als sie Shinpachi erblickte, brauchte sie einige Momente um sicherzugehen, dass er es wirklich war. Shinpachi verbuchte das innerlich als Erfolg. Dann sprang sie von Sadaharus Rücken und kam auf ihn zu, blieb erst stehen, als sie nur noch etwa eine Armlänge Abstand trennte. Sie beugte sich runter, um Shinpachi direkt in die Augen sehen zu können, und in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass es für ihn nicht schlechter hätte laufen können. »Dein Aufzug macht mich wütend. Geh sterben«, murmelte Kagura nach einiger Zeit, in der sie ihn nur stumm angestarrt hatte. Shinpachi spürte, wie ihm Angstschweiß auf die Stirn trat. »O-oi, Kagura-chan, darum geht es in der Gothic-Szene ni—« Bevor er seinen Satz beenden konnte, packte Kagura ihn am Kragen. »Warte, ich helfe dir.« Sie gab Shinpachi nicht einmal die Möglichkeit, sich in irgendeiner Form vor dem Aufprall auf dem harten Asphalt zu schützen – Warum war der Asphalt im Park so hart? Hier spielten Kinder, verdammt! –, als sie ihn über die Schulter warf und sein Gesicht Bekanntschaft mit dem Boden machen ließ. Das Letzte, woran Shinpachi dachte bevor er ohnmächtig wurde, war, was für eine gute ästhetische Entscheidung es doch gewesen war, als er seine Brille für ein untaugliches Gothic-Accessoire befunden und zu Hause gelassen hatte. Es mochte daran liegen, dass Shinpachi bleibende kognitive Schäden davongetragen hatte, aber in seinem Kopf hatte seine nächste Idee wahrlich grandios geklungen. In der Praxis sah seine vorgesehene Mischung aus Rocker, Manager und Clown allerdings aus wie das misslungene Experiment eines blinden Wissenschaftlers. Er konnte nicht einmal sagen, welcher Teil seines neuen Outfits der Anfang vom Ende war. Die Ärmel seines Anzuges hatte er abgerissen, damit sie zu dem Irokesen und der Gitarre passten. Warum er es jedoch für eine gute Idee gehalten hatte, zusätzlich dazu eine Clownsnase und übergroße Schuhe zu tragen, war ihm schleierhaft. Vermutlich war in seinem Kopf wirklich mehr kaputt gegangen, als er zunächst vermutet hatte. Diesmal wagte er sich nicht wieder in den Park – so viel Würde besaß er dann doch noch –, sondern ging stattdessen ans Flussufer und setzte sich ein wenig abseits ins Gras. Sein Enthusiasmus hatte einen gehörigen Dämpfer kassiert und seine Laune war an einem neuen Tiefpunkt angelangt, da brauchte er keine Fremden, die ihm obendrein ins Gesicht lachten. »Nee, Shinpachi-kun, was machst du denn hier?« Unwillkürlich zuckte der Angesprochene zusammen. Freunde, die ihm ins Gesicht lachten – oder ihn mit dem Gesicht voran in den Asphalt prügelten –, brauchte er auch nicht unbedingt, aber bei Gintoki machte er sich eigentlich wenig Sorgen darum. Deswegen nahm er auch kommentarlos hin, dass dieser sich neben ihn ins Gras fallen ließ und erst einmal eine Weile beobachtete, wie die Sonne langsam unterging. »Ich dachte, du testest deine neuen Outfits im Park«, begann Gintoki irgendwann beiläufig. Als er keine Antwort erhielt, sah er Shinpachi abschätzend an und schüttelte dann den Kopf. »Wobei es vermutlich besser ist, wenn dich in dem Aufzug nicht allzu viele Menschen sehen.« Shinpachi schwieg immer noch eisern, und allmählich riss Gintoki der Geduldsfaden. Er schnalzte mit der Zunge und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Oi oi, wenn du Probleme hast, solltest du darüber reden.« Ob es an seiner Aufforderung lag oder nicht, war Gintoki nicht ganz klar, doch Shinpachi zog die Beine an die Brust, schlang die Arme um seine Knie und seufzte leise. »Bist du unzufrieden mit dir selbst, Gin-san?« »Bist du es?« Shinpachi schwieg wieder eine Zeit lang, ließ das Kinn auf seinen Knien ruhen. »Manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich nicht genügen. Als könnte ich so viel besser sein, wenn ich nur den richtigen Weg finden würde.« Die Sonne versank immer weiter am Horizont. Gintoki stützte sich auf seine Arme und lehnte sich nach hinten. »Nur du selbst zu sein ist genug, findest du nicht?« »Huh?« Es war das erste Mal, dass Shinpachi ihn ansah. Gintoki hielt seinen Blick jedoch auf den Horizont gerichtet. »Dass du so bist, wie du bist, ist nichts Schlechtes. All das, was dich zu demjenigen gemacht hat, der du heute bist, ist es wert, von dir anerkannt zu werden. Etwas, das deine Persönlichkeit formt, ist niemals unwichtig. Deswegen geht es auch so fürchterlich nach hinten los, wenn du versuchst jemand zu sein, der du nicht sein kannst oder sein musst.« Er drehte den Kopf ein wenig nach links und grinste den anderen an. »Kagura hat dich verprügelt, weil ihr das nicht gefiel.« »Sie hat mich verprügelt, weil ihr danach war«, korrigierte Shinpachi trocken, doch Gintoki schüttelte missbilligend den Kopf. »Das ist nicht der Punkt, Shinpachi-kun.« Das sah er zwar ein wenig anders, aber Shinpachi wusste, dass es keinen Sinn machen würde, darüber zu diskutieren. Stattdessen wartete er darauf, dass Gintoki weitersprach. »Wenn du selbst dich schon nicht leiden kannst, wer sollte es dann tun?« »Wie meinst du das?« Misstrauen lag in seiner Stimme. Etwas an der Art, wie diese Frage formuliert war, gefiel Shinpachi nicht. Woran genau es lag, wusste er nicht, aber er hörte Gintoki noch aufmerksamer zu als zuvor. »Wenn dich etwas an dir stört, dann hast du die Wahl, es entweder zu ändern oder nichts zu tun. Aber auch deine negativen Eigenschaften sind ein Teil von dir, und du solltest sie nicht zu vorschnell als etwas abstempeln, von dem du dich lösen willst.« In der Pause, die auf seine Worte folgte, überlegte er zu angestrengt für jemanden, der von anderen und nicht von sich selbst sprach. Shinpachi beschloss, nicht darauf einzugehen und wartete geduldig. »Wenn du beginnst, deine negativen Seiten zu wertschätzen, werden auch andere Menschen das tun.« »Gin-san...« Seine Worte hatten ihn berührt, hatten ihm Mut gemacht, und Gintoki hätte es einfach dabei belassen sollen. Stattdessen stand er auf, klopfte sich den nicht vorhandenen Staub von der Hose und streckte sich. »Na ja, soweit zumindest die Theorie. Was du daraus machst, ist deine Entscheidung.« Damit wandte er sich zum Gehen und sah nicht einmal mehr über die Schulter zurück zu Shinpachi, der immer noch fassungslos am Boden saß. »Bis dann. Und vergiss nicht, dass du heute dran bist, das Abendessen zu besorgen.« Ihm blieb zunächst nichts anderes übrig als stumm zu nicken und Gintoki dabei zuzusehen, wie er davonging. Lange Zeit dachte Shinpachi über das nach, was der andere gesagt hatte. Darüber, ob Gintokis Worte überhaupt Sinn gemacht haben, und darüber, ob sie auf seine Situation zutrafen. Er dachte so lange nach, bis er Kopfschmerzen bekam, aber die konnte er auch auf Kaguras Attacke früher am Tag zurückführen. Schließlich erhob auch er sich und beschloss, den Heimweg anzutreten. Letzten Endes war es vermutlich gar nicht so wichtig, wie ausgefallen seine Rolle war oder nicht. Vielleicht reichte es auch einfach, wenn er Freunde hatte, die ihn so mochten, wie er war. Kapitel 3: Gebranntes Kind scheut das Feuer ------------------------------------------- ›Nichts ist beschämender für einen Samurai, als die Scham als solche nicht zu verstehen.‹ Mit diesen Worten hatte Shouyou-sensei einst eine seiner Unterrichtsstunden begonnen. Damals hatte Takasugi nicht gewusst, was damit gemeint war. Hatte erst sehr viel später begreifen können, dass es das Bestreben seines Lehrers war, eine neue moralische Basis zu schaffen. Für ihn war Scham nicht nur ein simpler Gemütszustand, sondern vielmehr der Kernwert, der das moralische Verständnis eines Menschen definierte. Das innere moralische Verständnis vermittelte einem Individuum das Gefühl der Scham bei weitem besser, als die Definition der Gesellschaft es jemals könnte. Die Gesellschaft konnte nicht fair sein; sie konnte nichts wahrhaftig vermitteln, denn das, was als die gesellschaftlich anerkannte Wahrheit galt, war nur die Lüge, die den meisten Leuten von Nutzem war. Was die Gesellschaft als beschämend empfand – was sie als Verbrechen empfand –, war in den seltensten Fällen das, was mit der Moralvorstellung eines Samurai einher ging. ›Welches ist das schwerere Vergehen, ein Verbrechen oder Scham? Das Verbrechen gehört zum Körper, die Scham jedoch zur Seele.‹ Und die eigene Seele zu beschützen war der Grund, aus dem ein Samurai sein Schwert führte. Nur war Takasugis Seele schon lange nicht mehr etwas, das er beschützen wollte. Sie war nichts mehr, das es wert wäre, von irgendwem beschützt zu werden. Vermutlich war sie längst verschwunden. Verschlungen von der Bestie, die in seiner Brust ruhte. Es war ein beklemmendes Gefühl, Shouyou-sensei nicht in dem Punkt nacheifern zu können, der ihm am wichtigsten gewesen war. Doch Takasugi hatte nicht mehr die Kraft, für das Wohl dieser Welt zu kämpfen. Einst hatte er dafür kämpfen können, doch jetzt ging es ihm nur noch darum, alles zu zerstören, das sich ihm in den Weg stellte. War es da wirklich noch von Bedeutung, wie genau er sich an die Lehren eines Toten halten konnte, der von dieser Welt zugrunde gerichtet worden war? Mit einer Mischung aus kindlicher Vorfreude und bitterer Gleichgültigkeit betrachtete Takasugi das prunkvolle Gebäude vor sich. Es war bereits nach Mitternacht, und dafür, dass in diesem Stadtteil Edos sehr viel mehr hochrangige Amanto residierten als in anderen Bezirken, schienen ihm die Straßen viel zu friedvoll. Oder vielleicht war er zu sehr an den Krieg gewöhnt, als dass er sich wohl fühlen konnte, wenn er von Frieden umgeben war. Unterbewusst festigte sich sein Griff um die brennende Fackel in seiner Hand. Es kam ihm nur entgegen, dass man ihn gelehrt hatte, nicht die gesellschaftliche Definition von Scham anzuerkennen, sondern sich auf seine eigene moralische Integrität zu verlassen. Blinder Gehorsam gegenüber den moralischen Prinzipien eines anderen war nicht die Art, auf die ein Samurai leben oder sterben sollte – so zumindest Shouyou-sensei. Obwohl Takasugi sich an jede einzelne Lehrstunde erinnerte, als wäre sie erst wenige Augenblicke her, war ihm diese besonders im Gedächtnis geblieben. Sie hatten darüber gesprochen, dass jemand, der von einer Krise nationaler Sicherheit wusste, und dennoch nichts dagegen unternahm, mehr Scham und Schuld auf sich lud als jemand, der gegen das Gesetz verstieß, um gegen diese Krise anzukämpfen. Deswegen waren sie in den Krieg gegen die Amanto gezogen, hatten gemordet und für die Unabhängigkeit ihrer Heimat gekämpft. Darum waren so viele von ihnen gestorben. Die Nachtluft im Stadtteil Shinagawa brannte ein wenig in seinen Lungen. Vielleicht war es aber auch nur die Vorfreude, der verheißungsvolle Geruch von Flammen und verglimmendem Leben, und der entfernte Klang von Schreien, die vom Rauch geschluckt wurden. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, als er daran dachte. Wenn er die Botschaft der Amanto vor sich in Brand steckte, beging er zwar ein Verbrechen vor der Regierung, doch er würde sich nicht im Geringsten für seine Tat schämen. Er musste sich für keine seiner Taten schämen, denn es war nicht seine Schuld, dass es so weit gekommen war. Nichts von alldem war seine Schuld. Er hatte zum Schwert gegriffen und hatte gekämpft; für seine Heimat, für Shouyou-sensei, für seine eigene Definition von Gerechtigkeit, und für Überzeugungen, die er nur dann ins Feld führte, wenn er sich einen Vorteil davon versprach. Wenn Takasugi darüber nachdachte, welche Ereignisse ihn an diesen Punkt gebracht hatten, musste er fast laut loslachen. Er hielt sich jedoch zurück, schloss die Augen und warf die Fackel in die Büsche vor dem Gebäude. Dann lauschte er, lauschte auf das leise, verräterische Knistern, das die Hölle ankündigte, die sich gleich auftun würde. Er hielt die Augen geschlossen, bis er die Flammen durch seine Lider wild tanzen sehen konnte. Als er sie wieder öffnete, brannte die Botschaft lichterloh. Der dicke Rauch trieb ihm fast augenblicklich Tränen in die Augen. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, biss die Zähne zusammen. Takasugi hasste Feuer, hasste Brände und lodernde Flammen, die alles um sich herum nur gnadenlos auszulöschen wussten. Es erinnerte ihn daran, wie an jenem Tag alles zu Ende gegangen war. Daran, wie machtlos er einst war – und daran, woran es ihm bis heute mangelte, vermutlich auf ewig mangeln würde. Aber der Ursprung dessen war eine Bestie, der selbst er sich nicht zu stellen vermochte. Ein Monster, so beängstigend und hämisch, dass Takasugi sich eher selbst in ein Flammenmeer stürzen würde, als mit ihm die Klingen zu kreuzen. Lächelnd wandte er sich zum Gehen. Die nachlassende Wärme in seinem Rücken bedeutete, dass er sich immer weiter vom Feuer entfernte, aber Takasugi würde niemals zugeben, wie froh er darüber war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)