Home Sweet Home von Rabenkralle ================================================================================ Kapitel 10: Schatten der Vergangenheit -------------------------------------- Kapitel 10: Schatten der Vergangenheit Temari umklammerte eins der Sofakissen und starrte auf den Fernseher, ohne das, was gerade lief, wirklich zu sehen. Sie fühlte sich in jeder Hinsicht miserabel. Während sie ihren Freund – der Mann, der sie in den letzten Wochen wie ein Gentleman behandelt, zum Lachen gebracht und liebevoll umsorgt hatte; der Mann, den ihre kleine Tochter sehr mochte und sicherlich als Vaterfigur akzeptiert hätte –, während sie ihn küsste, dabei war, den entscheidenden Schritt zu tun, wurde ihr klar, wie sehr sie ihren Ex vermisste. Sechzehn Monate hatte sie ihn nun schon nicht gesehen oder etwas von ihm gehört und trotzdem sehnte sie sich immer noch nach ihm. Warum – verdammt noch mal! – kam sie einfach nicht von ihm los? Das war doch absurd … Sie starrte das Shōgibrett an. Dieses dumme Spiel war daran Schuld, dass sie sich genau im falschen Moment an Shikamaru erinnerte. Wenn sie Koutarou nur gesagt hätte, dass sie kein Spielbrett hatte und sie stattdessen eine Runde Mensch ärgere dich nicht gespielt hätten … Wäre es dann ganz anders gekommen? Nein, dachte sie. Im entscheidenden Augenblick hätte sie sich trotzdem zurückgezogen. Sie hatte ihm zwar nicht gesagt, dass die Erinnerung an ihren Verflossenen der Auslöser für ihre Blockade war, doch dass sie noch nicht bereit war, mit einem anderen Mann zu schlafen, war die Wahrheit. Und wenn Koutarou dies gleich akzeptiert hätte, wäre diese Situation nicht so eskaliert … Eskaliert wäre es auch nicht, wenn sie nach dem Shōgi nicht so auf ihn losgegangen wäre und voller Inbrunst geküsst hätte. Sie trafen sich schließlich schon seit fast zwei Monaten und da war es nur natürlich, dass er mehr von ihr wollte. Wie konnte sie ihm das verübeln? Außerdem hatte sich Koutarou bis hierhin immer zurückgehalten und sie zu nichts gedrängt. Wie sollte ein Mann es denn interpretieren, wenn die Freundin plötzlich eindeutige Signale sendete? Ja, es war größtenteils ihre Schuld. Wie kam sie auch nur auf die Idee, ihrem Kummer, ihrem Frust mit Sex entrinnen zu wollen? Was machte es besser, wenn sie hinterher doch bloß über ihre gescheiterte Beziehung nachdachte? Das war unehrlich und das hatte Koutarou nicht verdient. Temari kamen die Worte ihres Bruders in den Sinn. Sie malträtierte ihre Unterlippe in Gedanken daran. Sie hatte es so dermaßen vergeigt, vergeigter ging es nicht mehr. Ihre Finger krallten sich fester ins Kissen und sie warf es gegen die Wand. Wütend griff sie nach dem Schachbrett, das ihr Shikamaru vor vier Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte und das die Ursache für diesen furchtbaren Abschluss des Abends war. Sie verstand nicht, warum sie es nicht schon vorher entsorgt hatte, aber das holte sie nun nach. Entschlossen ging sie über den Flur, riss die Haustür auf und hechtete nach draußen. Der feine Sand unter ihren Füßen beflügelte sie in ihrem Vorhaben. Sie riss den Deckel der Mülltonne auf, hob den Arm, mit dem sie den Beutel mit den Steinen und das Brett hielt und – Ihre Hand zitterte. Sie zwang sich, dieses verfluchte Zeug, das ihr heute nur Pech gebracht hatte, loszulassen, im Abfall zu versenken und somit aus ihrem Leben zu verbannen, doch sie konnte es nicht. Sie konnte dieses wertvolle Erinnerungsstück nicht einfach so wegwerfen, egal wie wütend und enttäuscht sie von seinem vorigen Besitzer war. Ihr Arm sank herab, sie ließ los und das Spiel landete sanft im Sand. Sie war den Tränen nahe. Warum konnte sie ihre Vergangenheit nicht endlich hinter sich lassen? --- Am Morgen wachte sie mit verquollenen Augen auf. Sie wusste noch, dass sie sich vor Selbstmitleid in den Schlaf geweint hatte und sie kam sich nun, da einige Stunden vergangen waren, unsagbar dämlich vor. Wenn sie mit Koutarou sprach, war ihre Beziehung sicher zu retten und gegen ihre Selbstsabotage und ihr In-der-Vergangenheit-leben halfen einige Sitzungen beim Psychologen. Ihre Probleme waren doch mit Leichtigkeit zu beseitigen … Ja, wenn du die Protagonistin im einem Liebesschnulzen wärst, klappt das garantiert, dachte sie voll Ironie. Zum Lachen war ihr allerdings nicht zumute. Nun hatte sie zwar erkannt, dass sie etwas tun musste, aber ob es dann letztendlich funktionierte, war eine ganz andere Frage. Temari stand auf, sah nach ihrer Tochter, die wie immer um halb sechs noch schlief, und ging in die Küche. Sie hoffte auf eine Tasse von Gaaras furchtbarem Teufelszeug, doch da ihr Bruder noch nicht wach war, setzte sie selbst eine Kanne Kaffee für garantierte Herzraserei auf. --- Eine Viertelstunde später nahm sie einen Schluck von ihrem schwarzen Gebräu. Es schmeckte widerlich bitter und es kam ihr vor, als wirkte die Überdosis Koffein bis in ihre Haarspitzen. Also genau das Richtige nach einem verkorksten Date und der schlafarmen Nacht, die darauf gefolgt war. Sie trank noch ein wenig, verzog angeekelt das Gesicht und griff nach der Milchpackung. Sie wollte wach werden und nicht versuchen sich umzubringen! Zwei Löffel Zucker verfeinerten das Ganze und so hatte sie wie gewohnt ihre Milch mit Kaffee. Kein Frust der Welt war es wert, an einem selbst verursachten Herzkasper zu sterben … Obwohl, ohne Kairi hatte diese Vorstellung schon seinen Reiz. Temari zog eine selbstironische Grimasse. Sie war zwar eine Kick-Ass-Kunoichi, wie es im Buche stand, beziehungsweise es mal gewesen, aber um sich das Lebenslicht auszupusten war sie trotzdem zu feige. Zumal dieser Rückschlag nicht stark genug war, um so etwas zu rechtfertigen. Er tat weh, aber es war ein verdammt lächerlicher Grund für einen Selbstmord! Gott, worüber denkst du denn gerade nach?, fragte sie sich. So verzweifelt konnte sie doch gar nicht sein … Zumindest noch nicht, stellte sie dazu fest. Genauso wie sie nicht verzweifelt genug war, um Koutarou ranzulassen. Sie verscheuchte diesen Gedankenfetzen und beschloss, so schnell wie möglich mit ihm darüber zu reden und sich bis dahin nicht einmal in ihrer Vorstellung ein Kunai in den Hals zu stoßen. --- Unentschlossen stand sie vor dem Lokal, in dem Koutarou arbeitete. Sollte sie wirklich hineingehen oder doch abwarten, dass er sich bei ihr blicken ließ? Nach der Nummer taucht er so schnell bestimmt nicht bei dir auf!, ermahnte sie ihr Gewissen. Außerdem wollte sie dieses Missverständnis – oder was auch immer es gewesen war – aus der Welt schaffen. Kneifen war keine Option. Temari setzte sich in Gang und trat durch den Haupteingang. Ihr Herzschlag wurde rasanter, als sie sich umsah. Sie konnte ein halbes Dutzend Gäste erkennen, die zu Mittag aßen, und zu allem Überfluss bediente natürlich seine geschwätzige Kollegin die Leute. Was für ein Glück sie doch hatte! Die junge Frau mit der großen Klappe entdeckte sie rasch, fertigte die beiden wartenden Männer mit ihrer bestellten Flasche Sake ab und kam zu ihr. „Du suchst bestimmt Koutarou!“, legte sie fest. Temari fragte sich, wann sie diesem Mädel das Du angeboten hatte – vielleicht in einem früheren Leben –, nickte jedoch. Sie grinste breit und schüttelte dann den Kopf. „Er ist nicht da!“ Und warum grinste sie dann so blöd? Wahrscheinlich stand sie selbst auf ihn und fand es lustig, seiner Freundin eins auszuwischen … „Und wann kann ich ihn antreffen?“ Die Kellnerin schaute diesmal so belustigt drein, dass sie ihr am liebsten mit ihrem Fächer ein neues Aussehen verpasst hätte, wenn sie nicht offensichtlich ein Kindergartenkind vor sich gehabt hätte. Aber wahrscheinlich führten sich nicht mal die so affig auf. Sogar Kairi benahm sich besser als diese dreiste Göre … Temari schluckte ihre Verärgerung hinunter und hoffte, dass sie auf ihre – für minderbemittelte Menschen wie sie – schwere Frage eine Antwort bekam. „Er hat sich ein paar Tage frei genommen“, sagte sie schließlich. „Ein Zwischenfall in der Familie. Koutarou hat gesagt, ich soll es dir ausrichten, falls du hier auftauchst. Und dass es ihm leid tut, dass er es dir nicht persönlich sagen kann.“ Erleichterung breitete sich in ihr aus. Fast hätte sie geglaubt, dass er absichtlich im Urlaub war, um ihr aus dem Weg zu gehen … „Hat er erwähnt, wann er zurück ist?“ „Bis Dienstag hat er frei. Nächsten Mittwoch zur Spätschicht sollte er wieder hier sein.“ Die junge Frau klopfte ihr auf die Schulter und lachte. „Aber ich bin sicher, dass er vorher bei dir vorbeischaut, so verrückt, wie er offensichtlich nach dir ist.“ Ihr Groll auf Koutarous vorlaute Kollegin verschwand. Sie schien sich tatsächlich für ihn zu freuen … Sie murmelte ein „Danke“, drehte sich um und ging. --- „Und was meinst du?“ Temari warf Matsuri, die neben ihr ging, einen erwartungsvollen Seitenblick zu. „Ich meine, dass ich letzte Nacht verdammt guten Sex hatte!“, erwiderte diese und grinste über beide Ohren. „Und mit verdammt gut meine ich phänomenal!“ „Und ich finde es großartig, wie gut du mir wieder zugehört hast“, meinte ihre Freundin sarkastisch. „Ich schüttle dir hier mein Herz aus und was kommt von dir? Dass dich irgendein Typ, den du gestern in irgendeiner Seitengasse getroffen hast, um den Verstand gevögelt hat! Ich komme um vor Spannung! Das passiert dir ja auch nur einmal die Woche!“ „Du könntest dich doch mal freuen, dass es bei mir auch mal glatt läuft.“ „Du redest jedes Mal so, wenn du einen neuen Kerl kennengelernt hast und er dich flachgelegt hat“, sagte Temari gereizt. „Entschuldige also, wenn mich solche Geschichten nicht mehr umhauen, zumal ich selbst ein kleines Problem habe.“ „Erstens war es kein One-Night-Stand, denn ich treffe diese Person schon länger; und zweitens, ist dieses Missverständnis zwischen dir und Koutarou ein Witz.“ „Dann siehst du ja, wie sehr ich über diesen Witz lache“, bemerkte sie mit einem müden Lächeln. „Die letzten Wochen sind so gut gelaufen und dann fällt mir auf, dass ich doch noch nicht bereit bin, um mit ihm zu schlafen und schmeiß ihn raus.“ „Vertrau mir einfach. Koutarou mag dich wirklich und wird sich von so einer Kleinigkeit nicht abschrecken lassen.“ Matsuri legte den Arm um ihre Schultern. „Ich an deiner Stelle wäre nach sechzehn Monaten ohne Sex zwar notgeil ohne Ende und hätte es mir von ihm noch am Abend des ersten Dates besorgen lassen, aber wenn du es langsam angehen lassen willst, ist es doch okay. Jeder ist anders.“ Zum Glück!, dachte Temari. Aber war es das in diesem Fall wirklich? Ihre Freundin führte seit Jahren ein offenes, ausgeprägtes Sexleben und hatte Spaß daran und sie selbst schaffte es nach fast eineinhalb Jahren immer noch nicht, sich auf einen anderen Mann einzulassen? Unterschiedlicher ging es gar nicht und sie wünschte sich, irgendwo in der Mitte dieser beiden Extreme zu sein. Wahrscheinlich wäre sie dort auch in etwa gewesen, wenn sie nicht ständig an ihren Ex dachte. „Du kannst ja doch manchmal vernünftige Sachen von dir geben“, sagte sie schließlich. „Ich hätte nicht gedacht, dass du mich in dem Punkt in irgendeiner Weise verstehen würdest.“ „Tu ich auch nicht“, erwiderte ihre Freundin. „Ehrlich, es ist mir schleierhaft, wie man nach der langen Zeit immer noch nicht bereit für Sex mit einem anderen sein kann. Was war noch mal der Grund?“ Temari starrte sie an ohne zu blinzeln. Sollte sie es ihr tatsächlich erzählen? Auf die Gefahr hin, dass sie sich über sie lustig machte? Sie kam sich selbst ja total bescheuert vor … „Jetzt schieß schon los!“, forderte Matsuri sie auf. „Mir kannst du es doch sagen. Ich bin schließlich deine beste Freundin.“ „Okay“, gab sie nach, „aber wenn du lachst, warst du meine beste Freundin!“ Sie hob die Hand und verkreuzte Zeige- und Mittelfinger. „Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich nicht lache.“ Und selbst wenn sie es doch tat, was war so schlimm daran? Umgekehrt würde Temari es wohl nicht anders machen. Ihr Grund war halt so lächerlich, dass man nur darüber lachen konnte. Sie atmete kurz durch und begann: „Es ist inzwischen so lange her, dass ich mich von ihm getrennt habe, aber in jeder möglichen und unmöglichen Situation muss ich an Shikamaru denken.“ Ihre Freundin verzog den Mund nicht einmal ansatzweise zu einem Grinsen und so setzte sie nach: „Ich bin gerne mit Koutarou zusammen und es war einige Wochen auch besser, aber gestern kam alles wieder hoch. Ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass ich nicht hierher gehöre – es fühlt sich so falsch an.“ „Falsch?“ „Ja, ich sollte nicht hier sein, sondern mit Kairi in Konoha bei ihrem Vater. Wir sollten zu dritt ein ganz normales Familienleben führen … Aber was ist stattdessen? Er interessiert sich null für seine Tochter, ich bin alleinerziehend und seit kurzem mit einem Mann zusammen, dem ich gegenüber nicht ehrlich bin. Wenn das nicht falsch ist, weiß ich auch nicht.“ Nun starrte Matsuri. „Du machst dir dein Leben ganz schön kompliziert“, meinte sie. „Bist du immer noch der Meinung, dass dir eine Reise nach Konoha nichts bringt?“ „Die Mühe kann ich mir sparen. Selbst wenn er mit mir reden wollen würde, wird das am Ende nur in einem Streit enden und niemandem ist geholfen. Kairi hat dann immer noch keinen Vater und ich werde noch länger in der Vergangenheit hängen bleiben. Und Koutarou kann ich dann völlig abhaken. Wer will denn schon mit einer zusammen sein, die jahrelang nach der Trennung immer noch am Exfreund hängt?“, fragte Temari. „Und selbst, wenn ich es ihm nicht sage, wird er irgendwann merken, dass etwas nicht in Ordnung ist. Weißt du, ich möchte keine Beziehung, die auf Halbwahrheiten basiert.“ „Du schließt es also aus, mit Shikamaru zu reden, weil du glaubst, dass es alles schlimmer macht?! Woher willst du das so genau wissen?“ „Ist das nicht offensichtlich? Ich war schludrig im Umgang mit der Pille, er wollte absolut kein Kind und ich hab es ihm quasi untergejubelt. Und anstatt ihm von der Schwangerschaft zu erzählen, mach ich mit ihm Schluss, verpiss mich und schreib ihm ein halbes Jahr später, dass er eine Tochter hat. Warum sollte er mich dämliche Kuh, die ihn so dermaßen verarscht hat, jetzt mit offenen Armen begrüßen? Wie würdest du da reagieren?“ Ihre Freundin zuckte die Achseln. „Das ist alles wirklich richtig dumm gelaufen.“ „Ach!“, zischte Temari angriffslustig. „Ich verfluche mich selbst für diese grenzenlose Dummheit. Ich hätte es ihm damals sagen sollen. Zwar wäre unsere Beziehung so oder so in die Brüche gegangen, aber wenigstens hätte ich mir jetzt nichts vorzuwerfen und wäre wahrscheinlich in der Lage, mich ganz auf etwas Neues einzulassen.“ Matsuri drehte mit den Daumen und schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Und wie siehst du deine Zukunft mit Koutarou?“, fragte sie. „Meinst du, dass er überhaupt die Chance hat, irgendwann die Nummer Eins in deinem Leben zu sein?“ Diese Frage zauberte Temari ein Lächeln ins Gesicht. „Höher als auf Platz Zwei wird er es ohnehin nie schaffen.“ Sie spürte bewusst ihre Tochter, die sich schlafend im Tragetuch an ihren Rücken gekuschelt hatte. „Die Eins wird Kairi nämlich bis zum Ende meines Lebens nicht mehr räumen.“ „Das glaub ich gerne.“ Ihre Freundin kicherte. „Aber meine Frage steht noch.“ „Falls ich ihn gestern nicht verschreckt habe“ – davon ging sie wirklich nicht aus – „denke ich schon, dass er es wert ist, an mir zu arbeiten. Wenn er in fünf Tagen wieder da ist, werde ich einfach ehrlich zu ihm sein und sagen, was genau mein Problem ist.“ „Das klingt vernünftig.“ „Und ein wenig selbstmörderisch“, sagte Temari und musste über ihre Wortwahl schmunzeln. „Und wenn ich Glück habe, will er mich danach sogar noch als feste Freundin behalten.“ „Das will er bestimmt!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)