Ein Leben in London von Gepo (Fortsetzung von "Eine Nacht in Bangkok" (ABGESCHLOSSEN!)) ================================================================================ Kapitel 16: Eine Einigung ------------------------- Die Abende fanden ihn in Harrys Händen. Sei es, dass er massiert wurde, sei es, dass der Junge ihn in den unmöglichsten Momenten umarmte. Ebenso forderte er allerdings auch. Dass Severus lesen wollte, wurde nur damit quittiert, dass der Junge sich quer über seinen Schoß legte. Es war exakt zwei Tage euphorisierend – samstags schrie er ihn dafür an, sich im selben Raum aufzuhalten. Harry wagte sich erst sonntags morgens wieder aus seinem Zimmer, was Severus so sehr gut hieß wie es ihn Scham empfinden ließ. Es könnte der Grund sein, warum er statt Harry den Tisch gedeckt hatte. Harry schien die Entschuldigung zumindest so weit anzunehmen, dass er mit Severus aß. „Harry … das, was ich dir geben kann, ist begrenzt durch das, was ich kann“, brachte er nach einigen Minuten des Mutsammelns zusammen, „so viel Nähe … kann ich nicht.“ Harry sah weiter auf sein nur halb angekautes Brot, dass er nach einigen Bissen bereits abgelegt hatte. Zumindest hatte er ein paar der Würstchen gegessen, die Severus gebraten hatte. „Entschuldigung“, setzte dieser nach einigen Momenten nach. Harry stocherte lustlos auf seinem Teller herum. Severus seufzte tief. Nun, was erwartete er auch als Antwort? Harry würde ihn verlassen, wenn er jemand Besseren fand. Bis dahin hatte er wahrscheinlich noch, um sich irgendwie in den Griff zu kriegen. Er wusste nur absolut nicht, wie. „Kannst du mir vorher sagen, wenn ich dir auf die Nerven gehe?“, fragte Harry leise. „Ich kann es versuchen“, erwiderte Severus in aller Ehrlichkeit, „ich … merke das nur erst, wenn ich aggressiv werde.“ „Kannst du lernen, es früher zu merken?“ Diesmal sah Harry auf. „Ich mag es nicht, wenn du schreist.“ „Ich werde es versuchen“ Severus senkte seinen Blick. „Ich war noch nie mit jemandem zusammen, der … der gern in meiner Nähe war. Der mich anfassen oder angefasst werden wollte.“ „Warum warst du mit solchen Menschen zusammen?“ Harrys Stimme war von Verwirrung durchzogen. „Weil … weil sie mich manchmal trotzdem angefasst haben?“ Severus verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. „Vielleicht, weil ich es nicht besser wusste.“ „Du bist ein einsamer Mensch“ Harry betrachtete ihn. Zumindest schien seine Angst verflogen. „Warum willst du nicht angefasst werden, wenn du einsam bist?“ „Ich will-“ Severus stockte. Ja, was wollte er eigentlich? Wollte er nun angefasst werden? Wollte er nicht? „Ich weiß es nicht. Ich will es, aber es macht mich … ich weiß nicht, was das mit mir macht. Aber es macht mich garstig und böse.“ „Du bist kompliziert“ Diesmal war es an Harry zu seufzen. „Na ja … wir haben ja anscheinend Zeit.“ Hatten sie das? Wie lang würde Harry seine Macken mitmachen? Wie lang, bis Harry sich nach jemand anderem umsehen würde? Severus sagte sich selbst Stopp. Solche Gedanken würde ihm absolut gar nichts bringen. Es würde ihn nichts kosten zu versuchen, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu äußern, bevor er sie mit Gewalt ausdrückte. „Können wir das aufschreiben?“, fragte er etwas aus dem Nichts heraus, „was du willst … zum Beispiel, dass ich lernen soll, früh zu merken, wenn ich genervt werde. Und was ich noch lernen soll.“ „Okay“ Harry lächelte breit und sprang auf. „Ich hole Papier!“ Severus lehnte sich mit einem erleichterten Seufzen zurück. Er war vielleicht noch nicht ganz als Freund geeignet – aber zumindest hatte er das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Er konnte sich ändern. Für Harry konnte er sich ändern. Als Harry und er die Tür des Restaurants erreichten, sprang Harry dazwischen, bevor Severus sie öffnen konnte. Er hatte gerade noch genug Zeit die Augenbrauen zu heben, bevor Harry schon fragte: „Ich will das machen. Wie macht ein echter Gentleman das?“ „Du hältst die Tür auf und bittest die Dame hinein“ Harry öffnete die Tür und stellte sich hinein, wie er es Severus hatte machen sehen, aber sah fragend auf seine eigene Hand. „Die offene Hand in die Richtung, in der du sie wünscht“ Er korrigierte Harrys Handhaltung. „In deinem jugendlichen Alter kannst du ihr sogar die offene Hand hin halten, um sie daran hinein zu führen.“ „Wieso immer sie? Kann ich nicht für dich ein Gentleman sein?“ Nein. Severus atmete tief durch. Ruhiges Antworten. Er sprach: „Das wäre eine Beleidigung. Man kann ein Gentleman für jede Dame und jedes Kind sein, aber nicht für einen anderen Mann. Es gibt ein paar Gesten, wenn es der Chef ist oder der Vater oder der Schwiegervater, aber diese Gesten sind rein für Frauen. Wenn du das bei mir machst, ist das vorführend.“ „Oh … kannst du mir die Gesten zeigen, die man für einen Vater verwenden würde? Die wären okay, oder?“ „Meinetwegen“ Das wäre zumindest nicht beschämend. Auch wenn er sich damit sehr viel älter vorkam als er war. Andererseits könnte Harry sein Sohn sein, sie hatten dreiundzwanzig Jahre Altersunterschied. Severus musste bei dem Gedanken seufzen. Einige Erklärungen später erreichten sie den Tisch, wo Harry fragte, ob den Stuhl zurück zu ziehen eine erlaubte Geste für Väter war – natürlich nicht – und ob es eine alternative Geste gab. Außer den besten Stuhl anzubieten, fiel Severus allerdings nichts ein. Die bereits Anwesenden beobachteten sie mit einem geduldigen Lächeln. Hangs Mutter flötete aufgesetzt: „Ach, ist er nicht goldig?“ Severus war froh, diesmal nicht in ihrer Nähe zu sitzen. Hang schien das anders zu sehen. Er rutschte von seinem Stuhl – erneut zwischen seinen Eltern – und kam zu Harry hinüber. Dieser beugte sich bereits hinab und Hang schien etwas in sein Ohr zu flüstern. Anscheinend hatte er begonnen zu sprechen. „Dürfen wir spielen gehen?“, wandte sich Harry an ihn. „Wenn ihr das Restaurant nicht verlasst und die Angestellten nicht stört“ Severus nickte. „Okay“ Harry nahm Hang an der Hand und ging mit ihm in den Hauptraum des Lokals zurück. Severus sah sich kurz um. So hatte er sich das irgendwie nicht vorgestellt. War Harry nicht hier, um Englisch zu üben? Na ja. Die Professorin trat zu ihm herüber, begrüßte ihn mit einem Händedruck und sie wechselten einige Worte. Zwischen ihnen schien alles so weit wieder in Ordnung. Ginny starrte ihn unverhohlen an – anscheinend hatte die Geschichte in der ganzen Familie die Runde gemacht – doch sonst waren alle ins Gespräch vertieft. Hangs Vater, der Mann der Professorin und Herr Wethter schienen sich über Automobile zu unterhalten, während Hangs Mutter und Frau Wethter und sehr gebrochenem Englisch im Fall der Zweiten über Erziehung sprachen. Eher gesagt fragte Hangs Mutter die andere Dame über Erziehung in Thailand aus. Da hatte sie wenigstens mal die richtige Ansprechpartnerin gewählt. Severus fand sich also mit einem Platz Entfernung von der Gruppe etwas ab vom Geschehen wieder. Nicht, dass ihn das wirklich stören würde. Er hatte nur kein Buch zur Hand. Nun, es wäre auch ein schwerer sozialer Fauxpas gewesen, hier zu lesen. Sein Fehler darin, nicht aufzurücken, bemerkte er jedoch nur wenige Momente später, als die thailändische Damengruppe sich rings um ihn herum niederließ. Er konnte zwar erwirken, dass Harrys Platz frei blieb, aber es ließ ihn mit einer Schnattertasche zur rechten und zwei gegenüber zurück. Und obwohl Make-Up wohl ein endlos ergiebiges, aber prinzipiell nicht sehr spannendes Thema war, wandte sich die Aufmerksamkeit schnell ihm zu: „Und was machen Sie beruflich?“ „Ich bin Anwalt“ Einen Moment lang hatte er überlegt, Reinigungsfachkraft zu sagen. Irgendetwas, was die Schnattertaschen dazu bringen würde, ihn in Ruhe zu lassen. Vielleicht sollte er das nächste mal etwas richtig Schockierendes sagen … Aufseher im Maßregelvollzug zum Beispiel. „Oh, ein Anwalt!“ Weib eins klatschte in die Hände. „Ein guter Fang“, flüsterte die rechts von ihm als könne er sie nicht hören. „Sind Sie verheiratet?“, fragte die dritte im selben Moment. „Ja“ Er hob die Hand mit dem Ehering, den er trotz der Scheidung nie abgelegt hatte. Es war kein sentimentales Memorandum an seine Exfrau wie manche seiner hohleren Sekretärinnen vermutet hatten sondern eine strategische Abwehr für opportune Weiber. „Wie kommt es, dass Ihre Frau nicht hier ist?“ Tja, bei den meisten Blondinen funktionierte der Trick. Hier anscheinend nicht. „Das ist eine längere Geschichte.“ „Wir haben Zeit“ Die rechts von ihm lehnte sich vor, sodass sie ihre Brust praktisch auf dem Tisch vor sich ablegte. Für eine Thailänderin hatte sie wirklich erstaunlich große Brüste, das musste er zugeben. „Ich bin ein sehr gewalttätiger Mann und sie ist zu ihrer Familie zurück nach Thailand geflohen“ Er versuchte keine Miene zu ziehen. Die erste lachte ohne jede Sekunde des Zögerns, die beiden anderen fielen ein Hauch später ein. „Na gut, Sie wollen nicht darüber sprechen“ Weib eins – die ihm direkt gegenüber – griff nach seiner auf dem Tisch liegenden Hand und tätschelte sie mit ihrer. „Wir haben Verständnis dafür. Erzählen Sie uns doch etwas mehr über Ihren Beruf.“ Da sie Anstalten machte, ihre Hand dort liegen zu lassen, zog er seine zurück und verschränkte die Arme. Das waren echt persistente Dinger. Wirkte er als wäre er irgendwie interessiert? „Ich gehe zur Arbeit, ich sitze am Computer, ich fahre nach Hause. Hin und wieder schreie ich Leute an. Nichts Besonderes“ Womit konnte er sie loswerden? Oder womit könnte er dieser Situation entfliehen? Ein Gang zur Toilette? „Das heißt, Sie sind der Chef?“ Er vermutete, die Tonlage sollte Entzücken ausdrücken. „Ich bin ein einfacher Angestellter“ Er sah zu Misses Wethter herüber in der Hoffnung, sich irgendwie in die Diskussion über thailändische Kindererziehung einmischen zu können. Leider fiel ihm nichts Sinnvolles über traditionelle Windeln ein. „Leute anzuschreien ist mein Freizeitausgleich.“ „Warum stellen Sie sich selbst so negativ dar? Sie scheinen doch ein sehr humorvoller Mann.“ Humorvoll? Kam ihr gar nicht in den Sinn, dass er auch brutal die Wahrheit sagen könnte, an der nichts ansatzweise Lustiges war? Er wandte sich ihr zu und fragte exakt das: „Und was, wenn das vorhin kein Scherz war?“ „Gewalttätige Männer sind selbstherrliche Männer. Sie würden nie Fehler zugeben, erst recht nicht vor anderen. Würden Sie Ihre Frau schlagen, würden Sie das niemals sagen“ Das puppenhafte Gesicht sandte ihm ein freundliches Lächeln, aber diesmal wirkte es dahinter um Längen weniger leer als zuvor. „Sie machen schockierende Witze, um uns zu verstören, aber es sind noch immer Witze. Ich schätze schwarzen Humor.“ „Da sind sie die erste“ Seine Stirn lag in Falten. „Aber gehen wir davon aus, ich scherze, besteht immer noch der Fakt, dass ich versuche, Sie zu verstören. Grund dafür ist, dass ich versuche, nicht ausgefragt zu werden. Mein Privatleben ist privat, ich suche keine Frau, ich bin an keiner von Ihnen interessiert.“ Charlie könnte stolz sein. Er hatte soeben klar festgelegt, was er wünschte und was nicht. Und es waren nicht einmal zwei Minuten des Gespräches vergangen. Das war bestimmt ein Rekord. „Schade“ Die Dame stützte ihr Kinn auf eine Hand. „Und worüber unterhalten Sie sich gern?“ Mathematik. Ausländische Rechtssysteme und Investitionsmöglichkeiten. Anorganische Chemie, wenn er gut drauf war. Er sagte stattdessen: „Vielleicht sollten wir doch über Beziehungen sprechen“ - er lehnte sich vor und legte die Arme auf den Tisch - „ich mache zur Zeit eine kleine Sozialstudie. Könnten Sie mir beschreiben, was Sie als Regeln für Beziehungen ansehen?“ „Regeln?“, fragte die zur rechten interessiert nach. „Was Sie von Ihren Partner erwarten, was er keinesfalls tun darf, was er auf jeden Fall tun muss … Grundregeln für Beziehungen“, beschrieb er. Vielleicht konnte er ja doch etwas Interessantes aus dem Abend ziehen. Ausgestattet mit den neuen Erkenntnissen, dass ein Mann kein echter Mann war, wenn er nicht Wasserkisten tragen konnte, Brusthaar aufwies und Fan einer Sportart war, trat Severus mit Harry im Auto den Heimweg an. Wenigstens schien dieser Spaß gehabt zu haben, mit Hang zu malen und mit ihm zu versuchen, die Karte zu übersetzen. Severus befand den Abend als wenig produktiv, aber zumindest unterhaltsam. Zuhause gab er Harry einen Gute-Nacht-Kuss – die erwachsene Art – und verzog sich in sein Schlafzimmer. Doch, unterhaltsam war es schon irgendwie. Die drei Damen waren weit bessere Gesprächspartner gewesen, nachdem er seine Ansage gemacht hatte. Er gähnte und schloss die Augen. Draußen stürmte es zwar, aber er war müde genug, dass es ihn wenig interessierte. Auf das erste wirklich laute Donnern reagierte er nur mit einem Murren und zog die Decke höher. Vielleicht sollte er die Rollladen herunter lassen, um das Lichtspiel der Blitze draußen zu halten. Er schreckte auf, als er das laute Schlagen einer Tür hörte. Er ortete noch das Geräusch, als seine eigene Zimmertür aufging und Harry herein stürzte. „Es blitzt!“ „Es stürmt, blitzt und donnert“, erwiderte er trocken und richtete sich auf, „kein Grund, so einen Heckmeck zu veranstalten. Das ist ganz normal.“ „Normal?“ Harry trat näher. „Es ist nicht … gefährlich?“ „Es regnet in diesem Land zwar praktisch durchgehend, aber Überflutungen sind sehr selten. Tsunamis gibt es auch nicht. Du kannst weiter schlafen“ Severus schloss die Lider und legte sich wieder hin. „Aber …“ Harry schien ans Fenster zu treten. „Du bist sicher?“ „Ich lebe hier schon mein Leben lang.“ „Okay“ Harry schlürfte ein paar Schritte Richtung Tür. Ein lautes Donnern ließ ihn inne halten. „K- kann … kann ich hier schlafen?“ Severus seufzte nur. Vielleicht würde Harry weggehen, wenn er sich tot stellte. Vielleicht auch nicht. Ein von der Nachtluft etwas verkühltes Wesen kroch unter seine Decke und robbte zu ihm, bis es an seiner Brust angekommen war. Severus überlegte kurz, sich einfach wegzudrehen, aber blieb im Endeffekt liegen. Harry war halt noch ein Kind. Er ging spielen und er kroch nachts unter die Decke. Er legte die Arme um den Jungen, damit er bequemer lag. Das hier war alles so falsch. „Sie starren“, merkte Lydia an, als sie die Blumen in seinem Büro aufstellte. Heute war einer der seltenen Tage, wo er Kunden bei sich empfangen würde. Er wusste jetzt schon, dass er spätestens zur Mittagspause Migräne haben würde. „Ich tue nichts dergleichen“ Er senkte den Blick auf seine Tastatur. Feigling. Er hatte sie etwas fragen wollen. Seit wann war er so erbärmlich? „Kennen Sie das Gefühl, mit einem Menschen zusammen zu sein und es fühlt sich falsch an?“ „Ich wüsste nicht, wann ich das Gefühl nicht gehabt hätte“ Sie drehte auf dem Schuhabsatz. „Das ist jetzt nicht der Gesprächsbeginn meiner Kündigung, oder?“ „Glauben Sie wirklich, ich würde es freundlich verpacken, wenn ich Sie kündigen wollte?“ Er stoppte den Sarkasmus in seiner Stimme nicht. „Oh, ja … natürlich. Ist das eine Beziehungsfrage? Sind Sie in einer Beziehung?“ Neugierige Begeisterung mischte sich in ihre Stimme. Da war wieder das Wesen, von dem er immer vermutet hatte, dass sie über ihn im Büro tratschte. Aber ihm war kein einziges Gerücht zu Ohren gekommen, also war sie vermutlich einfach nur so sehr neugierig. „Vielleicht“ Er seufzte. „Ich glaube, ich sollte sie beenden.“ „Warum denn?“ Ihre Gesichtszüge fielen in Enttäuschung und Trauer. „So schlimm?“ Das war wohl das Schlimme. Es war nicht schlimm. Es war schön. Es war nur falsch. Er war einfach noch zu jung. Harry war noch zu viel Kind als dass das hier eine gute Idee sein könnte. Harry war vielleicht in Theorie sechzehn – genau genommen wusste er ja nicht einmal, ob der Junge wirklich sechzehn war – und hatte anscheinend die körperliche Pubertät hinter sich, aber im Geist war er nicht einmal ansatzweise auf dem Stand eines durchschnittlichen englischen Teenagers. Hier gab es Sechzehnjährige, die könnten auch problemlos fünfundzwanzig sein. Aber Harry war nur ganz knapp dem Alter entwachsen, wo man Kuscheltiere und Licht zum Schlafen brauchte. Er war ganz sicher niemand, mit dem Severus das Bett teilen konnte. Nicht jetzt, nicht in zwei Jahren. „Was ist los?“ Lydia setzte sich auf einen seiner Gastsessel und holte ihn damit in die Realität zurück. „Nichts, schon gut“ Severus schüttelte den Kopf. „Das hat nichts mit der Arbeit zu tun.“ „Wenn es Sie belastet, belastet es auch die Arbeit“ Lydia lehnte sich vor. „Und ich kenne Ihre Exfrau, Sie kennen die Situation mit meinem Freund … wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, lassen Sie mich, bitte. Sie haben mir auch geholfen.“ Hatte er? Nun … wenn sie meinte. Er sagte nach einem tiefen Seufzen: „Ich glaube, Sie haben mitbekommen, dass Harry nicht mein Sohn ist.“ Sie nickte nur. „Aber es stimmt auch nicht, dass ich irgendetwas Unsittliches mit ihm machen würde. Ich habe ihn mitgebracht, weil er mir Leid tat. Ich hatte nicht vor, irgendetwas mit ihm anzufangen. Er ist noch ein Kind in meinen Augen. Aber er ist gleichzeitig schon attraktiv und weiß das auch. Ich weiß nicht, ob er sagt, dass er mit mir zusammen sein will, weil er merkt, wie sehr ich mit mir selbst im Zwiespalt bin oder ob er genuin irgendetwas für mich empfindet, aber … was für eine grässliche Situation. Ich wünschte, er wäre fünf Jahre älter.“ Lydia schwieg einen Moment und erwiderte schließlich leise: „Für mich klingt das als hätten Sie Angst, dass er Ihnen in fünf Jahren vorwirft, wie Sie die Situation heute nur so ausnutzen konnten, wenn Sie jetzt ja sagen.“ „Das ist sehr präzise getroffen“ Severus schob die Tastatur von sich weg. „Und er hätte jedes Recht, das zu sagen.“ „Praktisch alle Männer, die ich kenne, würden sich niemals Gedanken über so etwas machen. Sie würden sich selbst glücklich schätzen und nehmen, was Ihnen geboten wird“ Lydia sah zu Boden. „Mein erster Freund war einunddreißig und verheiratet. Ich war fünfzehn. Er hat sich sicherlich keinerlei Gedanken gemacht und ich weiß, dass diese Beziehung Schäden hinterlassen hat, mit denen ich heute noch zu tun habe.“ „Das will ich Harry ersparen“ Also würden sie sich trennen müssen. Und da ihre häusliche Situation die Sache unendlich schwer machen würde, würde er Harry auch eine neue Unterkunft suchen. Vielleicht würde die Familie Granger-Weasley ihn aufnehmen. Dort wäre er bestimmt gut aufgehoben. „Aber das war nicht seine Schuld“ Lydia sah auf. „Oder zumindest nur bedingt. Ich habe zu allem ja und amen gesagt, weil ich es nicht besser wusste. Ich wusste nicht, dass es okay ist, nein zu sagen. Und da jeder, dem ich von der Beziehung erzählte, mich mit Ekel und Unverständnis angesehen hat, konnte ich auch niemanden fragen. Ich habe alles mit mir machen lassen, einfach weil ich es nicht besser wusste. Er hat ja bei allem gefragt, ob es okay ist. Ich wusste nur die Antwort nicht.“ „Harry wird niemandem von dieser Sache erzählen können. Die Situation ist noch schlimmer als bei ihnen. Ich war jetzt beim Jugendamt, ich habe andere Leute schlichtweg über uns belogen … er hat doch niemanden. Er hat nicht einmal eine Familie. Er hat nur mich und das ist eine denkbar schlechte Grundlage.“ „Das ist richtig. Er braucht Freunde, mit denen er offen reden kann. Er braucht auch Erwachsene, mit denen er offen reden kann. Aber wenn er das hat, dann sollte es ihm auch möglich sein, mit Ihnen zusammen zu sein.“ „Wenn wir an diesem Punkt eine Beziehung öffentlich machen, bin ich morgen hinter Gittern“, erwiderte Severus mit Sarkasmus. „Wer hat Sie da letzte Woche angezeigt?“ „Seine Lehrerin“ Severus lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah zur Decke. „Ihr Schwager ist … so eine Art Ex von mir.“ „Sie machen es sich selbst auch nicht leicht“ Lydia schüttelte lächelnd den Kopf. „Meinen Sie, man kann ihr die Situation erklären? Wahrheitsgemäß?“ „Wenn ich danach wegen Pädophilie im Gefängnis enden will“ Severus schüttelte den Kopf. „Wenn er achtzehn ist, ist sie bestimmt ein guter Umgang für ihn. Aber solange diese Sache noch als illegal zählt – selbst wenn ich ihn nie anfassen würde – würde Sie Gott und die Welt gegen mich bewegen.“ „Also müssen sie noch zwei Jahre geheim mit ihm zusammen sein. Ohne ihn anzufassen, ohne Forderungen zu stellen, die sie nicht auch mir oder anderen Menschen stellen würden.“ „Das ist keine Beziehung“, schloss er. „Nein, ist es nicht. Aber wenn Harry sagt, er will eine Beziehung, was will er denn dann? Wie definiert er denn eine Beziehung?“ Ein schiefes Lächeln legte sich auf Severus Lippen, als er sagte: „Geküsst und im Arm gehalten werden. Er sagt selber, er will einfach nur angefasst werden.“ „Knapp nach Pubertät, hm? Diese Phase, wo man nach körperliche Nähe hungert, weil die Hormone wild geworden sind“ Lydia seufzte. „Das ist exakt die Phase, wo Jugendliche für sexuelle Übergriffe am anfälligsten sind.“ „Wem sagen Sie das?“, murmelte Severus nur. „Ist Ihnen das möglich? Ihn im Haus zu haben, ihn zu berühren, aber es nicht sexuell werden zu lassen?“ In ihrer Stimme war kein Zweifel, es war eine rein neutrale Frage. Dieselbe Frage, die er sich seit über zwei Monaten stellte. „Im Normalfall ja. Ich habe eine gute Selbstkontrolle. Aber dann kriecht er in mein Bett oder beginnt mein Hemd aufzuknöpfen oder … andere sexuelle Dinge. Ich habe ihm strikt und klar gesagt, dass vor seinem achtzehnten Geburtstag nichts laufen darf. Aber dann scheinen seine Hormone ihn irgendwie wieder zu überkommen. Langsam traue ich meiner Selbstkontrolle nicht mehr“ Sollte er dieses Gespräch wirklich weiter führen? Das hier war seine Sekretärin. Er gab ihr gerade alle Mittel in die Hand, ihn jederzeit zu ruinieren. Selbst in zehn Jahren könnte sie all dies noch gegen ihn verwenden. „Und dann ist er wieder Kind und spielt und weint und kommt nachts, weil er Angst vor Gewittern hat und … das macht mich fertig.“ „Er gibt Ihnen all seine Bedürfnisse“ Sie nickte. „Junge Menschen sind so. Sie haben noch diesen Glauben, dass es nur gut und schlecht gibt. Sie haben noch nicht gelernt, dass jeder Mensch irgendwo in einer Graustufe lebt. Manche sind gut für die einen, manche für die anderen Dinge. Für Harry sind Sie vollends gut, also gibt er ihnen alle Bedürfnisse, die er hat und erwartet, dass Sie alle erfüllen. Vermutlich überfordert er sie damit vollkommen.“ „Erneut treffen Sie es sehr genau“ Er sah zu ihr. „Sie werden nicht umher kommen, ihn zu verletzen. Sie können entweder den kindlichen Bedürfnissen oder den sexuellen Bedürfnissen nachgeben. Geben Sie ihm doch so viel, wie Sie können. Und versuchen Sie, den Rest nicht zu schmerzhaft zu machen.“ „Aber ich will ihm nicht wehtun“ Severus Stirn legte sich in Falten und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Sie werden. Sie müssen. Aber Sie haben vermutlich die beste Einstellung, die man in dieser Situation haben kann. Er wird sich andere Leute für die anderen Bedürfnisse suchen.“ „Das hatte ich ja gehofft“ Severus schnaubte. „Zumindest diese ganzen persistenten sexuellen Bedürfnisse scheinen ziemlich auf mich fixiert.“ „Er scheint es ernst mit ihnen zu meinen. So ernst wie ein hormoneller Teenager halt sein kann“ Sie lächelte. „Sie machen mir große Hoffnungen“ Severus hob eine Augenbraue. „Na ja, sehen Sie es so … was macht er, wenn Sie trotz Ihres Interesses an ihm durchgehend nein sagen? Er wird glauben, es sei etwas falsch an ihm und er wird sich andere für diese sexuellen Bedürfnisse suchen. Sie meinen es wenigstens gut mit ihm. Ein schwuler Jugendlicher, der die Landessprache nicht spricht, nicht nein sagen kann und nach jemandem sucht, der ihn anfasst? Das sehe ich böse enden.“ Für einige Sekunden schien Severus Kehle wie zugeschnürt. Warum hatte er nie darüber nachgedacht? Harry schien zwar an Frauen interessiert, aber auch nicht so sonderlich stark, wenn er immer wieder auf ihn zurückkam. Andere schwule Jugendliche fand man nicht wie Sand am Meer. Was, wenn er wie er damals in irgendeinen Bereich von London wandern würde, wo es Schwulenbars gab? Was, wenn er auch … Severus fühlte nur eine unbestimmte Übelkeit bei der Erinnerung an sein erstes mal. Nein, das wollte er für Harry ganz bestimmt nicht. „Sie haben Recht“ Er nickte langsam. „Mich wundert nur, wie wenig Sie diese Sache schockiert.“ „Wahrscheinlich, weil ich sie selbst durchlebt habe“ Sie seufzte. „Ich finde Beziehungen mit Älteren nicht schockierend. Problematisch ist das Tabu darum. Wenn man nicht darüber sprechen darf, wenn alle sich nur das Maul über einen zerreißen, dann macht man viele Dinge, die man bei klarem Verstand nicht gemacht hätte.“ In derselben Sekunde schoss ihm die Erinnerung hoch, wie Harry im Jugendamt gesessen hatte. Der traurige Gesichtsausdruck, als er fragte, ob wirklich niemand erfahren durfte, was er fühlte. Der schier zerstörte Gesichtsausdruck, als er sagte, dass er niemals eine offene Beziehung mit Harry führen würde. Das war nicht fair. Und wäre Harry älter und reifer, er hätte nicht einfach nur mit Tränen in den Augen genickt. Er hätte nicht nur stumm akzeptiert, was Severus ihm vorschrieb. „Wie viele Gespräche habe ich heute?“ „Eins um zehn, eins um elf, eins um zwölf. Und danach so viel Schreibarbeit von diesen drei Gesprächen, wie Sie schaffen“ Sie lächelte nachsichtig. „Dann drücken Sie mir mal die Daumen, dass ich die Gespräche ohne Migräne schaffe. Ich will Harry von der Schule abholen“ Er nickte, mehr zu sich selbst als zu ihr. „Schreibarbeit kann ich auch ein andermal machen.“ „Ich vermute, das wäre der erste freie Nachmittag, den Sie sich in Ihrer gesamten Karriere nehmen, oder?“ „Vermutlich“ So etwas wie ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Sie lächelte breit, nickte und erhob sich. Bevor sie heraus ging, hob sie beide Hände, in denen sie ihre Daumen drückte. Er nahm zufrieden einen Schluck Kaffee. „Severus!“ Harry lächelte breit als er ihn vor der Schule entdeckte und lief zu ihm. Er stoppte auch vor ihm und senkte die Arme, die sich kurz zur Umarmung gehoben hatten. Severus nahm den Schritt nach vorne und legte beide Arme um ihn. Nach einem kurzen Moment erwiderte er die Umarmung enthusiastisch. Als Harry aufsah, war das Lächeln zu einem Grinsen geworden und seine Augen strahlten. „Ich dachte, ich lade dich zum Essen ein“ Harry nickte schon fast wild als Antwort. „Wollen wir uns einfach was in der Gegend suchen?“ Auf ein weiteres Nicken wandte er sich in eine beliebige Richtung die Straße entlang. Harry sprang für einige Schritte neben ihm her wie ein Flummi. Nach ein paar Metern beruhigte er sich und sah zwischen der Straße und Severus hin und her als würde er dessen realer Anwesenheit noch nicht ganz glauben. Es war ja auch untypisch. Er schwänzte Arbeit für Harry. Wenn sein Chef das wüsste … besser nicht daran denken. Was wollte er Harry nochmal sagen? Er hatte irgendetwas in seinem Kopf vorbereitet, aber bei Harrys Anblick schien das wie verflogen. Er warf einen Blick über die Schulter und als er niemanden von der Schule erblickte, griff er zögernd nach Harrys Hand. Harry starrte auf ihre Hände, bevor er seine langsam um Severus Hand schloss. Er starrte auch danach noch weiter. Es schien eine halbe Ewigkeit, bis er mit großen Augen den Blick hob. Severus versuchte stur geradeaus zu sehen, aber natürlich bemerkte er den Blick. Er versuchte auch das Lächeln von seinen Lippen zu verbannen, aber das tat er eher halbherzig. Warum tat er es eigentlich? Er durfte lächeln. Harry würde ihn nicht auslachen für seine hässliche Fratze, wenn er lächelte. Nach einigen Momenten spürte er ein Gewicht gegen seinen Arm drücken. Obwohl sie gingen, lehnte Harry sich gegen ihn. Severus überlegte, den Arm um ihn zu legen, aber unterließ es. Harry grinste trotzdem zu ihm hoch. Und Severus lächelte zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)