Ein Leben in London von Gepo (Fortsetzung von "Eine Nacht in Bangkok" (ABGESCHLOSSEN!)) ================================================================================ Kapitel 4: Aggressionen ----------------------- Er war fast vierzig Jahre alt, ein gestandener Mann und trug einen Anzug. Er war ein feiner englischer Gentleman – zumindest, bis er den Mund öffnete. Er war vielleicht grottenhässlich, aber zumindest hatte er Stil. Selbst sich das zu sagen ließ ihn allerdings nicht besser fühlen. „Sir?“ Er drehte sich zu der Stimme, der der am Telefon stark ähnelte. Im Türrahmen stand ein Mann in seinem Alter, aber das war auch schon jegliche Ähnlichkeit, die sie aufwiesen. Der Andere hatte keinerlei nennenswerte Frisur bei mittelbraunem Haar, Gesichtskluften in der Anordnung von Lachfalten und trug Jeans zu einem ausgewaschenen, karierten Holzfällerhemd. Für Severus war er der Inbegriff einer gescheiterten Existenz. „Ich bin Remus Lupin. Wir hatten telefoniert. Err … folgen Sie mir doch, bitte.“ Warum war er hier? Was machte er hier? Warum war er noch nicht gegangen? Er folgte dem Mann in ein Büro in der Größe seiner Abstellkammer. Ein kleiner Rundtisch, zwei Stühle, im hinteren Teil ein Schreibtisch mit einem Computer in einem Telefon, wie es in seiner Kanzlei vor fünfzehn Jahren aussortiert worden wäre. Er betrachtete den Plastikstuhl, auf dem er Platz nehmen sollte, mit Abscheu, bevor er sich nach einem Moment der Reluktanz setzte. „So … normalerweise duzen wir unsere Patienten, um die Anonymität zu wahren. Ist das in Ordnung für Sie?“ Zumindest war die Frage mit einer sehr guten Portion Selbstzweifel gestellt. Severus hob nur eine Augenbraue. „Ich vermute nicht. Darf ich Sie Mister Snape nennen?“ Er nickte langsam. Selbst wenn sein Chef erfahren würde, dass er hier war, würde er wahrscheinlich eher Luftsprünge machen statt ihn anzuzweifeln. Dass er mit Menschen nicht zurecht kam, war jedem in der Kanzlei hinreichend bekannt. Ein Grund, warum man vor allem die schweren Kunden an ihn abschob. Und solche Mitarbeiter wie Kalebirth. „Möchten Sie mir genauer über sich berichten?“ War das eine ernst gemeinte Frage? Die Antwort war nein. „Nun … ich kann auch erstmal sprechen und Sie antworten auf meine Fragen mit Nicken und Kopfschütteln?“ Der Mann sah etwas eingeschüchtert aus. Aber nicht eingeschüchtert genug, um es nicht weiter zu versuchen. Nun gut, er war schließlich auch Therapeut für Aggressionsprobleme. Da sollte man wohl besser nicht so einfach aus dem Konzept zu bringen sein. Er nickte. Einmal. Und behielt die Mimik, die er stets bei Verhandlungen aufsetzte. Streng, konzentriert, hart. „Viele Leute kommen in die Beratung, weil ein Therapeut sie schickt oder weil die Ehefrau oder Freundin droht, sich zu trennen, wenn man nicht kommt. Hat Sie jemand geschickt?“ Kopfschütteln. „Sie sind aus Eigenmotivation gekommen. Das ist sehr gut. Das ist eine gute Voraussetzung“ Der Mann lächelte. Severus nicht. „Ja … Sie denken also selbst, dass Sie Aggressionen haben, die Sie reduzieren sollten?“ Severus hielt sich davon ab, die Augen zu verdrehen. Er nickte nur. „Sie haben auf jeden Fall eine Aura, die mir Angst einjagt. Geht es darum oder haben Sie auch körperliche Gewalt angewandt?“ Severus hob eine Augenbraue. Wie sollte er auf die Frage mit Ja oder Nein antworten? Dieser Therapeut war nicht besonders schlau. Er antwortete also: „Ich versuche, es zu vermeiden. Ich schaffe es nicht immer. Ich habe letztens jemandem eine Ohrfeige gegeben.“ „Fürchten Sie, dass Sie noch etwas Schlimmeres anwenden könnten?“ Er nickte. „Haben Sie schonmal etwas Schlimmeres getan?“ Kopfschütteln. Er hatte stets Abstand von Menschen gehalten, um so etwas zu vermeiden. „Haben Sie schonmal verbale Gewalt angewandt?“ Severus zog die Augenbrauen zusammen. „Ich meine … haben Sie schonmal jemanden beschimpft und nieder gemacht?“ Die Frage ließ Severus lächeln. Sie war fast genug, um ihm ein Lachen zu entlocken. Sein Anblick ließ Lupin in seinem Stuhl zurück rutschen und die Arme um sich selbst legen. „Wissen Sie … die meisten Menschen, die hier her kommen, sind gar nicht so schlimm wie man denken könnte. Ein paar sehen wie Schlägertypen aus, aber die meisten sind ganz nett. Das kommt daher, dass Sie ihre Anspannung nicht spüren und so lange locker sind, bis der Schalter Klick macht und die Anspannung in Ihnen so viel wird, dass Sie gewalttätig werden. Aber dann prügeln Sie einen auch direkt krankenhausreif“ Lupin schien seine Mimik zu beobachten. Nicht, dass Severus welche hätte. „Einigen merkt man diese Anspannung immer an. Man spürt, dass sie mit Aggressionen herum laufen, die jederzeit ausbrechen können. Wie eine dunkle Energie, die durch den kleinsten Fehltritt überschwappen kann“ Sehr bildlich gesprochen. Severus hätte fast die Nase gerümpft. „Sie gehören zu dieser zweiten Gruppe. Es freut mich sehr zu hören, dass Sie noch keine Menschen lebensgefährlich verletzt haben, aber diese Aura der Wut ist furchteinflößend.“ „Was lässt Sie denken, ich hätte noch keine Menschen lebensgefährlich verletzt?“ Amüsement legte sich in Severus Stimme. „Dass ich sie nicht geschlagen habe, heißt nicht, dass ich sie nicht in Lebensgefahr gebracht habe. Meine Stimme reicht mir vollkommen. Ich brauche keine Fäuste, um gestandene Männer zum Weinen zu bringen.“ „Das glaube ich Ihnen aufs Wort“ Lupin war sichtlich unwohl. Er griff an die Stuhllehne und zog den übergroßen, beigen Pulli an, den er dort drüber gelegt hatte. Schien, als brauche er mehr Schutz. „Mich beunruhigt, wie viel Stolz da in Ihrer Stimme mitschwingt. Machen Sie gern Menschen fertig?“ „Das ist mein Beruf, ich bin Anwalt“ Severus lehnte sich entspannt zurück. Der Funken Migräne hatte sich verflüchtigt. Dieser Mann war keine Gefahr, er könnte ihn jederzeit zerreißen. „Das heißt, Sie wollen Ihre aggressive Aura behalten, aber perfekte Kontrolle darüber haben?“ Lupin betrachtete ihn einen Moment. „Das wird nicht funktionieren, solange Sie die Reaktionen Ihres Gegenübers nicht perfekt kontrollieren können.“ „Es hat vierzig Jahre bestens funktioniert“ Severus legte jeden Tropfen Herablassung in seine Stimme, den er aufbringen konnte. „Und jetzt hat es letztens nicht mehr funktioniert“ In diesem Satz gewann Lupins Stimme an Überzeugung. „Das hat Sie genug erschrocken, dass Sie hergekommen sind.“ Severus wandte den Blick ab. Mehr Eingeständnis war ihm nicht möglich. „Wir können Ihnen hier helfen, aber das benötigt eine Bereitschaft, sich zu verändern. Nicht Ihr ganzes Selbst, aber zumindest an Ihrer Wut, Ihrer Unruhe und Ihrer Aggressivität werden wir arbeiten müssen.“ Severus schwieg nur. Er hatte es befürchtet. Er wollte nur nicht. Er wollte schon – für Harry – aber gleichzeitig auch nicht. Für sich selbst. War diese Boshaftigkeit nicht schon ein integraler Bestandteil seines Selbst? „Machen wir erstmal weiter mit den Fragen, okay? Die sind zur Einschätzung, an was für Punkten wir arbeiten müssen. Verbale Gewalt ist bei ihnen ein Thema. Wie ist es mit emotionaler Gewalt? Das ist, wenn man Leute mit Gefühlen unter Druck setzt. Wenn du nicht zu mir ziehst, verlasse ich dich. Wenn du deine Freunde nicht aufgibst, spreche ich nicht mehr mit dir.“ „Ich benötige keine Erpressungen“ Severus sah noch immer die Wand an. „Aber ich nutze Drohungen. Ich zähle mögliche negative Konsequenzen auf. Ich lasse Sätze in einem bedrohlichen Tonfall auslaufen.“ „Ihnen ist sehr genau klar, wie Sie anderen Menschen weh tun, richtig?“ Severus nickte nur. „Okay, eine Frage noch. Wie steht es bei Ihnen mit sexueller Gewalt?“ „Ich würde niemals jemanden vergewaltigen!“ Severus giftigster Blick bohrte sich in Lupin. Dessen Stuhl schrammte mit einem Quietschen über den Boden, als dieser blitzschnell zurückwich. „Ich bin kein umgänglicher Mensch, ja, aber ich bin auch kein Monster.“ „Das wollte ich nicht unterstellen“ Lupin hatte die Hände gehoben. „Haben Sie sich wieder gefangen?“ „Sie bedeuten mir nicht genug als dass ich Sie verletzen würde. So sehr kommen Sie nicht unter meine Haut“ Severus lehnte sich wieder zurück. „Err … okay“ Der Mann beobachtete ihn kurz. „Der Mensch, den sie verletzt haben, bedeutet Ihnen also viel?“ Babumb. Severus schluckte. Seine Kehle war trocken. Er versuchte erneut zu schlucken und musste tief durchatmen. Ja, exakt das hatte er wohl gerade gesagt. Harry war der erste Mensch, der ihm genug bedeutete, dass er ihn Kontrolle verlieren ließ. Selbst seiner Exfrau hatte er nie etwas getan. Gerade ihr. Er hatte sie nicht einmal angeschrien. Harry hingegen bekam seine Laune andauernd ab. „Haben Sie Angst, Sie könnten diesem Menschen etwas Sexuelles gegen dessen Willen antun?“ Severus schloss die Lider. Genug. Es reichte. Er erhob sich. „Ist okay, Sie müssen nicht antworten. Bitte setzen Sie sich. Ich frage auch nichts mehr“ Severus drehte sich halb zu Lupin und warf ihm nur einen ausdruckslosen Blick zu. „Ich wollte Ihnen nur erklären, was wir Ihnen als Hilfen anbieten können.“ Wollte er Hilfe? Wollte er sich ändern? Harrys Lächeln und die Wärme an seinem linken Oberarm schoss in seine Gedanken. Ja … für Harry würde er versuchen, sich zu ändern. Er setzte sich wieder. „So eine aggressive Aura wie Sie sie haben hat immer zwei Seiten. Zum einen gibt es etwas, was sie auslöst. Dafür würden Sie wahrscheinlich eine Psychotherapie brauchen. Das können Sie irgendwann angehen, aber Sie müssen nicht. Das liegt bei Ihnen. Wir kümmern uns hier um die andere Seite. Aggression wie Ihre hat immer auch einen Zweck. Wir arbeiten hier daran auszuarbeiten, was der Zweck ist und wie man diesen Zweck mit etwas anderem als Aggressionen erfüllen kann. Das ist normalerweise eine Kombination aus Einzelgesprächen und Gruppenunterricht. In den Gruppen müssen Sie nicht mitarbeiten, nur zuhören. Da werden Techniken erklärt, von denen wir gemerkt haben, dass es einfach effektiver ist, wenn man Sie einer Gruppe von Leuten beibringt. Wenn das für Sie gar nicht geht, können wir die auch zusammen durcharbeiten, aber ich möchte Sie ermutigen, dem Gruppenunterricht zumindest eine Chance zu geben.“ Schulbank drücken und seine Seele von diesem Parasiten ausquetschen lassen. Welche wundervolle Vorstellung. Er war wie ein Paradiesvogel zur Brunftzeit – bereit, alles zu tun, um seine Angebetete zu erlangen. Und das, obwohl ihm völlig klar war, dass Harry niemals so jemanden wie ihn wählen würde. Er war erbärmlich. Er sah auf und begegnete einem erwartungsvollen Blick. Anscheinend wollte der Kerl eine Antwort. Mit einem Seufzen nickte er. „Die nächste Gruppe startet in drei Wochen. Sie ist immer mittwochs abends um 19 Uhr und dauert anderthalb bis zwei Stunden“ Das war eine erstaunlich gut gelegte Zeit, dazu konnte er glatt erscheinen. „Vorher würde ich gern noch einmal mit Ihnen reden. Machen Sie doch bitte bei Hagrid einen Termin aus.“ Er nickte nur ergeben, erhob sich und ging. Lupin schien kein Problem damit zu haben, keine Verabschiedung zu hören. Falls er doch eins hatte, interessierte es Severus nicht. Das war bei weitem genug. Er konnte schon spüren, dass die Migräne spätestens beim Schritt aus der Tür über ihn hinein brechen würde. Verdammte Seelenklempner. »Kann ich dir etwas Gutes tun? Darf ich dich massieren?« Das klang nach einer himmlischen Belohnung für das heutige Gespräch. Andererseits erinnerte Severus sich gut, wie allein die Frage nach sexueller Gewalt ihn hatte auffahren lassen. Er wusste, was die ehrliche Antwort gewesen wäre. Allein diese Massagen waren in und an sich schon Gewalt. Er drückte Harry damit in eine Richtung, in die es nicht gehen sollte. Nur tat es zu gut, Harrys Hände auf sich zu spüren als dass er wirklich nein sagen könnte. Harry hatte seine Nichtantwort sowieso schon für sich ausgelegt und knöpfte sein Hemd auf. Nicht, dass Severus sich groß wehren würde. Wenn es nach ihm ginge, müsste Harry nicht mit dem Hemd stoppen. Und er hatte das ungute Gefühl, dass Harrys Nähe heute stärker sein könnte als seine Migräne. Er drehte sich so hin, dass auch Harry es möglichst bequem hatte, während er ihn massierte. Die ersten Male hatte er das nicht getan. Seine kleine Rebellion, um so zu tun als würde ein Teil von ihm doch ablehnen, was geschah. Bis ihm auffiel, wie absolut kindisch dieses Verhalten war. Also schloss er die Augen, genoss die Berührungen und versuchte, leise zu bleiben. Mittlerweile war das ein echtes Problem. Durch die täglichen Massagen hatte er mehr Genuss als Schmerz, was medizinisch vielleicht gut war, aber ihrer Situation nicht unbedingt behilflich. Als Harry ihn als ausreichend durchgeknetet beurteilte, gab er ihm diesmal nicht sein Hemd wieder und setzte sich zurück zu seinem Buch. Stattdessen lehnte er gegen Severus Rücken und schloss die Arme um seine Taille. Severus Hand schnellte zu Harrys, um sie von sich zu reißen, doch stoppte kurz vor der Berührung. Im Endeffekt legte er sie einfach nur auf Harrys ineinander verschränkte Hände. „Was ist?“, flüsterte Severus. Seine Migräne war fast verschwunden. „Ich möchte auch berührt werden.“ Oh Grundgütiger. Severus seufzte. Sein Unterleib schrie sofort ja – was auch sonst – sein Kopf schob einen Riegel davor. Der Junge hatte nicht gefragt, dass er mit ihm schlief. Der Junge wollte berührt werden. Das war ein menschliches Grundbedürfnis. Er könnte sich umdrehen und den Jungen umarmen. Er könnte. Aber es wäre das falsche Zeichen. „Dafür gibt es Mädchen“ Er strich trotzdem mit einem Daumen über Harrys Hände. „Um berührt zu werden, sucht man sich eine Freundin. Jemand, den man mag und den man vielleicht eines Tages heiratet.“ Welch eine erbärmliche Aussage. Da saß er hier mit genau demjenigen, den er berühren wollte und der fragte, von ihm berührt zu werden – und er sagte nein. Aber er wusste, dass Harry fragte, weil er sonst niemanden hatte. „Gibt es ein Mädchen, das du magst? In deinem Kurs vielleicht?“ Allein die Frage fühlte sich an als würde er sich selbst sein Herz rausreißen. „Hm“ Das Brummen vibrierte aus Harrys Brust in Severus. „Es gibt da ein Mädchen … Cho. Sie ist achtzehn.“ „Die ist in deinem Kurs? Sie spricht Thai?“ Seine Augen kribbelten. „Chinesisch und Thai. Sie wurde auch verkauft. Mit elf nach Thailand und nochmal mit siebzehn hierhin. Und dann hat die Polizei ihren Zuhälter festgenommen. Jetzt darf sie auch in Ruhe leben.“ Konnte Harry nicht auch mal normale Menschen kennen lernen? Nun gut, die meisten Mädchen, die einen Sprachkurs von Thai zu Englisch brauchen könnten, hatten wohl so eine Geschichte. Er schwieg einfach nur. Genau genommen wusste er nicht, was er sagen sollte. Das klang nach einem bescheidenen Leben? Das wusste Harry sicherlich. Ob er es bei ihr versuchen sollte? Da war Severus wohl der letzte, der dazu eine Meinung abgeben sollte. Bei der Vorgeschichte vielleicht nicht, aber hatte Harrys Vorgeschichte ihn abgehalten? Harry schien auch nicht so als hätte ihn das alles viel mitgenommen. Angst vor Berührungen hatte er ja kaum. Er hatte Angst vor Wut, aber das war bei einer Missbrauchsgeschichte wohl nichts Ungewöhnliches. Dieser löste sich von seinem Rücken und reichte ihm sein Hemd zurück. Während Severus sich anzog, fragte er: „Hast du Hunger? Möchtest du etwas essen?“ „Nein“ Severus erhob sich, was einen schier unerträglichen Schmerz durch seinen Kopf schickte. „Mein Kopfschmerz ist zu stark. Ich werde mich hinlegen.“ Harry sah ihm nur traurig hinterher, während er ging. Severus verzog das Gesicht im Schmerz. Er könnte es auf die Migräne schieben. Er könnte auch ehrlich sein und sich eingestehen, dass er Harry nicht verlieren wollte. Und er wusste, dass er es gerade tat. Lydia brachte ihm zu seiner Arbeitsmappe noch einen zweiten Kaffee. Severus war in einer Laune, die nicht gut genug war, um es zu wertschätzen, aber er registrierte es. Nach dem zweiten Kaffee – und einigen Stunden ruhigen Arbeitens – kam sie ein drittes mal mit einem schwarzen Tee. Sie beobachtete ihn kurz und beurteilte ihn wohl anscheinend als ansprechbar, da sie fragte: „Wie lief ihr Termin gestern?“ „Man hat mich nicht direkt festnehmen lassen“ Severus warf ihr einen vorwerfenden Blick zu. „Sie werden weiter mit mir leben müssen.“ „Für wann soll ich den nächsten Termin in ihren Kalender schreiben?“ Sie lächelte als hätte er ihr erzählt, dass er ab jetzt neugeborene Kätzchen pflegen würde. Musste man Frauen verstehen? „Übernächste Woche Dienstag um zwölf. Und legen Sie mir für die nächsten Monate keine Termine auf Mittwoch Abends. Ich muss um 19 Uhr dort sein“ Warum machte er das mit? Er wusste, dass er Harry nie bekommen würde. „Habe ich morgen wieder einen sozialen Tag?“ „Nur zwei Termine, versprochen. So etwas wie letzte Woche kommt nicht wieder vor“ Sie senkte den Kopf. Er nickte nur. Gute Frau. Er mochte Leute, die ihre Fehler selbst erkannten. Genau so wie Lydia verstand, dass das ihr Stichwort war, um zu gehen. Sie räumte seinen Kaffeebecher ab und verließ ihn ohne ein weiteres Wort. Ein unbestimmtes zufriedenes Gefühl blieb zurück. Severus genoss die Heimfahrt als würde er eine Spazierfahrt durch eine fremde Gegend machen statt einfach nur die Strecke zu fahren, die er jeden Tag nahm. Allerdings nahm er sie zum ersten mal wirklich wahr. Bäume säumten den Weg und das herbstliche Sonnenlicht fiel durch das nur noch spärliche Blätterdach. Zwischen London und dem Vorort, in dem er lebte, gab es einige grüne Abschnitte. Auf mehreren Feldern lagen noch Heuballen zur Abholung. Er hatte all dem noch nie Beachtung geschenkt. Heute wirkte es friedlich und einladend auf ihn. Als wäre er ein Teil dieser Natur, die er vorher nie als wichtig empfunden hatte. Er erwischte sich sogar dabei, ein leichtes Lächeln auf den Lippen zu tragen. In einer reinen Laune packte er zuhause Harry ein und fuhr mit ihm zu einem Restaurant mit einem Wintergarten, von dem aus man einen wunderschönen Blick auf einen baumumsäumten Teich hatte. Er fragte den Jungen nach seinem Tag aus und versuchte in einfachen Worten zu erklären, was er eigentlich den ganzen Tag in seinem Büro machte. Und Harry lächelte ihn an, als hätte er ihm das erste Weihnachten seines Lebens geschenkt. Ehrlich gesagt konnte Severus sich nicht erinnern, wann er sich das letzte mal so gut gefühlt hatte. Und da er sich das absolut nicht zerstören wollte, entschied er, dass er nicht unbedingt nach dieser Cho fragen musste. Sein kleines Plappermaul würde es ihm sowieso erzählen, wenn etwas Wichtiges geschehen wäre. Kein Grund, sich jetzt zu ärgern. „Magst du nun deine Massage?“, fragte Harry, nachdem sie wieder zu hause waren. „Ich fürchte, ich bin schon entspannt“ Nicht, dass ihn das wirklich abhielt. Es war schließlich nicht so als würde er Harry nur aus medizinischen Gründen an seinen Rücken lassen. „Vielleicht die oberen Muskeln. Aber der Rücken hat eine tief liegende Muskulaturschicht. Die kann nur im Liegen gut massiert werden“ Auf Harrys Lippen lag ein wissendes, erotisches Lächeln, dass keinesfalls auf das Gesicht eines Fünfzehnjährigen gehörte. „Warum willst du mich verführen?“ Severus trat etwas näher an ihn. Harrys Gesicht erschlaffte kurz, bevor sich Verwunderung ausbreitete. Auch seine Stimme klang überzeugend fragend, als er erwiderte: „Du bist lieb. Ich möchte hier bleiben.“ „Ach, Harry“ Severus seufzte, aber lächelte dabei. Ein ungewöhnliches Gefühl. Er wartete noch auf den Moment, wo seine Gesichtsmuskulatur durch die ungewöhnliche Belastung nachgab. „Du bist jetzt in England. In Sicherheit. Niemand wird dich zurück nach Thailand schicken. Du brauchst mit niemandem schlafen, du musst dich von niemandem schlagen lassen. Du musst nicht mehr das wenigst schlimmste Übel wählen. Du kannst hier bleiben, auch völlig ohne mich jemals anzurühren. Du hast jetzt die Freiheit, selbst zu bestimmen, wen und was du möchtest.“ Harry blinzelte nur kurz und sah ihn mit einem etwas undeutbaren Ausdruck an. Die Stirn leicht in Falten, die Lider offen, der Mund schlapp. Als wüsste er nicht ganz, ob er das Wort Freiheit nun kenne oder nicht. „Du musst nicht zwischen mir und jemand anderem wählen. Du kannst auch mit dieser Cho glücklich werden“ Auch wenn ihm die Worte allein einen Stich versetzten. „Oder mit wem auch immer du möchtest. Du musst auch nicht mit irgendwem zusammen sein. Ich war viele Jahre allein glücklich“ Hieß, er hatte sich viele Jahre eingeredet, er wäre glücklich. Nicht, dass er es ansatzweise gewesen wäre. „Du bestimmst nun dein Leben.“ „Aber ...“ Harrys Stirn legte sich in tiefere Falten. „Du hast mir doch diese Freiheit gegeben.“ „Richtig“ Severus konnte dem Drang nicht widerstehen, dem Jungen mit einer Hand durch das Haar zu fahren. „Aber ich kann sie dir nicht wieder nehmen. Die Gesetze dieses Landes schützen dich.“ „Ich bin dir dankbar“ Harry legte eine Hand auf die von Severus, welche mittlerweile zu Harrys Wange gerutscht war. „Das mag sein“ Severus musste einen Kloß schlucken, aber er wusste, es gehörte sich, dass er die Worte aussprach. Auch wenn er nicht wusste, ob er nicht log. „Nur wird es mich nicht glücklich machen, wenn du nur aus Dankbarkeit mit mir schläfst.“ Doch, eine süße Lüge. Sein Körper sprach für ihn. Harry war wie eine pollenschwere Blüte, die er als Biene umflog. Ihm waren die Gründe relativ egal, solange Harry willig war. Und es sah nicht so aus, als würde das hier in einem Missbrauch enden. Trotzdem – wer war er, das zu beurteilen? Harry war zu jung, um solch eine Entscheidung zu treffen. Er war der Erwachsene, er hatte für sie beide zu sorgen. Er würde Harry für sein eigenes Wohl nicht anfassen. Er würde ihn gehen lassen, es würde weh tun, aber er könnte zumindest ohne das Gefühl von Schuld leben. Es war selten genug, dass er im Leben mal das Richtige tat. „Hast du noch Hausaufgaben?“, fragte er Harry. Samstag war nicht so schlimm wie erwartet. Die zwei Termine waren zwar anstrengend, aber reichten nicht für eine Migräne. Das könnte natürlich auch daran liegen, dass Harry brav im Auto wartete und stets lächelte, wenn er zurück kam. Nach seinem letztem Termin fuhr er mit dem Jungen Richtung Innenstadt, um ihm endlich eine Winterjacke zu kaufen. Sie endeten mit zwei weiteren Hosen, fünf Shirts, einem Paar Stiefel, einem guten Satz Wechselwäsche, einer Jeansjacke und einem gefütterten Cord-Mantel. Und so sehr Severus es auch wünschen würde, dieses Ergebnis war nicht Harry anzulasten. Er musste nur darüber nachdenken, aus was er den Jungen gern schälen würde und plötzlich hatte er eine Menge Dinge zum Anprobieren in den Händen. Auch wenn er persönlich Anzüge mit Hemd und Krawatte für sich bevorzugte, passten zu Harry eher lässige Klamotten. Er war jung, schön und trotz seiner Geschichte wirkte er sehr viel unbelasteter als Severus. Severus brauchte seine Kleidung wie eine Rüstung. Harry hingegen schien in Jeans und T-Shirt am freiesten. Nicht, dass ein T-Shirt bei Englands Temperaturen eine gute Idee war, sodass sie jetzt noch nach Pullovern suchten. Als Harry auf einen klar auf Jugendliche ausgelegten Absolut-Nicht-Marken-Laden zeigte, aus dem eine Mischung von Pop und Techno dröhnte, seufzte Severus nur ergeben. Er sah zwischen dem Laden und Harry hin und her, schätzte die Gefahr einer Migräneattacke ab und sagte ihm: „Fünf Minuten. Länger halte ich es darin nicht aus.“ Und ab, der Junge war weg. Severus folgte ihm gemächlichen Schrittes. Natürlich fand er ihn nicht ansatzweise in der Nähe von Pullovern wieder. Nicht, dass er in diesem Laden welche gekauft hätte, er wollte etwas Wärmendes für Harry, keine modisch zerrissenen Stofffetzen. Harry schien auch mehr an den bunten Turnschuhen, Gürtelschnallen und der Dekoration des Ladens interessiert. Severus hingegen besah lieber die über ihn tuschelnden Teenager mit einem bösen Blick. Die impertinenten Bälger lachten nur. Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch drei Minuten und siebenundvierzig Sekunden. Ein Verkäufer hatte Harry entdeckt und erzählte ihm wahrscheinlich die wildesten Geschichten über die Schuhe, vor denen er gerade stand. Harry lächelte nur freundlich. Der Verkäufer schien nicht ansatzweise zu bemerken, dass sein Kunde kein Wort verstand. Zwei Minuten dreiundfünfzig. Der Verkäufer hatte Harry die Schuhe in die Hände gedrückt und bemerkte wohl gerade, dass dieser kein Englisch sprach. Wie einen jeden guten Verkäufer hielt ihn das nicht auf. Noch eine Minute und sechsundzwanzig Sekunden. Harry spazierte in völlig überteuerten bunten Turnschuhen durch den Laden und fragte, wie er sie fand. Er entschied sich zu schweigen. Harry lächelte nur, zog die Schuhe wieder aus und gab sie dem Verkäufer zurück. Noch zweiunddreißig Sekunden. Mit einem tiefen Seufzen fragte er den Verkäufern nach den Schuhen in Harrys Größe. Harry, der gerade einem jungen Paar beim Einkaufen zugeguckt hatte, stellte sich auch auf die Zehen und setzte einen Kuss auf seine Wange. Severus wusste, er war verloren. „Guten Morgen, Chef“ Lydia lächelte ihn zur Begrüßung an, während sie ihm den ersten Kaffee des Tages vor die Nase stellte. Den ersten! Sie hatte es nur in ihrer ersten Woche gewagt, ihn vor dem ersten Kaffee anzusprechen – und es bereut. Sein giftiger Blick ließ sie jedoch nicht zusammen zucken. Sie verlor nicht mal ihr Lächeln. Sie verließ wie stets sein Büro, allerdings nicht in Angst. Hatte sein Verhalten ihn ihren Respekt gekostet? Nahm sie ihn nicht mehr ernst, nachdem sie wusste, dass er zu einem Psychodoktor ging? War das eine Information, die ausgeschmückt mit allerlei Zusätzen bereits durch die Gerüchteküche der Kanzlei geisterte? Oder war das Paranoia? Er lehnte sich mit seinem Kaffee zurück. Sollte er sie auf ihr Verhalten ansprechen? Oder sollte er diese Insolenz dulden? Er wünschte keinen Sittenverfall, doch er wollte Lydia auch nicht verjagen. Sie war eine kompetente Sekretärin, die ihm wenig Schwierigkeiten machte. „Guten Morgen“, grüßte sie erneut, als sie nach der Frist einer halben Stunde in den Raum trat, „bereit für eine neue Woche?“ Er brummte nur etwas Unbestimmtes. „Briar und Deslar haben sich bezüglich der Fusion gemeldet. Die letzten Details stehen nun und sie wünschen eine Korrektur der letzten Fassung bis Mitte dieser Woche. Darell hätte gern eine Aussage bezüglich möglicher Konflikte mit dem Kartellamt und Temco hat ihnen ihr neues Rentenmodell geschickt mit Bitte um Überprüfung. Diese nehmen die Fächer zwei bis vier ein. Die üblichen Verdächtigen sind in Fach fünf.“ Severus speicherte die Informationen in einer Ecke seines Hirns und schob sie aus seinem Bewusstsein. Wie sollte er Lydia ansprechen? Sie hatte sensible Informationen und schien dadurch ein Gefühl von Macht entwickelt zu haben. Es wäre jedoch unglaubwürdig, die Informationen zu diskreditieren oder in ihrer Wertigkeit zu mindern. Er musste ihr das Gefühl von Macht nehmen. Aber wie, wenn nicht durch Herabsetzung? Hatte dieser Psychodoktor nicht etwas davon erzählt, das Ziel seiner Aggressionen durch andere Wege zu erreichen? Jetzt wäre ein geeigneter Moment, um die Inhalte des Kurses bereits zu kennen. Wenn es sowieso nur Unterricht war, wieso konnte er das nicht in einem Buch nachlesen? Er sollte es den Mann fragen. Lydia hatte während seiner Überlegungen das Zimmer bereits verlassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)