Ein Leben in London von Gepo (Fortsetzung von "Eine Nacht in Bangkok" (ABGESCHLOSSEN!)) ================================================================================ Kapitel 1: Die ersten Tage in London ------------------------------------ Severus ließ den Jungen schlafen. Eigentlich war es ihm ganz recht, dass er noch immer schlief, er hatte keinerlei Lust, sich mit dem Jungen schon am Morgen abzuplagen. So konnte er in Ruhe seinen Kaffee und sein Müsli zu sich nehmen, ohne dabei eine Menschenseele erblicken zu müssen. Er hatte das Gefühl, das würde sich schneller ändern als ihm lieb war. Auf der Arbeit grüßte er die Sekretärin seines Vorgesetzten im Vorbeigehen, ließ sich von seiner eigenen Sekretärin einen Kaffee geben und setzte sich an die Briefe, die in seiner Abwesenheit eingegangen waren. Lydia wusste es besser als dass sie ihn um diese Uhrzeit bereits ansprechen würde. Sie wartete minutengenau eine halbe Stunde, bevor sie sein Zimmer betrat. „Guten Morgen, Mr. Snape.“ Er nickte nur. „Hatten Sie einen guten Rückflug?“ „Er lastet auf meinen Nerven“ Severus wandte sich wieder den Briefen zu. „Was ist in der Zwischenzeit passiert?“ „Ijagi, Dorovitch und Donathan haben Anfragen geschickt, sie sind in ihrer Mappe in der vierten Partition. BlackRock wünscht eine Beurteilung von vierzehn neuen Investments, Partition fünf. Und Mr. Johnson wünscht einen offiziellen Bericht über die Verhandlungen, die sie geführt haben. Außerdem wünscht er eine Erklärung, warum sie zwei weitere Tage in Thailand geblieben sind.“ „Persönliche Angelegenheiten. Es wird nicht wieder vorkommen“, erwiderte Severus nur. „Soll ich ihm das so sagen oder es ausschmücken?“ „Was auch immer sozial angemessener ist“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Wenn sie kein weiteres Anliegen hatte, brauchte sie ihn ja auch nicht stören. „Darf ich fragen, was das für persönliche Angelegenheiten waren?“ Sie lockerte ihren Stand langsam und lehnte sich vor, während sie ihre Lautstärke senkte. „Was sagt Ihnen das Wort persönlich?“ Er hob eine Augenbraue. „Nun … ich meine … Entschuldigung“ Sie seufzte leise. „Außerdem hat ihre Ex-Frau angerufen. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt und wollte wohl für ein paar Tage bei ihnen unterkommen. Ich habe in ihrem Namen abgelehnt.“ „Gut. Ich bin nicht die Caritas.“ Er setzte weiter Unterschriften unter mehr oder weniger wichtige Dokumente ohne aufzusehen. „Sie können gehen.“ Lydia nickte nur und verließ den Raum. Ehrlich, was dachten manche Leute sich? Er hatte sich vor achtzehn Jahren von ihr scheiden lassen, nachdem sie gerade mal vier Monate verheiratet gewesen waren. Für wen hielt die Frau ihn? Unfassbar, diese Dreistigkeit. Er schlug in der Mappe Partition fünf auf. „Hier sind die gewünschten Rufnummern“ Lydia übergab ihm einen kleineren Stapel mit Namen, Ausbildungen, Rufnummern und Preisen von Lehrern für Thailändisch. „Ich habe mir die Freiheit genommen, unseriöse Angebote auszufiltern.“ „Gut“ Er nahm den Stapel entgegen. Thailologe, gebürtiger Thailänder, Philologin, Dolmetscher, Philipine … „Ich werde mir das durchsehen.“ „Mister Snape … sie sprechen Thai, oder?“ „Natürlich“ Er sah nicht einmal auf. „Haben Sie in Thailand jemanden kennen gelernt?“ Der gefährliche Unterton. Sie versuchte wieder, Dinge über sein Privatleben zu erfahren. Er wusste noch nicht genau, warum sie das stets tat. Sie schien nicht im romantischen Sinne an ihm interessiert. Also was wollte sie mit solcherlei Informationen? „Das ist keine Information, die sie für ihre Arbeit benötigen.“ Sie seufzte kurz – eher ein Schnauben als ein Seufzen – und wandte sich zur Tür. „Lydia“ Sie drehte sich um mit einem erwartungsvollen Lächeln auf den Lippen. „Einen Kaffee. Schwarz.“ Sie drehte sich langsam wieder um, während sie tief durchatmete. Einen Moment schien es, als wolle sie sich noch einmal umdrehen und etwas sagen, doch im Endeffekt ging sie. Gutes Mädchen. Es gab schon einen Grund, warum sie als erste bereits mehr als sechs Monate mit ihm ausgehalten hatte. Severus hatte bei seiner Rückkehr einiges erwartet. Chaos vor allem anderen. Herumstehende Putzmittel und -lappen. Ein angebranntes Essen vielleicht. Was er nicht erwartet hatte, war ein Streifenwagen vor seiner Tür, eine weit offen stehende Haustür und laute Stimmen aus seiner Küche. Was in Gottes Namen hatte der Satansbraten jetzt angestellt? Er parkte seinen Wagen in der Auffahrt und hastete – natürlich gehend, ein Gentleman rannte nicht – in sein Haus. In der Küche fand er zwei Polizisten, die auf Harry einredeten. Es waren nicht diese zwei, die schrien, sondern Harry. Er drückte sich in eine Ecke und schrie auf thailändisch, sie sollten ihn in Ruhe lassen. Die beiden Polizisten, die natürlich kein Thai sprachen, redeten beruhigend auf ihn ein. Nicht, dass das irgendeinen Effekt hätte. „Was machen Sie in meiner Küche?“, heischte er die beiden Polizisten an. Noch bevor diese ihm antworten oder sich auch nur zu ihm drehen konnten, war Harry schon aufgesprungen und an den beiden vorbei gehuscht. Er drückte sich von hinten an Severus und beobachtete die zwei Männer unter Severus Armbeuge hinweg. „Sind Sie Mister Snape?“, fragte einer der Polizisten nach einem kurzen Blick auf seinen Notizblock. „Sehr wohl. Was machen Sie in meinem Haus?“, fragte er erneut – diesmal etwas ruhiger. Sie schienen in friedlicher Absicht hier zu sein. Nicht, dass man eine Widersetzung des Besitzrechts wirklich unter die Kategorie friedlich fassen konnte. „Ihre Alarmanlage hat uns her gerufen. Ihre Tür stand offen“, erklärte der Polizist, der ihn auch schon vorher angesprochen hatte. Bei genauerem Hinsehen wirkte er etwas älter als der andere. Es änderte nicht daran, dass beide so aussahen, als hätten sie noch mindestens drei Donuts gegessen, bevor sie dem Alarm gefolgt waren. Er sprach auf Thai, ohne den Blick von den beiden Polizisten zu lassen: „Hast du die Haustür offen stehen lassen?“ „Eh? Err … ja. Ich habe einen Stuhl dazwischen gestellt, damit sie nicht zu fällt, während ich draußen bin“ Vom Ton her war der Junge sich keiner Schuld bewusst. „Draußen?“ Severus schärfte seine Stimme. „Wo draußen?“ „Ich wollte mir den Garten ansehen. Und Gemüse ernten, falls welches reif ist“ Er wurde etwas kleinlauter. Zumindest schien er zu ahnen, dass er etwas falsch gemacht hatte. „Hier wird kein Gemüse angebaut“ Severus drehte sich ein wenig zu dem Jungen und atmete tief durch, um ihn nicht doch noch anzuschreien. „Die Haustür hat eine Alarmanlage. Du darfst sie nicht offen lassen.“ „Ich darf das Haus nicht verlassen?“ Harrys Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Severus seufzte tief. Er musste dringend die Website zur Beschäftigung importierter Frauen suchen. Stattdessen sagte er: „Ich werde dir einen Schlüssel machen lassen.“ „Ich vermute, es handelte sich um einen Fehlalarm, Sir?“, fragte ihn der Polizist. „Mein Sohn hat die Haustür offen stehen lassen“ Er wandte sich wieder den zwei Herren zu. „Er ist erst gestern hier angekommen. Ich konnte ihm noch nicht alles erklären, bevor ich zur Arbeit musste. Bitte entschuldigen Sie die Mühen.“ „Kein Problem, Sir“ Der Blick des Polizisten wechselte zwischen ihnen beiden. Wahrscheinlich prüfte er, ob er der Aussage „mein Sohn“ Glauben schenken wollte. „Lassen Sie mich bitte noch Ihrer beider Daten aufnehmen, dann können wir das hier zu den Akten legen.“ Severus hielt sein abfälliges Schnauben zurück. Anscheinend reichte dieselbe Haarfarbe und dieselbe Sprache nicht aus, damit man ihm eine Vaterschaft glaubte. Wenigstens hatte er offizielle Papiere für den Jungen. Er schickte Harry ins Arbeitszimmer, um diese zu holen und behielt die Polizisten im Auge. Er traute keinen Fremden. Auch nicht, wenn sie den Titel von Gesetzeshütern erlangt hatten. Er war auch ein Gesetzeshüter. Das machte ihn nicht zu einem guten Menschen. „Bitte sehr“ Harry überreichte ihm die Unterlagen mit beiden Händen und einer leichten Verbeugung. Severus fiel im selben Moment auf, wie normal das für einen Asiaten war und wie falsch das auf diese zwei Kreatins mit dem kulturellen Wissen von Toastbrot wirken musste. Besonders Thailänder waren höflich in all ihren Gebärden. Auf einen typischen Europäer wirkte so etwas eher sklavisch. Also legte er dem Jungen eine Hand auf den Kopf, wie er es Väter auf der Straße manchmal hatte tun sehen, wenn sie Stolz ausdrücken wollten. Auf ihn hatte es immer gewirkt, als würde man einen Hund belohnen, aber wenn es so eine anerkannte Geste war, sollte er sie nutzen. Das kleine Biest stellte sich dafür lächelnd neben ihn als hätte er nichts zu fürchten, Er währenddessen übergab den kleineren Stapel an die Polizisten und sagte: „Sein Ausweis und dessen Übersetzung, der vorläufige Asylrechtsschein und meine Vorsorgevollmacht.“ „Asyl?“ Der Polizist hob eine Augenbraue und warf einen Blick auf die Unterlagen. Der andere beobachtete ihn. „Asyl aufgrund sexueller Ausbeutung Minderjähriger und Menschenhandel. Der Junge ist Kinderprostituierter?“ „Der Junge ist mein Sohn“ Wut mischte sich in Severus Stimme. Die kalte, schneidende Wut, die Leute stets einen Schritt zurück treten ließ. „Seine Verwandten in Thailand haben ihn verkauft.“ „Sehen Sie zu, dass er in eine Therapie kommt. Der Junge war tief verstört, als er uns beide sah.“ Der Junge war tief verstört, weil ihn zwei Uniformierte auf einer fremden Sprache angesprochen und ihn dann ins Haus verfolgt hatten, nachdem eine jaulende Sirene im Haus losgegangen war. So etwas verbannt er vermutlich mit Polizisten, die die Dörfer nach Verbrechern durchkämmten. Er hatte glauben müssen, sie würden ihn für einen Verbrecher halten und einsperren wollen. Harry verstand zwar die Sprache nicht, aber er verstand Untertöne. Mit dem ersten ansatzweise wütenden Zischen trat er wieder hinter Severus und drückte sich in dessen Rücken. Er traute diesen Männern ganz klar nicht. Für ihn waren Polizisten etwas, vor dem man Angst zu haben hatte. Polizisten im ländlichen Thailand waren auch nicht gerade die freundlichen Helfer von nebenan. „Möchten Sie vielleicht eine Jugendarbeiter zur Unterstützung?“, sagte zum ersten mal der andere etwas, „Sich plötzlich Vollzeit um ein Kind zu kümmern, ist nicht leicht und viele fühlen sich überfordert. Wir könnten jemandem Bescheid sagen, der ihnen Tipps geben kann und ihnen helfend zur Seite steht.“ Übersetzung: Sie sehen nicht aus wie jemand, dem man ein Kind anvertrauen kann. Wir wollen Sie durch das Jugendamt überwachen lassen. „Sollte ich mich überfordert fühlen, werde ich darauf zurückkommen. Wenn Sie uns nun entschuldigen würden“ Severus wies mit einer Hand auf die Tür. Die Zwei verstanden die Geste, verabschiedeten sich freundlich und verließen das Haus. Severus schloss mit Freuden die Tür hinter ihnen. Mit einem Seufzen ließ er auch die Anspannung fahren, die ihn ergriffen hatte. Das hätte auch schlimmer laufen können. Er trat zurück in die Küche, wo Harry sich strategisch auf der anderen Seite des Tisches platziert hatte und ihn aus misstrauischen Augen beobachtete. Severus ließ seinen Blick kurz über ihn wandern. In sich zusammen gezogen, leicht in den Knien stehend, Arme etwas abgewinkelt. Die Pose sprach von Abwehr oder Flucht. „Erwartest du, dass ich dich schlage?“, fragte er auf Thai. Hätte der Junge Katzenohren, sie hätten sich vermutlich überrascht aufgestellt. So zeigte er nicht mehr als ein kurzes Blinzeln und ein Heben des Kopfes. „Ich habe eine bessere Selbstkontrolle. Wenn ich dich bestrafen will, fallen mir sinnvollere Vorgehensweisen als Gewalt ein“ Er ging zum Kühlschrank hinüber. „Hast du etwas zu Mittag gegessen?“ Harry legte nur den Kopf zur Seite und beobachtete ihn. Da der Kühlschrank noch genau so wie nach dem Frühstück aussah, vermutete Severus, dass die Antwort nein war. Wollte er kochen? Wollte er ausprobieren, ob Harry kochen konnte? Hm … nein, wahrscheinlich wäre ein Friedensangebot das beste Vorgehen. Was mochten wachsende Jungs? Pizza sollte genügen. Ein Konkokt aus Fett und Monosacchariden war zwar nicht gerade sein begehrtes Gericht, aber in dieser Angelegenheiten schien es sinnvoll, über seinen Schatten zu springen. „Hast du schonmal Pizza gegessen?“, fragte er den Jungen. Dieser blinzelte nur, bevor er den Kopf schüttelte. „Ich werde welche bestellen“, kündigte er an und trat an Harry vorbei. Dieser blieb auf einem gewissen Sicherheitsabstand, aber mittlerweile hatte sich mehr Neugierde als Vorsicht in seinen Blick gemischt. „Du isst Fleisch, richtig? Salami schmeckt normalerweise jedem.“ Severus seufzte nur, bevor er den Hörer seines Telefons aufnahm. Das hier war ihm zu kompliziert. Soziale Interaktion mit einem missbrauchten Teenager … er konnte nicht einmal mit normalen Menschen reden, ohne ihn andauernd vor den Kopf zu stoßen. Was sollte er denn sagen? Er hasste sinnlose Kommunikation, aber andererseits schien der Junge Angst vor ihm zu haben. Vielleicht sollte er wirklich einen Therapeuten für den Jungen finden. Möglicherweise war nicht einmal ein Jugendamtsmitarbeiter eine schlechte Idee. Er wusste wirklich nicht, was man mit Kindern anzustellen hatte. Nicht mit ihnen schlafen, so viel war ihm bewusst. Seit sie in getrennten Betten schliefen, hatte sich seine Libido auch nicht mehr zu Wort gemeldet. Und er sollte möglichst wenig Gewalt anwenden. Vor seinen Augen zuckte kurz das Bild vorbei, wie sein Vater auf seine Mutter eingeschlagen hatte, bevor er sich ihm zuwandte. Er verbannte die ungewollten Erinnerungen. Besser als das konnte er sich benehmen, da war er recht sicher. So schlimm konnte er demnach nicht sein. Hoffentlich. „Wie … wie bekommt man in diesem Land Essen? Gibt es einen Markt?“, fragte Harry, der ihn einige Minuten still betrachtet hatte. Severus wandte sich wohl oder übel wieder der Realität zu und erwiderte: „Es gibt Supermärkte. Das sind Märkte, die haben den ganzen Tag lang auf und verkaufen alles, was man braucht. Und man kann Essen gehen oder Essen bestellen. Ich habe gerade Essen bestellt, das uns nun gebracht wird.“ „Supermärkte“ Harry wiederholte das Wort, das Severus in englisch gesprochen hatte. „Zeigst du mir irgendwann den Weg zu den Supermärkte?“ „Ja“ Es wäre sehr hilfreich, den Jungen Einkaufen schicken zu können. Außerdem war der nächste Supermarkt fast eine halbe Stunde entfernt. Eine wunderbare Art, um ihn beschäftigt zu halten. Apropos … „Ich habe heute Sprachlehrer für dich gesucht. Ich habe entschieden, dich zu dieser Lehrerin zu schicken.“ Er griff in seine Tasche und zog das Dossier der Philologin Prof. Dr. Granger-Weasley heraus. Ihr Lebenslauf enthielt als einzige eine akademische Karriere mit Erfahrung in der Lehre. Wenn er schon Geld für den Jungen ausgab, sollte es zumindest auch etwas bringen. Sie war zwar jünger, als er erwartet hatte, aber im Endeffekt sprach das für sie. Eine solide Ausbildung, eine steile Karriere – sie hatte etwas Sympathisches. Er reichte Harry die Unterlagen, auch wenn der Junge den Text nicht lesen konnte. „Sie unterrichtet jeden Vormittag unter der Woche für drei Stunden“ Das war eigentlich das Ausschlaggebenste gewesen: ihr Unterricht schien zielorientiert und zeiteffizient. „Ich werde dich morgens mit nach London nehmen und nach dem Unterricht abholen. Sobald du die Gegend kennst, kannst du von selbst nach Hause fahren. Für die ersten paar Tage ist es vermutlich an sinnvollsten, wenn du in meiner Nähe bleibst, bis ich meine Arbeit beende.“ Nicht, dass ihm der Plan zusagte. Aber persönliche Vorliebe hatte sich der Notwendigkeit zu beugen. In diesem Fall blieb ihm nicht viel anderes übrig, wenn er den Jungen nicht am ersten Tag per Polizei suchen lassen wollte. Und von denen hatte er vorerst genug gesehen. Ein plötzlicher Einfall ließ ihn stocken. Er sah auf und fragte: „Bist du schonmal zur Schule gegangen, Harry?“ „Als Kind“, gab dieser zurück. Nicht, dass er das nicht noch wäre. Severus fragte weiter: „Kannst du Lesen und Schreiben?“ „Ein bisschen“ Der Junge hob das Papier und versteckte die untere Hälfte seines Gesichts dahinter. Na wunderbar. Severus seufzte kurz. Er schritt ins Wohnzimmer und suchte ein thailändisches Buch. Ah, hier … Ka Ta Kum Nai Con Do. Irgendwann hatte er sich mal eine Reihe von Krimis und Thriller auf Thai gekauft. Er reichte es dem Jungen und verschränkte nur die Arme. Harry starrte das Buch an, als wüsste er nicht, was damit zu tun sei. „Lies vor“, knurrte Severus nach einigen Sekunden. Vielleicht war es auch weniger als ein paar Sekunden. Niemand hatte ihn je ob seiner Geduld gepriesen. Man hatte ihn sowieso nie gepriesen. „Ka Ta … Kum … Nai Con Do“, sagte der Junge langsam und bedacht. Severus seufzte nur tief. Der Junge dürfte ungefähr auf dem Stand eines Erstklässlers sein. Wenigstens konnte er ansatzweise lesen. „Ich möchte, dass du heute Abend versuchst, das Buch so weit wie möglich zu lesen. Die Lehrerin wird dir nur Englisch beibringen, nicht Lesen und Schreiben. Das ist eine Voraussetzung für ihren Unterricht. Du wirst nachmittags üben müssen.“ Ein Glück, dass er den Jungen nicht unterrichten musste. Ihm würde in Sekunden der Geduldsfaden reißen. Er war nicht für ein Lehrerdasein geschaffen. Leute auseinander zu nehmen oder Zahlen zu analysieren war weit eher das richtige Arbeitsfeld für ihn. Er nahm sich sein eigenes Buch und setzte sich in einen Sessel. Nun, den ersten Tag hatten sie überstanden. „Ah, Sie müssen Mister Snape sein.“ Die Professorin lächelte ihn an und schüttelte ihm die Hand, bevor sie auf Thai wechselte. „Und du bist Harry?“ „Ja, Frau Lehrerin“ Der Junge verbeugte sich. Wenigstens hatte er Manieren. Thailändische Manieren, aber Manieren. Er fürchtete den Moment, wo er Harry das erste mal Messer und Gabel vorsetzen würde. „Dies ist unser Klassenzimmer“ Sie trat zur Seite und brachte sie zu einer Tür vier Schritte weiter. „Die ersten sind schon da. Such dir doch schonmal einen Sitzplatz.“ „Vielen Dank, dass sie ihn in einen laufenden Kurs aufnehmen“ Severus hatte sich diesen Satz auf dem Hinweg gut zurecht gelegt. Es war schlimm genug, ihn über die Lippen bringen zu müssen. Er hasste es, falsche Höflichkeit vorbringen zu müssen. „Wir haben ja gerade erst angefangen“ Sie lächelte ihn an. Ihm fiel ihre Flechtfrisur mehr auf als ihr Lächeln. Kunstvoll. So etwas konnten nicht viele Frauen. Nicht, dass er ihr das sagen würde. „Und ihr Sohn spricht kein Wort Englisch?“ „Ich spreche Thai“, erwiderte er, als würde das ihre Fragen vollkommen klären. Je weniger Details er verriet, desto weniger Nachfragen kamen meist. Das hatte er sich im Beruf schon oft zunutze gemacht. Ihr Lächeln wich langsam von ihren Lippen. Sie warf einen Blick zu Harry, sah zurück zu Severus und betrachtete ihn still, während sich etwas Kalkulierendes in ihren Blick legte. Nach einem Moment biss sie auf ihre Unterlippe, sah wieder zu Harry. Bevor sie eine indiskrete Frage stellen konnte, kam Severus ihr zuvor: „Er hat praktisch keine Schulbildung. Er kann nur leidlich lesen und schreiben. Seine Verwandten sagten mir stets, er würde zur Schule gehen. Ich habe erst vor kurzem heraus gefunden, dass sie Jahre lang gelogen haben. Sprechen Sie ihn nicht auf seine Verwandten in Thailand an. Für Ihre Taten gehören diese Menschen mindestens ins Gefängnis.“ „Oh“ Sie nickte langsam. „Natürlich … ich verstehe“ Sie senkte den Blick. Es gab nichts Besseres als das Schamgefühl von Leuten anzusprechen, wenn man sie zum Schweigen bringen wollte. Menschen waren bisweilen zu einfach. Er zog eine Karte aus seinem Etui und reichte sie ihr. „Sollte etwas sein, rufen sie mich an. Ich werde versuchen, ihn pünktlich abzuholen. Sollte ich mich verspäten, werde ich mich melden.“ „Anwalt für Wirtschaftsrecht“, las sie vor und sah auf, „Sie wirkten auch wie ein Anwalt auf mich.“ „Berufskrankheit“ Er nickte ihr zu. „Einen guten Tag, Professor Granger-Weasley.“ Das hätte besser laufen können. Es hätte jedoch auch schlechter laufen können. Die Polizisten waren noch fast einfach zu vertreiben gewesen. Diese Professorin würde schwerer sein. Sie war wie ein Bluthund. Sie hatte Witterung genommen und sie würde nicht stoppen, bis sie ihre Beute erlegt hatte. Hoffentlich war Harry bis dahin volljährig. Es ließ Severus kurz stocken, was dazu führte, dass er beinahe zu spät bremste. Beinahe. Es war nicht so, als würde er sich in seinen Gedanken verlieren. Er war stets in Kontrolle. Auch, wenn er realisierte, dass er als Vorsorgebevollmächtigter noch insgesamt drei Jahre warten müsste, bevor er Hand an den Jungen legen durfte. Verdammt nochmal … prostituieren durfte der Junge sich mit sechzehn, aber seinen Betreuer anfassen erst mit achtzehn? Wurde das ganze legal, wenn er dem Jungen Geld gab? Er wollte erst gar nicht darüber nachdenken. Es würde ihn nur auf die Frage zurück führen, warum er den Jungen mitgenommen hatte. Eine momentane geistige Umnachtung oder dergleichen schien die einzig annehmbare Erklärung. Vielleicht das thailändische Räucherwerk. Irgendetwas. Er sollte eine Pflegefamilie für den Jungen finden. Was sollte er schon bei ihm? Er hatte kein Interesse und keine Zeit, sich um Kinder zu kümmern. Erst recht, wenn dafür nichts in Aussicht stand. In drei Jahren hätte der Junge genug englische Luft geschnuppert, um sich ganz sicher nicht auf einen Anfang vierzigjährigen, potthässlichen Kerl einzulassen. Und er hatte kein Vertrauen darin, in den nächsten drei Jahren das Herz seines Schützlings zu gewinnen. Auf der Seite für importierte Frauen hatte gestanden, man solle sie nicht die eigene Sprache lernen lassen. Sie würden unabhängig werden und abhauen. Wenn man sie behalten wolle, solle man sie möglichst isolieren. Und was tat er? Er schickte den Jungen zu einem Sprachkurs, wo er viele Leute treffen würde, die seine eigene Sprache sprächen. Und wo er Englisch lernen würde. Wollte er den Jungen nun behalten oder nicht? Er wollte ihn durch die Matratze vögeln, so viel wusste er, aber das würde er nicht kriegen. Was hatte er sich dabei gedacht, den Jungen mitzunehmen? Natürlich, er hatte diesen Blick eines verloren gegangenen Welpen gehabt. Es war nur natürlich, ihn mitzunehmen. Und danach hatte ihn die Ehre gepackt, dass er keine halben Sachen machte. Aber nun? Er hatte den Jungen her gebracht. Die logische Schlussfolgerung war doch, ihm ein liebendes Heim zu suchen. Für ihn war er doch nur noch ein nerviges, Geld fressendes Anhängsel ohne jeden Zweck. Praktisch wie ein Haustier. Aber auch es dreimal zu wiederholen half nicht dabei, dass er irgendwo doch darüber nachdachte, was wäre wenn … was, wenn Harry ihn doch eines Tages begehrte? Er hatte noch nie etwas anderes als Stricher gehabt. Er hatte noch nie auch nur darüber nachgedacht, dass es etwas anderes für ihn geben könnte. Es war Harry, der ihn das erste mal fragen ließ … Nein. Ein Blick in den Spiegel reichte. Was machte er sich denn für Hoffnungen? Die Frauen, die er begehrt hatte, hatten ihn mit dem Arsch nicht angesehen. Die wenigen, die ihn genommen hätten, hatte er versucht. Die vier Monate Ehe waren das Längste und Schlimmste, was je daraus geworden war. Mit Männern war es nie anders. Mit Strichern. Der Sex war besser, das war alles. Er hatte sowieso noch nie einen Kerl getroffen, der das Wort Beziehung ernsthaft in den Mund genommen hatte. Er war nicht für Beziehungen geschaffen. Er war nicht jemand, der auf Langzeit andere aushalten konnte. Das beste Beispiel dafür hatte er doch vor der Nase. Er kannte Harry seit vier Tagen und dachte schon darüber nach, wie er ihn loswerden könnte. Seine Lust war doch sowieso schon erloschen. Keine unerwünschten Erektionen, keine Phantasien – nun, minimale Phantasien – und keine … nun ja, ein paar Träume. Ach, was belog er sich, auch den Jungen täglich zu sehen änderte nichts daran, dass er sich an die Küsse erinnerte. Und an das Gefühl samtiger Haut unter seinen Fingern. Er selbst war praktisch zerknittert. Papierhafte Haut, sehnig über kaum vorhandene Muskel gespannt mit keinem Gram Fett dazwischen. Er fühlte sich kaum besser an als eine Raufasertapete. Harry dagegen … er war so jung und unverbraucht. Den meisten Strichern sah man an, wie viele Drogen sie schon in sich gepumpt hatten. Allen anderen war es schlichtweg egal. Zwischen Junkie und Paar-Minuten-Job ohne viel Enthusiasmus gab es nicht viel in der Auswahl. Harry war anders. Harry war voller Möglichkeiten. Harry hatte nicht mal eine Ahnung von Sex, aber er war zu fast allem bereit. Er war ängstlich und neugierig zugleich. Er versuchte stark zu sein und seine Angst nicht zu zeigen. Und gleichzeitig war er so einfach zu brechen. Ein bestialisches Grinsen legte sich auf Severus Lippen. Wie gut, dass ihm im Auto keiner sah. Wie gut, dass seine Gedanken keiner hören konnte. War es das, auf das er stand? Blinde Naivität und Ängstlichkeit? Sollte er sich gleich im Zirkel anonymer Pädophiler einschreiben? Ein puppenhaftes Gesicht hatte der Junge auch. Er war fünfzehn. Er hatte alles, was ein Kind knapp nach Eintritt in die Welt der sexuellen Freuden so hatte: Unendliche Neugier und keinen blassen Schimmer. Natürlich war der Junge voller Möglichkeiten. Er würde keinen Pieps sagen, wenn Severus ihn anfassen würde. Er müsste es sich nur erlauben. Harry hatte es ihm doch schon angeboten. Er musste nur auf das Angebot zurückkommen. Er sah sich kurz um. Er hatte den Wagen im Hinterhof der Kanzlei geparkt, wo nur die Mitarbeiter Stellplätze hatten. So schnell würde hier wahrscheinlich keiner vorbei kommen, schließlich hatte die Arbeitszeit schon begonnen. Er sank etwas tiefer in den Sitz und öffnete nach einem weiteren Blick zur Sicherheit den Reißverschluss seiner Hose. Er musste es sich nur erlauben … Harry plapperte. Severus wusste nicht genau, ob man ihm sein Leben lang den Mund verboten hatte, aber er stand kurz davor, das auch zu tun. Dieser Junge konnte über schlichtweg alles reden. Den Unterricht, die Leute, die Lehrerin, seine Sitznachbarin, das Klassenzimmer, die Häuser, die er im Vorbeifahren sah. Erneut fühlte Severus sich genötigt eine Erklärung der nächsten folgen zu lassen, damit dieses Blag mal kurzzeitig still war. Er sollte ihm sehr schnell beibringen, wie die U-Bahn und das Bussystem funktionierte. Ein Glück, dass bereits Mittwoch war. Samstag müsste er Zeit für derlei Erklärungen haben. „...und hier arbeite ich“, schloss er seine Erklärung und fuhr auf den Parkplatz hinter der Kanzlei. Die Erinnerung an heute morgen schoss vor seine Augen, bevor sie sich in Millisekunden wandelte in den Gedanken, dass Harry sich nur zu ihm hinüber beugen musste, um- nein. Falsche Richtung. Der Junge war fünfzehn. „Wie lange musst du arbeiten?“ Harry klang nicht ansatzweise traurig oder deprimiert. Eher, als wäre Arbeit ein riesiges Abenteuer für ihn. Jugendliche nahmen die Welt noch so frisch und unverdorben. Vielleicht hatte er sogar den Glauben, man würde das, was man machte, gerne tun. „Bis die Stapel abgearbeitet sind“ Er schloss das Auto hinter sich zu und leitete Harry zum Hintereingang der Kanzlei. „Nun sei still und starr keine Leute an.“ Zum Glück lag sein Büro recht weit hinten. Er empfing selten Kunden selbst und mochte es, so weit wie möglich ab von Klatsch- und Tratschzimmer zu liegen, das man hier als Aufenthaltsraum bezeichnete. Kalebirths Tür war noch immer zu, weil er noch bis zum kommenden Montag auf einer weiteren Geschäftsreise war. Er musste demnach nur an Lydias scharfen Augen vorbei kommen. „Oh, Mister Snape, wer ist denn der junge, hübsche Mann?“ Severus schluckte sein Seufzen, bevor es seine Lippen verlassen konnte. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Nein, er hätte sich denken sollen, dass das Vorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Nun, welche Story sollte er ihr geben? Sie kannte Kalebirth. Sie würde ihn bestimmt über Thailand ausfragen. Er erwiderte: „Mein Sohn.“ „Sie haben Kinder?“ Aus ihrem Gesicht sprach Entsetzen. Zumindest ging ihr Blick nicht sofort mitleidig in Harrys Richtung. Das hätte Severus erwartet. Eher wandelte er sich schon in Millisekunden in gieriges Interesse nach Neuem. „Waren Sie mehrfach verheiratet?“ „Nein“ Severus deutete Harry mit einer Handbewegung an, dieser solle schonmal ins Büro gehen. „Ich habe seine Mutter bei einer Geschäftsreise in Thailand kennen gelernt. Sie ist lange tot. Ich habe den Jungen hin und wieder besucht“ Reichte das schon? Sollte er ihr noch mehr Fakten geben? Zu wenig und sie würde weiter bohren, zu viel und sie würde misstrauisch werden. „Bei der letzten Reise fand ich heraus, dass … sagen wir, seinen Verwandten wurde das Sorgerecht entzogen. Ohne Besuchsrecht. Außer mir hat er wohl niemanden mehr.“ „Nein“ Ihr Blick füllte sich mit Schmerz und eine Hand hob sich vor ihre Lippen. „Das arme Kind“ So ungefähr hatte auch die Dame in der Botschaft reagiert. Es schien im genetischen Code von Frauen zu liegen, diese Reaktion zu zeigen. Lydia wäre allerdings nicht seine Sekretärin, wenn sie ein reines wandelndes Klischee wäre. „Die Sprachlehrer waren also für ihn?“ Severus nickte nur und wandte sich ab in Richtung Büro. Seiner Meinung nach hatte er genug Fragen beantwortet. Warum war diese Frau bloß immer an seinem Privatleben interessiert? Könnte sie nicht einfach ihre Arbeit machen und ansonsten still sein? Weiber … Harry würde definitiv in eine Pflegefamilie kommen. Er war unaushaltbar. Er nutzte keine Stühle, er lag auf dem Boden. Er las sein Buch, indem er es über seinen Kopf hielt und Richtung Decke starrte. Er lächelte zuckersüß, wann immer Lydia herein kam und ihm dies oder jenes – meistens Kekse oder Saft – mitbrachte. Das Biest ließ sich sogar von seiner Sekretärin zum Essen einladen. Und er war laut. Sein Stift kratzte über das Papier, wenn er schrieb. Er summte und verstummte nur auf scharfe Blicke hin. Er ging auf und ab mit dem Buch in einer Hand. Er war ein einziges Energiebündel, immer in Bewegung, immer … strahlend. Wie als würde er von innen strahlen. Es machte ihn schön. Aber das war ein gefährlicher Gedanke. Also schürzte Severus die Lippen und sagte sich, dass nur ein unrealistisches Wahrnehmungskonzept einem solch gute Laune bescheren konnte. Die Kröte würde schnell genug verbittern. „Halb fünf“, sagte Harry irgendwann. „Was?“ Severus sah auf und blickte sich kurz um. „Uhr sein halb fünf“ Der Junge sah ihn an. „Richtig?“ Oh. Er sprach Englisch. Das verlangte ein Lächeln. In Theorie. In Praxis schaffte Severus es gerade noch einen Mundwinkel zu heben und zu nicken. Es ließ natürlich sofort das stolze Lächeln von Harrys Gesicht fallen und ihn den Kopf einziehen. Severus schelte sich innerlich einen Idioten, aber es half seiner äußeren Erscheinung leider nicht. „Ist das schwere Arbeit?“, fragte Harry ihn auf Thai von der Seite seines Stuhles und schielte auf seine Unterlagen. „Nein“ Severus seufzte und vergrub sein Gesicht in einer Hand, bevor er sich für eine Halbwahrheit entschied. „Ich habe nur Kopfschmerzen.“ „Soll ich dich massieren?“ Nein. Absolut nein. Severus fühlte Horror seine Wirbelsäule hinauf kriechen, dass das Wort noch nicht automatisch aus seinem Mund gepurzelt war. Aber auf seiner Schulter lag eine warme Hand und die allein schien bereits Zungen der Entspannung in seinen Körper auszusenden. Was war schon schlimm an einer Massage? Er bezahlte Physiotherapeuten für so etwas. Nun gut, er bezahlte auch Prostituierte … Massagen waren nicht immer ein Vorspiel. Sie waren bisweilen medizinisch notwendig und demnach auch in Ordnung. Nebst der Tatsache, dass Harry sein langes Schweigen sowieso als Zustimmung genommen hatte. Zwei warme Hände fuhren über seine Schultern und Daumen drückten sich in seine angespannten Muskeln. „Warte“ Oh, Severus, wo war deine Selbstkontrolle? Deine Moralvorstellungen? „Das Hemd … wird zerknittern.“ Dieses Biest. Dieses verdammte Biest. Die Hände fuhren seine Brust hinab und begannen die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen. Warum fühlte sich das bloß so gut an? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)