Rot, rot, rot von Ixtli ================================================================================ You're Gonna Kill That Girl --------------------------- Der Wolf besucht die Großmutter Der Jäger besucht das Rotkäppchen Er erwischte Johan gerade, als der zur Haustür rausging. Er trug einen vollen Wäschekorb bei sich, den er gerade im Begriff war, in sein Auto zu laden. "Na du", begrüßte Johan Tim, der ihm auf dem Bürgersteig entgegenkam. Er stützte den Wäschekorb auf seiner Hüfte ab und tastete mit seiner freien Hand nach den Autoschlüsseln, die zur Hälfte aus seiner Hosentasche heraus hingen. Erfolglos zerrte Johan an dem Schlüsselbund, das sich in einer gelösten Naht heillos verhakt hatte. Der Wäschekorb unter seinem Arm schwankte bedenklich. "Hast du dich auf dem Weg zu deiner Oma verlaufen?", ächzte Johan und überlegte, wie das wohl aussehen würde, wenn sich gleich seine Schmutzwäsche auf dem Gehsteig verteilen würde. Ohne großartig nachzudenken griff Tim nach den Autoschlüsseln und half Johan dabei, sich davon zu befreien. "Du bist zur richtigen Zeit hier aufgetaucht." Johan lachte erleichtert auf, als Tim die freien Autoschlüssel in der Hand hielt. "Ich war zufällig in der Nähe." Tim entriegelte den Kofferraum von Johans Auto und stemmte die Heckklappe in die Höhe. "Im Lügen bist du nicht gut, weißt du das?" Johan hatte den Wäschekorb in den Kofferraum gewuchtet und grinste Tim nun frech an, der kurz beschämt zur Seite sah. Johan schloss den Kofferraum und lehnte sich dann gegen das Auto, so dass er Tim im Blick hatte. Tim stand da wie ein Fremdkörper auf dem Bürgersteig. Die Fußgänger mussten um ihn herumgehen, was Tim aber nicht im Geringsten zu stören schien. Eine erboste Fahrradklingel ertönte, doch Tim blieb weiter stehen. Schneller, als Tim reagieren konnte, hatte sich Johan seine Hand geschnappt und ihn in seine Arme gezogen. "Verrätst du mir, warum du hier bist?" Johans Atem kroch über Tims Ohr und er spürte, wie ihm ein Felsen in den Magen plumpste. War das jetzt eine rhetorische Frage? "Ich habe-" "Mich vermisst?", schlussfolgerte Johan unverfroren. "Oder wolltest du mir unbedingt bei meiner Wäsche helfen?" Johan hielt kurz inne, als denke er nach. "Kannst du bügeln?" "Nein, und Marek kann es auch nicht." Johan horchte auf. Marek? Tim hatte Johan keine Sekunde aus den Augen gelassen. Als Mareks Name fiel, hatte Johan einen Moment irritiert dreingesehen, was genau das war, worauf Tim gewartet hatte. Irgendwie musste er ja mal aus der Reserve zu bekommen sein. Bisher hatte er auf die Tatsache, dass Tim eigentlich schon in einer Beziehung war, ziemlich locker reagiert. Johan musterte Tim ausführlich. Um seine Mundwinkel zuckte es belustigt. Tim hatte ihn kalt erwischt, musste Johan zugeben. Aber das musste er ja nicht unbedingt wissen. "Fährst du mit zum Waschsalon?" Tim hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Es war zum Verrücktwerden wie schnell sich Johan jedes Mal wieder fing! "Einfach weg-" Johan sah von seiner frisch gewaschenen Wäsche auf, die er gerade in die Schränke in seinem Schlafzimmer einräumte. Tim stand vor dem Topf mit den Blumen, die Johan von Esther geschenkt bekommen hatte, und kratzte sich an der Stirn. "Was ist?" Johan trat neben Tim und folgte dessen konzentrierten Blicken, die auf der Blume ruhten. "Stehen sie nicht richtig?" "Ich wusste bis eben noch, wie die heißen." Tim schüttelte leicht den Kopf. Sein Zeigefinger glitt sachte über die samtweiche orange Blüte. Die Blumen sahen noch genauso frisch aus wie im Laden. Keine braunen, vertrockneten Stellen, die Farben waren kräftig. Johan hatte sich scheinbar gut um die Blumen gekümmert. Bei ihm würden sie anders aussehen. Johan und Marek hatten wohl was gemeinsam. Etwas, was es Tim nicht gerade leichter machte. Johan sah von den Blumen, die noch immer wie am Anfang blühten, zu Tim, dessen Augenbrauen sich nachdenklich zusammen gezogen hatten. Ihm fiel gerade das erste Mal ein, wo diese Blumen eigentlich her waren, bevor Esther sie ihm geschenkt hatte. Und ihm fiel das erste Mal das Zwicken in seinem Magen auf, das diesen Gedanken begleitete. Er kam nicht darum herum, sich mit Tims Chef auseinanderzusetzen. Später irgendwann. Nicht jetzt. Nicht jetzt, wo Tim hier war und sie sowieso viel zu wenig Zeit hatten, so dass Johan nur zu gerne alles andere vergaß. Johan merkte, wie das Zwicken nachließ, wie es weicher wurde und schließlich abebbte, weil Tim schließlich hier vor ihm stand. "Ich habe Tiefkühlpizza, Pay-TV und Zeit bis morgen früh um fünf Uhr. Und du? Wann musst du zur Arbeit?" Tim kniff die Augen etwas zusammen. Es war schwer, sich das Hab-ich's-doch-gewusst zu verkneifen, wenn Johan die Frage, ob Tim die Nacht bei Marek oder ihm verbringen würde, so nett verpackte. "Ich arbeite eine Weile von zuhause aus", antwortete Tim, nicht ohne die übliche Schwerelosigkeit zu fühlen, wenn er die eine oder andere Wahl treffen musste. Johans Lächeln war es wert. Dabei war es nicht nur das Lächeln, das ihn sich die letzten Tage wie ein Idiot benehmen ließ. Es war alles an Johan. Und es war mindestens genauso viel an Marek, was ihm jedes Mal diese Achterbahn bescherte, aus der er am liebsten bei voller Fahrt aussteigen würde. Die beiden hätten nicht verschiedener sein können und Tim hätte nicht jeden Unterschied mehr lieben können. Abgesehen vom Äußeren. Johans Art etwa, wie er sich sicher war, dass Tim ihm absolut nichts entgegensetzen konnte und wollte – womit er richtig lag. Und auf der anderen Seite Marek, der intuitiver als Johan handelte und sich solche Dinge gar nicht erst fragte – und womit er Tims Willen, ihm das Gegenteil beweisen zu wollen, schneller brach, als der überhaupt realisierte, was da gerade ablief. Er liebte Johans gerade Körperhaltung. Die Spannung, die darin lag. Wie ein Baum, der nicht wich. Und er liebte Mareks unkomplizierteren Umgang mit allem, was sich ihm in den Weg stellte. Spielend leicht schaffte er Dinge, über die Tim erst mal eine Woche nachdenken würde. Tim sank tiefer in Johans Umarmung. Er schloss die Augen und genoss die Finger, die durch sein Nackenhaar strichen, hinunter zu seinen Schulterblättern glitten und wieder hinauf, und mit jedem Zentimeter, den sie zurücklegten ein Kribbeln unter Tims Haut erzeugten, das nur durch erneute Berührung wieder zu besänftigen war. Keiner der beiden ließ auch nur den Hauch eines Zweifels aufkommen, dass er genau das war, was Tim gerade brauchte. Johan, der seine stille Präsenz genoss. Und Marek, der einen unerschöpflichen Vorrat an Charme besaß, den er sehr gut einzusetzen wusste. Tim schien der einzige von ihnen zu sein, der das noch nicht akzeptieren wollte. Calla! Es waren Calla, dachte Tim unkonzentriert. Johans Blumen. Die samtigen Blüten, die so weich waren wie Johans Lippen, die Tims Körper erkundeten und jedes unnötige Wort in seiner Kehlen verstummen ließen. Esther war Ausnahmsweise auf ihrem eigenen Zimmer. Sie saß in ihrem hohen Lehnsessel am Fenster. Aus dem altmodischen Radio auf ihrer Kommode klang leise Swingmusik und vor Esther auf dem kleinen runden Kaffeetisch lag ein Fotoalbum ihrer Familie. So vieles war auf dem festen schwarzen Karton dokumentiert. Bilder in schwarz weiß mit gezackten Rändern klebten darin und darüber hatte sie mit hellem Stift Namen, Daten und Ereignisse festgehalten. Den Anfang machte ein Foto ihrer Eltern. Ihre Mutter, die auf einem Armlehnstuhl saß, trug ein dunkles elegantes Kleid mit hochgeschlossenem Kragen. Etwas versetzt dahinter stand ihr Vater. Groß und erhaben, wie Esther ihn in Erinnerung hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite waren bereits zwei ihrer älteren Geschwister mit auf den Fotos. Und eine Seite weiter sie selbst. Esther lächelte in Erinnerung. Sie hatte eine schöne unbeschwerte Kindheit gehabt, genau wie der Rest ihres bisherigen Lebens verlaufen war. Zuerst mit ihren Eltern und Geschwistern und dann mit ihrer eigenen Familie. Das halbtransparente Trennpapier zwischen den einzelnen Seiten knisterte, als Esthers Hand sachte darüber strich. Ein Klopfen an ihrer Tür ließ sie den Kopf heben. "Herein", rief Esther mit heiserer Stimme. Die Tür öffnete sich und im Rahmen stand ein junger Mann, den Esther noch nie gesehen hatte. Er war manierlich gekleidet und offensichtlich wusste er, was Höflichkeit war. Er hatte einen Strauß Blumen in den Händen, den seine schmalen feingliedrige Finger etwas nervös umklammerten, wie Esther amüsiert feststellte. "Guten Tag", erklang seine äußerst angenehme Stimme, mit der er Esther sofort in seinen Bann zog. "Mein Name ist Marek Wilk." Esther horchte auf. Der Name sagte ihr etwas. Sie hob die Hand und winkte den jungen Mann zu sich ins Zimmer. "Kommen Sie rein und setzen Sie sich doch bitte." Esther deutete auf den Armlehnstuhl, der ihr gegenüber an dem Kaffeetisch stand. Es war der Stuhl vom Foto ihrer Eltern, auf dem ihre Mutter gesessen hatte. Marek gab Esther den Blumenstrauß und nahm dann auf dem angebotenen Stuhl Platz. Er schien alt zu sein, aber stabil. Er wackelte kein Stück und keine einzige Schraube quietschte. "Darf ich Du sagen?" Irritiert sah Marek auf. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er das gefragt wurde. "Natürlich", sagte er schnell und schickte ein Lächeln hinterher. "Ich denke, ich weiß, wer du bist." Esther lachte leise über Mareks Gesicht, dem wohl alle möglichen Dinge durch den Kopf gingen, was Tim ihr wohl verraten haben könnte. "Dir gehört der Blumenladen, nicht wahr? Tim hat mir davon erzählt." Mareks Gesicht erhellte sich. "Eigentlich gehört das Geschäft meiner Tante und meinem Onkel", wiegelte Marek beschämt ab. "Ich bin nur die meiste Zeit dort und kümmere mich darum." "Und um die Bestattungen", warf Esther ein. "Ja, das auch", gab Marek peinlich berührt zu. "Dass muss dir doch nicht unangenehm sein." Esther amüsierte sich prächtig über das erschrockene Gesicht ihres Gegenübers. "Deine Arbeit ist jedenfalls krisensicher." Esther lachte heiser und Marek konnte nicht anders, als einzustimmen. "Mein Mann hatte auch einen solchen Beruf", sagte Esther. "Er war Bestatter?" Esther lachte erneut. "Nein, er war Bäcker." "Ach so, entschuldigen Sie..." Marek biss sich auf die Unterlippe. "Esther", sagte Esther und sah Marek aus ihren hellen blauen Augen an, die wie zwei eisbedeckte Seen schimmerten. "Wir hatten ein eigenes Café", fuhr Esther mit ihrer Erzählung fort. "Mein Mann hat die besten Kuchen gebacken, die ich kenne und meine Enkelin, Tims Mutter, hat sein Talent geerbt. Magst du Kuchen?" "Ja, kann man so sagen." Marek nickte. Er kannte die Kuchen von Tims Mutter nur zu gut und konnte bestätigen, dass es die besten waren, die er je gegessen hatte. Er würde einiges dafür stehen und liegen lassen. "Schade, dass du die Kuchen von meinem Mann nicht kennst. Er ist leider ziemlich früh gestorben." Esther schlug das Fotoalbum zu und legte ihre Hand darauf. Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig und Marek fühlte sich schuldig, ohne zu wissen, weshalb. "Ich konnte das Café nicht mehr alleine weiterführen. Ich hatte ja unsere kleine Tochter, die gerade erst mit dem Laufen begonnen hatte, und vom Backen verstand ich nichts. Aber ich denke, du weißt, wie das mit eigenen Geschäften ist, habe ich Recht?" Marek nickte. Ohne Tims Hilfe würde der Laden bedeutend schlechter laufen. Er hatte einfach Talent, wo Marek die Lust fehlte, sich um den Bürokram zu kümmern. Esthers Hand strich über den abgewetzten und ausgeblichenen Deckel des Fotoalbums. "Lotte, meine Tochter, hat es ihrem Vater gleich getan – was das frühe Sterben angeht. Und ich stand wieder mit einem kleinen Kind da und musste zusehen, wie ich zurecht komme." Marek spürte, wie sein Hals eng wurde. Das alles hörte er heute zum ersten Mal. Er hatte gewusst, dass Tim seine Oma nie kennengelernt hatte, weil sie früh verstorben war, aber viel mehr hatte Tim nicht darüber geredet und Marek hatte nicht nachgefragt. "Ist er gut in seinem Job?" Esthers Frage riss Marek aus seinen Überlegungen. "Ja, besser als ich", gab Marek zu und versuchte ein Lächeln. "Ohne ihn hätte ich den Laden vermutlich schon ruiniert." "Dann ist gut." Esther sah zum Blumenstrauß auf ihrem Schoß. "Er arbeitet sich momentan in die Floristik ein", erzählte Marek nicht ohne Stolz. "Ich bin öfter unterwegs, weil es gerade ganz gut läuft, was die Besta-" Marek hielt inne. Er wusste nicht, ob es angebracht war, sich mit einer 91jährigen über Beerdigungen zu unterhalten. "Was die Bestattungen angeht, wolltest du sagen, oder?" Esther lachte wieder mit heiserer Stimme und Marek nickte. "Ich hoffe, mit den Zahlen ist er besser, seine Verpackungskünste habe ich nämlich schon erlebt", murmelte Esther amüsiert. Dann schien ihr etwas anderes einzufallen. "Kennst du Patience?" Marek hielt den Kopf schief und dachte nach. "Nein, davon habe ich noch nie gehört." "Gut, dann zeige ich dir, wie man es spielt." Esthers zitternde Hand deutete zu ihrem Nachtschrank. "Nimm bitte die Karten und bring sie her." "Und was jetzt?" Marek sah auf die verschieden langen Reihen aus Karten, die Esther nach einer bestimmten Reihenfolge gelegt hatte. "Jetzt brauchen wir einen roten König, um das hier abzuschließen." Esther zeigte auf die längste Reihe. "Zieh eine Karte." Marek griff nach dem Kartenstapel und nahm die oberste davon. "Na, was ist es?", fragte Esther und wartete gespannt darauf, dass Marek sie ihr zeigte. "Leider kein König", sagte Marek und hielt die Karte so, dass Esther sie sehen konnte. "Macht nichts, leg sie hier hin." Marek tat, wie angewiesen. Die nächste Karte zog Esther. "Oh, schade, wieder kein König", lachte sie. "Los, du bist dran." "Die liegen wohl ganz unten", sagte Marek lachend, nachdem er seine Karte gezogen und sie Esther präsentiert hatte, die sie an der richtigen Stelle ablegte. "Hast du es eilig?" Ihre blauen Augen ruhten auf Marek, der verneinend den Kopf schüttelte. "Gut", sagte Esther zufrieden. "Weißt du, mit Tim kann man das nicht spielen." Marek lachte auf. "Ja, ich fürchte Geduld ist nicht seine größte Stärke." Esthers Lachen klang rau. "Aber er hat andere", fügte Marek hinzu. Tim hatte immer zu ihm gehalten, auch am Anfang, als es mit dem Laden gefährlich auf der Kippe stand, weil sein Onkel sich mehr mit dem Alkohol beschäftigt hatte, als mit seinen Finanzen. Sie hatten sich einige Nächte um die Ohren gehauen, um alles einigermaßen so hinzubiegen, dass sie nicht noch weiter in die roten Zahlen gerieten, und sie hatten es geschafft. Gerade so, aber es hatte gereicht. Und jetzt lief es wieder tadellos. Esther hatte Marek genau beobachtet. Keine noch so kleine Regung in seinem Gesicht entging ihr. Immer, wenn Tims Name fiel, blitzte es in seinen Augen, nur um gleich darauf einem nachdenklichen Blick zu weichen, als hätte er sich bei einem Gedanken erwischt, der gerade unpassend war. "Er ist stärker, als ich dachte", schloss Marek seine unausgesprochenen Gedanken ab. "Ja, da hast du recht." Esther lächelte. "Er hat nur so furchtbare Angst vor allem, was mit dem Sterben zu tun hat. Vielleicht wegen Lotte und meinem Mann. Ich habe keine Ahnung..." "Und dann sucht er sich einen Bestatter zum Freund", rutschte es Marek heraus. In dem Moment, in dem Marek bewusst wurde, dass er gar keine Ahnung hatte, inwieweit Tims Oma überhaupt über ihre Beziehung zueinander Bescheid wusste, fing Esther auch schon zu lachen an. "Tut mir leid", entschuldigte sich Esther bei Marek, "aber dein Gesicht gerade war göttlich. Los, los, zieh die nächste Karte." Grinsend schüttelte Marek den Kopf. Seine Hand schwebte über dem Kartenstapel. Er hob die erste ab und wollte gerade gucken, welche es war, als eine Stimme sie unterbrach. "Hallo, Esther. Sie haben Besuch?" Marek sah auf. Ein junger Mann etwa in seinem Alter hatte das Zimmer betreten und kam zu ihnen geschlendert. Er nickte Marek begrüßend zu, der das Nicken erwiderte. "Das ist Marek", stellte Esther ihn dem Fremden vor, der bei der Nennung seines Namens plötzlich erschrocken aussah. "Ihm gehört der Blumenladen, in dem Tim arbeitet." Im gleichen Moment, in dem Johan kapierte, wen er da vor sich hatte, erkannte Marek Tims rotes Ramones-Shirt, das Johan trug. Es gab nur dieses eine, das er unter hunderten wiedererkannt hätte. Ohne Zweifel. Es war nur eine winzige Stelle, an der das Logo wie verschwommen wirkte, aber nur Marek und Tim wussten, wo diese Stelle war und warum sie dort war. Es war passiert, nachdem sie ihre Waschmaschine ausprobiert hatten. Marek hatte Tims T-Shirt gebügelt – das erste Mal in seinem Leben hatte er ein Bügeleisen in der Hand gehabt – und war mit dem heißen Bügeleisen dem Aufdruck etwas zu nahe gekommen. Marek hatte sich tausendmal entschuldigt, aber Tim war ihm trotzdem eine Woche lang böse gewesen, weil er dieses T-Shirt abgöttisch liebte. Seit diesem Tag erledigte Tims Mutter die Wäsche für sie. Marek musste also nicht erst den Namen des Fremden hören, um zu wissen, wen er da vor sich hatte. Johan war es sichtlich unangenehm, so plötzlich mit dem Teil von Tim konfrontiert zu werden, den er bisher zu verdrängen versucht hatte. "Eigentlich wollte ich mich nur schnell verabschieden", sagte Johan zu Esther, ohne den Blick von Marek lösen zu können, der ihn von seinem Platz aus wohl genauso schockiert ansah, wie Johan ihn. Jeder einzelne Gedanke, der ihm gerade durch den Kopf schoss, war in seinem Gesicht abzulesen und Johan überlegte, ob auch Marek das gleiche in seinem Gesicht sah. Mit Sicherheit. Das war also Tims Chef?! Chef und mehr, korrigierte sich Johan. "Dreh doch mal die Karte um." Mareks Hand war wie gelähmt. Er konnte seine Blicke nicht von Johan abwenden, der sich Mühe gab, möglichst unbekümmert zu wirken. Endlich schaffte es Johan, sich Esther zuzuwenden. "Wir sehen uns dann erst Montag wieder. Ich muss meine Überstunden abfeiern", sagte er zu Esther, die ihn enttäuscht ansah. "Schade, aber das haben Sie sich wohl verdient, Johan. Ich habe ja noch Gesellschaft." Sie zeigte auf Marek, der ein Stück zurück wich. "Und nächste Woche bringe ich Ihnen Patience bei, damit ich nicht immer auf Tim warten muss." "Natürlich." Johan rang sich ein relativ neutrales Lächeln ab, obwohl ihm nicht dazu zumute war. "Schönes Wochenende, Esther." Er hielt kurz inne und nickte dann Marek flüchtig zu, der ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, seit er wohl wusste, wer Johan war. Er fühlte die Blicke förmlich auf sich, wie sie sich in ihn hineinfraßen. "Tschüß", sagte er knapp zu dem blassen jungen Mann, der in Esthers uraltem Armlehnstuhl saß und eine Spielkarte in der Hand hielt. Marek sagte gar nichts. Er sah Johan nach, der das Zimmer verließ und über den Flur auf eine Tür zuging. "Hast du die Karte vergessen?" Mareks Gedanken rasten. Er hörte Esther, konnte sich aber nicht dazu durchringen, endlich die Karte umzudrehen, die mit seinen Fingern verwachsen zu sein schien. Er sah nur Johan, der gerade durch die Tür ins Treppenhaus ging. Gerade drehte er sich um, scheinbar um die Tür hinter sich zu schließen, doch seine Blicke trafen Marek. Als die Tür endgültig hinter dem Typen mit Tims Ramones-Shirt zufiel, sprang Marek auf. Die Stuhlbeine schoben sich polternd über den Boden und endlich fiel auch die Karte aus seiner verkrampften Hand. "Herzkönig!", freute sich Esther, was Marek schon nicht mehr richtig hörte, weil er aus dem Zimmer rannte. "Siehst du, man muss nur etwas Geduld haben", sagte Esther zu dem schon nicht mehr anwesenden Marek. Sie legte den Herzkönig an seine vorgesehene Stelle und schob den nun beendeten Stapel zusammen. "Geduld und Vertrauen, der Rest findet sich von alleine." Die Tür schlug hart gegen die Wand im Treppenhaus, als Marek sie aufstieß. So schnell er konnte, rannte er die Treppe hinunter hinter Johan her. Ein falscher Schritt und er fiel die Treppe hinunter. Spielte keine Rolle. Er musste diesen Typen erwischen. Er hatte keine Ahnung, was er tun oder sagen würde, wenn er ihn eingeholt hatte. Er hatte auch keine Ahnung, wie es ausgehen würde, wenn er ihm gegenüber stand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)