Das Teehaus am Ende der Straße von Seelenfinsternis ================================================================================ Kapitel 22: Gutenachtgeschichte für Hanako ------------------------------------------ 22 – Gutenachtgeschichte für Hanako Hanako wurde durch die plötzliche Unruhe und Bewegung ihrer Schlafstätte wach. Verschlafen öffnete sie die Augen und sah direkt von unten in Sesshoumarus abgekämpftes Gesicht. Er trug sie in seinen Armen und hatte gerade mit ihr das Teehaus wieder betreten. Sie musste wohl während der Fahrt in diesem alten Transporter weggenickt sein, das war das Letzte, an das sie sich erinnern konnte. Aber die Müdigkeit war einfach zu groß gewesen und kaum war die Anspannung in ihr verflogen, waren ihr auch schon die Augen zugefallen. Schüchtern sah sie immer wieder auf sein Gesicht, es war so ungewohnt ihn mit den dämonischen Malen zu sehen. Die Linien und die Mondsichel, was bedeuteten sie bloß? Langsam kehrten auch wieder die Bilder des Kampfes in ihr Bewusstsein zurück, wie er sich in einen großen Hund verwandelt hatte, das magische Schwert und seine unglaublich mächtige Aura. Er war wirklich ein Daiyoukai, dann stimmte es auch, dass er der Fürst war, der ihre Vorfahrin einst aufgenommen hatte! So viele Fragen schwirrten in ihrem Kopf herum, die Aufregung ließ sie ihre Müdigkeit vergessen. Sesshoumaru brachte die kleine Hanyou in den hinteren Teil des Gebäudes, in dem sein privates Zimmer verborgen lag. Er hatte längst bemerkt, dass sie wach geworden war, aber er zog es vor es zu ignorieren. Schließlich stand er mit dem Mädchen auf dem Arm in seiner kleinen Kammer und legte sie behutsam auf seinem Bett ab. „Du bleibst die Nacht hier, das ist sicherer. Einige der Panther konnten fliehen und ich will kein Risiko eingehen.“ Stumm nickte Hanako. Sie konnte gerade nicht sprechen, da sie nun im Licht der Lampe das volle Ausmaß von Sesshoumarus Verletzungen sah. Von dem Hemd war nicht mehr viel übrig, es hing in Fetzen an seinem Leib. Über die Brust zog sich ein hässlicher Kratzer, den nun schon eine dicke Kruste bedeckte. Auf seinem Rücken blitzten Brandwunden durch die Löcher des Stoffes, da hatten ihn wohl die Blitze getroffen. Es gab kaum einen Fleck an ihm, der nicht mindestens einen Kratzer erlitten hatte. Tränen sammelten sich in Hanakos Augen. All das nur ihretwegen! Er hatte sich in so große Gefahr begeben, sogar sein Geheimnis gelüftet, nur um sie zu retten. Sie schämte sich so sehr; wenn sie nicht so unachtsam und leichtsinnig gewesen wäre, würde er immer noch der kautzige Teehausbesitzer sein und hätte nicht diese vielen Verletzungen. „Mach dir nichts draus, das heilt bis morgen wieder“, durchschnitt seine tiefe Stimme die immer schwerer werdende Stille des Raums. Irgendwie hatte sein Zigarettenpäckchen in seiner Hosentasche überlebt und er zog das verknitterte Schächtelchen hervor. Doch kaum öffnete er es und fingerte nach einem der schlanken Stängel, verzog sich sein Gesicht ärgerlich. Gebrochen, genau in der Mitte. Die Nächste war ebenfalls nicht mehr zu gebrauchen, weil sie völlig zerbröselt war. Mit einem Schnauben warf er das ganze Elend in einen Papierkorb am Fenster und verließ den Raum. Hanako nutzte den unverhofften unbeobachteten Moment und sog gierig alle Eindrücke des Zimmers in sich auf. Noch niemals zuvor durfte sie es sehen. Ihr Interesse wurde von dem hölzernen Gestell über ihrem Kopf gefesselt. Zwei Schwerter lagen darin, ein Platz war frei. Er besaß noch mehr dämonische Schwerter? Waren die genauso mächtig wie das Grün leuchtende? Sie sahen überhaupt nicht danach aus, das eine war alt, die Scheide an einigen Stellen gesprungen und offenbarte eine stumpfe, schartige Klinge. Das andere wirkte völlig unauffällig und sah aus wie eins jener Schwerter, die überall als Souvenir an Touristen verkauft wurden. Sie spürte aber deutlich die dämonische Aura, die um den Stahl floss und ihre Neugier es zu berühren zügelte. Sesshoumaru öffnete auch schon wieder die Tür und zog einen gepolsterten Stuhl aus dem Gastraum hinter sich her. In der anderen Hand hielt er einen untypischerweise leeren Aschenbecher und unversehrte Zigaretten. Verstohlen schmunzelte Hanako, sie wusste, dass er eine eiserne Reserve auf Vorrat hatte. Müde ließ sich der Daiyoukai auf dem Stuhl nieder und eine Sekunde später klemmte bereits wieder eine brennende Zigarette in seinem Mundwinkel. Den Aschenbecher stellte er auf eins der Regalbretter. Wie ein Verdurstender an einer Flasche Wasser hing er an dem qualmenden kleinen Ding und zog den Rauch tief in sich auf. Kein Wunder, dachte Hanako, er hatte den halben Tag seinem liebsten Laster nicht frönen können. Sonst rauchte er beinahe Kette, vor diesen Ereignissen hatte sie nicht geglaubt, dass er auch nur eine wache Stunde ohne frisches Nikotin überstehen würde. Mit Unbehagen sah er an sich herab, das zerstörte Hemd ließ ihn sich unwohl fühlen. Müde stand er nochmals aus seinem Stuhl auf und zog sich die Überreste über den Kopf aus. Die Zeichnungen an seinen Handgelenken fielen Hanako wieder ins Auge, sie entdeckte auch die Linien, die sich um seine Hüften wanden. „Warum hast du es mir nie gesagt?“, platzte es aus ihr heraus. Die Offensichtlichkeit seiner Herkunft machte es ihr nun unmöglich ihre Fragen länger zurückzuhalten. Ergeben senkte er den Kopf und seufzte, er musste sich nun dem Unvermeidlichen stellen. Er griff nach einem frischen Hemd, das gefaltet in dem Regal lag und kleidete sich langsam wieder an. „Du hättest es nicht verstanden und wahrscheinlich auch nicht geglaubt.“ „Wie kannst du das behaupten?“, entgegnete Hanako empört, „Du hättest es wenigstens versuchen können. Hast du so wenig Vertrauen zu mir? Ich hatte dir auch geglaubt, dass du ein richtiger Youkai bist, ich habe dein Geheimnis gewahrt.“ Wieder ließ er sich in den Stuhl sinken. „Das ist es nicht, ich vertraue deinem Stillschweigen. Dieses Leben liegt hunderte Jahre zurück, ich wollte damit abschließen, es hinter mir lassen. In diesen Zeiten zählt all das nichts mehr und die Daiyoukai sind nur noch Legende.“ Nachdenklich verlor sich sein Blick in dem spärlichen Licht des Raumes. „Das heißt aber nicht, dass ich die Verbindung zu dir verleugnet habe. Es war mir immer bewusst, dass du die Nachkommin meiner Tochter bist“, kam er Hanakos Einwand zuvor. Große, traurige Augen sahen ihn flehentlich an. „Dann ist alles wahr? Die Geschichte, die mir als Kind erzählt wurde und das, was Kagome gesagt hat?“ Er nahm einen tiefen Zug seiner Zigarette, ehe er rau antwortete: „Ja, das meiste hatte sich so zugetragen.“ „Erzählst du es mir? Ich will endlich verstehen, wer ich bin und woher ich komme. Bitte!“ „Ich bin der letzte der vier großen Herrscher und war der Herr über die westlichen Gebiete und die Inuyoukai“, begann Sesshoumaru seine Erzählung. „Früher war ich ein mächtiger Dämon, sowohl Menschen als auch Youkai fürchteten mich. Ich durchstreifte den Westen und tötete jeden, der sich mir in den Weg stellen wollte. Kalt und gnadenlos, aber es sicherte den Frieden in unsicheren Zeiten. Das Mädchen, von dem du erzählt bekommen hast, hieß Rin. Ich traf sie vor gut fünfhundert Jahren.“ „Wie alt bist du eigentlich?“, unterbrach ihn Hanako mit einer Frage. „Etwas über 1300 Jahre.“ Staunend glitt ihr Blick über ihn. „Du siehst aber noch immer so jung aus.“ Geschmeichelt lächelte er, ehe er antwortete: „Für einen Daiyoukai bin ich auch nicht alt. Mein Vater war über dreitausend Jahre alt, als er im Kampf starb und man beklagte, dass er so jung gestorben sei.“ Belustigt sah er das Unverständnis in Hanakos Augen und versuchte es ihr einfacher zu erklären: „Auf ein menschliches Leben übertragen wäre ich nicht mal dreißig.“ Das schien die Hanyou nun besser zu verstehen und so setzte er seine Geschichte fort. „Rin war ein Waisenkind, sie hatte durch einen Überfall von Banditen ihre Eltern und Geschwister verloren und lebte allein am Rand eines Dorfs. Die Menschen mieden sie und machten ihr das Leben schwer, sie war ganz allein und musste sich irgendwie selbst durchschlagen. Nach einem Kampf lag ich schwerverletzt im Wald in der Nähe und sie fand mich.“ „Wer hat dich denn so verletzt? Du bist doch stark!“, fiel ihm Hanako aufgeregt ins Wort. Sofort verfinsterte sich Sesshoumarus Gesicht. „Mein Halbbruder.“ „Du hast einen Bruder? War er auch so stark? Wer war er?“ Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus, doch Sesshoumaru unterbrach ihren Redeschwall. „Halbbruder!“, betonte er nochmals, „Eins nach dem anderen, gedulde dich.“ Gespannt hing das Mädchen an seinen Lippen. „Rin wusste sofort, dass ich kein Mensch bin, aber sie hatte keine Angst, im Gegenteil. Sie beschloss mich pflegen zu wollen und kam immer wieder zu mir, um mir Essen zu bringen. Ich hatte es aber ignoriert, ein Mensch war meiner Beachtung nicht würdig. Kurz darauf wurde das Dorf von den Wolfyoukai angegriffen und ich fand sie tot im Wald. Zu dieser Zeit beschäftigte ich mich sehr mit dem Schwert, das mein Vater mir hinterlassen hatte. Tenseiga war das Schwert der Heilung und es hieß, dass es von einem mitfühlenden Herz geführt Toten wieder das Leben schenken konnte. Da ich sowieso das Schwert weiter erforschen wollte und ich ein wenig Mitleid mit ihr hatte, holte ich sie aus dem Totenreich zurück.“ „Ist das eins dieser Schwerter?“, fragte Hanako aufgeregt und deutete auf das Gestell über ihrem Kopf. Es war so aufregend, wenn man Geschichte anfassen konnte! „Ja“, sagte Sesshoumaru, erhob sich und zog das Unscheinbarere der beiden Schwerter aus der Halterung. Er setzte sich wieder Hanako gegenüber und hielt Tenseiga so, dass sie es gut sehen konnte. „Darf ich es anfassen?“, erkundigte sie sich schüchtern. „Nein, die dämonische Energie ist zu stark für dich. Das Schwert ist aus einem Fangzahn meines Vaters geschmiedet worden.“ Um ihre überbordende Wissbegierde zu stillen, zog er das Schwert aus seiner Scheide. Matt glänzte der Stahl, aber er sah aus wie jedes andere Schwert. Nur die mystische Aura, die es umgab, verriet die Herkunft des Schwerts. Schließlich steckte er Tenseiga wieder weg und lehnte es an das Regal neben sich. „Rin folgte mir von dem Tag an auf Schritt und Tritt. Sie hatte mich nie um Erlaubnis gefragt, sie tat es einfach. Dass sowohl ich als auch meine beiden Begleiter keine Menschen waren, störte sie nicht, im Gegenteil. Durch ihre schlechten Erfahrungen hatte sie Angst vor Menschen und fühlte sich unter Youkai zeit ihres Lebens wohler.“ Er erahnte die Frage, die der Hanyou auf der Zunge lag. „Mit mir reisten ein zweiköpfiger Drache, der mir als Reittier diente und dem Rin den Namen Ah-Un gab. Er mochte sie sehr und beschützte sie, wenn ich nicht da war. Außerdem begleitete mich mein Diener Jaken, ein Kappa, der sich oft mit Rin stritt. Aber insgeheim mochte er sie wohl.“ Sesshoumaru hatte lange nicht an seine beiden treusten Untergebenen gedacht, es versetzte seinem Herz einen kleinen Stich. Kurz hing er der fernen Erinnerung in Gedanken nach und steckte sich dabei wieder eine Zigarette an, wie immer, wenn ihn die Vergangenheit einholte. „Du hast das einfach akzeptiert, dass ein kleines Mädchen sich dir anschließt?“, wunderte sich Hanako und holte ihn aus seinen schweren Gedanken zurück. Ein trauriges Lächeln bildete sich in Sesshoumarus Gesicht. „Ich dachte zunächst, dass sie bald wieder verschwinden würde und habe sie ignoriert. Aber sie fühlte sich schnell sehr wohl und ihre fröhliche Art und das sonnige Gemüt nahmen mir die Schwermut und ich fühlte mich in ihrer Gegenwart nicht mehr einsam. Schnell war es für mich normal sie um mich zu haben, ihr fröhliches Geplapper fehlte mir manchmal sogar. Ich wollte sie nicht mehr missen und so akzeptierte ich sie stillschweigend als Teil meiner Gruppe. Sie hatte es verstanden, auch ohne Worte. Als sie ungefähr acht Jahre alt war, musste ich sie eine Zeit lang einer alten Miko anvertrauen, da ich einige Kämpfe auszutragen hatte und es zu gefährlich war sie mit mir zu nehmen. Ich wollte auch, dass sie wieder lernte mit Menschen umzugehen und in dem Dorf lebten auch mein Halbbruder und dessen Kampfgefährten, also würde sie sich nicht völlig fremd fühlen. Ab und an besuchte ich sie.“ „War sie nicht traurig so ganz allein?“, erkundigte sich Hanako besorgt. „Sie hat uns vermisst, aber sie wusste, dass wir wiederkommen“, erwiderte Sesshoumaru. „Es dauerte zehn Jahre, dann nahm ich sie mit mir in den Westen und sie wurde dann auch offiziell meine Tochter. Dort traf sie dann auch auf ihren späteren Mann, einen meiner Heeresführer.“ „War sie hübsch?“, fragte das Mädchen nun etwas schüchtern. Es war eigentlich ja eine unnütze Frage, aber es interessierte sie brennend. „Ja, war sie. Sie war anmutig und schön, hatte eine warme und sanfte Ausstrahlung, viele meiner Männer hatten ein Auge auf sie geworfen.“ Vergnügt kicherte Hanako in sich hinein; manchmal war sie trotz allem eben ein typisches Mädchen und die Geschichte einer schönen Prinzessin, die sich verliebte, war genau so eine typische Mädchensache. Aber da war noch eine Sache, die sie nun mehr interessierte als die Romanze. „Warum weiß Kagome davon? Woher kannte sie ihren Namen und warum kennt sie dein Geheimnis?“ Auf diese Frage hatte Sesshoumaru schon gewartet. Er hatte schon zu Beginn seiner Erzählung beschlossen, dass er Hanako von Kagomes Abenteuer erzählen würde. Sie hatte auch schließlich sein Geheimnis verraten, da empfand er es nur als fair, wenn er nun ihres lüftete. „Weil sie dabei war“, antwortete er einer Sphinx gleich. Irritiert schüttelte Hanako den Kopf. „Wie meinst du das? Ich dachte, sie ist ein Mensch.“ „Ist sie auch“, trieb Sesshoumaru sein Verwirrspiel weiter. „Aber wenn sie jetzt eine junge Frau ist, wie kann sie dann vor fünfhundert Jahren…?“ Verwirrt brach Hanako den Gedanken ab. Irgendwas stimmte da nicht. „Sie ist kein normaler Mensch, stimmt’s?“, folgerte sie und sah Sesshoumaru prüfend an. Er saß entspannt rauchend auf dem Stuhl, sein Gesicht verbarg wie so oft jeden Gedanken und sein Blick ruhte interessiert auf dem Mädchen auf dem Bett vor ihm. Würde sie von allein auf des Rätsels Lösung kommen? Lächelnd beantwortete er die erneute Frage: „Nein, ist sie nicht.“ Nachdenklich strich Hanako mit ihren Fingern über ihr Kinn und überdachte alles Gehörte noch einmal. Wie konnte Kagome in zwei so unterschiedlichen Zeiten leben? Und was meinte Sesshoumaru damit, dass sie kein normaler Mensch sei? Sie war eine Miko, aber das konnte doch nicht das sein, was er meinte. „Was ist sie wirklich?“, stellte sie die entscheidende Frage. „Ich glaube, sie ist nicht nur eine einfache Miko mit ein paar spirituellen Kräften.“ Sesshoumarus Lächeln wurde breiter. Es machte ihn stolz, dass sein Schützling so scharfsinnig dachte und ohne seine Hilfe auf den Kern der Sache kam. Er lehnte sich nach hinten und verschränkte die Arme an seinem Hinterkopf. „Was weißt du über die Legende des Juwels der vier Seelen?“ Natürlich kannte Hanako diesen Mythos, er war sowohl unter Youkai als auch Menschen auch jetzt noch sehr bekannt. „Das Juwel kann jeden Wunsch erfüllen und es gab viele Kämpfe darum, es ist aber vor langer Zeit verschwunden. Es heißt, dass eine Miko den richtigen Wunsch geäußert hat und es deshalb diese Welt verlassen hat.“ Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, war ihr alles klar, es machte Klick in ihrem Kopf. Überrascht und mit offenem Mund starrte sie Sesshoumaru an. „Kagome ist diese Miko? Aber wie…?“ „Sie ist die Wiedergeburt der Priesterin, die das Juwel hütete. Auf dem Gelände des Tempels, in dem sie lebt, gibt es einen alten Brunnen, durch den sie in die Vergangenheit reisen konnte“, erklärte Sesshoumaru weiter das Mysterium von Kagomes Wissen und Fähigkeiten. „Dort trat das Juwel wieder aus ihrem Körper, in dem es lange unentdeckt ruhte. Dort traf sie auch meinen Halbbruder und später auch mich.“ Hanako zog das Kissen zu sich und hielt es vor ihren Bauch, um sich daran zu kuscheln. „Verstehe, sie ist durch die Zeit gereist. Habt ihr viele Abenteuer zusammen erlebt?“ Kalt erwiderte er: „Bei unserer ersten Begegnung habe ich versucht sie umzubringen. Sie reiste mit meinem Halbbruder und ich war froh, wenn ich sie nicht traf.“ „Du hast schon ein paar Mal deinen Bruder erwähnt. Erzähl mir von ihm!“, forderte ihn Hanako auf weiterzuerzählen. Der Wissensdurst dieses Mädchens war einfach nicht zu stillen, seufzte Sesshoumaru still. Sie war beinahe so schlimm wie Kagome. Doch zunächst knurrte er: „Halbbruder. Inuyasha war mein Halbbruder, seine Mutter war menschlich.“ „Also war er auch ein Halbblut!“, stieß das Hanyoumädchen ihm gegenüber aufgeregt aus. „Ja. Er war lange Zeit an einen Baum gebannt durch den Pfeil einer Miko, die er einst liebte. Ein Schwächling, ein Großmaul und Dummkopf war er.“ Sesshoumarus Blick verfinsterte sich weiter bei der Erinnerung an seinen Bruder, besonders Erinnerungen, die aus jener Zeit stammten. Bis heute hatte er ein widersprüchliches Verhältnis zu seinem Bruder; er verachtete ihn für das, was er war, hasste ihn, da seinetwegen ihr Vater starb und er der Erbe Tessaigas war; er respektierte, dass er das Schwert gemeistert hatte und zu einem brauchbaren Kämpfer geworden war. Kaum da sie es geschafft hatten einige Worte miteinander zu wechseln, ohne sich an die Gurgel gehen zu wollen, fiel er im großen Krieg. Sesshoumaru hatte es nie geschafft sein Verhältnis zu seinem Halbbruder für sich selbst zu klären und so schwankte seine Einstellung zwischen Verachtung und Akzeptanz. „Hasst du ihn, weil er dein Bruder ist oder weil er ein Halbdämon war?“, fragte Hanako seltsam abwesend. Hatte sie etwa bemerkt, was ihn ihm vorging? Er sah auf und ihr in die Augen, aber er fand keine passende Antwort. Jedenfalls keine, die er einem traurigen, aufgewühlten Hanyoumädchen geben wollte. „Verstehe“, sagte Hanako traurig nach einem Moment des unbehaglichen Schweigens und versuchte tapfer zu verhindern, dass sie weinte. Hatte sie sein Schweigen etwa auf sich selbst bezogen, schoss es Sesshoumaru in den Kopf. Trotz aller Mühen kullerten dicke Tränen über ihre Wangen. „Ich verstehe, dass du uns verachtest. Wir sind keine richtigen Dämonen, wir sind nicht so stark“, schluchzte sie und vergrub ihr Gesicht in ihren kleinen Händen. Was geschah da gerade? Sesshoumaru verstand nicht, warum sie weinte. War es nur sein Schweigen und die Unfähigkeit zu verneinen, dass er Inuyasha lange verachtet hatte für das, was er war? Es war egal, warum sie weinte, er ertrug es nicht. Sofort kamen ihm Kagomes Worte in den Sinn, dass er eine Schwäche für traurige Kinderaugen hätte. Da war etwas dran, stand er sich ein. Hanako war ihm nicht egal, sie gehörte auf eine besondere Art zu ihm und er wollte nicht, dass sie unglücklich war. Plötzlich sprang sie auf, verzweifelt wimmerte sie: „Es ist dann wohl besser, wenn ich gehe.“ Doch bevor sie auch nur einen weiteren Schritt tun konnte, packte er sie am Handgelenk und zog sie wieder aufs Bett zurück. Sein Blick bohrte sich in ihre verweinten Augen. „Ich weiß nicht, wie du auf diese dumme Idee kommst, dass ich dich verachte. Das zwischen mir und meinem Halbbruder ist eine ganz eigene Sache und liegt mehr als vierhundert Jahre zurück.“ Seine Stimme war fest und bestimmt, aber genau das flößte Hanako Angst ein. Er bemerkte, wie sie versuchte ihm auszuweichen, deshalb tat er sein Bestes die eisige Kälte, die ihm immer zu Eigen war, aus seiner Stimme und seinem Blick zu verbannen. Sanfter fuhr er fort: „Du bist die letzte Verbindung zu meiner Tochter, ich kümmere mich schon dein ganzes Leben um dich. Ich weiß, was du bist und es hat mich nie interessiert. Warum sollte sich etwas zwischen uns ändern? Nur weil du jetzt weißt, wer ich wirklich bin?“ Hanakos Atmung wurde wieder weniger hektisch, ihre Aufregung und Angst legten sich langsam wieder. Aber um wieder ruhig werden zu können, brauchte sie eine Gewissheit. „Du bleibst trotz allem bei mir? Du wirst mich nicht allein lassen?“ „Ich bleibe bei dir.“ Sesshoumaru spürte, das Worte allein nicht ausreichten. Müde erhob er sich und setzte sich neben dem Mädchen auf das Bett. Unsicher griff er ihre Hand. Seine nun wieder sichtbaren Klauen umschlossen die zierliche Hand Hanakos. Ihm waren solche Dinge eigentlich zuwider, aber er konnte die Traurigkeit seines Schützlings nicht länger ertragen. Er wollte sie trösten, ihr die Sicherheit und Geborgenheit zurückgeben. Vorsichtig lehnte die Hanyou sich gegen seine Schulter, erst prüfend, aber nachdem er nicht zurückwich fester. „Habe ich eigentlich auch Ähnlichkeit mit ihr?“, fragte sie nachdenklich in die Stille hinein. Er verstand sofort, was sie meinte. „Du bist ihr sehr ähnlich. Du hast ihren unerschütterlichen Frohsinn und Glauben an das Gute, du hast sie gleichen warmen, freundlichen Augen wie sie.“ Sesshoumaru spürte, wie sie an seiner Schulter lächelte. „Und du hast die Stärke eines Hauptmanns der Inuyoukai“, fügte er hinzu. Sie saßen eine Weile noch schweigend nebeneinander, das Mädchen fest an die Schulter des Daiyoukai gekuschelt. Worte waren nicht mehr nötig, sie störten nur die verständige Stille. Schließlich sagte Sesshoumaru: „Schlaf jetzt, der Tag war anstrengend genug.“ Hanako kuschelte sich unter die Decke und murmelte: „Gute Nacht, Sesshoumaru.“ Er war schon aufgestanden und nahm wieder das Zigarettenpäckchen, das er ins Regal gelegt hatte, an sich. Als er in der Tür stand, warf er noch einen Blick auf sie, doch Hanako war bereits eingeschlafen. Er löschte das Licht, schloss leise die Tür und flüsterte: „Gute Nacht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)