Das Teehaus am Ende der Straße von Seelenfinsternis ================================================================================ Kapitel 8: Geschichte wiederholt sich ------------------------------------- Eine Woche war seit Kagomes Ausflug in das Archiv vergangen. Doch was sollte sie mit den gewonnenen Erkenntnissen anfangen? Sie hatte eine Spur gefunden, die sich aber sofort im Nebel der Geschichte wieder verlief. Es gab nur eine einzige Person, die Licht in das Dunkel bringen konnte, doch die war im Moment sehr schlecht auf sie zu sprechen. Was sollte sie nur tun? Ihre Gedanken kreisten schon seit Tage um diese Frage, aber sie fand keine Lösung für ihr Dilemma, so sehr sie sich auch bemühte. Müde hatte sie ihren Kopf auf ihren Handrücken gestützt und schaute ins Nichts. Ein schweres Seufzen schlich sich aus ihrer Brust. Es war einfach frustrierend. Dieser Mann war frustrierend. „Hey Kagome, was ist denn los?“, riss Yuka sie aus ihren trüben Gedanken, „Du siehst schon seit Tagen so traurig aus. Ist etwas?“ Mit hoffnungsvollen, großen Augen sah Kagome zu ihrer Freundin auf. Sie musste einfach jemandem ihr Herz ausschütten, die Ereignisse der letzten Wochen waren einfach zu viel für sie allein. Aber was sollte sie ihr sagen? „Hey Yuka, ich hab‘ da einen alten Youkai wiedergetroffen. Er hat irgendwas Furchtbares in den letzten 500 Jahren erlebt, worüber er nicht sprechen will und ist der letzte seiner Art. Ich will wissen, was mit ihm passiert ist, aber er blockt alles ab. Achja, wenn ich ihn zu sehr bedränge, bringt er mich ohne mit der Wimper zu zucken um!“ Nein, das würde die Sache nur noch weiter verkomplizieren… Aber vielleicht konnte Yuka ihr doch einen Rat geben? Sie musste ihr ja nicht alles erzählen. „Hmmm, ja. Weißt du, ich habe einen Bekannten von früher getroffen“, begann sie zögerlich zu erzählen, „Ich habe ihn jahrelang nicht gesehen und jetzt haben wir uns vor Kurzem durch Zufall wiedergesehen. Er hat sich so sehr verändert, ich denke, dass ihm irgendwas Schlimmes wiederfahren ist.“ Yuka setzte sich neben sie und legte ihr mitfühlend eine Hand aufs Knie. „Warum glaubst du das? Vielleicht ist er einfach nur älter und reifer geworden.“ Nein, ganz sicher nicht, dachte Kagome. „Er verkriecht sich völlig in seiner eigenen kleinen Welt und beißt jeden weg, der ihm zu nahe kommt. Letzte Woche hatten wir einen ziemlich bösen Streit, weil ich ihm genau das vorgeworfen habe. Er ist explodiert und hat mich rausgeschmissen. Ich habe ihn noch nie so wütend erlebt!“ Yuka schenkte ihr ein verständiges Lächeln. „Na, das ist ja auch kein Wunder, wenn du ihn so drangsalierst. Lass mich raten, dein Helferreflex ist auf ihn angesprungen?“ „Nein, wie kommst du darauf?“, entgegnete Kagome ertappt. „Es lässt dich nicht los und du zerbrichst dir den Kopf darüber, wie du die Wahrheit aus ihm heraus kitzeln kannst, damit du ihm helfen kannst sich besser zu fühlen. Brauchst du noch mehr Beweise?“ Eingeschnappt verschränkte Kagome die Arme vor der Brust und grummelte: „Das stimmt doch gar nicht…“ „Ach Kagome, er ist doch kein verlassener Welpe, den du aufpäppeln kannst“, schüttelte ihre Freundin lächelnd den Kopf. Doch, genau das ist er, widersprach Kagome in Gedanken. „Denk doch mal nach, du würdest es auch nicht toll finden, wenn dich jemand, den du ewig nicht gesehen hast, ohne Umschweife fragen würde, warum das mit deinem Freund kaputt gegangen ist. Oder?“ „Das ist etwas völlig anderes!“, entfuhr es Kagome empört. In einer Mischung aus Mitleid und Verständnis sah Yuka ihrer Freundin lange in die Augen. „Es ist genau das gleiche. Jemand würde schmerzhafte Teile deiner Vergangenheit mit Gewalt an die Oberfläche zerren. Du willst, dass er ehrlich zu sich selbst ist, aber du kannst es doch selbst nicht einmal. Wahrscheinlich ist er deshalb so wütend geworden, weil er das spürt.“ Nachdenklich sah Kagome auf ihre Füße. Verdammt, sie hatte recht! Seit wann hatte Yuka solch ein Gespür für die feinen Töne des Zwischenmenschlichen? „Was soll ich deiner Meinung nach tun, Yuka?“, fragte sie niedergeschlagen. Sanft wurde ihr ein Arm um die Schultern gelegt. „Sei ehrlich zu dir. Gesteh dir ein, dass du es unbedingt verstehen willst, weil du ihm helfen möchtest. Dann weißt du schon, was zu tun ist.“ Sie fürchtete sich vor dem Weg, den ihr ihr Herz zeigte. Aber Yuka hatte recht, sie würde erst dann zur Ruhe kommen, wenn sie sich dem mürrischen Daiyoukai stellen würde und sich durch den Eispanzer arbeitete, den er um sein Inneres gelegt hatte. Auch wenn das bedeutete, dass Sesshoumaru sie dann auf ewig hassen würde. Sie stand bereits einige Minuten vor der alten, schweren Tür des Teehauses und versuchte sich zu überwinden die Klinke hinunter zu drücken. Ihre Knie waren weich und zitterten, denn sie hatte furchtbare Angst davor Sesshoumaru wieder unter die Augen zu treten, nachdem sie im Streit auseinandergegangen waren. Wie würde er reagieren, wenn er sie sah? Würde er gleich wieder wütend werden, sie am Ende sogar angreifen? Sie atmete einige Male tief ein und konzentrierte sich auf ihr Ziel. Wenn sie jetzt nicht alles versuchen würde um ihn zu knacken, würde sie sich das niemals verzeihen. Fest umschloss ihre Hand das Metall des Türgriffs und öffnete mutig entschlossen die Tür. Sesshoumaru warf ihr einen finsteren Blick zu als er kurz von einer Zeitung aufsah. Die Kälte in seinen Augen und die unverhohlene Ablehnung sandten ihr einen kalten Schauer über den Rücken, doch sie ließ sich nicht entmutigen und ging weiter auf ihn zu. „Verschwinde“, knurrte er ärgerlich und widmete sich wieder seiner Lektüre. Entschlossen setzte sie sich ihm gegenüber auf einen Hocker. „Nein, ich werde nicht verschwinden“, begann sie. Genervt faltete er das Papier zusammen und legte es beiseite. „Was willst du noch? Habe ich mich nicht das letzte Mal klar genug ausgedrückt?“, zischte er. Kagome musste heftig schlucken. Wenn er es darauf anlegte, war er immer noch genauso beängstigend wie sie ihn in Erinnerung hatte. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich habe das letzte Mal Dinge gesagt, die ich inzwischen bereue. Ich sollte nicht voreilig über dich urteilen.“ „Solltest du nicht, genau. War es das jetzt?“ Ungeduld mischte sich nun mit Feindseligkeit in seinem Gesicht. Sie seufzte schwer und knetete nervös den Stoff ihres Rockes mit schweißnassen Händen. „Ich habe vor kurzem deinen Namen in einem alten Schriftstück gefunden. Es war eine Aufstellung von Söldnern aus dem Boshin-Krieg. Hast du wirklich damals in der Revolution gekämpft?“, fragte sie leise und zögerlich. Sesshoumaru befreite die letzte Zigarette aus der verknitterten Packung auf der Theke und meinte abwesend: „Soso, und das muss natürlich ich gewesen sein? Du bist nicht auf die Idee gekommen, dass es ein anderer sein könnte. Was sollte ich damit zu schaffen haben, dass Menschen beschließen sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen?“ Jetzt war sie verwirrt. Sie war sich so sicher gewesen und mit einem Satz hatte er sie in ihrer Überzeugung erschüttert. Wieder einmal. „Du hast einen sehr außergewöhnlichen Namen! Kein Mensch trägt ihn“, versuchte sie sich zu rechtfertigen. „Ach, das weißt du sicher und hast es überprüft?“ Verdammt, ihr entglitt dieses Gespräch gerade völlig! Hilfe suchend flog ihr Blick durch den Raum als würde dort die Antwort auf sie warten. Schließlich blieb er an einem alten Foto an der Wand hinter ihm hängen. Ein kleines, altes Schwarzweißbild, sauber gerahmt. Neugierig inspizierte sie es genauer. Zwei Menschen waren darauf zu sehen, die völlig gestellt auf Stühlen saßen und verkrampft in das Objektiv der Kamera blickten. Eine Frau und ein Kind. Die Frau trug einen schlichten Kimono und schien nicht älter als Ende zwanzig zu sein. In der rechten Hand hielt sie einen zusammengefalteten Fächer, der auf ihrem Oberschenkel ruhte. Das Bild war sehr grobkörnig, es musste uralt sein und aus einer Zeit stammen, in der die Kunst der Fotographie noch nicht weit entwickelt war. Könnte es aus jener Zeit stammen? Die Kleidung könnte aus der Zeit kurz vor Meiji stammen, überlegte Kagome. Aufgeregt nahm sie weiter alle Details in sich auf. Das Kind war vielleicht sechs Jahre alt und trug ebenfalls einen einfachen Stoffkimono. Es war ein Mädchen, das rechts neben seiner Mutter saß. Das schwarze Haar trug es offen, aber das war nicht das, was Kagome ins Auge stach. Die Augen! Dieses Kind hatte sehr helle Augen, es war durch die schlechte Bildqualität kaum ein Kontrast zu erkennen. Sonst sah sie völlig normal aus, aber wie kam sie zu diesen außergewöhnlichen Augen? Unbewusst wanderte ihr Blick wieder zu dem Daiyoukai herüber. Welchen Ton seine goldenen Augen wohl auf einem Schwarzweißbild annehmen würden? Plötzlich machte es Klick in ihrem Verstand. Erschrocken stieß sie aus: „Du hattest damals Frau und Kind! Deshalb warst du bei den Menschen. Und du hast dich wieder zurückgezogen, weil den beiden im Krieg etwas zugestoßen war!“, folgerte sie in bester Detektivmanier. Sesshoumaru schloss ergeben die Augen und senkte seinen Kopf. Müde strich er sich mit einer Hand über die Augen, als würde er einen peinigenden Schmerz vertreiben wollen. Er atmete laut aus und flüsterte heiser: „Ich wurde an das ehrlose Wesen der Menschen erinnert, als ein Verräter in unseren Reihen sie hinterhältig ermordete, um sich an mir zu rächen.“ Er konnte es nicht mehr verleugnen, also brach er sein Schweigen. „Ja, ich habe damals in einer Einheit des Shogunats gekämpft.“ Geschockt mit großen Augen sah Kagome die gebrochene Gestalt vor sich an. Die Erkenntnis war zu viel für sie, sie war nicht zu fassen. Er war mit einer menschlichen Frau verheiratet und hatte eine Tochter? Er hatte unter Menschen gelebt und sogar für sie gekämpft? Sie hatte zwar eine dunkle Ahnung gehabt, aber jetzt die volle traurige Wahrheit aus seinem Mund zu hören, war zu viel für sie. Unzählige Gedanken und Gefühle überschwemmten ihr Bewusstsein und verschlugen ihr die Sprache. Sie starrte Sesshoumaru einfach nur weiter an. „Das wird dann wohl eine längere Geschichte“, sagte er nun wieder in seiner bekannten zynischen Art und füllte den Teekessel mit Wasser. Es dauerte eine kleine Weile, dann standen dampfende Tassen vor ihnen auf dem Tresen. Kagome hatte sich in der Zwischenzeit wieder etwas gefangen und ihr besorgter Blick musterte Sesshoumaru. Er sah plötzlich wieder alt aus, jeder Glanz und jedes Leben war aus seinen Augen gewichen. Schwer stütze er seinen Oberkörper mit den Ellenbogen auf dem alten Holz auf und zog gierig an seiner inzwischen vierten Zigarette. Ein frisch geöffnetes Päckchen lag neben ihm. Er schien wirklich das Nikotin zu brauchen um die schmerzhaften Erinnerungen wieder in Rauch zu verbergen, stellte sie besorgt fest. Sesshoumaru schien ihre Gedanken zu lesen und sagte in einer seltsam offenen Melancholie: „Ja, das war damals die Zeit, als ich diese kleinen Seelentröster für mich entdeckt habe.“ Gedankenverloren sah er den Rauchschwaden hinterher, die sich unter der Decke des Raums wieder auflösten. Auch wenn Kagome vor Neugier platze, sie würde ihn nicht mit Fragen überfallen. Sie würde ihm Zeit geben, bis er von sich anfangen würde zu erzählen. Es war ein besonderer Moment, das spürte sie deutlich, er schien in der richtigen depressiv-nostalgischen Stimmung zu sein um ihr von seinem Leben zu berichten. „Dann beginn mal mit deinem Verhör“, sagte er mit einem traurigen Lächeln. „Wer war sie?“, platzte es sofort ohne Umschweife aus Kagome heraus. „Ihr Name war Kazuko. Sie war die Tochter eines armen Samurai vom Land, aus einfachen Verhältnissen“, begann er zu erzählen. Die Erinnerung durchbrach seine kalte Miene, sein Blick war nicht mehr ganz so abweisend und ein wehmütiges Lächeln umspielte seine Lippen. „Sie war ungefähr 22 als wir uns trafen, also eigentlich schon zu alt um sich noch Hoffnungen machen zu können einen Mann zu finden. Ihrem Vater fiel sie zur Last und in der kleinen Stadt wurde sie als alte Jungfer verspottet.“ Kagome sog jedes Wort von ihm in sich auf und hing gebannt an seinen Lippen. Sie wollte sich seine Geschichte einbrennen in ihr Gedächtnis, um kein Detail zu vergessen. Er schwieg bereits einen Moment, bis sie endlich begriff, dass es an ihr war die nächste Frage zu stellen. Wie immer durfte sie ihm alles aus der Nase ziehen, er blieb sich treu und erzählte nicht einfach frei heraus. „Wie habt ihr euch kennengelernt?“ Sie versuchte es mit einer etwas allgemeineren und offeneren Frage in der leisen Hoffnung ihn zum Reden zu bringen. Sesshoumarus Blick war nun komplett nach innen gekehrt und sein Gesicht sah leer aus. Mechanisch führte er immer wieder die Zigarette zu seinem Mund, während er ihre Frage beantwortete. „Ich habe sie in einem Wald getroffen. Sie war mit einem Korb irgendetwas sammeln und unsere Wege kreuzten sich auf einer Lichtung. Sie hat mich angesprochen, was ich allein tief in der Wildnis täte.“ „Hat sie dich als Youkai erkannt?“, unterbrach ihn Kagome mit einer weiteren Frage. „Ja. Zu dieser Zeit musste ich mich noch nicht verbergen. Aber Kazuko war es egal wer oder was ich war, sie hatte weder Angst noch benahm sie sich wie ein unterwürfiger Wurm, so wie es die meisten Menschen taten, wenn sie mir begegneten. Sie bestand vehement darauf sich um mich zu kümmern und ihren Proviant mit mir zu teilen.“ „Du hast sie nicht zurechtgewiesen?“, kicherte Kagome erstaunt. „Ich meine, du hast Menschen sicher schon für weniger getötet.“ „Stimmt“, nickte er und starrte weiter in den Raum hinein. „Ich weiß nicht warum, mir wurde in diesem Moment nach langer Zeit wieder schmerzlich bewusst wie einsam ich eigentlich war. Die anderen waren schon lange tot, ich wanderte allein durchs Land. Ihre Anwesenheit störte mich nicht und so willigte ich ein.“ Etwas klingelte in Kagomes Verstand. Diese Geschichte hatte sich doch schon einmal so ähnlich zugetragen, nur war es damals statt einer jungen Frau ein kleines Mädchen, das sich in das Herz des Daiyoukais geschlichen hatte mit genau dem gleichen unbekümmerten Charme. Rin hatte ihr während der Zeit vor dem finalen Kampf gegen Naraku erzählt, wie sie zu Sesshoumaru gekommen war und er sie stillschweigend aufgenommen hatte. War er damals bereits auch schon so einsam gewesen? Sie hatte nie darüber nachgedacht, denn er erweckte zu keiner Zeit den Eindruck, dass er sich etwas aus Gesellschaft machte. Es war aber eine logische Erklärung für das Rätsel, warum er Rin bei sich akzeptierte. Sie würde sich aber hüten ihm die Parallelen zwischen Rin und jener Kazuko vor Augen zu führen. Sie hatte in ihren letzten Gesprächen bereits bemerkt, dass das Menschenkind eine schmerzende Lücke in seinem Herzen hinterlassen hatte, über die er zu sprechen nicht bereit war. Vielleicht war es ihm auch bewusst. „Starr mich nicht an, als hätte ich sie aufgefressen oder tu es wenigstens weniger offensichtlich“, knurrte er sie plötzlich an. Es war Kagome gar nicht bewusst gewesen, dass sie ihn wieder einmal perplex angestarrt hatte. „Es tut mir leid. Es ist nur… überraschend. Überraschend zu hören, dass jemand wie du Einsamkeit verspürt.“ Eindringlich sah er sie an, seine Gesichtszüge verhärteten sich wieder. Sie war wohl wie so oft einem ihrer Vorurteile aufgesessen, das Sesshoumaru nun empört zurückwies: „Nur weil ich meine Emotionen kontrollieren kann und mein Herz nicht auf der Zunge trage wie ihr, heißt das noch lange nicht, dass ich zu keiner Gefühlsregung in der Lage wäre.“ „Aber du sagtest immer, dass Gefühle nur eine Schwäche seien!“, rechtfertigte sich Kagome sofort. „Sind sie auch. Sie trüben den klaren Verstand und lassen dich irrational handeln und berechenbar werden, wenn du ihnen blind folgst. Und das war besonders damals gefährlich. Für Menschen, für Youkai und ganz besonders wenn man ein Daiyoukai ist. Nichtsdestotrotz sind sie da und ich muss, ob ich will oder nicht, mit ihnen leben.“ Bevor er Kagome weiter beschämen konnte, lenkte sie das Gespräch wieder auf ihr ursprüngliches Thema. Seine Belehrung hatte ihrem Herzen einen kalten Stich verpasst und ihr wieder einmal vor Augen geführt, wie wenig sie über ihn wusste, aber sich trotzdem ein Urteil über seinen Charakter erlaubte. Sie fühlte sich ertappt und normalerweise war sie auch kein Freund von schnell gefällten Urteilen über Personen. Aber bei ihm war es verlockend, denn sie glaubte ihn, beziehungsweise seine kalte Fassade, von früher her zu kennen. Sie vertrieb das ungute Gefühl mit einem großen Schluck des heißen Tees und forderte ihn auf weiter zu erzählen. „Sie kam danach öfter in den Wald und suchte meine Gesellschaft. Kazuko hatte zu diesem Zeitpunkt kein schönes Leben und diese unbeschwerten Momente waren ihre kleinen Fluchten. Wir saßen zusammen, sprachen über dies und das und aßen gemeinsam, was sie mitgebracht hatte. Schließlich erzählte sie mir wie unglücklich sie war, dass sie nur danach beurteilt wurde, ob sie verheiratet war und wie sehr dieser Druck an ihr nagte. Einige der jungen Männer im Dorf stellten ihr nach, denn sie sahen sie als quasi vogelfrei an. Einer dieser Schürzenjäger folgte ihr schließlich in den Wald und wollte sich an ihr vergehen.“ „Das ist ja furchtbar!“, stieß Kagome entsetzt aus. „Ist es, aber das drohte damals unverheirateten Frauen. Ich hörte ihre verzweifelten Hilferufe und konnte das Schlimmste verhindern.“ Gedankenverloren blies er langsam den Rauch durch seine Nase heraus. „Du hast ihn getötet, richtig?“, fragte Kagome nach, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Ein bösartiges Lächeln zierte seine Lippen, er musste wohl gerade die Bilder jener grausamen Tat wieder in seinem Inneren sehen. „Es war nicht mehr viel übrig von ihm.“ Doch das Glitzern der Mordlust verschwand genauso schnell wieder aus seinem Blick, wie es gekommen war, als er fortfuhr von der jungen Frau zu berichten. „Ich hatte erwartet, dass sie mich nun hassen würde, Angst vor mir hätte, nachdem sie den grausamen Dämon, der in mir ruht, gesehen hatte und voller Abscheu flüchten würde. Doch sie blieb, sie verurteilte mich nicht. Nicht für den brutalen Tod des Mannes und auch nicht für das, was ich bin. Ich glaube, das war der Moment, in dem mein rastloses Inneres zur Ruhe kam. Nach langer Zeit durfte ich wieder das sein, was ich bin. Sie bat mich sogar bei mir bleiben zu dürfen. Ich willigte ein und so zogen wir gemeinsam durch die Welt.“ „Hast du sie geliebt? Sie war ja später deine Frau“, stellte Kagome die Frage, die ihr schon während seiner Worte auf der Seele brannte. Wieder musste sie an Rin denken. Auch sie hatte Sesshoumaru so genommen wie er war, ihr war es auch immer egal gewesen, dass er ein Youkai war. Sie bewunderte ihn sogar dafür. „Ich weiß nicht, ob ich sie geliebt habe. Sie war ab da ein fester Teil meines Lebens und ich wollte sie nicht mehr missen. Ihre Wärme vertrieb den Schmerz der Einsamkeit aus mir und sie hatte meinen Respekt. Nenn es so, wenn du es unbedingt benennen musst.“ Auf der einen Seite störte seine pragmatische Antwort die romantische Seite in ihr, aber ihre Vernunft verstand ihn. Liebe war nicht immer dieses unordentliche, aufgeregte Flattern im Bauch, das einen plötzlich überkam. Echte Liebe wuchs langsam wie ein Baum, entwickelte sich aus Freundschaft und Wertschätzung. Wenn sie seiner pragmatischen Einstellung folgte, war Liebe sich ein Leben ohne den anderen nicht mehr vorstellen zu wollen. „Wie ging es weiter?“, versuchte sie das Gespräch weiter in Gang zu halten, „Ihr hattet ja auch eine gemeinsame Tochter irgendwann.“ Sesshoumaru atmete einige Male tief ein, als wollte er den Schmerz vertreiben, der ihn bei dem Gedanke an sie quälte. „Wir waren ungefähr ein Jahr auf Reisen, als Kazuko schließlich ein Kind erwartete. Sie wollte ab da nicht mehr auf Wanderschaft leben und bat mich sich irgendwo gemeinsam in einem Dorf niederzulassen, damit unsere Tochter unter Menschen aufwachsen konnte. Die Youkai waren zu diesem Zeitpunkt schon versprengt und fast nicht mehr da, daher war es keine Option die Kleine dort groß werden zu lassen.“ Das war das Stichwort! „Was war denn mit den Youkai? Du hast öfters angedeutet, dass sie plötzlich von der Bildfläche verschwunden waren“, fiel ihm Kagome aufgeregt ins Wort. Sofort saß sie kerzengerade und konzentriert vor ihm. Doch Sesshoumaru drehte seinen Kopf abwehrend bei Seite. „Eine schlechte Erinnerung reicht pro Tag.“ „Verstehe“, sagte Kagome enttäuscht. Ja, sie verstand ihn wirklich, aber sie wollte unbedingt endlich wissen, was mit dieser stolzen und mächtigen Rasse geschehen war, dass sie in den Untiefen der Jahrhunderte fast verschwunden war. Ein lautes Grummeln durchschnitt die nachdenkliche Stille. Peinlich berührt legte Kagome eine Hand auf ihren Bauch. „Oh! Ich habe heute Mittag kaum etwas gegessen, ich verhungere bald.“ Fürsorglich sah sie den Daiyoukai an und hatte eine Idee, wie man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden konnte. „In der Nähe gibt es eine Nudelbar. Du erzählst mir dort, wie es weiterging und ich lade dich auf eine Schale Udonsuppe ein.“ „Meinetwegen“, brummte Sesshoumaru gleichgültig und steckte seine Zigaretten wieder in die Brusttasche seines Hemds. Er schloss sorgfältig die Tür des Teehauses ab und zusammen spazierten sie in der letzten Sonne des Nachmittags die Straße entlang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)