Kamigami ga waku waku da yo! von Shizana (One Shot Sammlung Part II) ================================================================================ Heimlicher Freund (Deepshipping) -------------------------------- „Endlich sind wir wieder zurück!“ Erleichterung machte sich unter der Gruppe breit, kaum dass sie den Campus der Schule betreten hatten. Ein paar der Schüler, welche eifrig das niedergefallene Laub zusammenkehrten, begrüßten sie höflich, ehe sie in ihrer Arbeit fortfuhren. Apollon hob sich den Arm ans Gesicht, um sich ein paar der Freudentränen fortzuwischen. „Wir sind wieder da. Endlich sind wir wieder da! Ich freue mich so. Nie zuvor war ich so froh, die Schule wiederzusehen. Ich bin so froh.“ „Eine Woche kann wirklich lang sein“, schloss sich Yui ihm an und ließ den Blick durch die Gruppe schweifen. Jeder der Jungs wirkte reichlich erschöpft, als drohten sie unter ihrem Wandergepäck in die Knie zu gehen. Sie lächelte erleichtert. Der lange Fußmarsch von der Doppelkopfinsel ganz im Osten bis hierher hatte an den letzten Kraftreserven eines jeden Einzelnen gezehrt und für wenig begeisterte Stimmung in der Gruppe gesorgt. Auf halber Strecke hatte sie die Befürchtung gehabt, dass die Jungs das Handtuch werfen würden: Loki sträubte sich gegen alles und jeden, Baldr beklagte den unebenen Weg, Takeru nannte sie alle Jammerlappen und keifte unaufhörlich, während Hades mehr und mehr an Überzeugung gewann, dass es besser wäre, würden sie ihn zurücklassen. Einzig Tsukito hatte keinerlei Beschwerden geäußert, jedoch auch ebenso wenig Ermunterung. Es war ihr unmöglich gewesen, das Chaos zu bändigen. Auch Apollons unermüdliche Aufmunterungsversuche waren vermehrt ins Leere gegangen und hatten für nur noch mehr Zunder in der Gruppe gesorgt. Dass sie es am Ende dennoch bis zu ihrem Ziel geschafft hatten, war Dionysos und Thor zu verdanken. Außerhalb des alltäglichen Schulunterrichts zeigten sie sich als gutes Beispiel und waren den übrigen Jungs eine Motivation. Wäre es ihnen nicht irgendwie gelungen, die Freunde immer wieder durch ihre überzeugenden Argumente voranzutreiben, wer wusste schon, wo sie jetzt wären. Yui war ihnen dafür unendlich dankbar. Sie wusste die Leistung zu schätzen und würde sich etwas einfallen lassen, um sich für die gute Arbeit zu bedanken. – Aber nicht jetzt. Wenn sie sich die Gesichter der Jungs betrachtete, erkannte sie Erschöpfung darin. Sie waren müde und würden sich gewiss von der langen Reise und den vielen Abenteuern erholen wollen. Sicher, das hatten sie sich verdient. „Ist alles okay, Hades-san?“, wandte sie sich sorgenvoll an den griechischen Gott der Unterwelt zu ihrer Rechten. Thor hatte darauf gedrängt, dass er zwischen ihr und Apollon in vorderster Reihe ging, sodass er sein Wehklagen nicht bewahrheiten und sich unbemerkt von der Gruppe absetzen konnte. Für Hades musste das die schlimmste Strafe gewesen sein. Sein Gesicht war blass, regelrecht fahl, und ihm stand Schweiß auf der Stirn. Lange hatte er sich gesträubt, der Gruppe so gefährlich nah zu sein, bis Loki dem Ausfall nahe gestanden und eine fruchtende Drohung ausgesprochen hatte: Würde er nicht den restlichen Weg über ruhig sein, würde er ihm künftig alle Erdbeeren vor der Nase wegschnappen und vor seinen Augen unter der Schuhsohle zertreten. Dies zeigte Wirkung und Hades fügte sich, wenn auch widerwillig. Er machte ihr Sorgen. „Du solltest dich auf jeden Fall ausruhen. Soll ich schauen, ob sie noch ein paar Daifuku für dich haben?“ „Nein“, presste er hervor, als habe er die ganze Zeit über die Luft angehalten. „Ist schon gut. Ich … möchte nur noch aufs Zimmer.“ Yui betrachtete ihn bekümmert, nickte jedoch. „Ein langes, warmes Entspannungsbad wäre jetzt schön“, träumte Baldr hinter ihnen, woraufhin Dionysos bestätigend nickte. Müde lächelnd wandte er sich an seinen besten Freund neben ihm. „Meinst du nicht auch?“ „Passe.“ Loki stieß ein schweres Stöhnen aus. „So reizvoll es auch klingt, mit dir und Thor-chin zu baden, ich will nur noch ins Bett. Diese menschlichen Körper sind eine Plage. Ich fühle mich, als hätte ich hundert Jahre nicht mehr geschlafen.“ „Dem schließe ich mich an“, sprach Thor hinter ihnen. „Ich bin auch müde“, erklärte Yui mild lächelnd. „Aber ich denke, ein Bad werde ich mir dennoch vorher gönnen. Was ist mit euch, Takeru-san und Tsukito-san?“ „Ein Bad und Schlaf scheinen mir beidermaßen angemessen zu sein“, klang Tsukito teilnahmslos wie immer, als sei er der Einzige, den ihr Ausflug nicht erschöpft hatte. „Ich werde dem Beispiel von Kusanagi Yui folgen.“ „Und du?“ „Hm?“ Als hätte er nicht realisiert, dass er angesprochen worden war, blickte Takeru zu Dionysos auf. „Was wirst du als Erstes tun, wenn du wieder auf eurem Zimmer bist?“, half er ihm auf die Sprünge. „Ach, ja … Ja, ihr habt wohl recht.“ Fragende Blicke begegneten ihm. „Hast du uns nicht zugehört?“, hinterfragte Loki vorwurfsvoll. „Takeru-san ist bestimmt nur erschöpft“, warf Yui schnell ein, die nicht wollte, dass die beiden sich erneut stritten. Schnell wandte sie sich an den Rest der Gruppe, um der Situation auszuweichen: „Dann sollten wir uns heute am besten ausruhen. Ich denke, das haben wir uns verdient. Morgen dann setzen wir uns alle zusammen und arbeiten die Fragen aus, die uns Thoth-sama für das Survival Training aufgegeben hatte. Ist damit jeder einverstanden?“ „Waaas?“, stieß Apollon in hörbarer Enttäuschung aus. „Heißt das, wir essen nachher nicht alle gemeinsam in der Mensa? Wie schade, ich hatte mich schon sehr darauf gefreut. Das ist wirklich schade.“ „Naja, wer nachher noch möchte und Hunger hat, kann sich dort ja einfinden?“, schlug Yui besänftigend vor. „Wir haben noch etwas Zeit. Bis zum Abendessen sind es noch knapp drei Stunden. In der Zeit kann sich ja jeder schon einmal ausruhen, baden und umziehen, wer mag. Wer lieber schlafen mag, dem sind wir auch nicht böse, nicht wahr?“ „Das klingt gut, Yui-san“, lächelte Baldr fröhlich zu dem Mädchen herüber. „Gut, dann machen wir es so. Genauso machen wir es!“ Apollon nickte eifrig. „Gehen wir erst mal auf unsere Zimmer. Wer sich ausruhen möchte, ruht sich aus. Nachher treffen wir uns zum gemeinsamen Abendessen, wer möchte. Und morgen machen wir zusammen die Ausarbeitung und haben Spaß. Es wird Spaß machen, da bin ich mir ganz sicher! Ihr werdet sehen, wir machen das ganz kalos!“ „In Momenten wie diesen möchte ich unserem Ahollon gern den Hals umdrehen“, seufzte Loki genervt, was die übrigen Jungs mit einem einstimmigen Kopfnicken befürworteten. Der junge Sonnengott fand dies weniger lustig. Beleidigt plusterte er die Backen. „Totsuka Takeru“, wandte sich Tsukito in die Richtung seines Bruders, als die anderen bereits unter lautem Geschwätz zu den Wohnhäusern aufgebrochen waren. Besagter stand abseits, blickte sich in der näheren Umgebung des Geländes um und schien nicht zu bemerken, dass sie von der Gruppe zurückgelassen wurden. „Kommst du nicht mit?“ „Hm? Ah, sorry, Anii.“ Erst Momente später reagierte Takeru auf seinen Bruder, hob die Hand an den Hinterkopf und senkte den Blick zu Boden. „Geh doch bitte schon mal mit den anderen vor. Ich hab‘ noch was zu erledigen.“ Nichtssagend sah Tsukito zu ihm. Er machte keine Anstalten, sich von seinem Fleck zu bewegen, brachte allerdings auch keinerlei Initiative auf, die Worte seines Bruders zu hinterfragen. „Ich komme später nach“, erklärte Takeru deswegen, hob winkend die Hand und wandte sich zur Seite ab. Er hatte nicht erwartet, dass Tsukito Fragen oder Zweifel aufbringen würde. Ihm kam es gelegen, denn er empfand keine Bereitschaft, sich zu erklären. Nicht einmal seinem Bruder gegenüber, dem er sonst alles anvertraute. Absolut alles. Kurz darauf war Takeru vom Platz verschwunden und Tsukito blieb allein zurück. Er wandte sich um und folgte der Richtung, die zum Schülerwohnheim führte.      Abseits des Campus war Takeru auf einen Weg abgebogen, der in den angrenzenden Waldbereich führte. Er war Teil seiner Laufstrecke, die er zwei Mal am Tag seines Trainings wegen ablief. Es dauerte nicht lange, bis er tief genug im Wald verschwunden war, dass von menschlichen Stimmen nichts mehr zu hören und vom Schulgebäude nichts mehr zu erkennen war. In diesem Waldabschnitt kannte er sich aus. Er war in den letzten Wochen oft hier gewesen, hatte viel Zeit nach seinem abendlichen Training hier verbracht und war um einige Schleichpfade fündig geworden. Sein Weg war vorgegeben, den er ging, um zu jener kleinen, offenen Holzhütte zu gelangen, die nicht zum ersten Mal sein Ziel war. Kein Haus, lediglich ein kleiner tür- und fensterloser Holzbau im Hüttenschnitt, in dem man sich unterstellen und verschnaufen konnte. Auf der schlichten Holzbank, die im Quadrat im Inneren der Hütte an der Wand angebracht war, legte er sein Wandergepäck ab, welches er bisher auf dem Rücken getragen hatte. Es war eine Wohltat, als die schwere Last endlich von seinen Schultern herunter war, und er streckte sich einmal ausgiebig. Die Glieder schmerzten ihm aufgrund der vergangenen Woche. Ihm war, als könne er jeden einzelnen Muskel in seinem menschlichen Körper spüren, die um eine Pause ausriefen. Vielleicht sollte er für später in Erwägung ziehen, sich etwas Entspannung  in dem Onsen zu gönnen, der hinter ihrem Zimmer rund um die Uhr zur Verfügung stand. Ja, ein Bad in der heißen Quelle, die ihn an zu Hause erinnerte, klang nicht verkehrt. Er seufzte leise, wandte sich um und trat nach draußen. Vor der Hütte stellte er sich auf, stemmte die Hände in die Hüften und ließ den Blick durch die nahe Umgebung schweifen. Nichts. Weit und breit war nichts zu sehen. Nichts rührte sich, kein Mucks war zu hören. Nichts, bis auf das Übliche. War er nicht hier? Takeru hätte schwören können, ihn hier anzutreffen. Seltsam, dabei sollte er längst mitbekommen haben, dass ihre Gruppe zurück an der Schule war. Sonst bekam er auch immer alles mit, wodurch auch immer. Würde er noch kommen? Sollte er auf ihn warten? Allein der Gedanke stimmte ihn brummig, aber er hatte es ihm versprochen. Und er war ein Mann, der seine Versprechen hielt. Für die Unzuverlässigkeit anderer konnte er schließlich nichts. „Zehn Minuten“, entschied er und lehnte sich gegen den hölzernen Bau der Hütte zurück. Widerwillig verschränkte er die Arme vor dem Körper. „Ich gebe ihm zehn Minuten, nicht mehr.“ Und so wartete er. Wartete, wartete … lief einige Male um die Hütte herum, von links nach rechts, hielt Ausschau … und wartete. Nichts tat sich. Niemand ließ sich blicken. Die Minuten zogen vorüber.   Seinem Gefühl nach musste die Frist schließlich verstrichen sein. Takeru stieß ein genervtes Stöhnen aus. Was tat er hier eigentlich? Er machte sich nur zum Affen, indem er hier stand wie bestellt und nicht abgeholt. Dabei könnte er längst mit seinem Bruder auf ihrem Zimmer sein, in frischen Klamotten nach einem entspannenden Bad. Stattdessen war er den ganzen Weg hierhergekommen, war müde, ausgelaugt und mit den Nerven längst am Ende. Dieser Loki! Die Warterei war sinnlos. Statt sich weiterhin zum Narren zu machen, sollte er lieber dem Ruf seiner schmerzenden Glieder nachgeben und sich auf den Heimweg begeben. – Genau das würde er jetzt auch tun! Pech gehabt. Entschieden kehrte er in die Hütte zurück, nahm sein Gepäck auf und schwang es sich über die Schulter. Ärgerlich trat er nach draußen, sah sich ein letztes Mal um, ehe er sich in Richtung Schulgelände bewegte. Er kam nur wenige Schritte weit, als ihm etwas in einigen Metern Entfernung auffiel. Hinter einem der Baumstämme rechterhand von ihm lugte etwas hervor, das wie ein weißes Stoffmaterial auf dem dunklen Waldboden wirkte. Auf den zweiten Blick, etwa auf einem Meter Höhe, bemerkte er außerdem etwas, das zuerst schwierig zu erkennen gewesen war: etwas Schwarzes mit einem weißen Kreis und weißen Fleck darin. Das kam ihm doch bekannt vor? „Hey“, rief er in jene Richtung und bemerkte, wie die Schulter erschrocken aufzuckte, ehe sie hinter dem Baumstamm verschwand. Takerus Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Gib‘s auf, ich hab‘ dich schon gesehen. Idiot, hältst du mich für bescheuert?“ Er musste sich kaum anstrengen, um das leise Gebrabbel zu hören, welches daraufhin hinter dem Baum zu vernehmen war. Es klang vertraut, stimmte seine Verärgerung jedoch nicht besser. „Wie lange willst du jetzt noch da sitzen bleiben? Hast du nicht gehört: Ich hab‘ dich längst gesehen. Also komm vor da!“ „Bara!“, kam es widerspenstig zu ihm zurück, ehe sich das Etwas hinter dem Baumstamm regte und auch schon verschwunden war. Nach links, so viel hatte Takeru noch erkennen können, alles andere geschah zu schnell für sein Auge. „Hey, wo willst du hin? Bleib gefälligst hier!“, rief er noch aus, doch zu spät. Die letzten aufgewirbelten Laubblätter fielen zurück zu Boden, danach war es still um ihn herum. „Tze“, stieß er einen abfälligen Laut aus, rückte sich das Gepäck auf seinen Schultern zurecht und setzte sich in Bewegung. Die Wut wollte nicht verrauchen. „Na toll, dafür bin ich extra hergekommen? Feigling! Warst nicht du es, der wollte, dass wir uns treffen, sobald wir wieder zurück sind?“ Er erhielt keine Antwort. Natürlich nicht, was hatte er auch anderes erwartet? Vermutlich war er längst über alle Berge und würde sich die nächste Zeit auch nicht mehr blicken lassen. Bis er irgendwann wieder aus heiterem Himmel auf seiner Laufroute auftauchte. Wie damals, die erste Zeit über. Dabei hatte er gedacht, sie hätten diese albernen Spielchen endlich hinter sich gelassen. Tja, so schnell konnten sich die Dinge ändern, kaum dass er mit den anderen für eine Woche weg war. Es ärgerte ihn. Es ärgerte ihn so sehr, dass er sich selbst einen Vollidioten schimpfte. Und ihn. Und Loki, wenn er schon einmal dabei war, sowie die ganze Schule und alles, was ihm in dem Moment in den Sinn kam. Würde er ihn das nächste Mal sehen, dann würde er … würde er … Hinter ihm raschelte es. Reflexartig blieb Takeru stehen, seufzte genervt, ehe er sich umdrehte. Noch einmal raschelte es. Eines der Gebüsche wackelte, bis ein Kopf zwischen dem Gestrüpp hervorkam. Ein Paar tiefvioletter Augen blickte scheu zu ihm herüber. Blätter hatten sich in dem schwarzen Haar verfangen, das etwas über Kinnlänge zu einem geraden Bob geschnitten war. Takeru verzog das Gesicht. „Was ist?“, begegnete er dem Jungen patzig, nicht fähig, seine Verärgerung hinunterzuspielen. „Hast du dich jetzt doch entschieden, aus deinem Versteck herauszukommen? Damit du’s gleich weißt: Ich hab‘ nich‘ gerade die beste Laune. Und auf diese Versteckspielchen hab‘ ich schon mal gar keine Lust!“ „Bara bara“, war das leise Murmeln des Jungen mit dem braunen Teint zu hören. Er senkte den Blick betreten zu Boden, richtete sich auf und trat schließlich aus seinem Versteck hervor. Wie Takeru zuvor richtig vermutet hatte, trug er die Jacke ihrer Schuluniform offen über den Armen, geradeso, als wäre sie ihm einige Nummern zu groß, weswegen sie ihm immerzu über die Schultern nach unten rutschte. „Bist du dann jetzt fertig?“, schnippte er zu ihm herüber. „Ich kann auch wieder gehen. Hatte ich ohnehin gerade vor.“ „Bara bara bara“, schien der Junge zu widersprechen, wobei er wild den Kopf schüttelte. Takeru hob überrascht eine Augenbraue. „Nicht? Und stattdessen?“ Der Junge wich seinem Blick zur Seite aus. Die Hände übereinandergelegt vor seiner Brust haltend, machte er einen sehr unsicheren Eindruck. Er seufzte. „Versprichst du mir, das Versteckspiel sein zu lassen?“ „Ka“, war die prompte, wenn auch gedrückte Antwort, doch sie stellte Takeru zufrieden. „Na schön“, gab er bei. Seine Wut war noch nicht gänzlich verraucht, wirklich nachtragend konnte er ihm aber auch nicht sein. In der Zeit, die er den sonderbaren Jungen schon kannte, hatte er sich nach und nach an dessen Eigenarten gewöhnt. Mehr oder weniger zumindest. Verlegen räusperte er sich und blickte zur Seite. „Also dann … kann ich dir ja jetzt von dem Training erzählen. Sofern du möchtest.“ Ein begeistertes „Kaah!“ war die Antwort.   Unter einem der Bäume hatten sie sich niedergelassen. Etwas abseits vom Wegesrand, damit sie nicht sofort entdeckt werden konnten. Wer auch immer zu dieser Stunde außerhalb des Campus nach ihnen suchen sollte. Gespannt lauschte Anubis den Erzählungen. Das Survival Training, so erklärte Takeru, sollte dazu dienen, dass die Götter die Bedürfnisse der Menschen besser verstehen lernten. Sie sollten vertrauter mit dem menschlichen Körper werden, ihre Stärken und Schwächen ohne jegliche göttliche Kraft sowie die Grenzen erfahren. Er erzählte außerdem, dass die Verbundenheit zur Natur eine nicht niedere Rolle gespielt habe. So habe Yui ihnen einiges gezeigt, wie sie ein Quartier aufschlagen und sich versorgen könnten. Als Götter, die sie waren, hatte es sich blamabel angefühlt, sich von einem Menschen belehren zu lassen. Dennoch sei die gemeinsame Woche mit all ihren Herausforderungen schön gewesen. Anstrengend, das ohne Frage, aber eben dadurch äußerst lehrreich und voller Überraschungen, in denen sie viel über sich selbst erfahren konnten. „Zuerst wollte keiner wirklich mitziehen“, erzählte er ihm und legte dabei den Kopf seitlich. „Es war einfach nur peinlich, sich ständig belehren zu lassen. Aber da wir unsere Kräfte nicht nutzen konnten und nur das Nötigste zur Hilfe mitnehmen durften, hatten wir keine wirklich andere Wahl gehabt. Schon am zweiten Tag wollte die Hälfte von uns das Handtuch schmeißen, aber irgendwie … hat sie es geschafft, uns davon abzuhalten. Tja, und irgendwie wurde es dann nach und nach besser.“ Anubis nickte begeistert. Zu gern wäre er bei diesem Ausflug dabei gewesen, gäbe es da nicht dieses klitzekleine Problem, dass er die Nähe anderer Personen scheute. Vielleicht, wenn es nur er, Thoth und Takeru gewesen wären … Eine Woche nur sie und die Natur, das klang toll in seinen Ohren. „Am vorletzten Tag hatten die meisten wieder keinen Bock. Wir haben das Lager abgebaut und einen Wettbewerb veranstaltet, wer am besten allein zurechtkommt. War vielleicht nich‘ die klügste Idee … Ironischerweise haben wir uns zum Abend alle wieder zusammengefunden und uns auf ein Unentschieden geeinigt. Ja, und dann war die Woche endlich rum. Ich glaub‘, erst auf dem Rückweg wurde uns so richtig bewusst, wie wertvoll diese gemeinsam verbrachte Zeit für uns alle war.“ „Ka bara bara?“, wollte er wissen und legte seinerseits den Kopf schief. „Ich nehme an, du willst wissen, wieso?“ Anubis nickte. „Naja … wir haben doch so manche Herausforderung gemeinsam überwunden. Da war zum Beispiel dieser Moment, als Baldr in eine Grube gefallen war. Zusammen konnten wir aus mehreren Stoffen eine Art Rettungsseil binden, das stark genug war, um ihn da wieder rauszuholen. Oder als einmal ein Sturm einige unserer Laubhütten eingerissen hatte und wir auf einmal ohne Schlafplatz dastanden, da haben alle mit angepackt, neue auf die Schnelle zu bauen und robuster zu machen.“ Bei der Erinnerung stahl sich ein verträumtes Lächeln auf seine Lippen. „Das war was, sag‘ ich dir. Ich dachte echt, das kippt alles. Aber wenn’s hart auf hart kommt, können alle zusammenarbeiten, wenn es sein muss. Es hat Spaß gemacht, irgendwie. Auch wenn’s manchmal echt stressig war und nicht alle dufte miteinander waren. Bestimmt haben wir der Kleinen oft schlimm zugesetzt. Sie hatte keine einfache Zeit mit uns.“ „Bara?“ „Du weißt schon, das Mädchen.“ Ah, der Mensch. Anubis erinnerte sich. Er hatte Thoth schon oft über sie reden gehört, was in ihm die Neugierde geweckt hatte. Ab und an hatte er sie heimlich beobachtet, doch was er von dem Mädchen halten sollte, das wusste er nicht. Ihm war es auch egal. Letztlich war sie immer noch ein Mensch. Und Menschen mochte er nicht. Bei dem Gedanken schüttelte er schnell den Kopf. Nein, an Menschen wollte er jetzt wahrlich nicht denken. Er war froh über seine Distanz zu ihnen. Dabei wollte er es für den Moment belassen. „Sag mal“, hörte er, wie sich Takeru wieder an ihn wandte, und blickte fragend zu ihm auf, „du bist doch auch ein Schüler. Bestimmt bist du aus demselben Grund hier wie wir. Wieso beteiligst du dich nicht mit am Unterricht und versteckst dich stattdessen vor uns?“ Er wandte den Blick zur Seite ab. Dieses Thema schon wieder. Takeru hatte ihn das schon einmal gefragt und er hatte ihm keine Antwort darauf geben können. Es hätte ohnehin keinen Sinn gemacht, es zu versuchen. Ihm war schnell aufgefallen, dass Takeru ihn nicht verstehen konnte. Genau wie Thoth es ihm einmal gesagt hatte, als sie an diesen seltsamen Ort gekommen waren. Es hatte ihn nie gestört. Im Gegenteil: Normalerweise war es ihm ganz recht so, da er nie beabsichtigt hatte, mit jemand anderen als Thoth zu reden. Doch nun, seit er Takeru kannte und sie so etwas wie Freunde geworden waren, war es ärgerlich. Äußerst ärgerlich. „Weißt du, wenn du am Unterricht teilnehmen würdest … Also, es ist zwar ziemlich idiotisch und unnütz, es nervt auch tierisch und ist oft chaotisch. Aber manchmal … kann es auch Spaß machen. Du könntest auf solchen Ausflügen dabei sein. … Ich mein‘ ja nur.“ Ja, das wusste er alles. Es war nicht das erste Mal, dass Takeru ihn mit solchen Argumenten zu bereden versuchte und auch Thoth sprach oft über den Unterricht. Anubis bezweifelte nicht, dass es Spaß machen konnte. Jedoch … Da waren so viele fremde Leute! Götter, die er nicht kannte und mit denen er nichts zu tun haben wollte. Und da war ein Mensch unter ihnen! Er hasste Menschen. Er wollte ihnen nicht näher als zwingend notwendig kommen. Davon ganz abgesehen, würden sie kein Wort verstehen, das er zu ihnen sprach. Welchen Sinn machte es schon, mit Leuten zusammen zu sein, mit denen er sich nicht richtig verständigen konnte? Er wäre ein Außenstehender. Jemand, der nicht dazugehörte und nicht erwünscht war. So wie es schon immer der Fall war. Zu Hause, in Ägypten. Es wäre exakt dasselbe. Nicht anders als dort. Takeru neben ihm seufzte. „Versteh‘ schon. Du magst nich‘ drüber reden. Vergiss es einfach wieder.“ „Kah …“ – Das stimmte so nicht. Traurig ließ er den Kopf zwischen den Schultern sinken. Er würde durchaus mit ihm darüber reden, aber wie? Takeru verstand ihn nicht, ganz gleich, was er versuchte. Wie sollte er sich mit ihm verständigen? Vorsichtig wagte er einen Blick zu ihm herüber. Die Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte, behagte ihm nicht. Er wollte noch mehr von ihm hören. Wollte noch mehr von seinen Abenteuern und Erlebnissen vom Survival Training erfahren. Egal was, es kümmerte ihn nicht. Er wollte ihm nur noch etwas länger zuhören dürfen. Ihm fiel auf, dass Takeru seinen Blick gesenkt hatte. Zu seiner rechten Hand, die in seiner Hosentasche steckte. Anubis konnte erkennen, dass sich seine Finger unruhig darin bewegten, als kramte er. „Ka bara?“, ließ er verlauten und beugte sich ein Stück zu ihm herüber, die Augen auf die verborgene Hand gerichtet, um deutlich zu machen, was ihn interessierte. „Hm?“, bemerkte Takeru die Neugierde des Ägypters und hielt in seiner Kramerei inne. Als Anubis daraufhin fragend den Blick zu ihm hob, drehte er den Kopf schnell zur Seite. „Also“, begann er zögerlich, ohne ihn anzusehen, „also, ich … ha-habe dir etwas mitgebracht.“ Augenblicklich richteten sich die beiden abstehenden Haarsträhnen auf Anubis‘ Kopf in die Höhe, als seien es Tierohren. Das Violett seiner Augen nahm ein helles Leuchten an, als er erkannte, dass ihn eine Überraschung erwartete. Takeru räusperte sich verlegen in die freie Faust, anschließend holte er die Hand aus der Hosentasche hervor und streckte sie nach Anubis‘ Richtung aus. „Da“, kam sein Angebot mehr einer Aufforderung gleich, „für dich. Hab‘ ich selbst geschnitzt.“ Mit wild klopfendem Herzen nahm Anubis die kleine, flache Holzfigur an sich, die kaum größer war als sein Daumen. Behutsam hielt er sie in seinen Händen und betrachtete sie sich ausgiebig. „Bara ka bara?“ „Erkennt man’s nicht? Ist ‘n Hund. Sorry, hab’s nich‘ besser hinbekommen.“ Ah, tatsächlich. Die Figur stellte einen sitzenden Hund dar. Ihm fielen die langen, spitzen Ohren und die ebenso spitze Schnauze auf, deren Konturen tief hervorstachen. Das machte ihn stutzig. Vielleicht irrte er sich, aber sollte die Figur ihn darstellen? War es das, wie Takeru ihn sah? Es war nicht zu übersehen, dass er sich mit den Details des Hundes große Mühe gegeben hatte. Die Schnauze und die Ohren waren ohne Frage so gewollt. Sie erinnerten ihn an die Hieroglyphe, die er vor einiger Zeit Takeru aufgezeichnet hatte, um ihm seinen Namen zu nennen. Leider schien der Japaner auch seine Schriftsprache nicht zu verstehen, denn er hatte weder mit der alten noch mit der neuen ägyptischen Schreibweise seines Namens etwas anfangen können. Stattdessen hatte er sich über die »krakeligen Bildchen« lustig gemacht und Anubis hatte es schnell aufgegeben, auf diesem Wege mit ihm zu kommunizieren. Die Erinnerung war keineswegs erheiternd, dennoch: Er freute sich über dieses Geschenk. Der Gedanke, dass Takeru, trotz all der anderen um ihn herum, an ihn gedacht hatte, während er diese kleine Figur geschnitzt hatte, löste ein unbeschreibliches Glücksgefühl in ihm aus. Er hatte an ihn gedacht. Er hatte an ihn gedacht! – Er hatte ihn nicht vergessen. Tränen stiegen ihm in die Augen. Auf seinen Wangen breitete sich ein Glühen aus. Das Bild auf die kleine, etwas kantig geratene Holzfigur ruckelte, als seine Hände unwillkürlich zu zittern begannen. „Hey, weinst du?“, klang Takerus Frage halb erstaunt, halb entsetzt. „Ich weiß, es ist nicht so toll geworden, wie es sollte. Aber … hör mal. Wenn sie dir nich‘ gefällt, kannst du sie auch wegschmeißen oder damit anstellen, was du willst.“ Daraufhin wandte er den Blick ab und fuhr nuschelnd fort: „Stört mich nich‘, echt nicht. Is‘ mir egal. Du musst sie nich‘ behalten, wenn –“ „Bara bara bara!“, fuhr ihm Anubis schnell dazwischen und schüttelte abermals wild mit dem Kopf. Verdammt, wieso konnte er ihm nicht sagen, wie falsch er ihn deutete und wie sehr er sich in Wirklichkeit über dieses Geschenk freute? Das war so ärgerlich, dabei war er so ungemein glücklich! Er wollte etwas sagen, öffnete den Mund und schloss ihn kurz darauf wieder. Es war zwecklos. Mutlos senkte er den Blick und überlegte angestrengt, was er tun könnte, um Takeru zu vermitteln, wie er wirklich fühlte. Doch statt auf eine Antwort, wurde er auf etwas anderes aufmerksam. „Ka bara?“, wollte er wissen, wobei er bedeutend auf Takerus Hand zeigte. Dieser folgte der Geste. Als er bemerkte, worauf der Ägypter aufmerksam geworden war, zog er die Hand schnell von seinem Bein und legte die andere darüber. „Das“, erklärte er stammelnd, „ist nichts. Nur ‘n kleiner Unfall. Bin mit dem Messer ausgerutscht.“ Anubis verstand. Takeru hatte sich verletzt. Beim Schnitzen. An der Figur, die er für ihn gemacht hatte. Wegen ihm. Die Hand war um die Mitte verbunden, woraus er schlussfolgerte, dass er sich in die Handfläche geschnitten haben musste. Der Verband sah frisch aus, kein Blut. Dennoch vermutete er, dass es schlimm sein musste, wenn die Hand so sorgfältig bandagiert werden musste. Es tat ihm leid. Er fühlte sich schuldig für diese Verletzung. In einem spontanen Beschluss langte er nach Takerus Hand und zeigte sich ungeahnt beharrlich, als der Wassergott versuchte, sich zu sträuben und seinem Griff zu entziehen, was ihm nicht gelang. Prüfend musterte er den Verband, wobei er die Hand dicht an sein Gesicht hob. Dann, für Takeru gänzlich unvorbereitet, beugte er sich weiter hinab und setzte unter äußerster Vorsicht einen bestimmten, hingebungsvollen Kuss auf die Mitte der Handinnenfläche. „W-w-was tust du da?!“, entrüstete sich Takeru in heller Aufruhr, zog die Hand eilig aus Anubis‘ Besitz zurück und hielt sie so weit von ihm weg, wie ihm möglich war. Ganz im Unverständnis des Totengottes, der ihn aus unschuldigen Augen anblickte, was ihm umso mehr die Röte ins Gesicht trieb. „Spinnst du? Das ist doch pervers!“ Anubis plusterte beleidigt die Backen. Was hatte er denn bitte falsch gemacht? Und wieso regte sich Takeru so auf? Er wurde nicht klug aus seinem Verhalten. „Was bist du?! Ein Oni? Ein Tier?“ „Bara“, schnippte Anubis brummig. „Tu das ja nicht nochmal! Klar, Inuto?“ „Bara! Bara ka bara bara!“, schimpfte er und vergaß in dem Moment, dass Takeru ihn nicht verstehen konnte. Er hatte einen Namen, und dieser lautete »Anubis«. Nicht »Inuto«, wie Takeru ihn immer nannte, seit er versucht hatte, ihm seinen Namen in Hieroglyphen deutlich zu machen. „Das steht für »fliegender Hund«“, hatte er ihm erklärt, was das Ganze nicht besser machte. Nein, er mochte diesen Namen nicht, den Takeru ihm verpasst hatte. Allerdings war es ihm bisher auch nicht gelungen, dieses Missverständnis klarzustellen. … Moment! Da fiel ihm gerade wieder etwas ein. „Was ist?“, brummte Takeru. Kritisch beobachtete er, wie sich Anubis eilig umblickte, sich plötzlich erhob und für einen Moment hinter einem Gebüsch verschwand, ehe er mit einem Stock in der Hand zu ihm zurückkehrte. Seine Skepsis wandelte sich in Neugierde, als Anubis mit dem Holzstück im Boden zu malen begann. „Was tust du?“ Seine Frage beantwortete sich bald von selbst. Mit Verwunderung beobachtete er, wie sich die einzelnen Striche zu japanischen Schriftzeichen zusammensetzten. Katakana, wie er schnell erkannte. Interessiert rückte er dichter an Anubis‘ Seite, um die Zeichen aus der richtigen Perspektive betrachten zu können. Als dieser kurz darauf sein Tun beendete, las er das Geschriebene laut vor: „A-nu-hi-su.“ Zweifelnd legte er die Stirn in Falten. „Anu… his? Hiss? Ist das Englisch?“ Anubis schüttelte den Kopf. „Bara, ka bara bara“, erklärte er, tippte mit dem Stock neben die Zeichen und klopfte sich mit der freien Hand auf die Brust. „Bara bara!“ „Ich verstehe nicht“, brummte Takeru zurück, starrte auf die Zeichen und überlegte angestrengt. „»Anuhisu« … Anuhis? Soll das vielleicht dein Name sein?“ Wieder schüttelte er den Kopf, der Verzweiflung nahe. Wieso verstand er denn nicht? Jetzt hatte er schon extra die Woche, in der Takeru mit den anderen fort gewesen war, genutzt und unter größter Bemühung gelernt, wie man seinen Namen auf Japanisch »schrieb«. Heimlich, ohne dass Thoth etwas davon mitbekommen hatte, was schwierig genug gewesen war. Er hatte nicht gewollt, dass Thoth wieder wütend auf ihn wurde, weil er sich noch immer mit »diesem Fehlschlag« abgab. Und wozu das Ganze? Was machte er denn falsch? Noch einmal betrachtete er sich die Zeichen, die ihm so fremd und nichtssagend waren. Er wusste nicht, was sie bedeuteten; er hatte lediglich die Strichsetzung auswendig gelernt. Hatte er wohlmöglich etwas übersehen? „Kaah!“, rief er plötzlich aus, als er seinen Fehler entdeckt hatte. Schnell setzte er die zwei fehlenden Kurzstriche rechts über den horizontalen Seitenstrich, wodurch aus dem japanischen »hi« ein »bi« wurde. Wie hatte er die nur vergessen können? „Anubisu“, las Takeru das neue Wort vor, woraufhin er nachdachte. „Ah, »Anubis«! Anubis, das ist dein Name, richtig?“ Endlich! Erleichtert nickte er und stieß ein Seufzen aus. Nie zuvor hatte er es als eine solche Wohltat empfunden, seinen eigenen Namen zu hören. „So, verstehe. Nun, dann … nehme ich an, nenne ich dich wohl ab sofort auch so?“ „Bara bara“, nickte Anubis mit einem freudigen Strahlen. Überglücklich presste er sich die kleine Schnitzfigur an die Brust und wippte mit dem Kopf hin und her. „Na schön … Anubis.“ Takeru räusperte sich verlegen. „Schade, »Inuto« hatte mir auch gut gefallen.“ „Bara!“ „Schon gut, meinetwegen“, schmollte er zurück.   Das Schlagen der Glockenuhr war vom Schulgelände bis zu ihnen in den Wald hinein zu hören. Schwer, mächtig – als könne sie ihren Klang in jeden noch so entferntesten Winkel tragen, wie es ihr beliebte. Takeru und Anubis hatten sich derweil erhoben und standen sich zum Abschied gegenüber. Sie würden den Wald getrennt verlassen, wie sie es immer taten, damit sie nicht zusammen entdeckt würden. Doch nun, da die friedliche Idylle des Waldes gestört wurde, horchten beide auf. „Das ist“, setzte Takeru an, konnte den Satz jedoch nicht zu Ende bringen, als er die Veränderung bereits bemerkte: Die Temperatur sank spürbar, die Laubbäume um sie herum verloren ihre letzten buntgefärbten Blätter und erste, weiße Miniflocken tanzten vor seiner Nase vom Himmel herab. „Schnee?“ „Kah! Kah!“ Irritiert beobachtete er das seltsame Verhalten seines heimlichen Freundes. Zwischen den schimpfenden Ausrufen gab dieser zischende Laute von sich, die genauso gut von einer Katze hätten stammen können. Gehetzt sprang er von einem Bein aufs andere; versuchte, den rieselnden Flocken auszuweichen, wobei er nach jenen ausschlug, die ihn zu berühren drohten. Es gab ein so albernes Bild ab, dass Takeru nicht wusste, ob er lachen oder verzweifeln sollte. „Beruhig dich“, rief er ihm zu. „Das ist nur Schnee. Der tut dir nichts.“ Wie auf Kommando stellte Anubis seine erfolglosen Abwehrversuche ein. Fragend blinzelte er zu Takeru, ehe er seinen Blick neugierig gen Himmel hob und die Hände ausstreckte, um die seltsamen weißen Dinger aufzufangen, die ihn nicht wirklich an Blüten erinnerten. Flaumstückchen? Wattefetzen? Nein. Es fühlte sich kühl und feucht an, als die Flocken auf seine Haut trafen. Fasziniert beobachtete er, wie sie binnen eines Augenblicks schmolzen und ein kaum sichtbares Pfützchen hinterließen. „Er hat wohl schon wieder die Jahreszeit gewechselt. Muss ihm ja echt Spaß machen“, murmelte Takeru derweil vor sich hin, wobei er sich überflüssig über das blaue Haar strich, das er mit einem Haarreif zu bändigen versuchte. Es landeten direkt neue Schneeflocken darauf. Seufzend gab er sein fruchtloses Unterfangen auf und wandte sich wieder Anubis zu. Dieser war noch immer ganz gebannt von dem seltsamen Phänomen, das ihm gänzlich unbekannt war. „Scheint, als sei das dein erster Schnee, den du siehst“, schlussfolgerte er aus seinem Verhalten. „Schneit es dort, wo du herkommst, etwa nicht?“ „Ka bara?“, wandte sich Anubis fragend an Takeru. Verneinend schüttelte er mit dem Kopf. „Verstehe.“ Takeru beobachtete den Ägypter noch eine Weile nachdenklich. Schließlich trat er auf ihn zu, ging um ihn herum und machte sich daran, ihm die Jacke seiner Schuluniform, die er auf die Arme gerutscht trug, richtig über die Schultern zu ziehen. „Damit du dich nicht erkältest“, erklärte er, als Anubis von seinem Tun zusammengezuckt und einen Satz von ihm weg geschreckt war. Als wäre die Situation nicht schon albern genug, dass er einen Jungen, der immerhin ein gutes Stück größer als er selbst war, korrekt ankleiden musste. „Passiert schnell bei so ‘nem Wetter. Diese menschlichen Körper sind zu schwach“, ergänzte er leise brummend, um die Peinlichkeit zu überspielen. Fragen standen in Anubis‘ Augen geschrieben. Fragen, die er ihm nicht stellen konnte. Abwesend griff er nach dem Kragen seiner Jacke und zog sie sich über den spärlich bekleideten Oberkörper zusammen. Sie war ihm tatsächlich zu groß, zwei Nummern mindestens. „Gehen wir besser zurück“, wandte sich Takeru von ihm ab. „Jetzt, da es Winter ist, wird es schneller dunkel. Am besten gehe ich vor und du kommst nach. So entdeckt uns niemand zusammen und du kannst dich weiterhin vor den anderen verstecken. Wirst sicherlich keine Einwände dagegen haben.“ Das bedeutete einmal mehr Abschied nehmen. Schade. Die Zeit mit Takeru verging immer so schnell. Anubis wünschte, er könnte diese Momente länger hinauszögern. Gerade an Tagen wie diesen, an denen er so viel Freude, Spaß und Glück an der Seite seines neuen Freundes empfunden hatte. Leise, unbemerkt von Takeru, seufzte er. „Du kennst ja meine Route. Ich laufe ab morgen wieder zur selben Zeit wie immer. … Nich‘, dass ich damit etwas Bestimmtes sagen will oder so.“ Hoffnung keimte in ihm auf, als er zu Takeru aufblickte. Dieser hatte ihm bereits den Rücken zugewandt und schulterte in dem Moment sein Gepäck. „Is‘ eigentlich egal. Vergiss es. Tschüss.“ Er lächelte, überglücklich über diese Worte. Takeru wollte ihn wiedersehen. Ja, morgen würden sie sich wiedersehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)