Kamigami ga waku waku da yo! von Shizana (One Shot Sammlung Part II) ================================================================================ Mein Geheimnis, dein Geheimnis (Redshipping) -------------------------------------------- „Hmm, das sieht gut aus.“ Mit einem fröhlichen Summen auf den Lippen trat Dionysos an die Pumpe heran und stellte sie über einen simplen Knopfdruck aus. Die Maschine fuhr sich herunter, das Surren wurde leiser, bis es erstarb und das Display verkündete, dass das Gerät nun ausgeschaltet werden dürfe. Was er direkt tat. Damit war das Umfüllen des heranreifenden Weines von einem Fass in ein frisches erfolgreich beendet. Über den Tag verteilt hatte er alle fünf dieser verschieden gefertigten Holzfässer bedienen können, sodass er stolz von sich behaupten konnte, fleißig und produktiv gewesen zu sein. Ja, er war äußerst zufrieden mit sich selbst. Er war dankbar für diese neckische Erfindung der Menschen und für den Einkaufsladen der Schule, der wirklich alles beschaffen konnte, was man sich wünschte. Kaum auszudenken, wie lange er anderenfalls für diese Arbeit gebraucht hätte, die notwendig war, wenn er mehr Qualität für den eigens erarbeiteten Wein erzielen wollte. So jedoch hatte es ihm wenig Umstände bereitet und der Aufwand war minimalst gewesen. Standen nur noch die Aufräumarbeiten an. „Na, dann mal los!“   Als Dionysos mit seinem Tageswerk fertig war, seinen geheimen Weinkeller verlassen und die Tür hinter sich verriegelt hatte, war es bereits später Abend. Die Sonne war vom Horizont gewichen, den jetzt die schönsten und hellsten Sterne zierten. Onkel Hades wäre sicherlich überaus entzückt von diesem herrlichen Anblick. „Schon so spät“, sprach er leise zu sich selbst, ließ die Schlüssel zu seinem Kellerraum in seiner Hosentasche verschwinden und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg in Richtung Wohngebäude. Die anderen würden mit Sicherheit schon dort sein und sich fragen, wo er so lange blieb. Er konnte sich ausmalen, welche Predigt ihn von Hades erwarten würde, sollte er diesem in die Arme laufen. Sein Onkel versuchte noch immer, ihm gut zuzureden und ihn eines Besseren zu belehren, was seine Schulbeteiligung anbelangte. Der Herrscher der Unterwelt würde noch sehr viel mehr von dieser Geduld brauchen, um ihn davon überzeugen zu können, dass etwas mehr Aufopferung für den Unterricht nur gut für ihn wäre. Und für sie alle, die sie voneinander abhängig waren. „Allein der Gedanke an Unterricht macht mich müde“, brummte er unwillig, stieß ein herzhaftes Gähnen aus und beschleunigte seinen Schritt. So oder so, im Moment war es wichtiger, dass er sich beeilte und schon einmal Gedanken darum machte, wie er Hades und Apollon wegen seines Verspätens besänftigen konnte.   Er bemerkte nicht, dass er beobachtet wurde. Hinter den weiten, hohen Fensterscheiben verborgen, war eine weitere Person zu dieser späten Stunde wach und behielt das Schulgelände im Blick. Deren Lippen verzogen sich zu einer dünnen Linie, ehe sie den Fenstervorhang zurückfallen ließ und sich von ihrem Posten abwandte.     Das kontinuierliche Klackern von harter Kreide auf der großen Tafel, während Thoth eifrig und ohne Unterbrechung Notizen für die Schüler aufschrieb, vermischt mit dessen pausenloser Unterredung zu irgendwelchem Unterrichtsstoff und den zeitgleichen Schreibgeräuschen der Klassenkameraden, die brav Aufzeichnungen in ihre Hefte übernahmen, wirkten monoton und einschläfernd. Wie immer. Dionysos wusste nicht wirklich, um welches Thema es heute ging. Zu Beginn der Stunde hatte er noch mitbekommen, wie ihr ägyptischer Lehrer etwas von »Energiehaushaltsplan des menschlichen Körpers« gesagt hatte, im nächsten Moment lag sein Kopf bereits auf seinen Armen auf seinem Pult. Zu viel Gerede, zu viele Diagramme mit irgendwelchen Kurven und Zahlen, zu viele … einfach »zu viel« eben. Viel zu viel. Energie, ja. Davon hatte er wohl zu wenig. Viel zu wenig, um sie in den Unterricht zu investieren. Er brauchte sie für wichtigere, sinnvollere Dinge. Für Dinge, die mehr Spaß machten und sich dafür erkenntlich zeigten, dass er sich ihnen zuwandte. Seinen Garten, zum Beispiel, mit all den vielen Pflanzen, die er mühevoll mit eigenen Händen hochgezogen hatte. Oder den Schülerrat, für den er zwar nicht immer viel beisteuern konnte, der aber zumindest Spaß machte, wenn er den anderen bei ihren Planungen zuhören und eigene Gedankensblitze in den Raum werfen konnte. Fader Unterricht hingegen zählte nicht dazu. Er wusste, dass er keine wirklich andere Wahl hatte, als sich an ihm zu beteiligen; wirklich aufraffen, dem aktiv nachzukommen, konnte er sich jedoch nicht. Vielleicht, wenn eine Tanzauflage dabei wäre. Ein abwechslungsreiches Buffet, fröhliche Musik, mehr Gelächter. Und vor allem: Wein. Auf seinem Gesicht breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus. Leise brummelte er gegen den Stoff seiner Ärmel. Rotwein, Weißwein, Obstwein, Schaumwein, Branntwein … Ganz egal, er war nicht zimperlich. Ihm war alles davon recht. Jede Sorte hatte seinen eigenen, besonderen Reiz und Charme. Der eine war mehr umschmeichelnd, der Nächste neckisch. Einige luden zur Entspannung ein, andere zur Ausgelassenheit. Wein. Wein war etwas Tolles. Die höchste Kunst. Anbetungswürdig. Ihm lief förmlich das Wasser im Mund zusammen. „Mh, lass mich den probieren. Er sieht so gut aus … So eine schöne Farbe, mhh.“ „Dee-Dee!“ Apollon stieß lediglich ein leises Flüstern in Richtung seines Bruders aus. Solange der Unterricht lief, konnte er nichts tun, ohne Ärger mit ihrem Lehrer zu riskieren. Dafür saß er zu weit weg. „Schon wieder? Das ist schlecht, ganz schlecht ist das …“ „Thyrsos“, versuchte Baldr sein Glück, der rechts von ihm an seinem eigenen Pult saß. Der Norde hatte den missbilligenden Blick ihres Lehrers bemerkt, den er dem Schlafenden über die Schulter zugeworfen hatte, ehe er in seinem Unterricht fortfuhr, als sei nichts. Doch seine innere Zeitbombe tickte, dazu gab es keinerlei Zweifel. „Lass ihn“, flötete Loki hinter dem Freund und kicherte sich amüsiert ins Fäustchen. „Lass uns sehen, wie lange es dieses Mal dauert, kihihi.“ „Thyrsos, sei wenigstens etwas leiser. Caduceus-sensei wird sonst –“ „Haa, was für ein toller Jahrgang! Schenkt an alle aus, den muss jeder kosten!“ Das war zu viel. Thoth wandte sich von der Tafel ab, steuerte auf direktem Wege auf den Platz des Schlafredners zu und bäumte sich vor ihm auf. Natürlich folgte darauf keine Reaktion, so holte er aus und schlug kraftvoll mit beiden Händen auf der Tischplatte auf, die derzeit als Schlafunterlage diente. „Dionysos Thyrsos!“ Besagter schrak auf, warf sich in seinem Stuhl zurück, der kurzzeitig zu kippen drohte, und blickte sich orientierungslos zu allen Seiten um. „W-was? Was?!“ „Beantworte die Frage!“ „W-welche Frage?“, wandte er sich zögerlich dem Lehrer zu und versuchte sich an einem herunterspielenden Lächeln, um dem Zorn, der ihm deutlich in diesen tiefblauen Augen begegnete, zu entgehen. „Hast du überhaupt irgendetwas von dem mitbekommen, was ich euch die ganze Zeit erklärt habe?“ Das Beben in seiner Stimme war deutlich herauszuhören, als Thoth noch versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren. „E-eh …“ Wie so meist war das Glück auf der Seite der Narren und gewährte ihm Rettung, indem die Schulglocke das Ende des heutigen Unterrichts einläutete. Dennoch blieb es still im Klassenzimmer. Jeder der Anwesenden schien den Atem anzuhalten. Die Atmosphäre im Raum war zum Zerreißen angespannt. „Der Unterricht ist beendet“, sprach Thoth beherrscht, mit einer deutlichen Unterkühlung in seiner Stimme. „Merkt euch das heute Gelernte gut, es wird im nächsten Test vorkommen. Geht!“ Damit ließ er von der Tischplatte ab, erhob sich und gewährte Dionysos einen kurzen Moment, in dem er erleichtert aufatmen konnte. Doch er war mit dem jungen Gott noch lange nicht fertig. „Dionysos Thyrsos, du kommst mit mir.“ Oh, das konnte nichts Gutes bedeuten. Dionysos spürte es instinktiv, ihm lief ein eisiger Schauer den Rücken hinunter. Die Ruhe in Thoths Stimme war tückisch, bestimmt und ließ keinerlei Widerrede zu. Er ahnte, dass er mit seiner heutigen Teilnahmslosigkeit einen Geduldsfaden zu viel bei dem Ägypter hatte reißen lassen.   „Reiß dich am Riemen!“ Dionysos kniff reflexartig die Augen zusammen, als der Arm des Ägypters an seinem Kopf vorbeischnellte und mit der Hand gegen die Wand hinter ihm aufschlug, wo er sich abstemmte. Er hatte diese Haltung ihres Lehrers schon einmal gegenüber von Yui gesehen und darüber geschmunzelt, weil das Mädchen einen so verängstigten Gesichtsausdruck getragen hatte. Doch jetzt, da er sich selbst der Nähe des Ägypters stellen musste, war die Situation nicht mehr so lustig. Ganz im Gegenteil, er fühlte sich unbehaglich, als stünde er einem Titanen gegenüber. Dieser Vergleich schien ihm nicht so weit hergeholt, denn in den blauen Augen Thoths blitzte es zornig, geradezu feindselig. „Hältst du das für ein Spiel?“, zischte er ihm haltlos zu. Eine Kobra hätte dagegen wie ein sanftes Hauskätzchen ausgesehen. „Du scheinst den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben. Wenn es mir nicht gelingt, euch Hohlköpfen die Menschen nahezubringen, stecken wir alle für immer an diesem Ort fest. Die anderen Idioten tun zumindest so, als würde es sie interessieren, aber du …!“ „Tut mir leid“, versuchte sich Dionysos an einem schiefen Lächeln und zwängte die Hände vor seinen Körper, um einen Sicherheitsabstand zwischen sich und dem Ägypter zu gewährleisten. Thoth räumte ihm keinen halben Meter Raum zwischen ihnen ein, das war ihm entschieden zu nahe. „Ich versuch’s ja, ehrlich, aber Unterricht ermüdet mich. Ich bin kein Mann der Theorie, ich würde lieber –“ „Was du würdest, interessiert hier nicht!“, herrschte Thoth ihn an und schnitt ihm dabei das Wort ab. „Solange du hier bist, hast du dich zu beugen und zu tun, was von dir erwartet wird. Haben wir uns verstanden?! Denkst du allen Ernstes, ich gebe mich aus Spaß an der Freude mit euch Versagern ab? Tze, ich hätte wahrlich Besseres zu tun, als mich mit solchen Spatzenhirnen von Möchtegerngöttern abzugeben und an eurer Nutzlosigkeit meine wertvolle Zeit zu verschwenden.“ Dionysos‘ Miene verhärtete sich, als ihm ein Kommentar zu den Beleidigungen ihres Lehrers auf der Zunge brannte, doch er war nicht dumm und schluckte seinen aufkeimenden Unmut hinunter. Sicher, Thoth war vermutlich ebenso unfreiwillig an diesem Ort wie sie alle, jedoch machte er im Alltag weit weniger den Anschein, als würde es ihn großartig kümmern. Dionysos bezweifelte auch dessen Aussage, dass der Gott des Wissens tatsächlich Besseres mit seiner Zeit anzufangen wusste, aber er war überlegt genug, diesen Gedanken nicht laut auszusprechen. Schon gar nicht in dieser verzwickten Situation, in der er sich im Augenblick befand und nicht wusste, wie er sich richtig verhalten sollte, um seine Lage nicht noch mehr zu verschlimmern, gleichzeitig nicht wie ein Weichling dazustehen, der vor dem ägyptischen Gott kuschte. Er hob die Hände ein Stück höher zu einer beschwichtigenden Geste. Bemüht, sich nichts von seinen Gedanken anmerken zu lassen und es mit einem Lächeln zu übertünchen. „Schon gut, schon gut. Ich werde mich künftig mehr bemühen.“ – Auch wenn er nichts versprechen und vermutlich wenig an seiner Einstellung ändern konnte. Thoth zog die Augenbrauen tief. „Du tust besser daran. Anderenfalls muss ich andere Saiten aufziehen.“ „Hö?“ „Du bist nicht sonderlich helle, hm?“ Daraufhin tat er einen Schritt näher auf den Griechen zu, bis dessen Knoten seiner um die Hüfte gebundenen Schuluniform an seinem Körper zu spüren war. Dionysos folgte einem natürlichen Fluchtreflex und drängte sich dichter an die Wand in seinem Rücken. Er war zwischen den Armen des Ägypters eingekeilt und verfluchte den Moment, in dem er realisierte, dass er jeglicher Rückzugsmöglichkeit vor dem höher gewachsenen Mann beraubt war. Thoth derweil neigte sein Gesicht dichter an ihn heran. „Vielleicht tätest du gut daran, deinen mickrigen Geist nicht jedes Mal bis in die späte Stunde in diesen Dünsten zu umnachten und noch mehr zu minimalisieren. Die Ruhestunden sind zum Ruhen da, nicht um sich fahren zu lassen und das letzte bisschen Resthirn in Kübeln zu versenken.“ Dionysos‘ Augen weiteten sich überrascht. Er wagte nicht zu atmen. Die Erkenntnis schlich sich wie ein ungeheißener Besucher in sein Bewusstsein: Thoth hatte ihn gesehen. Er wusste über alles Bescheid. Die Veränderung an dem Fruchtbarkeitsgott blieb nicht unbemerkt. Thoth wusste sofort, dass er den richtigen Nerv getroffen und unwiderruflich die Oberhand errungen hatte. Wissend spielte er ein selbstsicheres Grinsen auf. „Dir ist hoffentlich bewusst, dass du damit gegen die Schulordnung verstößt. Nun, mir soll es egal sein, wenn du der Meinung bist, die anderen Versager in diese Angelegenheit mit hineinzuziehen. Ob so oder so, die Konsequenz für deine Gedankenlosigkeit tragt ihr alle. Allerdings … diesen Frevel der Ignoranz in meinem Unterricht kann ich nicht tolerieren!“ Dionysos schluckte. „Den Schlüssel.“ „Bitte?“ „Wenn ich mich nicht täusche, bist du einer von Zeus‘ Sprösslingen“, fuhr Thoth vielsagend fort. Die Ruhe in seiner Stimme war noch unheimlicher als sein aufbrausendes Temperament. Unterschwellig bedrohlich. Dionysos‘ Miene versteinerte sich. Seine Lippen formten eine dünne Linie. „Versuchst du, mich zu erpressen?“, hinterfragte er flüsternd die Absichten des Lehrers. Ihm war egal, ob er sich damit unhöflich oder gar aufmüpfig verhielt; er hatte jedes gute Recht dazu. „In einer Woche findet der nächste Test statt“, sprach Thoth bedeutsam, ohne auf die Frage des Griechen einzugehen. „Besser, du überzeugst mich mit Ergebnissen. Bis dahin übernehme ich die Gewährleistung, dass du dich an die Regeln hältst. Den Schlüssel!“ Zähneknirschend senkte Dionysos die Hand und ließ sie in der Hosentasche verschwinden, in der er den Schlüssel zu seinem Weinkeller aufbewahrte. Es widerstrebte ihm zutiefst und ihm missfiel diese Lage sichtlich, doch er besaß genug Vorstellungsvermögen, um nicht gegen den Ägypter aufzubegehren. Wer wusste schon, ob er nicht im Falle einer Erhebung seine Drohung – wenn diese auch unausgesprochen war – wahrmachen und ihn an Zeus verraten würde? In diesem Fall wäre nicht nur er, sondern sie alle in großen Schwierigkeiten. Das konnte er nicht verantworten. Sich jeglichen Kommentar und jegliche überflüssige Regung verkneifend, händigte er den geforderten Tribut aus. Kaum dass Thoth den Schlüssel entgegengenommen hatte, ließ er von ihm ab und wandte sich um. „Die Idealtemperatur beträgt 30°C“, rief Dionysos ihm schnell nach. Er ballte die Hände zu Fäusten, rang sichtlich mit sich, ehe er sich zu dem Ägypter drehte, der ihm längst den Rücken zugewandt hatte. „Sie muss regelmäßig kontrolliert werden. Schwankt die Temperatur während des Gärungsprozesses zu stark, büße ich an Geschmacksqualität ein.“ „Hmpf.“ Ohne ein weiteres Wort an ihn zu verlieren, entfernte sich Thoth auf dem Schulflur.     Der erste Tag fiel Dionysos schwer. Der zweite war ein Akt reiner Selbstbeherrschung. Der dritte war … die Hölle! Den anderen war natürlich schnell aufgefallen, dass sich etwas an der Einstellung des Fruchtbarkeitgottes verändert hatte. Es war das erste Mal, dass man ihn tatsächlich bemüht im Unterricht erlebte. Das Heft vor ihm aufgeschlagen, schrieb er fleißig sämtliche Notizen mit, die Thoth ihnen an der Tafel vorgab. Nach dem Unterricht sah man ihn immer seltener in seinem Garten, wo er lediglich die notwendigen Versorgungs- und Pflegearbeiten tätigte. Dafür zog er sich früher in die Wohnräume der griechischen Götter zurück und ging den Unterrichtsstoff auf selbständiger Basis durch, um sich damit auseinanderzusetzen. Es sorgte für viel Gesprächsstoff. Wann immer er von den Freunden darauf angesprochen wurde, wie es zu diesem erheblichen Wandel gekommen sei, hatte er Mühe, ihnen nichts von seiner Unterredung mit dem Lehrer zu erzählen. Besonders Apollon machte es ihm schwer, kein Wort zu seiner misslichen Lage zu verlieren, indem er ihn rund um die Uhr mit Fragen löcherte und die wildesten Vermutungen aufstellte, die meist so weit danebenzielten, dass Dionysos wünschte, er könnte einfach reinen Tisch machen. Doch welche Konsequenzen hätte das? Er schlug sich wacker. Zu jeder Zeit gelang es ihm irgendwie, ein Lächeln gegenüber den anderen aufzusetzen. Welches erstarb, sobald er in Blickkontakt mit Thoth geriet. In jenen Momenten lag eine gewisse Anspannung zwischen ihnen in der Luft, die nicht unbemerkt blieb, zu der sich allerdings keiner der beiden äußerte. Es wurde lediglich heruntergespielt oder, für Thoth gesprochen, gänzlich abgeschmettert oder ignoriert. Doch je länger er durchhielt, umso schwieriger wurde es für ihn. Dionysos erwischte sich immer öfter, wie seine Gedanken zu seinem Weinkeller abdrifteten und er im Begriff war, den Unterricht mit Thoths Vortragungen an sich vorüberziehen zu lassen. In jenen schwachen Momenten begann er heimlich Pläne zu schmieden, wie er es erreichen könnte, wieder Zugang zu seinem Keller zu erringen. Er war schon so weit, dass er bereit wäre, für dieses Vorhaben auf die Hilfe ihres Streichkönigs zurückzugreifen und mit ihm einen Komplott einzugehen, solange er nur zurückbekam, was ihm so wichtig war. Selbst für den Fall, dass er diesen Kompromiss für eine lange, nachhaltende Zeit bereuen würde. Für diesen Moment verwischten die Grenzen zunehmend. Auf der anderen Seite, was konnte Loki schon tun? Und war es das wirklich wert? Es waren nur noch ein paar Tage länger, die er durchhalten müsste, danach würden die Karten neu gemischt. Im Vergleich zu der Zeit, die er ausharren musste, bis sein Wein die optimale Reife errungen hatte, was war das schon? – Und dennoch … Er hatte seinen Weinkeller stets im Blick. Wann immer er konnte, hielt er Ausschau, ob sich etwas in dessen Umgebung tat. Doch nie hatte er Thoth in dessen Nähe gesehen. Nie, kein einziges Mal. Hatte er sich in ihm getäuscht? Besaß er gar nicht so viel Ehrgefühl, ihm diesen klitzekleinen Gefallen zu erweisen, während er sich tatsächlich bemühte, seinen ihm aufgetragenen Anforderungen gerecht zu werden? Wer kümmerte sich in dieser Zeit seiner Abwesenheit um seinen kostbarsten Schatz? Wer sah nach dem Wein, kümmerte sich um ihn, damit er angemessen wachsen konnte? Normalerweise würde er sich nicht so viele Sorgen während des Reifungsprozesses machen. Wein konnte gut einige Zeit ohne Kontrolle auskommen, lagerte zu einem späteren Zeitpunkt für mehrere Wochen bis hin zu Jahren, ohne Schaden zu nehmen. Im Moment allerdings befand sich der Most in einer heißen Phase und bedurfte viel Pflege, damit er einmal zu einem Rotwein von so göttlicher Färbung und vollem Geschmack gedeihen konnte, dass selbst er als Gott des Weines vor ihm niederknien mochte. – Das war sein großes Ziel. Sein einziges. Vermutlich wäre es wieder an der Zeit, den Tresterhut unter die Maische zu heben. Ein letztes Mal wollte er dies noch tun, bevor er die Traubenreste von dem künftigen Wein abhob und gänzlich entfernte, um sich nur noch auf den Ausbau und die Schönung zu konzentrieren. Es müsste bald soweit sein, das hatte er im Gefühl. Dieser Gedanke stimmte ihn ganz unruhig. Die Sorge verschlimmerte sich, je mehr er zu seinem Handwerk abdriftete. Er brauchte Gewissheit; er musste sich davon überzeugen, dass es seinem Wein gut ging. Koste es, was es wolle!   „Thyrsos!“ Dionysos hielt inne. Er war gerade im Begriff gewesen, sich nach Unterrichtsschluss auf dem Schulflur zu entfernen, als er von Baldr aufgehalten wurde. Fragend wandte er sich nach ihm um. „Was ist?“ Statt einer Antwort folgte ein lautes Poltern, als der nordische Lichtgott ungeschickt über seine eigenen Füße stolperte und mit der Nase voran zu Boden ging. Schnell eilte Dionysos an seine Seite. „Hey, alles okay? Bist du verletzt?“ „Nein, alles okay“, entgegnete er verlegen, lächelte schief und griff nach der Hand des Griechen, die ihm gereicht wurde, um ihm zurück auf die Beine zu helfen. „Danke.“ „Du hast wirklich ein Talent“, lachte Dionysos. „Wohin so eilig?“ „Gehst du deiner Clubaktivität nach? Darf ich dich vielleicht begleiten?“ „Ähm …“ In einer unbehaglichen Geste kratzte er sich hinterm Ohr. „Nein. Ich habe die Beete schon heute Morgen gegossen. Vorhin hatte es kurz geregnet, ich muss nicht noch einmal nach dem Garten sehen.“ „Ach so.“ „Was ist los?“, wollte er wissen und bemühte sich um ein Lächeln. Baldr verhielt sich eigenartig, das entging ihm nicht. Sonst lächelte er die meiste Zeit oder schaute vorwurfsvoll, wenn jemand etwas angestellt hatte. Im Moment allerdings schien seine Stimmung getrübt und Dionysos glaubte, Sorge aus seinem Gesicht ablesen zu können. „Du schaust aus wie sieben Tage Regenwetter“, sprach er folglich. „Muss ich mir Sorgen um dich machen?“ „Um ehrlich zu sein“, setzte Baldr zögerlich an und hob seinen Blick zu dem Griechen. „Dasselbe könnte ich dich fragen. Seit einigen Tagen verhältst du dich seltsam, unüblich für deine Verhältnisse. Wir machen uns schon alle große Sorgen um dich.“ Dieses Thema schon wieder. Dionysos‘ Lächeln schwand in derselben Sekunde. „Natürlich ist dein jetziges Verhalten überaus vorbildlich und wir bewundern dein Bestreben sehr. Aber … es ist befremdlich. Es sieht dir nicht ähnlich.“ „Na, na“, fing er sich wieder und winkte die Besorgnis des Freundes beiseite. „Um so etwas macht ihr euch Gedanken? Jeder kann sich einmal irren und seine Einstellung korrigieren. Besser spät als nie, oder nicht?“ „Ist etwas vorgefallen?“, überrannte ihn Baldr mit eben jener Frage, die Dionysos am liebsten vermieden hätte. Da er es nicht übers Herz brachte, ihm ins Gesicht zu lügen, wandte er den Blick zur Seite ab. „Wenn dich etwas bedrückt“, fuhr Baldr indes fort, „kannst du jederzeit mit uns über alles reden. Wir sind füreinander da, immerhin sitzen wir alle im selben Boot.“ „Boot?“, wiederholte Dionysos. Endlich tat sich Baldrs sonniges Gemüt wieder vor ihm auf, als er sichtlich stolz zu ihm hinüberlächelte. „Das hat mir Yui-san beigebracht. Es handelt sich dabei um ein beliebtes Sprichwort der Menschen, wenn sie ausdrücken wollen, dass man denselben Umstand miteinander teilt.“ „Aha?“ Er dachte über diese Worte nach. Ja, es stimmte. Sie alle waren in der gleichen Situation. Sie alle waren gegen ihren Willen von Zeus an diesen Ort geholt worden, da dieser der Meinung war, sie hätten es nötig, ihre Verbundenheit zu den Menschen aufzufrischen. Seitdem gaben sich alle die größte Mühe, miteinander auszukommen und gemeinsam Fortschritte zu erzielen, sodass sie binnen eines Jahres ihren Abschluss machen konnten. Sie teilten während dieser Zeit schöne wie auch schwere Momente. Ging es einem von ihnen nicht gut, bemühte sich der Rest, denjenigen aufzufangen und ein Lächeln zu schenken. Sie waren füreinander verantwortlich. Sie für ihn wie er für sie. Diese Erkenntnis ließ ihn schmunzeln. Wie hatte er diese Tatsache nur aus den Augen verlieren können? Jetzt hatte er einen guten Grund mehr, sein Problem mit Thoth anzugehen und hoffentlich mit ihm zu einer Einigung zu kommen. „Verstehe. Na, wenn das so ist“, wandte er sich offen an den Freund und schenkte ihm ein breites Grinsen, „kannst du mir vielleicht sagen, wo ich unseren Lehrer finde?“   Die Bibliothek, wo auch sonst. Eigentlich hätte er auch von selbst darauf kommen können. Während sich Dionysos auf dem Weg zu dieser heiligen Einrichtung befand, ging er in seinem Kopf die verschiedenen Möglichkeiten durch, wie er den Ägypter konfrontieren konnte. Sollte er direkt damit herausrücken, was ihm auf dem Herzen lag? Sollte er es auf die einschmeichelnde Art versuchen? Sollte er versuchen, ihm ins Gewissen zu reden? – Hatte irgendetwas davon eine Aussicht auf Erfolg? Zum wiederholten Male seufzte er und strich sich über das dunkelrote Haar, das ihm wie immer zu einer zotteligen Mähne nach hinten gekämmt abstand. Irgendwie bezweifelte er, dass es ihm gelingen würde, zu dem Ägypter durchzudringen. Für Thoth zählten Fortschritte und Ergebnisse, nichts weiter. Machte er sich nichts vor: Er war chancenlos. Sein Vorhaben war zum Scheitern verurteilt. Nie und nimmer würde es ihm gelingen, auf ihn einzureden. „Wo bist du gewesen?!“, hörte er die herrschende Stimme Thoths, noch ehe er sein Ziel richtig erreicht hatte, und erstarrte augenblicklich in seiner Bewegung. Im ersten Moment glaubte er, dass die Frage ihm gegolten hatte, doch als er bemerkte, dass ihr Lehrer mit dem Rücken zu ihm vor den Türen der Bibliothek stand, nutzte er die Chance und verbarg sich hinter einer der breiten Ziersäulen zu den Seiten des Ganges. – Glück gehabt, er war noch längst nicht auf sein Zusammentreffen mit dem ägyptischen Gott vorbereitet. Eine letzte Verschnaufpause war ihm noch gegönnt. „Ich habe dir doch gesagt, dass du hier warten sollst, bis der Unterricht vorbei ist. Denkst du eventuell auch einmal nach, was passiert, wenn du entdeckt wirst?“ Oh, das war heiß! Was auch immer dort gerade vor sich ging, Dionysos ahnte, dass es etwas war, das nicht für seine Ohren bestimmt war. Hatte er damit einen guten oder schlechten Zeitpunkt erwischt, gerade jetzt hier aufzutauchen und den Lehrer in einer, offenbar, misslichen Lage vorzufinden, die ihm zum Verhängnis werden könnte? Die Neugierde nahm überhand. Vorsichtig lugte er an der Säule in seinem Rücken vorbei in der Hoffnung, erkennen zu können, was genau dort vor sich ging. Ein leises Gebrabbel, welches er nicht genau verstehen konnte, ließ ihn vermuten, dass es sich um eine weitere Person handelte, die bei Thoth stehen musste. War sie der Grund für seinen aufgebrachten Tadel? Thoth stieß ein schweres Seufzen aus, das bis zu ihm drang. „Schon gut, ich verstehe. Du bist einfach unverbesserlich. Na schön, ich sehe heute noch einmal darüber hinweg.“ Wie ärgerlich, es ließ sich einfach nichts erkennen. Es stand außer Frage, dass Thoth mit jemandem sprach, aber Dionysos konnte nicht erkennen, um wen es sich dabei handelte. Was musste dieser Ägypter auch so hoch gewachsen sein und mit seiner lose über den Schultern hängenden Jacke jegliche Sicht verwehren? Vielleicht sollte er riskieren, näher zu kommen und einen besseren Beobachtungsposten zu beziehen? Wieder dieses Gebrabbel. Alles, was er davon verstehen konnte, war etwas, das wie ein fröhliches „bara bara“ klang. War das überhaupt ein Wort, fragte er sich. Thoth räusperte sich in die Faust. „Schön, ich hole dir etwas. Aber dieses Mal hörst du auf das, was ich dir sage und rührst dich nicht vom Fleck!“ Eigenartig, das war alles höchst eigenartig. Dionysos hörte noch etwas, das klang, als versuche jemand den Ruf einer Krähe zu imitieren, dann wurde ihm ein kurzer Augenblick zuteil, in dem er tatsächlich eine Person ausmachen konnte, die sich von dem Lehrer abwandte und durch die Türen ins Innere der Bibliothek verschwand. Viel hatte er nicht von ihr sehen können, lediglich das kurze, schwarze Haar, das im geraden Schnitt nicht ganz bis zur Schulter fiel. Wenn er sich nicht ganz täuschte, hatte er außerdem einen dunklen Teint erkennen können, der sehr an den ihres Lehrers erinnerte. – Ein Schüler, von dem sie nichts wussten? Zumindest hatte diese Person ebenfalls ihre Schuluniform getragen, wenn auch mehr lose über den Armen hängend, als sei sie ihm mehrere Nummern zu groß und würde ihm daher von den schmalen Schultern rutschen. Handelte es sich um einen Jungen? Ein Mädchen? „Hey!“ Er fuhr in sich zusammen. Zu spät bemerkte er, dass er entdeckt worden war. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er seine Deckung ganz vernachlässigt hatte. Sein geheimer Beobachtungsposten war aufgeflogen. Thoths Miene verdüsterte sich, wie er mit vor der Brust verschränkten Armen auf einige Meter Entfernung in seine Richtung zugewandt stand. „Du? Was willst du hier, Saufbold? Hast du dich nicht etwas im Gebäudeteil geirrt?“ „Ich? Äh … N-nein, ich wollte –“ „Ich habe keine Zeit für dich“, schnitt ihm Thoth das Wort ab. „Geh in euer Loch zurück. Ich bin mir sicher, du hast noch genug Stoff aufzuholen.“ „Was? Aber, ich wollte –“ „Oho?“ Der Ägypter zog ungläubig eine Augenbraue in die Höhe. „Sag bloß, du bist beabsichtigt hier? Die Bibliothek ist bis auf Weiteres geschlossen. Komm später wieder, wenn ich Zeit für euch nerviges Gesindel habe.“ „Lass mich doch mal zu Wort kommen.“ Dionysos wurde brummig. Kaum zu fassen, was sich dieser Typ herausnahm, nur weil er sich als ihr Lehrer für etwas Besseres hielt. Und da warf man ihm schlechte Manieren vor. „Kein Bedarf“, schmetterte der Lehrer zurück, zeigte sich ein weiteres Mal von seiner wenig geduldigen Seite und wandte sich zum Gehen ab. „Du vergeudest meine Zeit. Ich empfehle mich.“ „Warte!“, hielt er ihn zurück, trat hinter seinem Versteck hervor und zielgerichtet auf den Ägypter zu. „Wer war das eben?“ Tatsächlich hielt Thoth in seinem Vorhaben inne und wandte sich ihm über die Schulter zu. „Wer war was?“ „Die Person, mit der du gerade gesprochen hast.“ Er legte die Augenbrauen tiefer. „Ich weiß nicht, wovon du redest, Saufbold.“ „Ach, nein? Also liege ich mit meiner Vermutung richtig, dass du diese Person vor uns geheim halten wolltest?“ – Hatte er’s doch gewusst! Was für ein Glück er doch hatte! Das war die Gelegenheit, die er gebraucht hatte, um mit dem Ägypter eine Verhandlung anzustreben. Die Karten waren neu gemischt; jetzt standen sie auf gleicher Ebene. Er lächelte zuversichtlich. „Gut, hör zu. Lass uns verhandeln: Ich halte dicht, was ich hier gehört und gesehen habe, und dafür gibst du mir meinen Weinkellerschlüssel zurück.“ „Wie war das?“ Thoth drehte sich ihm gänzlich zu. Abwartend, regelrecht lauernd, warf er ihm einen abschätzigen Blick zu. „Wiederhole das.“ „Wir sitzen im selben Boot“, griff Dionysos auf jenen Spruch zurück, welchen er vor weniger als einer Stunde erst gelernt und sofort auf seine Favoritenliste menschlicher Sprichwörter gesetzt hatte. Es passte wie die Faust aufs Auge – noch so ein tolles Sprichwort! „Du weißt von meinem Geheimnis, ich jetzt von deinem. Statt uns gegeneinander auszuspielen, sollten wir das Kriegsbeil begraben und zusammenarbeiten, meinst du nicht auch?“ „Zusammenarbeiten?“ Er stieß einen abfälligen Laut aus. „Wieso sollte ich mich auf etwas so Banales einlassen?“ „Oh, wusstest du es noch gar nicht?“ Sich seiner Sache sicher, dass er in diesem Gespräch die Oberhand hatte, verschränkte er lässig die Arme im Nacken und gestattete sich ein Schmunzeln. „Zufällig bin ich einer der Sprösslinge von deinem Boss. Ich bin mir sicher, dass er mir zuhören wird, wenn ich ihm etwas zu erzählen habe.“ – Das war zugegeben hoch gepokert, aber damit hatte er das Blatt zu seinen Gunsten gewendet. Und außerdem Thoths eigene Worte gegen ihn verwendet. Wie raffiniert, Apollon und Onkel Hades wären sicherlich stolz auf ihn! In Thoths Gestik und Mimik tat sich für einige Zeit nichts. Dann setzte er sich in Bewegung und ging mit gemächlichen Schritten auf den Griechen zu. Wieder verspürte Dionysos den Drang zurückzuweichen, berief sich allerdings darauf, dass er dieses Mal nichts zu befürchten hatte und verharrte in seiner Position sowie Haltung. Bis Thoth vor ihm zum Stehen kam, keinen Meter Abstand zwischen ihnen lassend, und sich zu ihm herüberbeugte. „Okay, Saufbold“, klang seine Stimme finster, als er eindringlich zu ihm sprach. „Was soll das hier werden? Versuchst du, dich gegen mich aufzulehnen?“ „Was? Nein, mitnichten.“ Bemüht, sich sein Unbehagen in der Gegenwart des Ägypters nicht anmerken zu lassen, winkte er dessen Worte belächelnd beiseite. „Ich versuche, eine Einigkeit zwischen uns zu finden. Weißt du, ich schlafe schlecht, wenn ich nicht weiß, wie es um meinen Schatz steht. Und das geht mir an die Konzentration deines lehrreichen Unterrichts.“ „So?“ Dionysos befielen Zweifel. Ging er zu weit? Schoss er über das Ziel hinaus? Verfehlte er gar den Zweck, welchen er anstrebte? Wieso, beim Olymp, ging dieser Ägypter nicht auf seinen Standpunkt ein und schaffte es, sich so unbeeindruckt zu zeigen? Als ließe es ihn kalt, dass er ihm einen Schwachpunkt gezeigt und damit eine Angriffsfläche geboten hatte. „Ich verlange ja nicht viel“, versuchte er auf eine verharmlosende Schiene einzulenken. „Ich möchte lediglich meinen Schlüssel zurückhaben. Dafür verspreche ich, weiterhin im Unterricht aufzupassen. Ich halte dicht, du hältst dicht, und alle sind glücklich.“ Sekunden, wenn nicht gar Minuten verstrichen, in denen kein weiteres Wort zwischen ihnen fiel und Thoth ihn prüfend musterte, als versuche er, den jungen Gott in die Knie zu starren. „Lass mich das auf den Punkt bringen.“ Thoth schloss die Augen, atmete einmal tief durch, ehe er den Blickkontakt wieder aufnahm. „Du verlangst, dass ich dir deinen Schlüssel zurückgebe. Im Gegenzug bietest du mir dein Schweigen an. Gleichzeitig garantierst du, weiterhin meinem Unterricht zu folgen, wenn ich im Gegenzug ebenfalls Stillschweigen bewahre. Sehe ich das richtig?“ Dionysos nickte. Sein Blick wurde finster. „Ich wiederhole: Wieso, denkst du, sollte ich auf solch einen »Handel« eingehen?“ „Weil wir beide dasselbe wollen.“ Er schluckte sämtlichen Unmut hinunter. „Wir wollen beide, dass Zeus nichts von unserem jeweiligen Geheimnis erfährt.“ Bei Thoth tat sich nichts. Er verzog keine Miene. Für mehrere Sekunden war es Dionysos unmöglich, irgendetwas aus seinem Gesicht abzulesen. Nicht, ob er die Situation abwägte. Nicht, ob er überlegte. Da war nichts, rein gar nichts, und er wusste das anhaltende Schweigen des Ägypters nicht zu deuten. Es war Thoths zuversichtliches, wenn auch herabwürdigendes Schmunzeln, welches ihn letztlich mehr verblüffte als die Worte, die er sprach: „Ich lehne ab.“ „Was?“ Er wandte sich daraufhin ab, verschränkte die Arme locker vor dem Körper und trat einige Schritte von ihm weg. „Du vergeudest meine Zeit.“ „Aber … was?“ Dionysos verstand nicht. „Mitkommen!“ Ratlos kam er der Aufforderung nach und setzte sich in Bewegung. Welche andere Wahl hatte er auch schon? Thoth verblüffte ihn. Egal, wie sehr er es versuchte, er wurde einfach nicht schlau aus ihm. Sein Verhalten machte keinen Sinn für ihn, noch weniger seine Worte. Ab welchem Punkt hatte das angefangen? „Also“, wagte er einen zögerlichen Versuch, den Lehrer anzusprechen, nachdem sie für längere Zeit geschwiegen hatten. Sie hatten die Bibliothek längst hinter sich gelassen, folgten dem Rundkorridor in Richtung Treppe, die sie aufs Erdgeschoss zurückführen würde, wo sich die große Aula befand. „Was genau bedeutet das jetzt?“ „Wovon sprichst du?“ „Kümmert es dich gar nicht, wenn Zeus von deinem heimlichen Freund erfährt?“ Thoth warf ihm einen prüfenden Blick von der Seite zu. „Warst du nicht der Erste, der damit gedroht hat, mich an ihn zu verraten?“ „Wann habe ich etwas in dieser Richtung verlauten lassen?“ „Als du sagtest, dass die anderen mit mir die Konsequenzen zu tragen haben werden. Und als du im direkten Anschluss auf meine Verwandtschaft zu Zeus angespielt hast.“ „Und?“, entgegnete Thoth unbeeindruckt. „Das sind nichts weiter als Fakten. Der Einzige, der für deine Unzulänglichkeit in Rechenschaft gezogen werden kann, bist du, der falsche Schlussfolgerungen aus meinen Worten gezogen hat.“ Verblüffung machte sich auf Dionysos‘ Gesicht breit. „Heißt das, dass du nie vorhattest –“ „Dich an Daddy zu verpetzen, wenn du nicht tust, was ich dir sage?“, beendete er den Satz. Ein abfälliges Schnauben folgte. „Idiot. Wie einfältig bist du eigentlich?“ „Hm? Wieso?“ Diese Begriffsstutzigkeit war ermüdend. Thoth richtete seinen Blick nach vorn. „Zu deiner Information“, setzte er nach einer kurzen Sammelpause an, „Zeus hat diesen Ort eigens erschaffen. Denkst du allen Ernstes, ihm entgeht auch nur irgendetwas, das an dieser Schule passiert?“ Dionysos würdigte diese Worte eines Gedankens. Grübelnd legte er eine Hand um sein Kinn. „… Oh.“ Natürlich, das erklärte alles. „Oh.“   Wenig später hatten sie das Rundgebäude verlassen. Der späte Nachmittag zeigte sich mild im tiefen Sonnenstand. Aus Richtung des Schulgeländes waren Stimmen jener Schüler zu hören, die sich zu dieser Zeit ihren Clubaktivitäten hingaben. „Also“, richtete Dionysos sein Wort an den Lehrer, welchem er noch immer folgte, „da die Sache damit geklärt ist und keine Notwendigkeit mehr besteht … bekomme ich meinen Kellerschlüssel zurück?“ „Nein.“ „Wieso nicht?“, schmollte er. „Du hast selbst gesagt, dass es keinen Sinn macht, mit Verrat zu drohen. Also wozu –“ „Ich behalte ihn als Pfand“, schnitt Thoth ihm das Wort ab. Diese Aussage unterstreichend, schob er die Hand in die Hosentasche, holte jenen klobigen Metallschlüssel hervor und hielt ihn demonstrativ hoch, wobei er dem Junggott einen Blick über die Schulter zuwarf. „Damit garantiere ich mir dein Bemühen. Sieh es als einen Anreiz für dich.“ „Aber das geht nicht!“, beharrte er. „Ich muss nach dem Wein sehen, sonst war alle Mühe umsonst! Bitte! Ich verspreche auch, mich weiterhin im Unterricht zu bemühen. Oder ich leihe ihn mir nur aus und verspreche, ihn dir zurückzubringen, sobald ich mit meiner Arbeit fertig bin.“ „Hmpf, hältst du mich für so leichtfertig?“ Er ließ den Schlüssel zurück in der Tasche verschwinden. „Ich gebe keinen müden Gedanken auf dein Wort.“ Dionysos machte bereits Anstalten, etwas darauf zu erwidern, als Thoth stehen blieb und sich nach ihm umdrehte. „Ich komme mit“, sprach er entschieden. „Ab sofort unterstehst du meiner Aufsicht, wann immer du diesen Keller betreten willst. Du wirst mich zuvor aufsuchen und warten, bis ich Zeit für dich habe. War das verständlich für dein Spatzenhirn, Saufbold?“ Das kam unerwartet. Dionysos war so überrannt von diesem Beschluss, dass er keine Antwort fand. Stattdessen blinzelte er überrascht. „Hey, antworte, wenn man dich etwas fragt.“ Er nickte zögernd. „Ja, verstanden.“ „Gut.“ Thoth wandte sich um. „Geh vor. Ich habe noch etwas zu erledigen. Solltest du nicht vor Ort sein, wenn ich ankomme, werde ich nicht auf dich warten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)