Die Legende von Shikon No Yosei von Ami_Mercury (Das Schicksal einer Elementarmagierin) ================================================================================ Kapitel 1: Buch 01: Der Beginn einer Legende -------------------------------------------- Die Verteidigerin von Shing Jea Wir befinden uns auf dem Kontinent Cantha, dem legendären Kaiserreich im Süden dieser Welt … bestehend aus vier unabhängigen Zonen – Kaineng, Hauptstadt Cantha´s und Regierungsposten des Kaisers Kisu; dem Echowald, Heimat der Kurzick und Herrschaftsgebiet des Grafen zu Heltzer; dem Jademeer, Revier der Luxon und Sitz der Ältesten Rhea; Shing Jea, Insel des Friedens und Verantwortungsbereich von Meister Togo. Und genau auf dieser Insel beginnt diese Legende, die in die Geschichte eingehen wird ... Ein Heldenepos, der sich über Kontinente hinwegsetzt und niemals wirklich ein Ende findet! Im Jahr 1072 nach dem Mouvelianischer Kalender, der in ganz Tyria galt – zweihundert Jahre nachdem der Jadewind das Gesicht von Cantha neu gestaltet hatte – war die schöne Elementarmagierin Shikon No Yosei gerade fünfzehn Jahre alt geworden. Es war jedoch nicht nur ihr Äußeres, das faszinierte – unterstrichen von ihren klaren Augen, die einer durch und durch reinen Seele gehörten –, sondern vielmehr das große Potenzial an magischer Energie, welches in ihr schlummerte … Ihre Ausbildung bei Großmeister Vhang war seit wenigen Wochen beendet – Ausbilder Ng hatte ihr die Befähigung sogar mit Auszeichnung überreicht –, da suchte der Leiter des Klosters Shikon No Yosei und ihre Familie im nahegelegenen Dorf Tsumei auf. Die junge Shing Jea lebte dort zusammen mit ihrer Tante Adeptin Bishu und deren Tochter Seiketsu No Akari. Die beiden Mädchen waren stärker miteinander verbunden, als es nur durch bloße Blutsverwandtschaft möglich gewesen wäre – sie waren ein Teil voneinander. Über ihren Vater wusste sie nichts und ihre Mutter, Bishu´s Schwester war bei Shikon No Yosei´s Geburt verstorben. Der Besuch wunderte Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari schon sehr – es war bislang nur äußerst selten vorgekommen, dass der Ritualist einen ehemaligen Schüler nach dessen Abschluss aufsuchte, auch wenn er stets freundlich zu ihnen gewesen war. Doch wie immer kam Meister Togo nach einer kurzen Begrüßung gleich zur Sache: „In Tyria … besonders bei uns auf Cantha sind Ereignisse im Gange, die speziellen … Einsatz erfordern. Ich komme mit einem Angebot … nein, eher einer Bitte zu jeder von euch. Seiketsu No Akari, man hat mir berichtet, du hegst ein außergewöhnliches Interesse an der Geschichte unserer Welt. Ist das korrekt?“ Die Mönchin schluckte angesichts seines ernsten Tonfalls, bevor sie antwortete: „So … so ist es, Meister. Ich will versuchen aus den Ereignissen der Vergangenheit zu lernen … und wissen, wie sich Tyria entwickelt hat. Damit ich anderen nicht nur mit meinen heilenden Fähigkeiten helfen kann.“ „Du besitzt wirklich ein gütiges Herz …“, meinte der ältere Mann mit einem sanften Lächeln, „Alle fünf Jahre wird von jedem Kontinent ein Absolvent beliebiger Klasse ausgewählt, dem die Ehre eines Stipendiums für ein Studium bei den Deldrimor-Zwergen in den Südlichen Zittergipfeln zuteil wird. Ich habe dich dafür vorgeschlagen – es steht dir natürlich vollkommen frei, ob du dies annimmst oder ablehnst.“ Wenn ihr jemand gesagt hätte, Meister Togo wolle sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen, hätte sich Seiketsu No Akari alle möglichen Gründe ausgemalt – nur nicht diesen. Ein unbeschreibliches Gefühl von Glück und Stolz flutete durch ihren Körper. Aber anstatt etwas zu erwidern, suchte sie den Blick von Shikon No Yosei. „Egal, wo du bist oder was du tust … ich bin bei dir und du bist bei mir, Sei. Wir werden nie wirklich voneinander getrennt sein.“, sagte diese aufmunternd, denn sie hatte die Gedanken ihrer Cousine sofort erraten, „Auf ewig miteinander verbunden …“ Den Tränen nahe fiel sie ihr um den Hals und bestätigte: „Ich vermisse dich jetzt schon, Schwesterchen! Wer passt denn auf dich auf, wenn ich weg bin? Sei vorsichtig und schreib´ mir!“ „So oft ich kann, versprochen … Gib´ dein Bestes, ja? Mach´ mir bloß keine Schande!“, scherzte die Elementarmagierin nicht weniger melancholisch. Meister Togo schwieg derweil. Er konnte verstehen, wie schmerzhaft es war von einem wichtigen Familienmitglied getrennt zu sein – er hatte selbst einen Halbbruder in Kaineng, den er kaum zu Gesicht bekam –, darum wartete er geduldig, bis sich Shikon No Yosei von Seiketsu No Akari gelöst und ihm erneut ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatte. „Nun zu dir – keiner meiner Schüler hat mich in den letzten Jahren so sehr beeindruckt wie du … Die Magie der vier Elemente ist ungewöhnlich stark in dir, Shikon No Yosei. Ich möchte dich daher noch zusätzlich zur >Verteidigerin von Shing Jea< ausbilden! Willst du dich dieser Herausforderung stellen?“, bot er ihr mit stolzer Stimme an. In Shikon No Yosei´s Kopf ratterte es. Sie benötigte einige Momente, um zu begreifen, was Meister Togo plante – er wollte aus ihr so etwas wie eine Heldin machen; jemand, der für die Sicherheit der Insel verantwortlich war und sich um die Probleme der Bürger kümmerte! Vor ihren Augen erschien ein Bild von ihr, wie sie gegen Monster kämpfte und kleinen Kindern in Not half. War dies nicht genau das, was sie sich gewünscht hatte? Für Shing Jea zu kämpfen, vielleicht als Wächterin oder Adeptin … Nun stand ihr eine zusätzliche Unterweisung bei dem weltweit anerkannten und verehrten Ritualisten Meister Togo in Aussicht! Wie konnte sie da zögern? Es ging ihr nicht darum gefeiert oder berühmt zu werden – solange sie denken konnte, wollte sie immer nur ihre Heimat beschützen, diesen friedlichen Ort bewahren. „Folge deinem Traum und finde deinen eigenen Weg, Shiko!“, flüsterte Seiketsu No Akari ihr so zu, dass nur sie es hören konnte, „Und wenn ich mein Studium absolviert habe, kann ich dir sicher helfen. Bis dahin musst du auf mich warten …“ Die Braunhaarige fand stets die richtigen Worte, um sie aufzubauen und so antwortete Shikon No Yosei: „Danke für das Vertrauen, das Ihr in mich setzt, Meister Togo. Ich werde Euch sicher nicht enttäuschen!“ „Du bist wirklich genau wie deine Mutter …“, murmelte er tonlos und befand sich nicht länger im Dorf Tsumei, sondern fünfzehn Jahre zuvor im Nahpuiviertel. Es war ein warmer Aprilmorgen. Die immerwährenden Sterne über dem Nahpuiviertel funkelten traulich. Sie erwarteten die Geburt eines kleinen Kindes – Adeptin Kai lag in den Wehen, ihr Geliebter hielt ihr angespannt die Hand. „Unsere Stunden sind gezählt …“, presste sie zwischen den Zähnen hervor, „Selbst wenn sie nicht diejenige ist, von der Meister Suun´s Legende handelt. Wir werden uns nicht mehr sehen können … Ich schaffe es nicht. Aber Bishu … Bishu wird dir helfen. Das heißt, Seiketsu bekommt eine kleine Schwester … wie schön.“ Er küsste sie zärtlich auf die Wange und erwiderte: „Was redest du denn da? Es wird alles gut werden, ganz bestimmt!“ „Ich liebe dich dafür, dass du das sagst … Verzeih´ mir, Togo. Ich will dich … euch nicht verlassen, aber ich …“, gab sie schwach zurück, der Rest des Satzes ging in einem lauten Schrei unter. Die Finger seiner freien Hand streichelten über ihr Haar, während er wiederholte: „Es wird alles gut – ich verspreche es dir! Mach´ dir keine Sorgen … Ich werde sie vor dem Ministerium verstecken, sie werden unsere Tochter nicht bekommen! Meister Suun wird uns nicht verraten. Also bitte … bitte, halte durch! Ich liebe dich, Kai …“ Die Schmerzen in ihrem Unterleib glitten in harten Wellen über sie hinweg. Kalter Schweiß lief ihr über den ganzen Körper und das Blut hatte bereits sämtliche Laken durchtränkt. Dann endlich schallte das erlösende Geschrei eines neugeborenen Mädchens durch das Haus. Mit glasigen Augen betrachtete Kai ihre wunderschöne Tochter. Der Anblick des kleinen Wesens versetzte ihrem Herzen einen Stich, als Togo sie ihr in den Arm legte. „Shiko … Shikon No Yosei …“, flüsterte Kai glücklich und nahm ihre Halskette ab, „Dies wird mein einziges Geschenk an dich sein … Es soll dich beschützen. Bitte, sprich´ noch einmal … die Worte …“ Togo, der ihr nicht mal diesen Wunsch abschlagen konnte, rezitierte: „»Ein Mädchen … geboren aus der Liebe zweier Adepten, dem Himmel geschworen. Eine Legende … gesprochen vom Orakel und den Nebeln. Ein Schrecken geboren aus der Vergangenheit, Tod den Menschen des falschen Glaubens, sodass in Qual versinkt die Welt und Feuer allem ein Ende bereitet. Ein Mädchen … geprüft durch unzählige Kämpfe, mit Verbündeten gestärkt. Eine Legende … erfüllt im Angesicht der Zukunft.« Ich frage mich, ob … ob es außer Shiko und Seiketsu noch ein Mädchen gibt, auf die diese Beschreibung passt?“ Seine Geliebte antwortete ihm nicht. Ihre Augenlider schlossen sich langsam und ein letzter, ruhiger Atemzug entwich ihren Lippen. Die kleine Shikon No Yosei begann zu weinen – sie war alles, was noch von Kai in dieser Welt blieb … Der Ritualist drückte seine Tochter an sich, während auch seine Tränen sich nicht mehr zurückhalten ließen. Schon jetzt ahnte er, dass weder Seiketsu No Akari noch sonst irgendjemand mit Suun´s Legende gemeint war; irgendetwas sagte ihm deutlich, dass sie war – Shikon No Yosei. Die Pest Cantha´s Noch war Shikon No Yosei nicht soweit sich als »Verteidigerin von Shing Jea« zu bezeichnen, doch Meister Togo war sich sicher, dass sie sich diesen Titel verdienen würde. Darum unterrichtete er sie nicht nur in der Geschichte Cantha´s, sondern brachte ihr auch etwas über die beiden anderen Kontinente und Politik bei. In diesem Zusammenhang bestand er darauf, sie seinem guten Freund und Berater Minister Cho vorzustellen, der sich um die Verwaltung Shing Jeas kümmerte. So durchquerte Shikon No Yosei in Begleitung von Meister Togo das Sunqua-Tal zu dem prächtigen Anwesen, an das eine gigantische Menagerie angeschlossen war. Dort angekommen erwartete sie allerdings ein furchtbares Szenario – hinter dem geschlossenen Tor, welches von dem Hauptmann der ministeriellen Wache beaufsichtigt wurde, kämpften die Wächter wie wild gewordene Berserker gegeneinander! Einer von ihnen rannte auf den Hauptmann zu und schrie verzweifelt: „Das ist Wahnsinn, sage ich, Wahnsinn! Etwas Schreckliches ist mit ihnen geschehen! Ich-“ Bevor er den Satz weiterführen konnte, rammte ihm einer seiner ehemaligen Kameraden ein Schwert so kraftvoll in den Rücken, dass es vorne wieder aus seiner Brust ragte. Der grausame Abblick raubte Shikon No Yosei sichtlich den Atem. Sie war wie erstarrt. Dies war der erste Mord, den sie mitansehen musste … Es war ihr schleierhaft, wie jemand so etwas Abscheuliches tun konnte. Meister Togo, der sich durch seine jahrelange Erfahrung besser im Griff hatte, verhinderte durch seinen Angriff auf den Wächter, dass der Hauptmann sein nächstes Opfer wurde. „Ich sorge mich um Cho … Wer weiß, wie es im Innern des Ministeriums zugeht.“, meinte der Ritualist und seine Stirn legte sich in Falten, „Alles in Ordnung, Shikon No Yosei? Hast du einen Plan, wie wir vorgehen sollen?“ Der Klang ihres Namens riss sie aus der Starre, wobei sie etwas unbeholfen erwiderte: „Wir … wir sollten uns auf dem Gelände sehr vorsichtig bewegen, da wir nicht wissen, auf wie … wie viele Gegner wir stoßen werden. Sagt, Hauptmann, gibt es irgendeine Abkürzung zum Haupthaus, in dem sich der Minister aufhält?“ „Die gibt es tatsächlich.“, erzählte er, überrascht von der jungen Elementarmagierin zu Rate gezogen zu werden, „Nehmt den Weg durch die Menagerie, so kommt ihr schneller vorwärts.“ Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen bedeutete Meister Togo seiner Schülerin vorauszugehen – diesmal würde er ihr folgen. Auch in dieser Situation dachte er an ihre Ausbildung. Der Weg, der ihnen eigentlich eine Erleichterung sein sollte, entpuppte sich als allerdings zusätzliches Problem, denn ähnlich wie die Wächter waren auch die Tiere diesem eigenartigen Wahnsinn verfallen. So mussten sich Shikon No Yosei und Meister Togo gegen eine Vielzahl Moas, Warzenschweine, Wölfe, Pirscher, Luchse und sogar Bären aus der erlesenen Sammlung des Ministers behaupten. Atemlos und mit deutlich spürbarer Erschöpfung erreichten sie schließlich das Haupthaus. Shikon No Yosei versuchte ihre Magie zu kanalisieren, doch der Schrecken nahm sie so stark mit, dass es ihr mit jeder Sekunde schwerer fiel, sich zu konzentrieren. Währenddessen stieß Meister Togo bereits das Eingangstor auf. Sorge durchzog sein Gesicht, als er seinem Freund gegenüber trat – seltsamerweise zeigte sich bei Minister Cho keine einzige Gefühlsregung. Sein Blick war leer und starr. Dann drang mit einem Mal ein markerschütternder Schrei aus seiner Kehle. Er presste die Hände gegen seine Schläfen und sank kraftlos in die Knie. Meister Togo wollte schon an seine Seite eilen, aber etwas hielt ihn zurück … Die Atmosphäre um sie herum hatte sich verändert – etwas Böses lag nun in der Luft. „Shikon No Yosei …“, hauchte er so leise, dass sie Mühe hatte ihn zu verstehen, „Du hältst dich aus diesem Kampf raus. Dies ist meine … Angelegenheit.“ Die Elementarmagierin schluckte mehrmals, Angst durchzuckte sie. Der Körper des Minister war nicht länger der eines Menschen – er war grässlich entstellt, wirkte verzerrt. Pusteln, Beulen und Hautfalten spannten sich über die angewachsene Masse. Meister Togo schloss einen Wimpernschlag lang die Augen. Er verstärkte den Griff um seinen Stab und schleuderte seinem ehemaligen Freund eine Ladung konzentrierte Blitzenergie entgegen. Damit beendete der Ritualist das unwirkliche Dasein des Monsters … Mit feuchten Augen kniete er sich neben den Leichnam und flüsterte: „Mögen die Gesandten Eure Seele in die andere Welt hinübertragen … und die Götter Euch Gnade erweisen. Wir sehen uns in den Nebeln wieder, mein alter Freund!“ „Genau das dachte ich auch!“, fuhr Shikon No Yosei ihn plötzlich an – Tränen glitzerten auf ihren Wangen, „Wenn er doch Euer Freund war … Wie … wie konntet Ihr ihn nur …“ Meister Togo richtete sich auf, sah ihr mit festem Blick in die Augen und antwortete: „Ja, er war sogar mein bester Freund … Und genau deshalb habe ich es getan! Du musst etwas Grundlegendes verstehen, Shikon No Yosei … Niemand wird wirklich freiwillig zum Monster. Niemand verliert freiwillig seine Seele. Wenn du noch bei klarem Verstand wärst, würde dasselbe mit dir passieren – was würdest du wollen? Das einzige, was wir noch für diejenigen tun können, die dieses Schicksal erleiden müssen, ist, sie von diesem grauenhaften Fluch zu befreien. Glaub´ mir, ich weiß sehr wohl, wie du dich fühlst … Kein Mensch sollte leichtfertig töten … Egal aus welchen Gründen. Aber der richtige Weg ist nun einmal nicht immer der einfachste Weg … Bedenke bitte, du wolltest für diese Insel und ihre Bewohner kämpfen … das bedeutet, dass du die Bedrohungen ausschalten musst! Es wird deine Verantwortung … als Verteidigerin von Shing Jea.“ In den nachfolgenden Tagen hatte Shikon No Yosei schwer mit den jüngsten Ereignissen zu kämpfen – zwar verstand sie, warum Meister Togo es getan hatte und dass sie selbst auch so handeln musste, wenn sie Shing Jea vor dieser Bedrohung bewahren wollte –, doch gleichzeitig verspürte sie eine tiefe Abscheu gegen das Töten. „Ich will keine Mörderin sein … Ich will nicht selbst zu einem Monster werden … Aber es stimmt, was Meister Togo gesagt hat – ich habe eine Aufgabe zu erfüllen!“, sagte sie zu sich selbst, als sie wieder einmal auf den Feldern vor ihrem Dorfes saß, „Wenn ich es nicht tue, wer dann? Meister Togo hat mich gewählt! Er hat mich auserwählt, weil er glaubt, ich könne der Schwere dieser Bürde gerecht werden. >Kein Mensch sollte leichtfertig töten …< Und das werde ich auch nicht, niemals! Meine Magie ist zerstörerisch … Aber so wird sie auch Leben retten.“ Um zu verstehen, was ihre neuen Feinde waren, mussten sie erst einmal den Ursprung der sogenannten »Pest Cantha´s« finden. Zusammen mit Meister Togo machte sich die junge Elementarmagier deshalb auf den Weg in den Osten der Insel, nach Zen Daijun. In Minister Chos Anwesen war Shikon No Yosei bereits geschockt gewesen, wie furchterregend die erkranken Geschöpfe sein konnten … aber hier wimmelte es nur so von Befallen. Es war immer wieder ein grauenhafter Anblick, wie sehr die Krankheit die Gestalt der Geschöpfe verändert, verzerrt und entstellt hatte. Sie schlug sich tapfer und kassierte dafür ein stolzes Lächeln ihres Meisters, dem ihre innerliche Überwindung sofort aufgefallen war. So stellte sich die schöne Shing Jea im Zentrum der großen Bibliothek allein einem besonders starker Befallenen. Genauso wie Meister Togo sie im Kampf gegen Minister Cho darum gebeten hatte, erwartete Shikon No Yosei diesmal seine Zurückhaltung … Sie rief die Kraft der Elemente an und ein Feuerregen ging auf die Kreatur nieder, die keine Chance hatte, zu entkommen. Nachdem sie den Sieg errungen und die Leichen fortgeschafft hatten – Shikon No Yosei´s Feuermagie sei Dank –, sahen sich Meister und Schülerin in der Bibliothek um. Die uralte Magie, die in der Luft lag, war überdeutlich spürbar. „Kennt Ihr diese merkwürdige Energie?“, fragte Shikon No Yosei besorgt. Mit bleichem Gesicht kniete der Ritualist vor einem leuchtenden Ornament auf dem Boden und antwortete: „Ich kenne sie leider nur zu gut … Dabei hatte ich so sehr gehofft, meine Augen würden dieses Symbol nie mehr erblicken.“ „Was bedeutet es?“, hakte die schöne Shing Jea nach, „Es … macht Euch Angst, nicht wahr?“ Meister Togo richtete sich wieder auf, bevor er ernst erklärte: „Es ist ein Zeichen des Todes … ein Vorbote seiner Bosheit – das Gildensymbol von Shiro Tagachi!“ „Shi-Shiro … Tagachi? Ist … ist das Euer Ernst?“, erwiderte sie geschockt, „Der Mann, der einst das Meer in Jade und den Wald in Stein verwandelte …“ Er nickte knapp: „Das verheißt schlimme Zeiten für Cantha … Wenn sein Symbol erscheint, kann das nur eines bedeuten – Shiro ist auf dem Vormarsch! Er wird das Geisterreich verlassen und unser Land erneut ins Verderben stürzen. Er muss aufgehalten werden!“ Schweigen senkte sich über die Bibliothek. Schrecken spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Wie alle Canthaner waren Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari mit den Sagen aus dem Reich des Drachen aufgewachsen … Mitfühlend suchte Meister Togo ihren Blick und sagte nach einer Weile: „Es tut mir leid, aber ich kann das nicht allein tun … Ich frage dich, Shikon No Yosei, wirst du im Kampf gegen Shiro Tagachi an meiner Seite stehen, um Cantha vor seinen finsteren Plänen zu retten?“ Die Luft blieb ihr im regelrecht im Hals stecken. Im Grunde hatte ihre fortgeschrittene Ausbildung gerade erst begonnen … und von einer Sekunde zur anderen stand Shikon No Yosei nicht mehr dem Ziel gegenüber, ihre Heimat Shing Jea von der Pest zu befreien, sondern stattdessen ganz Cantha! Sie, ein junges Mädchen, welches über kaum Kampferfahrung verfügte, sollte einen ganzen Kontinent retten?! Sie dachte an Seiketsu No Akari, ihre Tante Bishu und ihre Eltern, die sicher aus den Nebeln heraus über sie wachten … Alle Menschen und anderen Wesen wären zum Untergang verurteilt, wenn sie sich zurückzog. Cantha, wie sie es kannte, würde aufhören zu existieren. Alles würde ausgelöscht werden! Es lag allein an ihr … Doch gleichzeitig fürchtete sie sich – davor zu versagen, der Aufgabe nicht gerecht zu werden … „>Wer kämpft, kann verlieren ... Wer aufgibt, hat schon verloren.<“, rezitierte sie eine von Meister Togo´s berühmtesten Aussagen und presste den herzförmigen Anhängen, welchen sie stets um den Hals trug, fest an ihre Brust, „Ich bin Shikon No Yosei, die Fee der vier Elemente … und Verteidigerin von Shing Jea. Ich werde kämpfen – koste es, was es wolle!“ Vielleicht war diese ihre Entscheidung ein Hinweis darauf, dass jene Prophezeiung wirklich von ihr handelte. Er hätte sie gern mehr darauf vorbereitet … hatte geglaubt, mehr Zeit zu haben. Doch das Schicksal ließ sich nicht auf sich warten – er musste seiner Tochter einfach vertrauen. „Wir müssen zum Festland und dem Kaiser von diesen Vorgängen berichten.“, entschied Meister Togo mit fester Stimme, „Ich werde auch Nachricht an Mhenlo von Ascalon schicken, einem ehemaligen Schüler von mir – damit er dann in der Hauptstadt zu uns stößt. Wir werden jede Unterstützung gebrauchen, die wir kriegen können.“ Sie bewunderte ihn für seine Entschlossenheit und plötzlich kam ihr ein Gedanke: „Meister, bitte nennt mich an auch >Shiko< … Dieser Name gibt mir Kraft.“ Überraschung trat in seine Züge, dann ein stolzes Lächeln. Diese Kraft kam von Kai … Begegnung in der Unterstadt Kaum war das Duo in Kaineng angekommen, trennten sich Meister Togo und Shikon No Yosei vorerst – der Ritualist kümmerte sich darum seinen Halbbruder, Kaiser Kisu über die Lage in Kenntnis zu setzen; die Elementarmagierin sammelte in der Zwischenzeit weitere Informationen über Pest und Aktivitäten von Shiro Tagachi. Viele Bauern oder Händler waren bereits von Befallenen attackiert worden, dabei wäre die Bedrohung durch die Straßengilden der Jadebruderschaft und der Am Fah bereits groß genug gewesen – denn trotz den Bemühungen der kaiserlichen Wache blieben die Verstecke dieser Verbrecher unentdeckt, sodass sie die Bewohner der Hauptstadt weiterhin tyrannisieren konnten. Langsam begriff die schöne Shing Jea, dass tatsächliche das gesamte Reich des Drachens einen Verteidiger benötigte … nicht nur ihre Heimatinsel. So fern sie das überhaupt denken durfte, war diese Erkenntnis das einzig wirklich Gute an ihrem Aufbruch. Und so half Shikon No Yosei, wo sie nur konnte. Etwa eine Woche später trafen sich Meister und Schülerin am Vizunahplatz wieder – dem früheren Wohnort der berühmten Assassine Vizu, welche maßgeblich an Shiro Tagachi´s einstigen Niederlage beteiligt gewesen war –, dort erwartete sie Bruder Mhenlo. Er war ein Mönch aus Tyria, um die zwanzig Jahre, der vor einigen Jahren schon einmal nach Cantha gereist war, um im Kloster von Shing Jea zu lernen. Doch statt großer Wiedersehensfreude gab es erst einmal einen heftigen Kampf gegen mehrere Horden unterschiedlichster Befallener zur Begrüßung zu bestreiten. Shikon No Yosei´s Inneres zog sich jedes Mal schmerzhaft zusammen, wenn einer ihrer Gegner fiel … Sie hatte die Lektion ihres Meister im Anwesen von Minister Cho nicht vergessen. Genauso wenig, wie ihre Entscheidung … Da ließ ein erschrockener Laut sie herumwirbeln. Eine Gruppe Befallener marschierte direkt auf Meister Togo zu. Beflügelt durch die Geschwindigkeit des Windes rannte die junge Elementarmagierin über den Platz und stellte sich schützend vor ihn – dabei ignorierte sie gekonnt seine Versuche, sie zur Flucht zu überreden. Er selbst war es doch gewesen, der sie für die Aufgabe ausgesucht hatte, Shing Jea und seine Bewohner zu beschützen! Einer der Befallenen schoss Blitze auf Shikon No Yosei ab. Doch weil sie so darauf bedacht war, ihren Meister vor Schaden zu bewahren, wurde sie ungeschützt von dem Zauber getroffen. Schmerz schoss sengend heiß durch ihren Körper und sie sank geschwächt zu Boden; Meister Togo stützte und redete auf sie ein, aber sie war unfähig zu sprechen. Am Rande ihrer Wahrnehmung flackerte plötzlich eine Aura auf, welche sie noch nie zuvor gespürt hatte. Neben ihrer Elementarmagie war dies ihr größtes Talent – noch bevor sie ins Kloster eingetreten war, hatte Shikon No Yosei bereits die Energieströme von Lebewesen wahrnehmen können und je älter sie geworden war, desto feiner prägte sich diese Fähigkeit aus; inzwischen konnte sie mühelos bekannte Auren lokalisieren und den Zustand desjenigen daran ablesen, ebenso wie Charaktereigenschaften und meist auch die Spezies. So bemerkte sie, dass es sich hierbei wohl um einen jungen Mann handeln musste … mit einer tief verwurzelten Traurigkeit und gleichzeitig großem Mut. Im nächsten Moment richtete sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Befallen – aber nicht weil sie erneut angriffen … stattdessen brach einer nach dem anderen zusammen und blieb bewegungslos liegen. Shikon No Yosei wusste sofort, dass sie tot waren. „Was ist mit ihnen geschehen?“, fragte Bruder Mhenlo aufgeregt. Während sich Meister Togo keinen Reim darauf machen konnte, fühlte Shikon No Yosei die fremde Präsenz verschwinden … Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Wer er auch sein mochte, er verstand sich darauf, seine Anwesenheit verschleiern. Schnell sprach der Mönch ein Heilgebet über ihre Verletzungen. Dankbar stand Shikon No Yosei sichtlich gestärkt auf und die drei Gefährten kämpften sich weiter in Richtung Unterstadt vor. Von dort aus hätten sie eigentlich tiefer in die Stadt vordringen wollen … doch soweit kam es nicht – Shiro Tagachi erschien in seiner Geistergestalt und stahl ihnen die Seelen, ohne dass Meister Togo oder Bruder Mhenlo es verhindern konnten. Anschließend verschwand der Geächtete genauso schnell, wie er aufgetaucht war. Diese Tat blieb den anderen Gesandten der Neben allerdings nicht verborgen und so begaben sie sich ebenfalls zum Ort des Geschehens, um die Seelen zurück in ihre Körper zu rufen. Anders als ihr Kollege verbargen sie sich jedoch nicht vor den ungeübten Augen der Elementarmagierin, die ehrfürchtig vor ihnen auf die Knie sank. Neben den Göttern Balthasar, Dwayna, Melandru und Lyssa verehrten besonders die Canthaner die Gesandten sowie die Geister der Nebel … Für gewöhnlich bekam kaum ein Sterblicher sie jemals zu Gesicht – es war eine besondere Auszeichnung! Da begann Bote Vetaura zu sprechen: „Shiro darf sich nicht länger in die Angelegenheiten der Sterblichen einmischen, das werden wir nicht länger dulden!“ „Er vergisst seine Aufgaben als Gesandter …“, bemerkte Emissärin Heleyne, „Es ist unsere Pflicht, die Verstorbenen zum Tor der Nebel zu geleiten.“ Kurier Torivos pflichtete ihnen schnaubend bei: „Was er auch plant, er muss aufgehalten werden.“ „Als Gleichgestellte können wir jedoch nichts gegen ihn unternehmen.“, meldete sich Herold Demrikov zu Wort, „Anders als ihr … Wir haben eure Seelen aus den Nebeln zurückgeholt, das hat seinen Preis. Haltet Shiro Tagachi auf!“ Bote Vetaura ergriff erneut das Wort: „Doch dafür müsst ihr alle Weh no Su sein …“ „Ah, Weh no Su ... die himmlische Prüfung. Mhenlo und ich kennen sie, wir haben sie bereits vor einigen Jahren abgelegt.“, sagte Meister Togo nostalgisch, „Meine tapfere Schülerin … auf diesen Teil unserer Reise können wir dich nicht begleiten. Nur diejenigen, die noch nicht >näher an den Sternen< sind oder dem Himmelsministerium angehören, dürfen das Nahpuiviertel betreten.“ Shikon No Yosei nickte ergeben, als sie Meister Togo´s Wegbeschreibung zum sagenumwobenen Nahpuiviertel lauschte. Denn dort lebte Suun, das Orakel der Nebel … Shikon No Yosei glitt an einer Wand zu Boden – vollkommen erschöpft, hoffnungslos verirrt und absolut ratlos. Schon seit Stunden wanderte sie durch die verworrenen Gänge der Unterstadt – hier war es schlimmer als in jedem Labyrinth. Immer und immer wieder war sie in eine Sackgasse gelaufen, bis sie nicht mehr sagen konnte, in welche Richtung sie hätte gehen musste und aus welcher sie gekommen war. Im Grunde hätte sie damit rechnen müssen … Wenn es eine Fähigkeit gab, über die Shikon No Yosei nicht verfügte, dann auf jeden Fall sich in unbekanntem Gelände zu orientieren – insbesondere wenn das Gebiet so verzwickt, unübersichtlich und größtenteils schlichtweg im Dunkel lag wie die Unterstadt, welche Kaineng´s Kanalisation bildete. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit … Bevor sie und Seiketsu No Akari ihre Ausbildung im Kloster begonnen hatten, waren die beiden Mädchen oft stundenlang – manchmal sogar mehrere Tage – über die Insel gestreift. Anfangs hatte sich Shikon No Yosei gefürchtet ihr Dorf oder das Sunqua-Tal zu verlassen, doch die Braunhaarige hatte sie stets wieder nach Hause geführt. Inzwischen kannte sie jeden Fleck von Shing Jea – hätte selbst mit verbundenen Augen den richtigen Weg gefunden und kannte alle tückischen Stellen. Nicht einmal die Räuber der Purpurschädel-Gilde schreckten sie – nicht nachdem die Cousinen das Lager vor einem Jahr im Alleingang gestürmt und damit erfolgreich ihre Zwischenprüfung bestanden hatten. Wäre Seiketsu No Akari doch auch jetzt an ihrer Seite! Die junge Mönchin würde den Weg zum Nahpuiviertel sicher finden … Zum ersten Mal, seit Shikon No Yosei eingewilligt hatte die Verteidigung von Shing Jea zu übernehmen, wurde ihr bewusst, wie abhängig sie bislang gewesen war. Allein war sie nichts wert; es waren die Menschen um sie herum, die sie zu der Person machten, die sie wirklich war … Aus heiterem Himmel sprang die Elementarmagierin plötzlich auf die Füße. Sie hatte jene Aura wahrgenommen, die sie bereits auf dem Vizunahplatz gespürt hatte. „Wer bist du?“, wollte Shikon No Yosei lautstark wissen und zeigte mit ausgestrecktem Finger in den undurchdringlichen Schatten. Ein amüsiertes Lachen klang durch die Gänge. Keine Sekunde später erschien unmittelbar vor ihr ein junger Mann. Sie musterte ihn perplex. Sein braunes Haar fiel ihm in kurzen Fransen bis zu den dunklen Augen ins Gesicht. Sein Mund und seine Nase waren durch eine braune Maske verdeckt und seine restliche Kleidung, die im selben Ton gehalten war, wurde zusätzlich von einem wehenden Mantel abgerundet, auf dem ein Wappen – zwei gekreuzte Äxte – prangte. „Ihr habt mich entdeckt, dies gelingt nicht vielen. Mein Name ist Ohtah … Ohtah Ryutaiyo.“, antwortete der Fremde schmeichlerisch, „Und sollte die Frage nicht eher lauten, was eine Schülerin des angesehenen Meister Togo allein an solch einem unangemessenen Ort verloren hat? Wir leben in sehr gefährlichen Zeiten – überall lauern die Mitglieder der Straßengilden und die Befallenen. Meint Ihr nicht auch … Shikon No Yosei?“ Ihre Augen weiteten sich erschrocken, während sie fragte: „Woher kennst du meinen Namen?“ „Ich habe Euch seit Eurer Ankunft in Kaineng beobachtet. Ihr habt sicher bemerkt, dass ich es war, der die Befallen auf dem Vizunahplatz tötete.“, erklärte Ohtah Ryutaiyo und kniete mit gesenktem Blick vor ihr nieder, „Zu meiner Schande muss ich gestehen, ich war ein Assassine der Am Fah … Glaubt mir, Ihr könntet ein perfektes Zielobjekt für sie sein – deshalb biete ich Euch meine Hilfe an.“ Hatte sie sich nicht gerade noch Unterstützung gewünscht? Aber etwas machte sie stutzig … Wie kam ein fremder (Ex-)Verbrecher auf den Gedanken, ihr beizustehen? Wusste er überhaupt, auf was er sich da einließ? Die ganze Situation war zu merkwürdig … Er war merkwürdig. Und gleichzeitig auf irgendeine Weise unglaublich faszinierend. Obwohl sie keinerlei dunkle Absichten in seiner Aura entdecken konnte, hakte sie nach: „Warum sollte ich dir vertrauen?“ Demostativ zog er einen Dolch aus seinem Halter, hielt ihn ihr entgegen und sagte beinahe ergeben: „Weil ich Euch mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln beschützen werde, Shikon No Yosei – wenn nötig auch mit meinem Leben. Außerdem … scheint es mir so, als bräuchtet Ihr einen Führer.“ Sie wusste nicht, welche Tatsache sie mehr erschreckte – dass er sie beschützen wollte, obwohl er sie kaum kannte oder dass sie urplötzlich ein tiefes Vertrauen zu ihm spürte, obwohl sie sich nicht kannten. Und so brachte sie nicht mehr als ein stummes Nicken zustande. Die Prüfung - Weh no Su Es dämmerte bereits, als Shikon No Yosei unter der Führung von Ohtah Ryutaiyo den Zugang zum Nahpuiviertel erreichte. Der verzierte Torbogen sollte ihnen später wie ein Wendepunkt in Erinnerung bleiben … „Danke, dass du mich begleitet hast.“, sprach Shikon No Yosei ruhig, „Nun muss ich mich den himmlischen Prüfungen stellen …“ Der ehemalige Am Fah trat in ihr Blickfeld und entgegnete: „Ich fürchte mich nicht. Ich bleibe an Eurer Seite … Mein Wort bindet mich – koste es, was es wolle! Solange ich lebe …“ „A-Aber …“, begann sie, wechselte dann aber abrupt das Thema, „Weißt du, warum ich Weh No Su werden muss?“ Ohne richtig darauf einzugehen, meinte er ernst: „Ich weiß, warum Ihr nach Kaineng gekommen seid … Ihr könnt diesen Kampf nicht allein bestreiten. Ich werde nicht zulassen, dass Shiro Tagachi in irgendeiner Weise Hand an Euch legt!“ Wieder war die schöne Elementarmagierin von seinen Worten verblüfft, errötete sogar. Gleichzeitig ließ es sich nicht leugnen – allein konnte sie wenig ausrichten. Selbst mit Bruder Mhenlo wäre es für Shikon No Yosei und Meister Togo immer noch ein schier aussichtsloses Unterfangen … jeder weitere Verbündeten würde ihre Chance verbessern. Vor allem in Anbetracht der unzähligen Befallenen, die Cantha inzwischen bevölkerten. Und wie sie gegen ihren eigentlichen Gegner bestehen sollten, war erst recht so eine Sache. „Dein Versprechen … ich nehme es dankbar an.“, erklärte die junge Shing Jea verlegen, „Gehen wir, Ohtah!“ Er lächelte schief und sie betraten Seite an Seite das Nahpuiviertel. Zwischen einer Ansammlung von Planeten-Modellen machten die beiden Kämpfer einen kleinen Schrein aus, vor dem ein alter Mann mit langem Bart und ausladendem Hut kniete. Als er sie bemerkte, erhob er sich und sprach Ehrfurcht erregend: „Ah … ich fragte mich schon, wann Ihr kommen würdet … Mein Name ist Suun. Ich bin das Orakel der Nebel.“ „Ich bin-“, wollte sich Shikon No Yosei vorstellen. Jedoch unterbrach er sie schnaubend: „Ich kenne Eure Namen. Und ich weiß auch, warum Ihr hier seid … Andere haben mich schon um Hilfe ersucht, weitere werden kommen.“ „Was sollen wir-“, ergriff sie erneut das Wort, wurde allerdings abermals von ihm gehindert. Suun beschrieb mit den Armen Kreise in der Luft, während er verheißungsvoll fortfuhr: „Die Sterne im Nachthimmel lassen mit ihrem Licht Ebenbilder ihrer selbst auf der Welt entstehen … Kaijun Don, die Kirin … die Verkörperung der Verderbtheit, vom reinen Guten zum reinen Bösen gewandelt. Kuonghsang, der Schildkrötendrache … der ewige Widerspruch, weder dies noch das. Hai Jii, der Phönix … das Pendant des ewigen Feuers, das in der Unterwelt brennt. Und schließlich, von allen am mächtigsten … Tahmu, der Drache – die ständige Mahnung an Grausamkeit, Schmerz und Leid. Ihr müsst die Avatare dieser vier Himmelskörper besiegen, wenn Ihr näher an die Sterne kommen wollt. Nur dann könnt Ihr ins Geisterreich blicken und wirklich gegen Shiro Tagachi kämpfen … Doch seid gewarnt – fallt Ihr unter den Himmlischen, so komme ich Euch nicht zu Hilfe! Und nun belästigt mich nicht mehr. Versucht Euch an den Sternen … wenn Ihr wollt, aber lasst mich jetzt in Ruhe!“ Ohne sie weiter eines Blickes zu würdigen, verließ Suun den Ort und ließ lediglich ein goldenes Portal zurück, das sie zu den Avataren führen sollte. Shikon No Yosei sah besorgt zu Ohtah Ryutaiyo: „Du lässt dich also wirklich nicht davon abbringen, mich zu begleiten?“ Er starrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann packte er überraschenderweise ihr Handgelenk und rief entschlossen: „Lasst uns Weh No Su werden!“ Kaum waren sie durch das Portal getreten, wurden Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo bereits von einer Pfeilsalve der Sternenwächter begrüßt, die zur Familie der Tengu gehörten und als Leibwache der Himmlischen fungierten. Innerhalb von Sekundenbruchteilen stieß der geschickte Assassine seine Begleiterin zur Seite, sodass sie dem Angriff knapp entgehen konnte. Er selbst zog seine beiden Dolche und ging zum Gegenschlag über. Derweil konzentrierte Shikon No Yosei, die sich hinter einer Häuserwand versteckt hielt, ihre magischen Kräfte. Sie spürte die Essenz des Feuers durch ihre Adern pulsieren. Daraufhin ließ sie einen gewaltigen Feuersturm vom Himmel regnen und als die Feuerbeherrscherin schließlich wieder hervortrat, entdeckte sie auch schon den ersten Avatar – Kaijun Don. Nach und nach lockten die beiden die restlichen Sternenwächter von der himmlischen Kirin weg und Ohtah Ryutaiyo tötete sie mit präzisen Dolchstößen. „Du beherrschst deine Dolche besser, als ich erwartet hatte.“, lobte Shikon No Yosei ihn sichtlich beeindruckt. Verblüfft von dieser Anerkennung erwiderte er mit leichter Röte auf den Wangen: „Wie gesagt, ich hatte ausgezeichnete und sehr berüchtigte Lehrmeister. Aber … Eure Magie sollte man wohl ebenfalls nicht unterschätzen.“ Ein scheues Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor es wieder einen ernsten Ausdruck annahm … sie hatten schließlich eine Aufgabe zu erfüllen! Kaijun Don trabte langsam auf die Besucher zu. Ihr Körper bestand lediglich aus einer Ansammlung von Licht und Sternen, was unweigerlich bedeutete, ein physischer Angriff seitens Ohtah Ryutaiyo würde keine Wirkung auf sie haben – Shikon No Yosei´s Mundwinkel gingen nach oben. Er hatte recht gehabt … sie konnte Cantha nicht allein retten, das wäre pure Selbstüberschätzung gewesen und hätte wohl den Untergang des Kaiserreichs zur Folge gehabt – doch auf der anderen Seite war er in einem Kampf wie diesem genauso auf sie angewiesen. Sie brauchten einander, um Shiro Tagachi aufhalten zu können! Während sie diesen Gedanken nachgehangen war, hatte Shikon No Yosei bereits erneut Magie gesammelt, um ihren vernichtendsten Feuerzauber auf Kaijun Don niederfahren zu lassen – den Meteorenschauer! Dies war nicht nur ihr mächtigster Zauber … er richtete sich einzig gegen das, was sie als tatsächliches Ziel gewählt hatte – eine Fähigkeit, die sie künftig noch zur Perfektion bringen würde. Daher nutzte die Rothaarige ihn auch nur, wenn sie genug Zeit hatte, um sich ausreichend konzentrieren zu können. Ohne die vollkommene Kontrolle würden die feurigen Gesteinsbrocken alles und jeden im Wirkungsbereich vernichten … So war es nur der Avatar, welcher schonungslos getroffen wurde. Sie folgten dem Weg durch das Nahpuiviertel weiter, bis sie auf Kuonghsang trafen, der zwar überraschenderweise ziemlich schwächlichen Widerstand leistete, jedoch viel mehr Sternenwächter um sich versammelt hatte. Die Bogenschützen legten Pfeile an, spannten ihre Sehnen und zielten auf Ohtah Ryutaiyo, bereit jeden Moment zu schießen. „Ohtah, runter!“, rief Shikon No Yosei. Instinktiv warf er sich zu Boden und spürte die Hitze eines gewaltigen Feuerballs über sich hinwegfliegen und die Elementarmagierin zwinkerte ihm zu: „Damit sind wir quitt!“ Kurz bevor sie Kurs auf den dritten Himmlischen nahmen, blieb Shikon No Yosei plötzlich wie erstarrt stehen. Etwas machte sie stutzig – die Prüfung war bislang viel zu einfach gewesen. So langsam bezweifelte sie, dass es nur um die Avatare ging … Offenbar sollten die analytische Fähigkeiten, die benötigt wurden um eine Situation vollständig zu erfassen und einschätzen zu können, ebenfalls geprüft werden. Sie mussten weiterhin besonnen bleiben, vorschneller Übermut würde ihre Mission wahrscheinlich zum Scheitern verurteilen. Und diese Vermutung bestätigte sich wenig später, denn sie standen Tahmu gegenüber, welcher laut Suun der stärkste Gegner im Laufe dieser Prüfung sein würde. Leise wollte Shikon No Yosei von dem Assassinen wissen: „Hast du irgendeine gute Idee?“ „Ja … und sie wird Euch nicht gefallen. Wir können es nicht gleichzeitig mit Tahmu und den Sternenwächtern aufnehmen.“, erwiderte er und zog eine Handvoll befiederter Nadeln aus einer Gürteltasche, „Es ist schwierig ... und ziemlich riskant. Ich habe genug Giftpfeile, mit denen ich die Wachen ausschalten kann, aber meine Schattenverschmelzung hält nur ein paar Sekunden … Ich weiß nicht mal, ob ich Tahmu damit täuschen kann.“ Shikon No Yosei gab einen entschlossenen Laut von sich: „Dann nutze die Zeit, die du hast … Mein Flammenschild wird Tahmu´s Angriff wahrscheinlich ebenfalls nicht allzu lange standhalten können.“ Sie ignorierte den teils erschrockenen, teils protestierenden Blick ihres Gegenübers. Stattdessen kanalisierte sie die Macht des Feuers – die Shing Jea hielt ihren linken Arm vor der Brust und murmelte Beschwörungen. Kaum hatte sie die Formel zu Ende gesprochen, pragte ein Schild aus züngelnden Flammen an ihrem Arm. Mit einem letzten Blick auf Ohtah Ryutaiyo sagte sie lächelnd: „Ich vertraue dir …“ Das ehemalige Mitglied der Am Fah wurde augenblicklich knallrot und schüttelte abwertend den Kopf. Er durfte nicht die Nerven verlieren! Währenddessen lief Shikon No Yosei auf Tahmu zu und Ohtah Ryutaiyo begann die Sternenwächter anzulocken. Er verschmolz mit den Schatten, ließ die tödlichen Giftpfeile fliegen – soweit schien ihr Plan zu funktionieren. Doch plötzlich hörte der Assassine einen Schmerzensschrei und wandte den Blick zu Shikon No Yosei um. Ihr Schild hatte bereits Risse, war kurz vor dem Zerbersten. Hastig beendete er seine Aufgabe und rette sie in letzter Sekunde via Schattenschritt vor Tahmu´s gewaltigem Feuerblitz. Nach einem kurzen Schockmoment entfesselte Shikon No Yosei ihre Magie in einer Feuerwalze, die ihnen letztendlich den Sieg über den Drachen brachte. Dankbar sah sie ihn an – bis ihnen bewusst wurde, dass sie immer noch in seinen Armen lag und sie sich von ihm löste. Damit war nur noch ein Himmlischer übrig. Den Weg zu ihm verbrachten sie schweigend. Vor Hai Jii, dem Phönix, fürchtete sich Shikon No Yosei am meisten. Er war nämlich ein Mesmer … ein Meister der Illusion und Täuschung, der über die Macht verfügte die Konzentration eines anderen Zauberwebers zu stören oder im schlimmsten Fall sogar zu versiegeln. Auch Ohtah Ryutaiyo war sich der Gefahr für seine Begleiterin bewusst … Daher zog er die Aufmerksamkeit des Phönix direkt auf sich, ohne dass Hai Jii Shikon No Yosei überhaupt bemerkte und besiegelte damit sein Schicksal. Nachdem ihre Attacke verraucht war, erschien ein neues Portal. Ohtah Ryutaiyo hielt ihr auffordernd seine Hand entgegen. Lächelnd ergriff Shikon No Yosei sie und gemeinsam schritten sie hindurch. Nun waren sie endlich näher an den Sternen und konnten mit dem Geisterreich in Verbindung treten. Doch ohne den geschickten Assassinen hätte die mutige Shing Jea die Prüfung wohl nicht bestanden … Der Tempel der Helden In einem kleinen Außenposten, genannt Senji´s Ecke trafen Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo wieder auf Meister Togo und Bruder Mhenlo, die Gerüchte über neue Aktivitäten von Shiro Tagachi aufgeschnappt hatten. Allerdings waren sie mehr als verwundert über den fremden Begleiter, den sie mitbrachte. „Du hast es geschafft, mein Kind!“, entfuhr es Meister Togo, als er seine Schülerin erblickte, ließ seinen Blick anschließend allerdings prüfend über den maskierten Fremden wandern, „Wer ist dieser junge Mann?“ Ohtah Ryutaiyo verbeugte sich vor ihm und erklärte: „Ohtah Ryutaiyo, Meister, meines Zeichens Assassine. Es ist mir eine Ehre, Euch persönlich kennenzulernen.“ „Und warum bist du hier?“, hakte Bruder Mhenlo misstrauisch nach. Shikon No Yosei wollte antworten, aber Ohtah Ryutaiyo war schneller: „Ich war einst ein Mitglied der Am Fah und habe nun eine Schuld gegenüber Cantha abzutragen … Darum werde ich Shikon No Yosei bei ihrem Kampf gegen Shiro Tagachi unterstützen. Mit oder ohne Eure Erlaubnis.“ Sprachlos sah sie den jungen Mann an, unfähig etwas zu erwidern. Perplex, überrascht, verwundert, verblüfft, all diese Worte reichten nicht um ihren Zustand annähernd zu beschreiben. „Mutig gesprochen.“, erwiderte der Leiter des Klosters, „Nun denn, wie es scheint hast du Shiko´s Vertrauen ja bereits gewonnen … Und ich werde keiner ihrer Entscheidungen widersprechen.“ Die junge Elementarmagierin fiel ihrem Meister regelrecht um den Hals und sagte: „Ich danke Euch, Meister!“ Meister Togo führte die kleine Gruppe zum Tahnnakai-Tempel, der im Osten Kaineng´s lag und viele Geister canthanischer Helden beherbergte. Einer von ihnen war die Assassine Vizu, welche vor zweihundert Jahren gegen Shiro Tagachi gekämpft hatte. Im Tempel erwartete sie jedoch etwas, auf das sie kein Gerücht der Welt hätte vorbereiten können – Shiro war nach seinem erfolglosen Unterfangen in der Nähe des Vizunahplatzes nicht untätig geblieben. Die ehrenwerten Geister standen unter seiner Kontrolle; sie waren in Shiro´ken-Konstrukte verwandelt worden, die sie in jeden Raum des Tahnnakai-Tempels erwarteten. Shikon No Yosei fiel es äußerst schwer die Helden anzugreifen, die einst ihr Leben für Cantha gegeben hatten; sie waren damals in genau derselben Situation gewesen wie sie nun, hatten dieselben Zweifel verspürt und genauso hart gekämpft. Am schlimmsten war für sie allerdings die Begegnung mit der gebundenen Teinai … Denn Teinai war Zeit ihres Lebens ebenfalls eine Elementarmagierin von Shing Jea gewesen, die ihre Ausbildung im Kloster absolviert hatte. Berühmt war sie durch das Bezwingen eines monströsen Dämons mit Hilfe der vier Elemente geworden. Nach einem erfüllten Leben, welches sie einzig dem Schutze Cantha´s gewidmet hatte, war ihre Seele in den Tempel eingezogen … Shikon No Yosei erstarrte bei ihrem Anblick. Tränen liefen geräuschlos ihre Wangen hinab. Sie ertrug es nicht, dass Shiro Tagachi die mächtigste Elementarmagierin in der Geschichte Cantha´s so geschändet hatte. Den Kampf, der um sie herum tobte, nahm sie überhaupt nicht wahr. Sie war in ihren Gedanken, in diesem Anblick gefangen. „Habt Ihr etwa vergessen, wer den Geistern das angetan hat? Denkt an Eure Aufgabe und Euer Ziel!“, drang Ohtah Ryutaiyo´s Stimme urplötzlich als einziges zu ihr durch, während er unerbittlich seine Dolche wandern ließ, „SHIKO!“ Ihre Starre löste sich. Überrascht wendete sie ihm ihren Blick zu. Zum ersten Mal hatte er sie »Shiko« genannt … Und er kämpfte. Im Gegensatz zu ihr. Sie sollte sich mutig dem Feind entgegenstellen. Dem wahren Feind – Shiro Tagachi! So riss sich Shikon No Yosei endlich zusammen und antwortete: „Danke … Du hast Recht, Ohtah, es tut mir Leid. Ich werde Teinai befreien und Shiro aufhalten! Denn ich bin Shikon No Yosei, die Fee der vier Elemente!“ Mit diesen Worten befreite sie ihre magische Kräften aus ihren Körper und die gebundene Teinai verwandelte sich augenblicklich in den friedlichen Geist zurück. Glücksgefühle pumpten durch Shikon No Yosei, wieder hatte Ohtah Ryutaiyo ihr geholfen. Doch so gern sie sich noch mit der ehrwürdigen Elementarmagierin unterhalten hätte, die anderen Geister benötigten ihre Hilfe. Daher verbeugte sich Shikon No Yosei zum Abschied und betrat mit ihren Gefährten den nächsten Raum. Was sie nicht mehr mitbekam, war, wie Teinai leise murmelte: „Shikon No Yosei, ich stehe tief in deiner Schuld … Du hast nicht nur mich befreit, sondern auch die anderen von Shiro kontrollierten Geister. Dafür danke ich dir von Herzen … Ich spüre eine große Kraft in dir schlummern, derer du dir noch nicht bewusst bist. Ich bin sehr gespannt, wohin Reise dich noch führen wird …“ Nachdem die Worte verklungen waren, löste sich ihr Geist auf … ohne dass jemand ahnte, was sie soeben getan hatte. Die Gruppe arbeitete sich derweil immer weiter vor und erreichte schließlich das Zentrum, in dem sich Vizu für gewöhnlich aufhielt … Jedoch stand auch sie bereits unter Shiro´s Einfluss. Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo gingen direkt zum Angriff über, da sie den Kampf so schnell wie möglich beenden wollten. Meister Togo und Bruder Mhenlo unterstützten sie dabei. Der Assassine kämpfte mit Vizu Dolch an Dolch. Mit einer plötzlichen Drehung gelang es ihm, sie zu entwaffnen und Shikon No Yosei erlöste sie von der finsteren Umklammerung. Es war Meister Togo, der vortrat und sie ansprach: „Verehrteste Vizu … vor zweihundert Jahren, am Tag des Jadewindes, besiegtet Ihr Shiro. Wir möchten von Euch lernen, eben dies zu tun.“ „Es ist wahr – meine Klinge war es, die das Kampfglück wendete … doch nicht ich führte den letzten Schlag.“, erklärte Vizu ruhig, „Wenn Ihr Shiro Tagachi wirklich aufhalten wollt, müsst Ihr den Kurzick-Helden Viktor und den Luxon-Champion Archimorus finden.“ Interessiert fragte Shikon No Yosei: „Wie können wir mit ihnen in Kontakt treten?“ „Die Kurzick hüten die Urne ihres Helden mit großem Eifer … Die Luxon ehren ihren Champion, indem sie den Speer mit seinem Geist zwischen den Clans weiterreichen … Sucht diese beiden Artefakte! Denn habt ihr beide ... so können die Geister darin Euch zeigen, wie Shiro zu besiegen ist.“, antwortete die Assassine mit geschlossenen Augen. Meister Togo verbeugte sich und sagte: „Habt Dank, Vizu. Ich würde mich gerne länger mit Euch unterhalten, aber unsere Zeit drängt.“ „Keine Sorge, Togo – wir werden noch genug Zeit zum Reden haben …“, flüsterte sie geheimnisvoll, „Verlasst Euch darauf.“ Die Kurzick und die Luxon Sie waren zur Feste Maatu gegangen, um dort die Nacht zu verbringen – außerdem war sie der letzte Stützpunkt, bevor sich das Pongmei-Tal in den Echowald und das Jademeer teilte. Doch nicht die ganze Gruppe fand hier Ruhe. Ohtah saß auf dem Dach ihrer Unterkunft und starrte in den Sternenhimmel, ohne die glühenden Punkte wirklich zu sehen. Seine Gedanken drehten sich um Shikon No Yosei … ihr Lächeln, ihre Stimme, ihre Augen. Jeder Moment mit ihr hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Als er sie auf dem Vizunahplatz zum ersten Mal erblickte, war er von ihr gefesselt gewesen … wollte sie um jeden Preis beschützen. Dieser Entschluss hatte sich in den letzten Tagen, da er im Kampf direkt an ihrer Seite stand, nur noch mehr gefestigt. „Shiko ...“, hauchte der Assassine in die Dunkelheit und schloss träumerisch doch noch die Augen. Was aufgrund von Meister Togo´s Erläuterung am nächsten Morgen nur gut gewesen war: „Uns läuft die Zeit davon. Bislang hatten wir Glück … aber wie lange wird das noch lange gutgehen? Nein, wir dürfen uns nicht mehr auf den Zufall verlassen – wir müssen Shiro einen erheblichen Schritt voraus sein, bevor er das nächste Mal in Aktion tritt. Darum werden wir uns trennen, um die Artefakte der Kurzick und der Luxon zu besorgen! Mhenlo, Ihr hattet früher einen sehr guten Draht zum Grafen und ich denke, er schätzt Euch noch immer. Ich selbst werde Rhea aufsuchen. Wir waren früher einmal … Freunde. Und Ohtah begleitet mich.“ Entsetzen spiegelte sich in Shikon No Yosei´s brüchiger Stimme wieder: „Das … das heißt, ich … ich soll mit Bruder Mhenlo zu den Kurzick … während Ihr die Luxon überzeugen wollt … zusammen mit Ohtah …“ Ihr Blick wanderte zu Ohtah Ryutaiyo. Zum ersten Mal seit sie sich in der Unterstadt begegnet waren, sollte sie getrennte Wege gehen. Aber nicht nur Shikon No Yosei war bei diesem Gedanken unwohl zumute – dem Assassinen ging es nicht anders. Was würde passieren, wenn er nicht bei ihr sein konnte, um sie zu beschützen? Die Angst darüber, erschauderte ihn … und sein Herz versetzte seiner Brust einen schmerzenden Stich. Am Eingang des Echowaldes wurden Bruder Mhenlo und Shikon No Yosei von Graf zu Heltzer und seiner Gefolgschaft in Empfang genommen, denn der Mönch hatte einen Botenvogel mit der Nachricht über seinen baldigen Besuch vorausgeschickt. „Es ist lange her, dass wir uns begegnet sind, Mhenlo … zu lange.“, meinte der Graf melancholisch. Bruder Mhenlo verbeugte sich höflich und erwiderte: „In der Tat, Graf, es tut mir Leid. Aber ich bin froh, dass es Euch gut geht.“ „Ich bin ähnlich erfreut.“, stimmte Petrov zu Heltzer ihm zu, „Allerdings kenne ich Euch zu gut … dies ist kein einfacher Höflichkeitsbesuch. Also … warum seid Ihr zu mir gekommen?“ Der Mönch sah ihn ernst an und antwortete: „Wir bitten Euch um die Urne des heiligen Viktor.“ „Ihr verlangt nicht nach einer Kleinigkeit, das ist Euch sicher bewusst. Wir sprechen hier immerhin von den verbrannten Überresten unseres größten Helden, der ganz allein Shiro, den Verräter bezwang. Weshalb bittet Ihr uns darum?“, wollte der Adlige verblüfft wissen. Shikon No Yosei, welche seine Aussage über Sankt Viktor dezent ignorierte, ergriff mit ruhiger Stimme das Wort: „Weil Shiro Tagachi zurück ist, verehrter Graf.“ Die Gesichter der Kurzick zeigten Verwunderung, Schock und Zorn, was durchaus verständlich war, wenn man bedachte, dass Shiro Tagachi die Schuld am Zustand des Echowaldes trug … „Nun … dann war es weise von Euch zu uns zu kommen.“, entgegnete er, während er die junge Elementarmagierin musterte, „Wir möchten Euch helfen … doch ich fürchte, wir können Euch die Urne nicht einfach so geben. Die Kathedrale ist ein sehr gefährlicher Ort geworden – der magische Schutz hat versagt und widerliche Monster haben unser Heiligtum erstürmt. Dorthin zu gehen, wäre ein großes Risiko … Dennoch haben wir wohl keine andere Wahl. Meine Tochter wird Euch führen. Möge der Himmel Euch und Eurem Unterfangen hold sein …“ Von einem Wächter, der den nördlichen Zugang zum Jademeer beschützte, erfuhren Ohtah Ryutaiyo und Meister Togo, dass sich die Älteste Rhea – die spirituelle Anführerin der Fraktion – in Boreas-Meeresgrund aufhielt. Als sie ebenfalls dort eintrafen, herrschte ein riesiger Auflauf an Luxon. Es dauerte eine Weile, bis sie das Oberhaupt gefunden hatten. Meister Togo sprach sie an, während der Assassine im Hintergrund blieb: „Rhea … ich bin es, Togo vom Kloster von Shing Jea. Ich muss dringend mit dir sprechen.“ Überrascht schaute sie auf und sagte mit einer Spur Melancholie: „Togo … was für ein Anblick! Ich fragte mich schon, wann du aus deinem selbstgewählten Exil zurückkehren würdest. Wie du es in der Enge des stickigen Klosters aushältst, werde ich nie verstehen … Nun, was führt dich zu mir, nach so vielen Jahren?“ „Wir brauchen den Speer des Archimorus.“, erwiderte Meister Togo entschieden. Die Älteste Rhea schüttelte den Kopf, ehe sie beinahe vorwurfsvoll meinte: „Du weißt, dass ich dir den Speer nicht einfach so geben kann … Morgen kehrt Zhu Hanuku, der große Krake aus der Tiefe zurück. Was hast du eigentlich in deinem Kloster gelernt?“ „Wohl nicht genug über die Luxon-Kultur …“, erwiderte er kleinlaut. Zustimmend erklärte sie: „Offensichtlich. Jedes Jahr kommt Zhu Hanuku wieder, dann findet die Versammlung statt. Die Stärksten von uns kämpfen um das Recht, derjenige zu sein, der den magischen Kraken besiegt und in die Wellen treibt … Togo, wenn du den Speer wirklich willst, müssen du und dein Begleiter wohl darum ihn kämpfen!“ Gräfin Danika brachte Shikon No Yosei und Bruder Mhenlo zur Kathedrale zu Heltzer, welche von seltsamen Wesen, sogenannten Aufsehern, belagert wurde. Sie waren einst die Beschützer des Echowaldes und lebten mit den Kurzick in Frieden. Sie unterstanden Urgoz, dem Wächter der Bäume. Doch seit dem Tag des Jadewindes hielten sie die Kurzick für Feinde. Nachdem die kleine Gruppe es geschafft hatte, den Platz vor dem Haupttor freizuräumen, zog Danika ein Messer aus der Tasche. Sie schnitt sich in den rechten Zeigefinder und sprach: „Oh, Blut der zu Heltzer … öffne dieses Tor und gewähre uns Einlass in die Kathedrale!“ Das Tor gehorchte ihrem Ruf. Im Innern des gewaltigen Gebäudes lag ein kleiner Schrein, in dem die Urne aufbewahrt wurde. Doch die weiteren Aufsehern bedeuteten einen erneuten Kampf. Als schließlich auch dieser Sieg auf Seiten von Shikon No Yosei und ihren Verbündeten lag, stellte sich die Gräfin der jungen Shing Jea gegenüber und bedeutete ihr mit einer leichten Verbeugung die Urne entgegen zu nehmen. „Du symbolisiert die Hoffnung Cantha´s … in deinen Händen liegt unser aller Zukunft! Der heilige Viktor wird dich sicher gewähren lassen.“, erklärte sie lächelnd. Nach einem kurzen Zögern nickte Shikon No Yosei und nahm die Urne von ihrem angestammten Platz. In der nächsten Sekunde gab es eine starke Erschütterung, die einem Erdbeben gleichkam und die Kathedrale zum Einsturz brachte. Bruder Mhenlo eilte durch zurück das Tor hinaus, doch bevor Shikon No Yosei und Gräfin Danika ihm folgen konnten, wurde der Eingang verschüttet. „Shiko, du müsst Gräfin Danika zum Hinterausgang begleiten! Hast du verstanden? Wir treffen uns dort.“, rief Bruder Mhenlo, in der Hoffnung seine Stimme habe sie erreicht. Glücklicherweise hatten die beiden Frauen ihn trotz der Gesteinsmassen verstanden und machten sich auf den Weg. Sie rannten die Treppe neben dem Schrein nach oben, nur um auf auf eine große Gruppe Aufseher zu stoßen; die Waldläufer schossen sofort ihre ersten Pfeile ab. Das Surren der Pfeile wurde von einer ausdrucksstarken, männlichen Stimme unterbrochen, die jedoch nur Shikon No Yosei hören konnte: „Lasst die Urne fallen!“ Obwohl sie den Besitzer jener Stimme nicht kannte, folgte sie seiner Aufforderung. Als die Urne den Boden berührte, spannte sich eine leuchtend blaue Kuppel über Shikon No Yosei und die Danika, sodass sie die Aufseher problemlos besiegen konnten. Verwundert betrachtete die Elementarmagier die Urne. Die Magie, die in ihr steckte, war alt und mächtig. Vielleicht hatten sie doch eine reelle Chance im Kampf gegen Shiro Tagachi … Um den Weg fortsetzen zu können, hob Shikon No Yosei die Urne wieder auf. Nach einer Vielzahl von Kämpfen und Scharmützeln erstreckte sich vor ihnen endlich der Weg, welcher zum Ausgang führte. Gräfin Danika zog erneut das Messer und vollzog auch hier den Blutzauber. Draußen wurden sie bereits von Bruder Mhenlo erwartet, der die Urne ehrfürchtig betrachtete. Ihre Mission war erfolgreich abgeschlossen. Melancholisch dachte Shikon No Yosei an Ohtah Ryutaiyo und Meister Togo, die – was sie natürlich nicht wusste – sich in diesem Augenblick auf den Kampf um den Speer des Archimorus vorbereiteten. Ohtah Ryutaiyo´s Miene war entschlossen, seine Dolche geschärft. Dies war seine Chance sich in Meister Togos Augen zu beweisen! Er würde nicht verlieren … Stattdessen wollte er den Kampf so schnell, wie möglich hinter sich bringen, um Shikon No Yosei wiederzusehen. Er vertrieb den aufkommenden Gedanken, ihr könne im Echowald etwas zugestoßen sein, mit einem heftigen Kopfschütteln. Meister Togo wirkte äußerst angespannt, als er ihm zuflüsterte: „Die Luxon werden den Speer nicht leichtfertig herausgeben … Die Clans sind stark. Aber unser schlimmster Gegner wird Argo sein … Er ist der stärkste Elementarmagier des Jademeers. Also hüte dich vor seiner Feuermagie.“ Feuer … Wieder erschien das Bild von Shikon No Yosei vor seinen Augen. Bruder Mhenlo und Shikon No Yosei waren derweil in die Feste Maatu zurückgekehrt. Dort sollten sie sich wiedertreffen. Doch Meister Togo und Ohtah Ryutaiyo waren noch unterwegs, was bedeutete, auch den Speer des Archimorus bekamen sie nicht so ohne weiteres. Möglicherweise stand ihnen ein genauso schwerer Kampf bevor, wie ihnen im Arborstein. Besorgt wollte Shikon No Yosei sofort zum Jademeer aufbrechen. Der Mönch versuchte sie zu beschwichtigen: „Wenn sie wirklich kämpfen müssen, dann sind sie höchstwahrscheinlich schon längst mitten drin und werden bald zurück sein. Versteh´ bitte … du kannst ihnen nicht helfen.“ „Ich werde nicht hier bleiben und abwarten!“, rief die Elementarmagierin wütend und ihre Energie pulsierte, „Meister Togo hat uns im Kloster gelehrt, auf unser Herz zu hören … Und mein Herz sagt mir, dass ich gehen muss. Es tut mir leid, Bruder Mhenlo … das ist etwas, das Ihr nun verstehen müsst.“ Mit diesen Worten rannte Shikon No Yosei hinaus ins Pongmei-Tal, welches sie mit Hilfe ihrer Luftmagie schnellstens durchquerte. Ohtah Ryutaiyo und Meister Togo gewannen gegen den Krebs-Clans mit einem überragenden Sieg; wesentlich schwieriger war dagegen der Kampf gegen den Schlagen-Clan – die Anführerin, eine Waldläuferin namens Aurora hatte eine starke Mönchin an ihrer Seite, deren Fähigkeiten den geschickten Assassinen beinahe verzweifeln ließen. Er wich gerade einem Pfeil aus, da schoss auf einmal die Hitze eines Feuerballs über ihn hinweg. Ohtah Ryutaiyo wusste sofort, wer den Zauber gewirkt hatte … denn er war schon einmal in solch einer Situation gewesen, im Nahpuiviertel. „A-Aber … Das kann doch nicht sein … Bist du es wirklich?“, stammelte er, während er sich aufrappelte, „SHIKO!“ Ein erheitertes Lachen erreichte seine Ohren, gefolgt von einer wohlklingenden Stimme: „Vielleicht solltest du dich einfach mal umdrehen … Ohtah.“ Und das tat er. Shikon No Yosei kam langsam auf ihn zu. Eingehüllt von der Macht des Feuers und vor allem unverletzt. Eine Welle der Erleichterung überkam ihn. Wie gebannt ging er ihr entgegen – den Blick fest auf ihre Augen fixiert – bis sie sich genau gegenüber standen. „Shiko, ich … Ich wollte …“, rang er um die passenden Worte. Die Elementarmagierin lächelte ihn an und beendete seinen Satz: „Ich weiß, diesmal musste ich mich selbst beschützen … Aber jetzt sind wir ja wieder zusammen.“ Perplex starrte er sie an. Sie wusste, dass er sich Sorgen um sie gemacht hatte … Bevor er allerdings weiter darüber nachdenken konnte, trat er Schildkröten-Clan, angeführt von Argo, auf den Plan. Ihr letztes Hindernis auf dem Weg zum Speer des Archimorus! Höhnisch richtete der gegnerische Elementarmagier seine Worte an die kleine Gruppe: „Wie ich sehe, habt ihr die anderen Clans besiegt … Doch macht euch keine Hoffnung – ich werde euch die Ehre als Speerträger nicht überlassen! Wenn euch also euer Leben lieb ist, gebt besser gleich auf.“ Seine Arroganz machte Ohtah Ryutaiyo unglaublich wütend. Er setzte schon zu einer Erwiderung an, wollte sich sogar fast auf ihn stürzten, allerdings hielt ihn Meister Togo zurück – stattdessen trat die schöne Shing Jea vor. „Ich habe bereits viele Gerüchte über dir gehört, der du angeblich >mit deinen Flammen das Jademeer zum Schmelzen bringen könntest<. Trotzdem kann es ein schwerer Fehler sein, seinen Gegner zu unterschätzen … Diese Lektion wirst auch du noch lernen, Argo.“, erklärte Shikon No Yosei, „Mein Name lautet Shikon No Yosei, ich bin Fee der vier Elemente … und fordere dich zu einem Duell der Magier heraus!“ Argwöhnisch betrachtete er sie, bevor er fragte: „Was hätte ich davon auf diesen Vorschlag einzugehen? Andererseits … du gefällst mir. In Ordnung, ich nehme deine Herausforderung an. Und da ich natürlich als Sieger hervorgehen werde, kannst du dich schon mal mit dem Gedanken anfreunden, demnächst eine feurig heiße Verabredung mit mir zu haben.“ Shikon No Yosei zog verächtlich eine Augenbraue hoch. Selbst wenn ihr einziger Lebensinhalt derzeit nicht die Rettung des Reichs des Drachen wäre … Nein, sie wagte es nicht, sich zu Ohtah Ryutaiyo umzudrehen. Sie durfte sich nicht ablenken lassen! Entgegen aller Selbstüberschätzung blieb Argo dennoch ein gefährlicher, ernstzunehmender Gegner. Plötzlich ertönte eine vertraut wirkende Stimme in ihren Ohren: „Hab´ keine Angst, Shiko. Ich bin bei dir …“ Tränen stiegen der jungen Elementarmagierin in die Augen. Sie spürte, Teinai´s Aura um sich wie einen schützenden Mantel … und stimmte sich auf ihr Lieblingselement ein. Hier hieß es sprichwörtlich >Feuer mit Feuer bekämpfenHimmelssturm< zu spüren bekommen!“ Bruder Mhenlo nickte, Ohtah Ryutaiyo zog zur Bestätigung seine beiden Dolche. Gemeinsam überwanden sie die letzten Meter. Neben dem Leichnam von Meister Togo stand Shiro Tagachi bereits bereit zum Kampf. Siegessicher richtete er seine Schwerter auf Shikon No Yosei und erklärte: „Ihr sollt als Warnung für alle Canthaner sterben! Und mit dir … Shikon No Yosei, die du sein Blut geerbt hast, fange ich an!“ Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Sein Blut«? Etwa … jenes von Meister Togo? Das würde bedeuten, sie wäre seine … Tochter. Konnte das möglich sein? Bevor Shikon No Yosei ihn danach fragen konnte, rief Shiro Tagachi mit höhnischem Gesichtsausdruck: „Grüß´ deine heiß geliebten Geister der Nebel … Shikon No Yosei ist verbannt!“ Manches hatten sie befürchtet. Mit vielem hatten sie gerechnet. Doch dies übertraf ihre schlimmsten Vorstellungen. Shikon No Yosei verschwand spurlos vor den Augen von Ohtah Ryutaiyo und Bruder Mhenlo, von Shiro Tagachi irgendwohin geschickt. „SHIKO!“, schrie Ohtah Ryutaiyo nach einem ersten Schreckmoment fassungslos, „Was hast du mit ihr gemacht, Shiro?“ Langsam stolzierte der größere Assassine auf ihn zu und meinte: „Ich habe sie für immer in die Nebel verbannt … Sie irrt nun für alle Zeit dort umher. Nicht tot … nicht lebendig …“ Ohtah Ryutaiyo schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. Er musste die Aufgabe zu Ende führen. Für Shikon No Yosei! Aber die unglaubliche Wut raubte ihm den Verstand. Innerhalb von Sekundenbruchteilen blitzten seine Klingen auf und ein lautes Klirren erklang, als seine Dolche und die Shiro Tagachi´s aufeinander trafen. Sie standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, doch sie waren sich nicht ebenbürtig – Shiro wehrte mit Leichtigkeit jeden Angriff ab, was den Zorn seines Gegners zusehends verstärkte. Bruder Mhenlo sank auf die Knie. Die Situation erschien ihm hoffnungslos. Meister Togo war tot, Shikon No Yosei in den Nebeln eingeschlossen, Ohtah Ryutaiyo blind vor Rache und er selbst hilflos. In seiner Verzweiflung riss der Mönch die Hände zum Himmel, schickte ein Stoßgebet an die Fünf Götter. Er fragte sich, ob er den falschen Weg gewählt hatte. Als Diener Dwaynas galt es Leben mit Heilmagie zu schützen. Als Diener Balthasars Leben mit Peinmagie auszuschalten. Er hatte sich entschieden, seiner Mutter zu folgen … Hätte er doch besser auf seinen Vater hören sollen? Zwischen all der Unklarheit stand jedoch eines glasklar fest – ohne die Kraft und den Mut von Shikon No Yosei war Cantha verloren! Shiro Tagachi rammte Ohtah Ryutaiyo den Schwertknauf in die Magengegend. Die Wucht schleuderte ihn zu Boden, machte ihn benommen. Bevor er seine Lage einschätzen konnte, spürte er kalten Stahl an seiner Kehle. Der Gnadenstoß war nur noch eine Frage von Sekunden. Überheblich fragte Shiro Tagachi ihn: „Ist das wirklich alles, was ihr zu bieten habt? Ist Cantha in den letzten zweihundert Jahren wirklich so schwach geworden? Ich bin enttäuscht …“ Ein gewaltigen Feuerball zog knapp über seinen Kopf weg und zwang ihn zum Zurückweichen. Leise Schritte kamen näher, die von einer vertrauten Stimme begleitet wurden: „Cantha ist viel stärker, als du glaubst. Du wirst die wahre Kraft eines Menschen, die seine Gefühle ihm geben, niemals verstehen, Shiro Tagachi … du bist eigentlich nur zu bemitleiden. Aber ich kann dir nicht verzeihen, was du meiner geliebten Heimat angetan hast … Ich werde dieses Kampf jetzt beenden!“ Unglauben, Überwältigung, Schock, Freude und Entschlossenheit waren einzelne Eindrücke, welche Shikon No Yosei in den Gesichtern der drei Anwesenden finden konnte. Shiro Tagachi konnte nicht glauben, dass sie sich aus ihrem Gefängnis befreit hatte. Ohtah Ryutaiyo war schlichtweg erleichtert sie wiedersehen. Bruder Mhenlo strahlte vor Freude. „Shi-Shiko … du … du … Wie?“, stammelte Ohtah Ryutaiyo. Selbstbewusst stellte sich Shikon No Yosei ihrem Feind gegenüber und erzählte: „Du magst mich in die Nebel geschickt haben. Allerdings hast du einen entscheidenden Aspekt vergessen … Ich trage den Geist von Teinai in mir! Sie hat mich hierher zurückgeführt.“ Shiro Tagachi senkte seine Klingen und gestand: „Ich habe dich unterschätzt. Du bist gar nicht so ein einfältiges Mädchen, wie ich dachte. Du könntest mir wirklich von großem Nutzen sein … Und hübsch bist du auch. Ich mache dir ein Angebot – ich werde Cantha nicht vernichten … sondern es stattdessen als neuer Kaiser beherrschen. Nimm´ meine Hand und werde meine Kaiserin!“ Die schöne Elementarmagierin starrte zwischen der auffordernden Hand und Ohtah Ryutaiyo hin und her. Auf der einen Seite konnte sie seinen Tod nicht riskieren. Auf der anderen Seite kam eine Unterwerfung Cantha´s durch Shiro Tagachi nicht in Frage. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, erklärte Shiro Tagachi siegessicher: „Dem Kleinen werde ich nichts tun … auch deine anderen Freunde und Verbündeten werden verschont. Ich könnte sogar Shing Jea von der Pest befreien. Das war doch dein Ziel … der Grund für deine Reise.“ „Tu es nicht, Shiko, bitte. Ich will das nicht!“, flehte Ohtah Ryutaiyo sie an. Shikon No Yosei schloss die Augen und antwortete: „Würde ich auf dein … Angebot, wie du es nennst, eingehen, wäre ich wirklich ein einfältiges Mädchen. Du kennst mich nicht … Ich will Cantha nicht reagieren – ich will es nur beschützen! Und mein Ziel werde ich aus eigener Kraft erreichen. Deshalb werde ich nicht langer dulden, dass du Cantha länger mit deiner Anwesenheit beschmutzt!“ Sie kniete nieder, sammelte Energie. Über ihr schwebte der Geist Teinai´s, welcher die Hände auf ihre Schultern gelegt hatte. Das bekannte Licht umhüllte beide. Shikon No Yosei führte ihre Hände vor dem Körper zusammen und richtete sie anschließend zum Himmel. Rote Wolken umgaben das kaiserliche Refugium. Blitze zuckten. Donner grollte. Flammen züngelten. Sterne funkelten. Die Energie stieg weiter an. Die beiden Frauen leiteten all ihre Magie in diesen letzten Angriff. Als die Kraft ihr Maximum erreicht hatte, öffnete Shikon No Yosei die Augen und sperrte Shiro Tagachi in eine Energiekugel ein, aus der er nicht mehr entkommen konnte. Dann ließ sie den Himmelssturm auf ihn nieder fahren. Er hatte keinen Möglichkeit den Feuerkugeln, Blitzen, Sternen und Flammenzungen auszuweichen. Leise flüsterte Shikon No Yosei: „Ich kenne den Grund für deinen Hass auf Cantha nicht … Selbst wenn, würde ich ihn wahrscheinlich niemals verstehen. Du hast unserem Land großes Leid zugefügt. Doch der Jadewind wird sich nicht wiederholen … Die vorhandenen Schäden sind zwar unumkehrbar, aber ich kann neue verhindern. Es ist vorbei … Cantha ist von dir befreit!“ Der Göttliche Pfad Der Kampf gegen Shiro Tagachi war endgültig vorbei. Das Kaiserreich des Südens gerettet. Die Helden unendlich erleichtert. Suun war es, der Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Bruder Mhenlo auf dem Göttlichen Pfad empfing – dem heiligsten Ort des Kaiserpalastes, welcher nur besonderen Menschen zugänglich war. „Ich danke Euch, Shikon No Yosei … Euch und Euren Verbündeten. Verzeiht mir, wie ich Euch im Nahpuiviertel behandelt habe.“, sprach das Orakel der Nebel, „Von den Gesandten darf ich Euch ausrichten, dass Eure Schuld beglichen ist. Sie haben Shiro Tagachis Seele in einen abgeschiedenen Teil der Unterwelt verbannt. Aus diesem Gefängnis kann er sich nicht befreien. Ihr könnt Euren Weg beruhigt weitergehen …“ Zögerlich fragte Shikon No Yosei: „Wohin wird er mich führen? Habt Ihr einen Rat für mich?“ „Es gibt nur eines, das ich Euch mitgeben kann … Vertraut auf Euch und auf jene, die Euch vertrauen.“, erwiderte Suun und wandte sich ab. Während sie dem Pfad folgte, ergriff Bruder Mhenlo das Wort: „Meister Togo´s Tod ist gerächt. Ich hoffe, er kann nun in Frieden in den Nebeln ruhen.“ „Das tut er ganz bestimmt.“, bestätigte Ohtah Ryutaiyo und ergriff die Hand seiner Geliebten. Doch diese fragte etwas kleinlaut an den Mönch gewandt: „Hat … hat er Euch gegenüber jemals etwas über … seine Familie verlautet? Also außer Kaiser Kisu, meine ich …“ Im Gegensatz zu dem geschickten Assassinen, hatte der Tyrianer Shiro´s Worte nicht gehört und konnte nur verneinen – er kannte Meister Togo nur als reisenden Ritualisten und Leiter des Klosters. „Und nun wird es auch für mich Zeit, nach Hause zurückzukehren. Es war mir eine Ehre, an eurer Seite zu kämpfen.“, meinte er lächelnd, „Das kein Abschied für immer … Ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen.“ Mit feuchten Augen umarmte die Elementarmagierin ihn und der Assassine schüttelte ihm die Hand. Sie warfen einen letzten Blick auf ihren Gefährten, bevor sie ihn schließlich allein zurück ließen und um der nächsten Ecke bereits von einer feiernden Meute erwartet wurden – es waren die Kurzick und die Luxon. Vor Graf zu Heltzer und der Ältesten Rhea knieten Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo nieder. „Erhebt Euch, meine Freunde. Ihr verneigt Euch vor keinem Kurzick, die Kurzick verneigen sich vor Euch.“, sagte der Graf. Die Älteste pflichtete ihm bei: „So ist es … Auch die Luxon beugen vor Euch ihr Haupt.“ Perplex nahmen die beiden wieder eine aufrechte Position ein und beobachteten gebannt, wie die anwesenden Kurzick und Luxon dem Befehl ihrer Oberhäupter folgten und vor ihnen zu Boden gingen, um ihnen ihren Respekt auszudrücken. Nachdem sich alle wieder erhoben hatten, umarmte Gräfin Danika Shikon No Yosei fest. Als sie danach einen Stück trat, erklang eine bekannte Stimme: „Ich muss sagen … ich bin sichtlich beeindruckt. Shiko, ich gratuliere dir … Ich meine, ich gratuliere euch. Ohtah, ich war nicht sehr freundlich zu dir … Nimmst du meine Entschuldigung an?“ Der Luxon-Champion hielt ihm seine Hand hin, welche Ohtah Ryutaiyo ergriff und das Lächeln seitens Argo erwiderte. „Aber merk´ dir eines …“, drohte der geschickte Assassine ihm, „Shiko gehört zu mir!“ Mit einem unterdrückten Lachen entgegnete Shikon No Yosei: „Wer gehört hier wem? Vielleicht gehörst du ja auch zu mir?!“ Lachend verabschiedeten sie sich von einander. Die lauten Jubelrufe waren noch lange zu hören und letztendlich führte der Göttliche Pfad sie zu Kaiser Kisu, der mit seiner gesamten Leibgarde vor dem Tor nach Kaineng wartete. Würdevoll begann der Kaiser zu sprechen: „Shikon No Yosei … Ohtah Ryutaiyo … auf eurer Reise habt ihr allerlei Gefahren erlebt und überstanden. Auch wenn der Tod meines Bruders ein großer Verlust für uns alle ist, so glaube ich, ihn gut genug zu kennen, um sagen zu können, er hätte nie so stolz auf einen seiner Schüler sein können, wie auf euch beide. Um seiner zu gedenken, werde ich ihm ein Denkmal im Tahnnakai-Tempel bauen lassen.“ „Meister Togo´s Seele wird dies als große Ehre empfinden. Er liebte den Tempel beinahe ebenso sehr, wie sein Kloster.“, äußerte sich Shikon No Yosei und verbeugte sich tief, „Mein verehrter Kaiser … wie mein Meister liebe auch ich Shing Jea. Deshalb … möchte ich dorthin zurück.“ Mit einem Seufzen antwortete Kaiser Kisu: „Nur ungern stimme ich Eurer Bitte zu. Aber nicht, weil ich es Euch nicht gönne oder Ihr es nicht verdient hättet ... sondern weil ich Kaineng nur zu gern unter Eurem Schutz sehe. Deshalb hoffe ich, dass Ihr unserem Reich weiterhin stets zu Diensten sein werdet … als »Verteidigerin von Cantha und Shing Jea«!“ „Ich danke Euch. Euer Bruder erwählte mich für diese Aufgabe … daher seid versichert, ich folge stets seinem Vorbild und stelle mein Leben zum Schutze unseres Landes zur Verfügung.“, verkündete Shikon No Yosei wahrheitsgemäß, „Da wäre noch etwas, Majestät … Ohtah´s Vergangenheit bei den Am Fah – bitte, begnadigt ihn.“ Beinahe erwartete sie Einspruch seinerseits, doch stattdessen wunderte sie sich erst einmal über den verwunderte Blick des Kaisers … Gut, seine Ausbildungsstätte war vielleicht nicht so, wie von einem Helden erwartet wurde, aber zählten nicht vor allem die Taten der jüngsten Zeit. Da von ihrem Liebsten noch immer kein Kommentar kam, drehte sie sich. Und plötzlich verstand die Rothaarige die Verwirrung – Ohtah Ryutaiyo war spurlos verschwunden! Das Ende einer Reise Shikon No Yosei betrachtete das aufgewühlte Wasser des Springbrunnens, der in der Nähe des Bejunkan-Pier stand. Die Tränen, die nichts mit Freude zu tun hatten, hinterließen Spuren auf ihrem Gesicht. Ihre Augen waren geschwollen. Ihr Blick leer. Ihre Wangen gerötet. Obwohl sie ganz Kaineng nach ihm abgesucht hatte, gab es keine Spur von Ohtah Ryutaiyo. Er war wahrlich ein vollendeter Schatten … Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm begegnet war, was er alles für sie riskiert und wie sie ihre Trauer mit seiner Hilfe überwunden hatte, wie sie sich gegenseitig ihre Liebe gestanden hatten, wie er auf einmal verschwunden war. Er war einfach so verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Als wäre er nur ein Traum gewesen … oder ein Geist. Heftig schüttelte die Elementarmagierin den Kopf. Nein, Ohtah Ryutaiyo war der Mann, den sie liebte! Und er empfand genauso für sie. Aber warum nur war er dann verschwunden? Nach all den unzähligen Kämpfen, dem weiten Weg … Seine Worte klangen überdeutlich in ihren Ohren. In der Unterstadt: „>Mein Name ist Ohtah … Ohtah Ryutaiyo.< >Ich habe Euch seit Eurer Ankunft in Kaineng beobachtet.< >Glaubt mir, Ihr könntet ein perfektes Zielobjekt für sie sein – deshalb biete ich Euch meine Hilfe an.< >Weil ich Euch mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln beschützen werde, Shikon No Yosei – wenn nötig auch mit meinem Leben.<“ Im Nahpuiviertel: „>Ich fürchte mich nicht. Ich bleibe an Eurer Seite … Mein Wort bindet mich – koste es, was es wolle! Solange ich lebe …< >Ihr könnt diesen Kampf nicht allein bestreiten. Ich werde nicht zulassen, dass Shiro Tagachi in irgendeiner Weise Hand an Euch legt!<“ In Senjis Ecke zu Meister Togo und Bruder Mhenlo: „>Ich war einst ein Mitglied der Am Fah und habe nun eine Schuld gegenüber Cantha abzutragen … Darum werde ich Shikon No Yosei bei ihrem Kampf gegen Shiro Tagachi unterstützen. Mit oder ohne Eure Erlaubnis.<“ Im Tahnnakai-Tempel: „>Habt Ihr etwa vergessen, wer den Geistern das angetan hat? Denkt an Eure Aufgabe und Euer Ziel! SHIKO!<“ Im Pongmei-Tal: „>Nein … ich wäre auch ohne seine Anweisung zu dir gekommen! Ich mache mir Sorgen um dich. Weil … weil du mir wichtig bist, Shiko! Ich will nicht, dass dir etwas zustößt … und ich will nicht, dass du traurig bist.< >Du darfst ruhig weinen. Ich bin für dich da … Wann immer du mich brauchst, werde ich an deiner Seite sein. Ich lasse dich nicht allein, Shiko, niemals! Das verspreche ich dir … Ich schwöre es. Wir werden Shiro aufhalten – gemeinsam!< >Aber eine Medaille hat immer zwei Seiten – nur dank der Ausbildung durch die Am Fah konnte ich ihnen entkommen und … habe nun die Möglichkeit, dich zu beschützen.<“ In der Gyala-Brutstätte auf dem Weg zum Leviathangruben: „>Der Mantel, den ich trage, schützt mich. Er stammt noch aus meiner Zeit als Am Fah … Die gegenüberliegenden Äxte mit dem mehrfach gehörnten Tenguschädel sind ihr Gildensymbol. Ich habe es trotz meines Verrates nicht geschafft ihn abzulegen … Aber glaub´ mir, auch ohne ihn hätte ich dich beschützt. Ich werde mein Versprechen niemals brechen …<“ Im Raisu-Palast: „>Ich bin bei dir … Wir werden Shiro nicht ungeschoren davon kommen lassen. Vertrau´ mir …< >Ich helfe dir! Ich komme mit dir. Wohin du auch gehst …< >Ich … Shiko, ich muss dir etwas sagen … Etwas, das ich dir eigentlich schon längst hätte sagen sollen. Der Tod von Meister Togo hat mir gezeigt, wie schnell sich das Leben komplett ändern kann. Deshalb muss ich es dir jetzt sagen – Shiko … ich habe mich in dich verliebt, als ich dich das erste Mal gesehen habe und jeder Tag, den ich mit dir verbringe, lässt mich dich mehr lieben! Ich weiß, ich bin deiner nicht würdig und meine Schuld ist noch längst nicht beglichen … ich will einfach nur bei dir sein, um dich zu beschützen.<“ Während all diese Erinnerungen auf sie einwirkten, traten weitere Tränen über ihre Augenränder und ließen kleine Wellen auf der Wasseroberfläche des Springbrunnens entstehen. Das Schiff der kaiserlichen Garde, welches sie zum Hafen von Seitung bringen sollte, legte bei Sonnenuntergang ab – es blieben ihr demnach nur noch knapp zwei Stunden. Wenn sie Ohtah Ryutaiyo bis dahin nicht fand, würde sie ihn vielleicht niemals wiedersehen … Sie biss sich auf die Unterlippe, ballte ihre rechte Hand zur Faust und wischte sich mit dem linken Handrücken über das Gesicht. Dann stand sie auf. Es gab nur noch einen Ort, an dem sich ihr Geliebter aufhalten konnte – die Unterstadt. Die einzige Chance, in die sie all ihre Hoffnungen setzte! Die Unterstadt war noch genauso verwinkelt, kalt und dunkel, wie bei Shikon No Yosei´s erstem Aufenthalt. Sie zitterte, nicht wegen der Kälte oder der Dunkelheit. Sie hatte Angst, sich getäuscht zu haben und Ohtah Ryutaiyo nicht oder nicht rechtzeitig zu finden … „OHTAH!“, schrie sie und lauschte dem mehrfachen Echo. Keine Reaktion. Kein Geräusch. Keine Bewegung. Kein Grund aufzugeben! Ohtah Ryutaiyo war ein Meister im Verstecken und lautlosen Bewegen. Doch wenn er wirklich hier war, würde sie ihn aufspüren. Und es gab genau zwei Möglichkeiten, wie sie dies erreichen konnte … Möglichkeit eins wäre gefährlich. Sie müsste ihre magische Energie konzentrieren und damit die Unterstadt durchfluten um ihn so aus den Schatten zu treiben. Möglichkeit zwei wäre noch gefährlicher – allerdings wahrscheinlich wesentlich effektiver, sollte er sich in ihrer Nähe befinden. Shikon No Yosei musste sich selbst Gefahr bringen. Ohtah Ryutaiyo würde nicht zulassen, dass ihr etwas geschah und auftauchen, um sie zu retten. Sie atmete tief durch. Plötzlich sah sie aus den Augenwinkeln einen Schatten, der jedoch keinesfalls ihr Geliebter sein konnte. Dafür war er viel zu groß. Anscheinend wollten ihr die Bewohner der Unterstadt die Frage abnehmen, für welche Möglichkeit sie sich entscheiden sollte. Die Elementarmagierin wirbelte um die nächste Ecke. Vor ihr standen drei Befallene. Mit einem Mal wurde ihr – zur Situation völlig unpassend – bewusst, dass es eine ganze Weile her war, seit sie das letzte Mal gegen Befallene gekämpft hatte. Der letzte Kampf mit ihnen war im Echowald, im Ewigen Hain gewesen. Danach hatte sie es nur noch mit Kuunavang, einer Unzahl Shiro´ken und Shiro Tagachi selbst zu tun bekommen. Die Szene war wie erstarrt. Shikon No Yosei wagte es kaum zu atmen. Ihre Gegner benötigten einen Augenblick, um ihre Anwesenheit zu realisieren. Sie waren wohl sehr überrascht. Aber diese Verzögerung war nicht von Dauer. Während der Mönch sich darauf einstellte, seine Mitstreiter zu heilen, webte der Nekromant ein paar Flüche und der Assassine wetze seine Dolche, die gleichzeitig seine Beine bildeten. Irgendwie war das Ironie des Schicksals. Um einen Assassinen aus seinem Versteck zu locken, stand Shikon No Yosei einem Assassinen gegenüber. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, während sie die Augen schloss. Sie zitterte nicht mehr. Ohtah Ryutaiyo hatte während ihrer Reise durch Cantha mehrfach sein Leben riskiert – nun war sie an der Reihe, alles für ihre Liebe einzusetzen. Der Befallene stach mit seinen Dolch zu. Shikon No Yosei spürte einen kräftigen Lufthauch und ihre Beine verloren den Boden unter ihren Füßen. Er war tatsächlich gekommen! Sanft setzte Ohtah Ryutaiyo die Elementarmagierin wieder ab, die mit stark klopfendem Herzen beobachtete, wie ihr Retter die Befallenen erbarmungslos abschlachtete. Denn anders konnte man seine Bewegungen nicht beschreiben. „Du hast mich gerettet.“, stellte Shikon No Yosei überflüssigerweise fest. Ohtah Ryutaiyos Gesichtsausdruck und seine Stimme waren von Wut verzerrt: „Als ob ich eine andere Wahl gehabt hätte! Wie konntest du nur, Shiko?! Warum hast du das getan?“ „Um dich wiederzusehen.“, erwiderte sie und merkte, wie ihre Augen feucht wurden, „Warum hast du mich verlassen?“ Schnaubend schüttelte er den Kopf, bevor er erklärte: „Es war ein Traum, Shiko! Ein Traum … verstehst du das? Ich meine … ich bin ein Auftragsmörder! Ich wurde von Verbrechern aufgezogen. Du bist jetzt die gefeiertste Heldin von ganz Cantha – ich würde nur einen Schatten darauf werfen. Und … was wird deine Tante von uns halten? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich über solch einen Mann für die Tochter ihrer geliebten Schwester freut …“ „Warum machst du es dir nur selbst so schwer, Ohtah?“, wollte die Elementarmagierin traurig wissen, „Ja, du bist Assassine … ein ausgezeichneter Assassine sogar. Und ja, du hast in einer Verbrechergilde gelebt … Na und? Du hast sie verlassen! Weil du anders bist! Warum siehst du nur deine Vergangenheit? Warum nicht die Gegenwart, nicht die Zukunft? Deine Vergangenheit ist ein Teil von dir … Doch sie bestimmt nicht deine Zukunft. Du hast die Wahl, Ohtah … Akzeptiere deine Vergangenheit und lebe im Licht … Oder laufe vor ihr davon und verstecke dich weiterhin im Schatten. Wähle … Welchen Weg willst du gehen?“ Prompt stellte der ehemalige Am Fah ihr eine Gegenfrage: „Glaubst du wirklich, dass wir in der Realität eine Chance hätten, glücklich zu sein? Wenn es nicht darum geht, einem Feind hinterher zu jagen, sondern um jeden einzelnen Tag …“ „Ich glaube es nicht nur, ich weiß es!“, entgegnete Shikon No Yosei und nahm seine Hand, „Du weißt, was Shiro gesagt hat … über meine Abstammung. Ich möchte es glauben … Und wenn Meister Togo wirklich mein Vater war, dann wäre uns sein Segen sicher gewesen.“ Dagegen konnte Ohtah Ryutaiyo nicht widersprechen. Natürlich war der Ritualist bei ihrem ersten Aufeinandertreffen misstrauisch gewesen … aber später hatte er ihn aufgesucht, damit der Assassine Argo nicht das Feld überließ. Zu diesem Zeitpunkt kannte Meister Togo bereits die Gefühle, die er für seine … Tochter hegte und billigte sie nicht nur, sondern unterstützte sie. „Ich werde Sunn´s Rat hören … »Vertraut auf Euch und auf jene, die Euch vertrauen.«“, bekräfte Shikon No Yosei noch einmal ihre Entscheidung, „Ohtah … hier in der Unterstadt standen wir uns das erste Mal gegenüber. Gleich zu Beginn hast du mir von deiner Vergangenheit erzählt … Ich wusste Bescheid und ich habe mich trotzdem in dich verliebt. Ich liebe dich, Ohtah! Ich liebe dich, so wie du bist. Ich brauche dich …“ Ohtah Ryutaiyo zog sie in eine Umarmung und flüsterte: „Und ich brauche dich. Ich wollte … ich wollte nicht zwischen dir und deiner Zukunft stehen. Ich wollte nicht, dass du meinetwegen leiden musst … Spott ertragen musst.“ „Das größte Leid der Welt wäre nichts im Vergleich dazu, dich zu verlieren.“, meinte die Rothaarige lächelnd. Langsam beugte sich Ohtah Ryutaiyo zu ihr herunter. Der folgende Kuss sollte beiden noch lange im Gedächtnis bleiben. Er war ein Versprechen … Ein Versprechen auf ein gemeinsames Leben auf Shing Jea. Um dieses Versprechen halten zu können, hob der Assassine, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, seine Geliebte auf seine Arme und rannte im Schatten zurück nach Kaineng, zum Bejunkan-Pier, an dem das Schiff bereits Ablege fertig auf seine letzten, beiden Passagiere wartete. Mit ihrer Rückkehr nach Shing Jea in Begleitung von Ohtah Ryutaiyo endet Shikon No Yosei´s Reise durch Cantha. Die Quelle der Pest ist ausgelöscht, doch es wird noch einige Zeit dauern bis das gesamte Kaiserreich von den Befallenen befreit wäre und es sich von den Folgen dieser Auseinandersetzung erholen konnte. Shikon No Yosei selbst ist nicht mehr diejenige, die damals mit Meister Togo aus Zen Daijun zu dieser Mission aufgebrochen ist. Ihre magische Energie ist deutlich angestiegen und der Segen Teinai´s liegt noch immer über ihr, der Fee der vier Elemente und unanfechtbaren Verteidigerin von Cantha und Shing Jea! Aber das Wertvollste, was diese Reise ihr geschenkt hat, ist die Liebe zu Ohtah Ryutaiyo. Ihr Glück scheint nun nahezu perfekt; allerdings gibt es noch etwas, das einen Schatten auf ihr Leben wirft … denn etwas fehlt ihr noch. Wie lange wird ein richtiges Wiedersehen mit Seiketsu No Akari wohl auf sich warten lassen? Wohin wird ihr Weg Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo als nächstes führen? Die Seiten des Buchs des Lebens werden kontinuirlich umgeblättert und schon bald wird eine neue Geschichte dieser Legende erzählt werden … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)