Die Legende von Shikon No Yosei von Ami_Mercury (Das Schicksal einer Elementarmagierin) ================================================================================ Kapitel 29: Buch 11: Die Prophetin der Legende ---------------------------------------------- Die verschleierte Frau „Wer ich bin? Das spielt keine Rolle … noch nicht. Mein Eingreifen in diese Geschichte steht erst bevor, zum ersten Mal seid ich diese Welt erschaffen habe. Aber zuvor muss ich etwas weiter ausholen – von einem anderen Ereignis berichten.“, erklärte die Stimme einer mysteriösen Frau, die ihr Gesicht verborgen hielt, „Vor vielen Jahrhunderten wurde diese Welt gespalten, Leid beherrschte Vyn. Bis eines Tages sieben Arkanisten durch Magie unsterbliches Leben erlangten … Man nannte sie >Lichtgeborene< und schon bald wurden sie für die Sterblichen zu so etwas wie Götter, die sie anbeteten und nach deren Gesetzen sie leben wollten. Aber je länger sie herrschten, desto mehr Stimmen wurden laut, die sie der Tyrannei bezichtigten … Eine davon gehörte Narathzul Arantheal. Er war es auch, der letztendlich den Krieg gegen die Lichtgeborenen führte und dem das Unmögliche gelang ... Er tötete jeden einzelnen von ihnen, um den Menschen den freien Willen zurückzugeben. Lachhaft – der Preis war zu hoch und wo Machtlücken entstehen, entbrennen neue Kämpfe. So geriet Vyn in den Zustand, in dem es sich nun befindet – zerfallen, zerrissen und zerbrochen. Das war vor drei Jahren … Doch die Zeit des Schicksals ist endlich gekommen!“ Die Sommersonne schien warm auf sie herab. Die Wiese vor ihrem Haus stand in voller Blüte. Sie war Blumen pflücken gegangen, denn ihre Eltern hatten Hochzeitstag. Als sie sich nicht mehr bücken konnte ohne die Hälfte ihres Geschenkes wieder fallen zu lassen, beschloss sie, dass der Strauß groß genug wäre. Hüpfend machte sie sich auf den Rückweg. Ihr Vater hakte gerade Holz vor der Hütte und begrüßte sie mit einem Lächeln: „Da hast du aber wirklich schöne Exemplare gefunden. Ich bin sicher, deine Mama wird sich darüber freuen – geh´ am besten gleich zu ihr in die Küche, dann kannst du ihr beim Kochen zur Hand gehen.“ Sie tat wie ihr geheißen. Doch die Küche war vollkommen verweist … die Feuerstelle kalt, die Vorratskörbe leer. „Ma-Mama, wo … wo bist du?“, stotterte sie ängstlich. Da legte ihr Vater ihr von hinten eine Hand auf die Schulter, während er sagte: „Aber, aber, mein Dummerchen … hast du es etwa schon wieder vergessen? Du hast uns doch getötet!“ Flammen schlugen aus den Wänden, aus dem Boden. Ihr Vater wandelte als verkohlte Leiche auf sie zu und sie schrie. „Atmet!“, befahl eine fremde Stimme und mit einem Mal befand sie sich im Meer. Vor ihr schwebte eine Frau, deren Körper und Gesicht mit Tüchern verhüllt waren. Sie war es gewesen, die gesprochen hatte und fuhr nun fort: „Alles beginnt mit den Träumen … Mein plötzliches Erscheinen mag Euch verwirren, doch für den Moment ist meine Identität nicht von Bedeutung – ganz anders steht es um Euch. Der erste Flügelschlag ist geschehen … die Möglichkeiten werden sich finden, wie sie es seit Äonen tun. Jetzt geht und vergesst unser Zusammentreffen nicht, Prophetin.“ Prophetin … was sollte das bedeuten? Ihr Blick verschwamm, ihre Lunge füllte sich mit Wasser und sie verlor das Bewusstsein. Sie erblickte unter sich eine seltsame Maschine, welche von unzähligen, geschwärzten Leichen umringt war. Shikon überlief ein eiskaltes Schaudern. Diese Menschen waren inmitten ihrer Bewegungen gestorben … es musste innerhalb von Sekundenbruchteilen geschehen sein, denn kein einziger hatte sich vor Schmerzen gekrümmt. Plötzlich leuchtete ein grelles Licht auf und in ihrem Kopf hallte das dumpfe Dröhnen wieder, welches sie bereits auf Schiff geplagt hatte. Das Schiff … die Überfahrt … Nur langsam klärten sich ihre Gedanken. Da fiel ihr auf, dass sie sich nicht mehr im Wasser befand … Hatte diese Frau sie etwa gerettet? Shikon brauchte einige Anläufe, bis ihre Lider ihrem Willen gehorchten. Zunächst blendete das Licht sie ähnlich wie in der Vision. Erst war da das Grün der Büsche und Bäume um sie herum, als nächstes sah sie in das Gesicht eines jungen Mannes. Er hatte fransiges, silbernes Haar und unglaublich dunkle, fast schwarze Augen. Über seine rechte Wange verlief eine Brandnarbe. Es kostete Shikon Mühe ihre Stimme wiederzufinden, so schwummrig war ihr zumute: „Wo … bin ich?“ „Willkommen auf Enderal, schönes Fräulein. Könnt Ihr Euch aufsetzen?“, antwortete er beschwingt und stützte sie, „Das Arkanistenfieber und Euer sicher unfreiwilliges Bad im Meer haben Euch ziemlich mitgenommen. Die restlichen Verletzungen sind nur oberflächlich und ich habe mich darum gekümmert ... Ihr werdet also keine weitere Narbe davontragen.“ Beschämt legte Shikon ihre Hand auf die Wange mit den Verbrennungen, ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „Ihr habt noch nicht gelernt, Eure Magiebegabung zu beherrschen, richtig? Momentan kann Euer Körper noch nicht damit umgehen, daher der Schwindel und die Kopfschmerzen. Diese Beschwerden mögen erst einmal harmlos erscheinen, doch unternehmt Ihr nichts dagegen, werdet Ihr Euren Verstand verlieren und die Magie wird vollkommen außer Kontrolle geraten, um klares Inâl zu sprechen. Ich mache Euch einen Vorschlag – ich bin ohnehin gerade auf dem Weg zu meinem Arbeitgeber nach Ark, ich kann Euch mitnehmen. Dort wird man Euch sicher helfen können – der >Blaue Tod< ist leider kein besonders geduldiger Henker.“, berichtete er und hielt ihr die Hand hin. Ein freudloses Lachen entwich ihrer Kehle: „Ich bin eine Fremde, stamme nicht einmal aus … Enderal. Wieso wollt Ihr mir helfen?“ Der Silberhaarige grinste verschmitzt, während er entgegnete: „Euch erst aus dem Wasser zu ziehen und dann zurückzulassen wäre doch bescheuert. Außerdem … hm, wie soll ich es beschreiben? Euch umgibt etwas Eigenartiges, so als würde ich Euch bereits seit langer Zeit kennen und das macht mich neugierig. Mein Name ist Ohtah Dal´Taiyo, aber Ihr könnt mich gern bei meinem Vornamen nennen – und Eurer?“ Der Gedanke an ihre tote Familie holte Shikon nun vollends ein und so antwortete sie: „Shiko, einfach nur Shiko. Und ich danke dir … Ohtah.“ Dann schlug sie in die Hand ein, die er ihr entgegen hielt. Ark lag mehrere Tagesmärsche entfernt, doch zumeist führte sie ein gepflasterter Weg durch das Gelände. Irgendwann fragte Shiko: „Wer ist eigentlich dein Auftraggeber?“ „Du lässt dir echt nichts vormachen … das gefällt mir. Ich arbeite für den >Heiligen Orden<, den Wächterbund von Malphas – genau genommen hat mich einer der nehremesischen Arkanisten angeheuert, der einst mit Narathzul Arantheal gegen die Lichtgeborenen gekämpft und dann übergelaufen ist. Sein Name ist Klerus Heilbringer und er versteht wirklich eine Menge von Magie; auch von solcher, die den Hütern nicht … brav genug ist. Gerade in deinem speziellen Fall setze ich meine Hoffnungen in ihn – üblicherweise wird im Sonnentempel der sogenannte >Gang zum Wasser< von Magiebegabten praktiziert, der jedoch eine Menge Zeit in Anspruch nimmt. Im Anschluss entscheiden sie sich, ob sie Novizen oder freie Magier werden wollen.“, erklärte er lässig. Da sie gerade beim Thema waren, hakte sie weiter nach: „Das heißt, du bist kein Mönch, nicht wahr?“ Ein schallendes Lachen erklang von Seiten Ohtah´s: „Da hast du vollkommen recht – ich habe es nicht so mit Gelübden. Ich wurde als Söldner angeheuert. Mein Spezialgebiet ist die Suche nach verlorenen Dingen und manchmal auch einfach nur die Spurensuche, die ein etwas … verwegeneres Gewissen erfordert, wenn du verstehst.“ „Ein Schatzjäger sozusagen … interessant.“, entgegnete sie mit einem Lächeln, bevor sie wieder einen ernsteren Ton anschlug, „Und … was ist mit den Gerüchten über den Tod der Lichtgeborenen?“ Im Grunde überraschte ihn diese Frage nicht – einzig auf Enderal wurde das Wissen darüber verborgen gehalten. Er hatte ihrem Äußeren sofort entnommen, dass auch sie aus Nehrim stammte und konnte daher nicht wissen, wie groß der Einfluss seines aktuellen Auftraggebers war. „Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass sie wahr sind … und ein Zusammenhang mit dem Chaos besteht, welches vor gut drei Jahren auf ganz Vyn ausgebrochen ist.“, begann er und blieb stehen, „Anders als auf den anderen Kontinenten herrscht auf Enderal zwar kein direkter Krieg, doch es passieren trotzdem eine Menge merkwürdige Ereignisse – die Vatyren waren noch nie so zahlreich wie in den vergangen Monden … hinzukommen die Verlorenen, die wandelnden Untoten waren früher nur ein seltenes Phänom. Und dann gibt es noch den >Roten Wahnsinn<; es ist eine Art Geisteskrankheit, bei der die Augen der Befallenen rötlich glühen. Zumindest halte ich das für naheliegend und es wäre schon ein wenig des Zufalls zu viel, meinst du nicht? Ich habe die Lichtgeborenen zwar ohnehin nur für Scheingötter gehalten, bessere Könige … Ein langes Leben kann durchaus durch mächtige Magie gegeben sein. Aber das ist meine bescheidene Meinung – das Volk dagegen überlässt das Denken lieber dem Orden. Allein dieses Gespräch würde uns die Todesstrafe einbringen, so sehr empfinden sie es als Ketzerei – keine Sorge, du kannst mir vertrauen; erwähnt es nur nicht, sobald wir Ark erreicht haben.“ Ark Sie hatten nicht einmal die Hälfte der Strecke geschafft und gerade die Bergkette erreicht, welche sie überqueren mussten, um ins Herzland Enderal´s zu gelangen, als eine Verschlimmerung von Shiko´s Zustand nicht mehr zu verleugnen war. Kraftlos war sie die letzten Stunden nur hinter Ohtah hergeschlurft, ihr Kopf drohte zu platzen und die Wangen glühten vom Fieber. „Wie lange liegt der erste Magieschub zurück?“, wollte Ohtah wissen – für gewöhnlich dauerte es schon mindestens ein bis zwei Monate, bevor es für den angehenden Arkanisten lebensbedrohlich wurde. Shiko wich seinem Blick aus und während sie gegen einen Baum lehnte, sagte sie kleinlaut: „Ich … weiß es nicht genau. Es war, bevor ich Nehrim verließ …“ Schockiert starrte er sie an. Die Überfahrt dauerte mehrere Wochen! Ein Wunder, dass sie überhaupt noch am Leben war. So würde sie es auf keinesfalls mehr bis nach Ark schaffen … Da fiel ihm ein verlassener Handelsposten ganz in der Nähe ein. Dort, so hoffte er, könnte er noch Kräuter oder sogar einen Trank finden, um ihr zumindest kurzzeitige Linderung zu verschaffen. Und es wäre nicht einmal ein wirklicher Umweg. Kurz entschlossen ging er in die Knie und beutete ihr, sie auf seinem Rücken zu tragen – die Rothaarige konnte sich ja kaum noch auf den Beinen halten. Nur zögerlich nahm sie sein Angebot an. „Es tut mir leid …“, murmelte sie an seiner Schulter. Ohtah winkte ab. Er hätte es früher merken sollen … In lockerem Lauf wandte er sich dem ansteigenden Weg zu. Um das zusätzliche Gewicht sorgte er sich weniger – eher darum dass ihr Körper sich stets weiter aufheizte. Zweifelsohne die Gabe eines Elementalisten des Feuers … die gefährlichste aller Formen der Magie für Feind und Anwender gleichermaßen. Dabei wirkte Shiko so ungeheuer zerbrechlich … Nein, wenn er ehrlich war, schien es eher so, als wäre sie bereits einmal zerbrochen. Kurz vor Beginn der Dämmerung erreichte Ohtah die leerstehende Holzbaute und trat ein. Der Staubschicht nach zu urteilen, waren die letzten Besucher vor mindestens einem halben Jahr hier gewesen. „Wir sind da.“, meinte er, erhielt jedoch keine Antwort. Vorsichtig ließ er Shiko von seinem Rücken gleiten – sie atmete, stoßweise. Nachdem er ihren Leib auf einen verwaisten Schlafsack gebettet hatte, begann er seine Suche in den Lagerräumen. Die Banditen der Gegend waren gründlich gewesen, kaum mehr eine einfache Holzschüssel hatten sie zurückgelassen. In der aufkeimenden Verzweiflung bemerkte der Silberhaarige nicht, wie plötzlich eine vermummte Gestalt geräuschlos hinter ihm erschien und einen kleinen Beutel zurückließ, bevor sie genauso schnell wieder verschwand. Genau einen Wimpernschlag bevor Ohtah sich zur Sicherheit noch einmal umschaute. Etwas verblüfft entdeckte er das Überbleibsel und fand darin eine Flasche mit einem weißlichen Zaubertrank – Ambrosia, das Gegenmittel zum Arkanistenfieber! Hastig beeilte er sich, Shiko das Gebräu einzuflößen; sofort entspannten sich ihre verkrampften Muskeln, ihr Atem wurde ruhiger. Damit sie in der Dunkelheit nicht von Plünderern oder wilden Tieren überrascht zu werden würden, entzündete der Söldner ein paar Holzreste des übriggebliebenen Mobiliars in der eingegrenzten Feuerstelle. Zumal es so weit oben in den Bergen sehr kalt werden konnte. Währenddessen sang er ein bekanntes Bardenlied vor sich hin: „Hundert an der Zahl verließen sie ihr Dorf, für ihr Landesbanner kämpfen war ihr Ziel. Sie ließ er zurück, jüngst war´n sie vermählt – nur für kurze Zeit getrennt sein sollten sie. Er sagte: >Verweil´ an diesem Ort, vertraue auf Malphas und mein Wort. Sobald der Mond rot am Himmel steht, wirst du mich schon heile wiederseh´n.< Fort zog er. Er sah nicht mehr zurück und Tränen benetzten ihr Gesicht. Doch wusst´ sie, die Zeit würd´ schnell vergeh´n. Bald würde sie ihn schon wiederseh´n. Wenn der rote Mond erwacht, zieht sein Schimmer durch die Nacht. Durch die Wälder mit dem Wind, bis er den alten Berg erklimmt. Dort kniet sie vor seinem Grab, wo die Liebe einst entsprang. Sanft berührt er ihr Gesicht, sie spürt seinen Atem nicht. Klagend rot scheint das Firmament … Zwei Seelen bleiben durch die Zeit getrennt. Tag für Tag verging, Mond um Mond verstrich – die Kunde seines Heers blieb jedoch aus. Ein Jahr ging ins Land, kaum Hoffnung noch bestand. Frauen hoben leere Gräber aus. Nur sie stand noch fest zu seinem Schwur und jede Nacht trat sie hervor. Alleine erklomm sie jenen Ort, an dem er einst seine Liebe schwor. Und stets wenn die Jahreswende kam und der Himmel Blutlicht von oben sand, hob´ sein Geist sich aus Gebein hervor und suchte, was er zu früh verlor´. Wenn der rote Mond erwacht, zieht sein Schimmer durch die Nacht. Durch die Wälder mit dem Wind, bis er den alten Berg erklimmt. Dort kniet sie vor seinem Grab, wo die Liebe einst entsprang. Sanft berührt er ihr Gesicht, sie spürt seinen Atem nicht. Klagend rot scheint das Firmament … Zwei Seelen bleiben durch die Zeit getrennt. Jahre war´n vergang´, ihr Haar ergraut und dünn, Krieg und Tote in Vergessenheit. Im Dorf munkelte man, diese Frau, sie sei verdammt – an den Schatten der Vergangenheit erkrankt. Und dennoch verblieb sie in Vertrau´n, war standhaft in ihrem treuen Glauben und stets wenn Licht rot vom Himmel schien, hoffte sie, ihn am Horizont zu erspäh´n. Und selbst als ihr Lebensabend kam, weilte sie alleine und vergang´n. Der Mondschein fiel blass auf ihr Gesicht. Sie wartet … ihr Lebenslicht erlischt. Wenn der rote Mond erwacht, zieht sein Schimmer durch die Nacht. Durch die Wälder mit dem Wind, bis er den alten Berg erklimmt. Dort kniet sie vor seinem Grab, wo die Liebe einst entsprang. Sanft berührt er ihr Gesicht, aus den Wolken bricht ein Licht – ihre Haut zerfällt wie Staub, eine Seele schwebt empor und sie sieht nun seinen Geist. Sie sind losgelöst von Zeit und der Wind trägt sie davon durch den Wald zum Horizont. Sie nimmt ihn an seiner Hand, die sie so lange nicht mehr kannt. Klagend rot scheint das Firmament … Zwei Seelen bleiben durch die Zeit getrennt. Leuchtend rot schien das Firmament … Zwei Seelen waren durch die Zeit getrennt.“ „Was … war das?“, fragte Shiko schwach, die ihm im Erwachen gelauscht hatte. Ohtah eilte an ihre Seite, fühlte ihre kühlere Stirn und sagte: „Dein Fieber ist gesunken … gut. Entschuldige, wenn ich dich geweckt habe – ich weiß, ich kann nicht so gut singen.“ „Nein, es war wunderschön … wenn auch ungemein traurig.“, flüsterte sie berührt. Etwas in seinem Blick verfinsterte sich, als er entgegnete: „Das klingt so, als hättest du jemand auf Nehrim gehabt.“ „Nein, dort gibt es nichts mehr für mich.“, meinte sie und setzte sich vorsichtig auf, „Was ist mit dir, an … wen denkst du dabei?“ „Ich glaube für die allgemeine Vorstellung von Liebe fehlt mir die … Naivität. Ich mein, überleg´ doch mal anhand dieses Beispiels – das >Lied vom Winterhimmel< ist eine Geschichte, die uns lehrt, wie sinnlos die Liebe ist … Mit dem endlosen Warten auf ihren Liebsten hat sie ihr Leben verschwendet. Sie hätte die ganze Welt sehen können – aber nein, sie blieb dort und hat immer nur in die Ferne gestarrt.“, hatte seine Antwort länger auf sich warten lassen, als gedacht, „Vor einigen Jahren bin ich schon mal mit einer Frau gereist, die ich bei einem Auftrag kennengelernt habe … bis sie angefangen hat, in unsere gemeinsame Zeit mehr hineinzuinterpretieren. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten wir uns bereits nach unserer ersten Nacht vermählt … Ich konnte Livia nicht das geben, was sie sich gewünscht und verlangt hat.“ Monoton hauchte die Feueraffine: „Das heißt, sie hat dich verlassen.“ Er starrte in die Flammen und murmelte: „>Verlassen< … so könnte man es wohl nennen …“ Gestärkt erwachte Shiko am nächsten Morgen. Da war zwar immer noch dieses eigenartige Gefühl, aber ihr ging es wesentlich besser – diesen Umstand verdankte sie Ohtah; er hatte ihr damit bereits zum zweiten Mal das Leben gerettet! Wie konnte sie sich dafür jemals revanchieren? Dabei verdiente sie seine Hilfe eigentlich gar nicht … Ihr Blick wanderte zu seinem Gesicht, welches im Schlaf viel jünger wirkte – auch ihm war schon einiges Leid widerfahren, das konnte sie ihm ansehen. Und sein Name … »Dal´« war der endraläische Namenszusatz des Adels. Trotzdem verdiente Ohtah sich als Söldner. Auf einmal überkam sie das Bedürfnis, ihn zu berühren – sie streckte die Hand aus und zog sie eilig wieder zurück. Er trug bereits ein Brandmal … Davon abgesehen hatte er ihr ja deutlich zu verstehen gegeben, dass ihn Herzensangelegenheiten nicht interessierten. In diesem Augenblick erwachte Ohtah und begrüßte sie etwas verschlafen. Nachdem er noch einmal ihr Fieber sowie ihre Taschen überprüft hatte, zogen sie weiter. Shiko hatte sich fest vorgenommen die Hauptstadt heute zu erreichen, um ihm nicht noch mehr Umstände zu bereiten. Und tatsächlich – kurz vor Einbruch der Nacht erreichten sie das Haupttor. Ein Wachmann der Stadtgarde hielt sie an: „Malphas zum Gruß. Wer seid Ihr und was wollt Ihr zu so später Stunde in Ark?“ „Reisende, die ihre Vorräte aufstocken wollen – ich bin Odin und das ist meine Frau. Leider sind wir einigen Banditen in die Hände gelaufen, weshalb wir den Weg hierher nicht eher geschafft haben.“, erzählte Ohtah, ohne dass man ihm die Lüge hätte anmerken können. Ein kritischer Blick und sie durften passieren. Im Vorbeigehen neigten sie die Köpfe zum Dank. „Odin?“, flüsterte Shiko, als sie außer Hörweite waren. Der Söldner lachte: „So hat mich Meyser Heilbringer bei unserem letzten Gespräch genannt – der Kerl ist ein Genie, was Lichtmagie betrifft … doch er kann sich einfach keine Namen merken. Ich hoffe, ich habe dich mit unserem Alibi nicht zu sehr in Verlegenheit gebracht – als meine Tochter hätte ich dich schlecht ausgeben können.“ Shiko schüttelte nur stumm den Kopf. Wenn er wüsste, welche Wünsche er in ihr auslöste, würde er eine solche Frage nicht stellen … Erschrocken beschleunigte Shiko ihre Schritte und wäre fast gegen einen Wegweiser gelaufen. „Hoppla!“, sagte Ohtah und unterdrücke ein Grinsen, „Wie du siehst, Ark ist in verschiedene Bereiche unterteilt – im Fremdenviertel halten sie zumeist die Reisenden auf, dort werden wir auch die Nacht verbringen; auf dem Marktplatz findest du jeden Tag die verschiedensten Obst- und Gemüsesorten aus allen Teilen Vyn´s sowie einige Geschäfte für Kampfausrüstung aller Art; im Adelsviertel leben die Erhabenen Pfades und es bietet so manches Unterhaltungsprogramm; dann gibt es noch den Wohnbereich im Südviertel; das Kasernenviertel, welches auch zum Sonnentempel hoch führt; und die Unterstadt, in der all jene hausen, die sozusagen nicht auf die sauberen Straßen >gehören< … eine Gegend, von dir ich dir dringend abraten würde.“ Aufmerksam folgte sie seiner Ausführung und schaute sich um. Allein die Art der Stadt war kein Vergleich zu Nehrim, hier wirkte alles … professioneller, geplant. Wäre es nicht bereits dunkel, hätte sie wohl trotz ihrer Kopfschmerzen auf eine Stadtführung bestanden. Stattdessen folgte sie ihm in den »Tanzenden Nomaden«, wo er ihnen natürlich zwei getrennte Zimmer mietete. Bote des Schicksals Der Sonnentempel thronte über den Köpfen der Bewohner von Ark – die Landesregierung lag in ihrem Zuständigkeitsbereich, Theokratie nannte sich diese Form. Überall auf den Straßen hatte Shiko die Menschen über Malphas sprechen hören, den Zuständigen für diesen Kontinent. Sie konnte sich nicht im Mindesten vorstellen, welchen Schock es für die Endräler bedeuten würde, wenn sie die Wahrheit über die Lichtgeborenen erführen … hier, wo der Glaube am stärksten ausgeprägt war. Egal ob für oder gegen die Götter – auf jeder Seite gab es Menschen, die unter den Umständen litten. „Woran denkst du?“, riss Ohtah sie aus ihren Gedanken. Er hatte auf ein anständiges Tavernen-Frühstück bestanden, bevor sie noch vor Hunger zusammenklappten, und sie antwortete: „An dieses Land und den Krieg, der alles verändert hat … Der Großmeister arbeitet immerhin mit meinen Landsleuten zusammen, die mit Narathzul Arantheal gekämpft haben.“ „Was das betrifft, wollte ich dir ohnehin noch etwas erzählen. Der amtierende Großmeister des Ordens ist Tealor Arantheal … sein Vater. Er ist vor gut zwei Jahren wieder in Ark aufgetaucht, nachdem er aus der Gefangenschaft seines Sohnes fliehen konnte – mehr tot, als lebendig wurde er von Klerus Heilbringer und seinen Magiern gefunden. Und dann hat er sie mit hierher gebracht. Weshalb sie sich verbündet haben, kann ich dir allerdings nicht genau sagen – ich habe lediglich ein paar Untersuchen zum Roten Wahnsinn für ihn anstellen sollen.“, berichtete der Söldner und wandte sich wieder seinem Essen zu. Ebenso kreativ wie am Stadttor schmuggelte Ohtah sie in den Tempel hinein. Suchen musste er seinen Auftraggeber nicht – er verbrachte im Grunde Tag und Nacht im Chronikum an seiner Forschung. Ein überraschend junger Mann stand über einen Berg von Pergamenten gebeugt und murmelte lautlos vor sich hin. „Meyser Heilbringer, ich bin von meinem Erkundungsauftrag zurück.“, sprach Ohtah ihn an und übergab ihm seine Aufzeichnungen. Der Magier schaute ihn nicht an und studierte bereits die Mitschriften, während er meinte: „Ach, Oliver, siehe da – Ihr habt ja wirklich etwas in Erfahrung bringen können … Aber wann genau habe ich Euch eigentlich gestattet, Eure Bettbekanntschaften mit hier hoch zu schleppen?!“ Shiko bekam einen hochroten Kopf, der nichts mit ihrem Fieber zu tun hatte. Nach einem verlegenen Räuspern entgegnete der Söldner: „Ich heiße Ohtah. Egal – das schöne Fräulein braucht dringend Hilfe … Arkanistenfieber; besonders stark ausgeprägt und schon viel zu lange nicht richtig behandelt. Sie ist mächtig … und stammt wie Ihr aus Nehrim.“ „Na gut, der Heimatgefühle wegen.“, brummte er wenig begeistert. Klerus führte Shiko zu einem Stuhl und webte einen Zauber, um ihren Zustand einschätzen zu können. Er staunte nicht schlecht – es fühlte sich tatsächlich seltsam für ihn an … vielschichtig wie bei einem Meister und gleichzeitig ganz anders. Es war eine unglaublich starke Kraft, wie er noch nie zuvor gehört oder gar selbst gespürt hatte! Bei ihrer Aura war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte … „Könnt Ihr ihr helfen?“, wollte Ohtah ungeduldig wissen. Mit einer wegwerfenden Geste erwiderte er: „Sicher, sicher. Es war gut, dass Ihr sie zu mir gebracht habt, Olaf. Auf Nehrim kennen wir so etwas wie eine >Abkürzung<“ „Wenn ich die magische Energie beherrsche, werden die Visionen ebenfalls kontrollierter?“, fragte Shiko, die an ihren Blicken ablesen konnte, dass sie absolut keine Ahnung hatten, worum es hier gerade ging, „Also, ich … Manchmal sehe ich Bilder, die nicht aus der Gegenwart stammen.“ Die angehende Arkanistin berichtete ihnen von den bisherigen Aktivierungen, die schon in ihrer Heimat begonnen hatten – jedoch verschwieg sie Klerus ihre Begegnung mit der verschleierten Frau. Die beiden Männer sahen sich an. „Oskar, geht sofort und holt den Großmeister!“, verlangte der Magier mit schneidender Stimme. Ohtah schaute noch einmal zu Shiko, bevor er davon eilte. Eine mulmige Vorahnung machte sich in ihr breit … Wenig später kehrte er mit einem hoch gewachsen Mann mittleren Alters zurück. „Mir wurde nur kurz geschildert, um was es geht. Meydame Shiko? Schreitet wohl! Mein Name lautet Tealor Arantheal, ich bin der Großmeister des Heiligen Ordens. Es mir eine Ehre …“, stellte sich der Hüter vor, „Bitte, berichtet mir ausführlich von Eurer >Hellsichtigkeit<.“ Noch einmal wiederholte Shiko also, was sie bereits Ohtah und Klerus erzählt hatte. Beinahe entglitten Tealor die Gesichtszüge und er sagte enthusiastisch: „Dann ist es wahr – bei Malphas! Die Menschheit steht vor einer Bedrohung, bei deren Bekämpfung Ihr unverzichtbar seid. Ihr wisst, was auf Vyn vor sich geht … all das sind erste Anzeichen, die sich seit Jahrtausenden in ähnlicher Form wiederholen und den Untergang der Menschheit bedeuten könnten. Die Pyräer, das Volk, welches vor uns gelebt hat, nannte dies die >Läuterung<. Das ist es, was Ihr in dieser ersten Vision auf Enderal gesehen habt … Wir wissen noch nicht, wie oder gar warum es geschieht, doch es ist eine bewiesene Tatsache – unser Zyklus endet! Ihr fühlt es, nicht wahr? Diese Visionen, die Ihr künftig hoffentlich noch häufiger haben werdet, sind Echos der Vergangenheit. Meine Aufgabe besteht darin, den Kampf zu organisieren – Ihr dagegen könnt uns durch Eure Gabe das nötige Wissen verschaffen; Ihr seid die Prophetin unserer Ära!“ Prophetin … so hatte die verschleierte Frau sie genannt! Shiko konnte nicht sagen, warum, aber sie zweifelte keine Sekunde lang an seinen Worten … nicht nachdem, was sie gesehen und auf dem Grund des Meeres erlebt hatte. Ohtah dagegen fühlte sich, als hätte man ihm eine saftige Ohrfeige verpasst und er haute geschockt raus: „Soll das ein Scherz sein?“ „Mitnichten. Glaubt mir, am Anfang haben wir genauso gedacht … die Zeichen lassen sich jedoch nicht übersehen. Wir haben die Überbleibsel der Pyräer genauestens studiert – so sind wir auch auf die Legende gestoßen.“, schilderte Tealor ihnen, „>Wenn dereinst die Menschheit ihren Höhepunkt erreicht und zum Aufstieg bereitet ist, wird sie erscheinen … die Prophetin mit der Sicht der Vergangenheit.< Wir brauchen Eure Hilfe und deshalb bitte ich Euch, tretet dem Orden bei! Dafür müsst Ihr jene Prüfung ablegen, welche die Novizen zu Hütern des ersten Siegels befördert. Um dem Zyklus entgegen zu treten, brauchen wir einen starken Bund – außerdem könnt Ihr so auf alle unsere Ressourcen zugreifen. Bedenkt, es wird sicher nicht leicht, einen Sieg zu erringen!“ Shiko war sprachlos. Eigentlich wollte sie nur geheilt werden … und danach? Vielleicht mit Ohtah auf Reisen gehen, Abenteuer erleben, die Welt sehen, ihre Vergangenheit vergessen. Doch jetzt, da der Großmeister dieses Wissen mit ihr geteilt hatte, hätte sie keine ruhige Minute mehr, wenn sie daran festhielt … Zu mehr als einem Nicken war sie nicht im Stande. Ohtah, der sich bereits an seine Kumpanin gewöhnt hatte, marschierte grimmig zur Tür hinaus. Shiko folgte ihm mit ihren Augen und wandte sich auch nicht ab, nachdem er schon längst verschwunden war … Tealor wollte schon wieder zu einer neuem Redeschwall ansetzen, da stoppte ihn Klerus: „Wenn Ihr wirklich gedenkt, sie für unsere Sache einzuspannen, solltet Ihr mich jetzt das Ritual durchführen lassen und ihr etwas Ruhe gönnen – sonst bleibt von Eurer Prophetin nämlich nicht mehr viel übrig.“ Etwas verblüfft stimmte der Großmeister zu und verabschiedete sich mit dem Versprechen, die Prüfung vorbereiten zu lassen. Klerus murmelte einige Worte der Macht – ein blauer Schein legte sich um Shiko, hob sie in die Luft empor. Es war, als würde die negative Energie aus ihrem Körper gezogen. „Eure Beschwerden sollten Euch nun im Alltag nicht mehr einschränken …vorausgesetzt Ihr achtet auf Euch; meidet eine größere Ansammlung von magischen Kristallen, übertreibt es weder bei Euch noch bei anderen mit Lichtmagie und tragt immer ein Fläschchen Ambrosia bei Euch, das Zeug hilft – ist aber nicht allmächtig.“, erklärte der Arkanist weit fürsorglicher, als er bislang gewirkt hatte. Befreit von dem Laster ihrer Magie fühlte sich Shiko … frei. Wie ein kleines Kind hüpfte sie durch die Straßen von Ark und badete sogar am großen Wasserfall nahe des Tempels, wofür sie ein paar echauffierte Blicke kassierte. Zunächst versuchte sie sich an ein paar einfachen Zaubern, etwa das Wasser nach ihrem Willen aufsteigen zu lassen. Wie Magie funktionierte, war grundsätzlich leicht erklärt – als erstes musste man selbstverständlich über die notwendige Begabung verfügen; zweitens brauchte der Anwender ein gewisses Maß an Vorstellungskraft, um die Gegebenheiten des Meers der Eventualitäten vor dem inneren Auge visualisieren zu können und diese Wirklichkeit werden zu lassen. Die Macht eines Arkanisten lag also nicht nur an der Menge von magischer Energie, die ihm zur Verfügung stand … Obwohl Shiko als einfache Bauerntochter aufgewachsen war, hatte dieser Umstand ihre Träume nur noch mehr angefacht. Feuer, Wasser, Erde und Luft gehorchten nun ihrem Willen – sie war eine Elementalistin der vier Elemente! Gegen Abend nahm Shiko den Weg ins Fremdenviertel und suchte nach einem bekannten Gesicht im Schrankraum der Taverne. Ohtah saß mit einem Krug Wein an einem der Tische und lauschte der Musik des Spielmannszugs. „Ein gut aussehender Söldner so allein?“, scherzte sie und setzte sich zu ihm. Er lächelte sie an und erwiderte: „Freut mich, dass du gekommen bist. Ziemlich was los gewesen da oben, nicht wahr? Vom Flüchtling zur Hüterin – das nenn´ ich mal einen Aufstieg! Da möchte man glatt wissen, wie es mit dir und deiner großen Rolle weitergeht …“ „Was hindert dich daran? Hat Meyser Heilbringer keine weiteren Aufträge für dich?“, fragte sie etwas verwirrt. Seufzend hob er das Gefäß an die Lippen und meinte anschließend: „Ich, ein offizieller Gesandter des Heiligen Ordens – ernsthaft? Nicht wirklich. Im Grunde war es auch eher ein Zufall, dass ich für ihn gearbeitet habe. Und um ehrlich zu sein, so schön es auf Enderal ist, habe ich mich eigentlich an diesem Land satt gesehen. In den nächsten Tagen verlässt ein Schiff den Hafen nach Kilé und ich überlege, dort anheuern.“ „Kilé war die Heimat meiner Mutter …“, murmelte sie in Gedanken und etwas trauriges lag in ihrer Stimme, „Auch sie ist vor einem Bürgerkrieg geflohen. Wer weiß, vielleicht gehe ich auch dorthin, wenn diese ganze Sache vorbei ist.“ Heftiger, als es nötig gewesen wäre, knallte Ohtah den Krug auf das Holz und knurrte: „Warum, Shiko? Warum willst du dein Leben riskieren?“ „Ich bin aus Nehrim geflüchtet, ohne etwas gegen das dortige Leid zu unternehmen. Und sollte Meyser Arantheal recht behalten, würde ich die ganze Menschheit verdammen, wenn ich mich aus dieser Geschichte heraushielte.“, verteidigte sie ihre Entscheidung. Ohtah´s Hände ballten sich zu Fäusten, die Wut stieg in ihm auf und spuckte die Worte regelrecht aus: „Heldenmut – das ist doch alles nur Heuchelei. Letztendlich wird jede >gute Tat< nur dargebracht, um gut dazustehen …“ „Vielleicht. Trotzdem … eine Heldin ist das, was ich sein möchte – ich will andere beschützen.“, gab sie schnippisch zurück und erhob sich vom Stuhl, „Wenn du damit nicht klar kommst, sollten wir uns besser nicht mehr sehen.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie. Eine Träne lief über ihre Wange. Seiketsu Es war Shiko etwas unbehaglich zumute, allein durch Enderal zu wandern. Der Prüfer und eine Novizin, die ebenfalls zur Hüterin aufsteigen wollte, warteten bereits am Rande des sogenannten »Flüsterwaldes«, in dem man besonders nachts Stimmen in den Baumwipfeln hören konnte, so erzählte man sich. Auf einer steinernen Brücke, genau wie ihr beschrieben worden war, entdeckte Shiko die beiden Mitglieder des Ordens – der Hüter musste etwa im selben Alter wie Tealor Arantheal sein; die Novizin glich eher ihr. Shiko bezog neben der jungen Endraläerin mit klaren, blauen Augen und schulterlangem, hellbraunen Haar Stellung. Damit lenkte sie ihre Konzentration auch endlich auf die vor ihr liegende Aufgabe und ihre Gedanken drehten sich nicht weiter wie bislang um Ohtah. Der Prüfer namens Jorek Bartarr musterte sie eingehend und sagte: „Ihr seid also die … Prophetin. Macht Euch bloß nichts vor, mich beeindruckt Ihr damit nicht. Ich hoffe, Ihr wisst, worauf Ihr Euch einlasst – die Novizen werden jahrelang auf diese Prüfung vorbereitet – und so sehr ich den Großmeister auch respektiere, das halte ich für leichtsinnig. So wird es wohl meine Ehre, die erste Wegelose in der Geschichte zur Hüterin zu erheben … Und jetzt genug der Formalitäten. Anwärter des ersten Siegels, folgt mir zum Ritualplatz im Flüsterwald!“ Sie marschierten auf einem Pfad durch das uralte Gehölz. Mit Klerus´ Warnung im Hinterkopf hielt sich Shiko von den kristallinen Gewächsen fern, die ihren Weg erleuchteten. Um dem Prüfer keine weitere Chance für einen hämischen Kommentar zu liefern, richtete sie ihren Blick in die Ferne – dort erblickte sie einen einfach gekleideten Mann, der mit einer Spitzhacke immer wieder in eine hölzerne Kiste schlug. Erst als die kleine Gruppe näher kam, entdeckten sie mit Schrecken das Blut und die Knochensplitter. „Seine Augen, Meister – es ist der Rote Wahnsinn!“, stellte die Novizin fest und zückte ihr Schwert. Der Mann bemerkte ihre Gegenwart nicht einmal wirklich und murmelte unentwegt: „Du bist nun bei mir, für immer. Für immer, hörst du? Du wirst mich nicht verlassen, nie mehr … Du hättest nicht gehen sollen. Du bist nun bei mir, für immer.“ Ohne es ahnen zu können, riss er sein blutiges Werkzeug auf einmal herum und hieb direkt auf Shiko´s Kehle zu. Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte sie noch einmal an Ohtah … Dann hörte sie Klirren und einen Schmerzenslaut. Fast konnte sie ihren eigenen Augen nicht trauen – ihre Begleiterin hatte den Schlag an ihrer Klinge abgleiten lassen und zum Gegenstoß angesetzt. Leblos sank der Körper zu Boden, das Glühen verschwand aus seinen Iriden. „Bei Malphas, hast du ebenfalls den Verstand verloren?!“, fuhr Jorek sie erbost an, „Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass wir die Krankheit verstehen lernen müssen, um sie zu heilen und dass manche Apothekarii für einen lebenden Besessenen ihre linke Hand gegeben hätten?!“ Um Vergebung bittend ging sie auf die Knie, er brummte zustimmend. Da begriff Shiko, warum Ohtah so wenig vom Orden hielt und kein dauerhafter Teil davon sein wollte. Sie selbst mochte denken, was sie wollte – ihr ging es nicht um den Glauben, sondern um die Aufgabe … sie wurde gebraucht und vielleicht konnte sie so zumindest etwas Buße tun. Sie zogen weiter Richtung Ritualplatz. Dort stieg die Zweckgemeinschaft die Stufen zum wettergegerbten Altar hinauf, auf dem eine einzelne Kerze brannte. „Dies ist der erste Stützpunkt – hier haben Malphas´ Vasallen ihr Lager errichtet, als sie dieses Land betraten. Benehmt Euch also entsprechend!“, sagte der Hüter und natürlich galt der letzte Teil vor allem Shiko, „Bevor wir beginnen, gibt es noch etwas, das ich euch mitteilen muss … Also, die Gerüchte sind wahr – die Lichtgeborenen sind tot, seit mehr als zwei Wintern schon.“ Anders als Shiko traf diese Nachricht die zweite Anwärterin bis ins Mark und sie stotterte fassungslos: „A-aber … wie nur können Götter … sterben?“ „Seit ihrer ersten Offenbarung existierte eine Prophezeiung, in der von einem >Schattengott< die Rede ist, der ihre Herrschaft beenden würde … und sie bewahrheitete sich, leider.“, fuhr der Prüfer mit belegter Stimme fort, „Ich wünschte, dies wäre nur eine Prüfung des Glaubens – die Ideale der Lichtgeborenen bleiben bestehen. Die Welt braucht unseren Schutz, mehr als jemals zuvor.“ „>Und bin ich auch nicht vor euren Augen, lebt stets meine Tugend.< Buch zwölf, Vers dreiundneunzig …“, brachte die Braunhaarige mühsam über die Lippen. Damit schien das Thema vorerst beendet. Jorek reichte ihnen jeweils zwei rote Fläschchen, deren Inhalt sie zu sich nehmen sollten. Es schmeckte fad und gleichzeitig brannte es. Shiko wurde schwindlig, ihre Beine schwach – anders als durch die Auswirkungen ihrer Magiebegabung fühlte sie sich jedoch nicht stark, nur taub. Den Aufprall auf dem Boden merkte Shiko schon gar nicht mehr. Der Novizin war es nicht anders ergangen. Der Prüfer hob das Schwert, um mögliche Gefahren abzuwehren, und rezitierte ihren Leitsatz: „>Du bist mein Licht, dein Name ist mein Sakrament, deinen Pfad will ich ehren ... im Leben und im Tod.<“ Die Sonne verschwand gerade hinter der Hügelkette. Zeit für sie nach Hause zu gehen. Hüpfend nahm sie den sich windenden Pfad zu der kleinen Hütte. Das Holz war vollständig gehackt und zu einem Stapel aufgeschichtet. Sie ging hinein. Die Tür zur Küche öffnete sich wie von Geisterhand und sie konnte sich nicht mehr rühren geschweige denn sprechen. „Dieses verfluchte Balg! Ich hätte es direkt nach der Geburt ertränken sollen!“, schrie ihr Vater und holte mit der Hand aus. Seine Frau landete am Boden, während sie wimmerte: „Bitte, es ist nicht wahr – sie ist deine Tochter. Siehst du dich nicht in ihr?“ „Pah, glaubst du ernsthaft, mein eigenes Kind würde mich töten?“, entgegnete er zornig und schlug mit den Fäusten mehrmals auf ihre Mutter ein, bis er sich schließlich an Shiko wandte, „So wäre es fast gekommen, weißt du? Kurz bevor du dich selbst um uns … gekümmert hast, hatte ich mir fest vorgenommen, euch beide umzubringen. Dann hättest du dir nicht dieses lächerliche Spiel ausdenken müssen – du als Retterin von Vyn? Ach, mein Dummerchen, das glaubst du doch selbst nicht. Das Märchen der ruhmreichen Prophetin … Eigentlich gar nicht so schlecht, hattest du schon immer so viel Fantasie? Das ist erbärmlich, du bist einfach erbärmlich!“ Ihr Vater kam auf sie zu, die Hände Blut verschmiert. Alles in ihr schrie, aber kein einziger Laut wollte herauskommen. Mit den Fingerspitzen fuhr er die Konturen ihres Gesichts nach und verweilte schließlich auf ihren Lippen. „Ich hätte dich als Sklavin verkaufen können … Du hast ja das schöne Gesicht deiner Mutter geerbt. Tja, leider zu spät, nicht wahr? Da fragt man sich doch ernsthaft, was im Kopf dieses Söldners vor sich geht, dass er dich abgewiesen hat.“, fuhr er nachdenklich fort. Ohtah … sein Name schickte neue Energie durch ihren Körper, Hitze wallte in ihren Adern und sie erlangte die Fähigkeit zu sprechen wieder: „Du bist nicht real – ich spüre es. Du bist nur ein Alptraum … Ich habe lange genug an mir gezweifelt!“ Eine Träne trat über ihre Augenränder. Flammen schossen aus ihren Handflächen. Als Shiko diesmal die Augen öffnete, befand sie sich in einem fremden Raum mit mehreren Betten und ein Feuer brannte im Kamin. Auf einem der Sessel, die davor standen, saß Ohtah! „Du bist wach, endlich!“, begrüßte er sie wie üblich gut gelaunt, „Die Apothekarii des Ordens waren zwar optimistisch, aber ich habe mir trotzdem Sorgen gemacht.“ Erneute Tränen stiegen in ihr auf und sie hauchte ungläubig: „Du hast das Schiff nicht genommen?“ „Wie hätte ich das denn tun können, nachdem du mich bei unserem Abschied so traurig angesehen hast?“, entgegnete er schelmisch und näherte sich ihr, „Es geziemt sich nicht, ein solch schönes Fräulein zum Weinen zu bringen … Vor allem wenn es ohnehin schon so erbärmlich ist, wie du!“ Schrecken zierte ihr Gesicht. Plötzlich erschienen die Novizin, Klerus und Tealor neben ihm. Voller Verachtung betrachteten sie die Rothaarige. „Wir wollten Euch kennenlernen … Prophetin. Ihr stellt keine Bedrohung für uns da.“, sprachen die vier Personen mit einer fremden Stimme im Chor, „Ihr könnt die Läuterung nicht aufhalten!“ Erst begann Ohtah sich in einem roten Leuchten aufzulösen, dann ging die Anwärterin, direkt gefolgt von Klerus und Tealor. Shiko stürzte ins Bodenlose … Noch einmal erwachte Shiko in diesem Raum, wieder wärmte ihn der brennende Kamin. Doch die Sessel waren leer … An einer Wand lehnte die Novizin – nein, die Hüterin und sagte: „Malphas sei Dank, ich hatte schon befürchtet, nur ich hätte es geschafft. Du siehst noch etwas mitgenommen aus … Ich wusste ja, die Prüfung würde eine nervenaufreibende Erfahrung werden, aber das … Na ja, der Großmeister hat mich über alles in Kenntnis gesetzt und entschieden, dass ich dich von nun an auf deine Missionen begleiten soll. Da fällt mir ein, in all dem Trubel habe ich ganz vergessen, mich vorzustellen! Ich bin Seiketsu, Seiketsu Lichtsegen.“ „Nenn´ mich Shiko – >Prophetin< höre ich ohnehin schon zu oft. Danke, dass du mich im Flüsterwald gerettet hast. Freut mich, dich kennenzulernen!“, antwortete Shiko ehrlich. Vom ersten Moment an war da ein tiefes Vertrauen ihr gegenüber gewesen. Sowohl Ohtah als auch Seiketsu ließen in ihr das Gefühl aufwallen, dass sie ihre Heimat nicht verloren, sondern gerade erst gefunden hatte. „Geht mir genauso.“, stimmte die Braunhaarige ihr zu, dann wurde ihr Blick ernster, „Während dem Noviziat hatte ich eigentlich nie Freunde … Da du nun Teil des Ordens bist, will ich dir meine Geschichte lieber selbst erzählen.“ Noch etwas, was sie also mit Shiko und Ohtah gemeinsam hatte … Seiketsu erinnerte an nichts, was vor ihrem sechsten Lebensjahr war – weder wo sie geboren worden war, noch wer ihre Eltern waren. Außer an ihren Namen … Eines Nachts war sie vollkommen kraftlos und im Dreck liegend in einem fremden Dorf aufgewacht. Ihr war übel gewesen und sie hatte sich so … leer gefühlt. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit die Kraft gefunden hatte aufzustehen, begriff das junge Mädchen erst, was um es herum geschah. Die Häuser standen in Flammen und überall all lagen Leichen … Männer, Frauen und Kinder – dieses beschriebene Szenario jagte Shiko einen Schauer über den Rücken. Das Dorf war derart zerstört worden, als wäre ein Todesgott durch die Straße gefegt … Auf einmal kamen drei Reiter durch die Rauchschwaden auf sie zu. Einer von ihnen zeigte erschrocken auf Seiketsu und verpasste ihr einen Schlag, sodass sie das Bewusstsein verlor. Während sie einige Zeit später langsam wieder zu sich kam, lauschte sie ihrem Gespräch – offenbar hatte der ortsansässige Pater sie nur wenige Tage zuvor gefunden und mitgenommen. Und da sie aus irgendeinem Grund dieses Massaker überlebt hatte, dachten die Männer, Seiketsu wäre dafür verantwortlich … ein Dämonenkind, das ihre Familien abgeschlachtet hätte. Sie hätte nicht mehr sagen können, wie, doch ihr gelang es aus dem Lager der Männer zu fliehen, bevor sie ihre Rachegelüste an ihr in die Tat umsetzen konnten. Sie schaffte es sogar bis nach Ark … dort brachte man sie selbstredend in die Unterstadt. Rückblickend war es wohl ein ziemliches Wunder, dass sie die Zeit allein überstanden hatte … Aber wäre eines Tages nicht Tyras Jareth Dal´Gawyn vom Heiligen Orden erschienen, um nach den Kranken zu sehen, und hätte sie aufgenommen, könnte sie Shiko nun wahrscheinlich nicht mehr davon erzählen. Da er ein angesehenes Mitglied war, hatte er ihr irgendwie das Noviziat ermöglicht. Kurz darauf verstarb er … Sie schwiegen eine ganze Weile, bevor Shiko schließlich sagte: „Es tut mir leid, was dir widerfahren ist … Danke, dass du es mir anvertraut hast.“ Ein trauriger Ausdruck trat in ihr Gesicht, als sie entgegnete: „Du wirst früh genug jemand treffen, der mich trotz unseres Kodex >Hexe< oder gar >Dämon< nennt – so bist du wenigstens darauf vorbereitet.“ „Ich sehe in dir eher einen Engel.“, meinte Shiko und ihr Lächeln drang bis in Seiketsu´s Herz vor. Ein Leuchtfeuer der Hoffnung Die Gebetsbänke des Sanktums waren nur spärlich besetzt – nicht einmal ihr Prüfer war zur Zeremonie erschienen. Ein paar junge Novizen wollten sich die Weihe dennoch nicht entgehen lassen. Ein Teil von ihr hätte sich Ohtah an ihrer Seite gewünscht … Überrascht wurde sie dagegen von Klerus´ Anwesenheit – allerdings nur, weil er etwas dringendes mit dem Großmeister zu besprechen hatte. „Meine Brüder und Schwestern, heute wollen wir zwei neue Mitglieder in unseren Kreis aufnehmen, die die rituelle Prüfung bestanden und sich als wahrhaft würdig erwiesen haben!“, hob Tealor Arantheal die Stimme an, „Dennoch fühlt ihr Misstrauen, weil niemals zuvor eine Fremde die Weihe erhalten hat und das verstehe ich … Aber anstatt vor der Gefahr zu fliehen, hat diese Frau die Aufgabe angenommen, die das Schicksal ihr zugedacht hat – sie ist bereit für jeden einzelnen auf ganz Vyn ihr Leben zu riskieren. Und genau das ist der Schwur eines Hüters!“ Auf seinen Wink hin traten Shiko und Seiketsu vor die gewaltige Statue des Lichtgeborenen Malphas, die bis unter die hohe Decke reichte, und knieten vor dem Großmeister nieder. Nach einem kurzen Blickwechsel antworteten die beiden synchron: „>Von nun an lebe ich, um zu beschützen … dieses Land, den Pfad und alle, die darauf wandeln – bis der Tod mich meiner Pflicht enthebt!<“ „Erhebt euch als Hüter des ersten Siegels!“, sprach Tealor stolz. Seiketsu und Shiko umarmten einander. Was auch immer sie verband, war nun noch stärker. „Glückwunsch, Glückwunsch – so, da das jetzt erledigt ist, können wir uns dringlicheren Themen zuwenden?“, wollte Klerus leicht genervt wissen, „Habt Ihr Octavian ausrichten lassen, dass ich ihn brauche? Und bevor Ihr davon anfangt – es ist mir egal, was der Orden davon hält. Er ist fähiger, als zehn von Euren Männern!“ Shiko räusperte sich: „Ähm, Meyser Heilbringer, aber hat Ohtah nicht bereits das Land verlassen?“ „Wovon sprecht Ihr? Wenn das wirklich so wäre, hätte man uns informiert. Was man auch davon halten mag, dieser Verein hat seine Augen und Ohren überall.“, entgegnete er und wartete die Antwort des Großmeisters ab. Das Herz der Elementalistin schlug schneller. Der Traum war zu grausam gewesen … und es schmerzte sie, wie sie in der Taverne auseinander gegangen waren. Wenn er wirklich nicht nach Kilé fuhr … was hatte ihn zurückgehalten? Sie erlaubte sich nicht, eine Meinungsänderung mit ihr in Verbindung zu bringen. Wahrscheinlich war er einfach vom Kapitän abgewiesen worden. Während Klerus und Tealor in ihr Gespräch vertieft waren, bemerkten sie nicht, was in Shiko vor sich ging – anders als Seiketsu. Man hätte ihr die Gefühle auf die Stirn schreiben können und es wäre nicht deutlicher gewesen. „Prophetin, folgt mir bitte ins Chronikum.“, riss der Arkanist Shiko zurück in die Gegenwart, „Ich möchte, dass Ihr beim Ritual dabei seid.“ Um nicht unhöflich zu sein, nickte sie nur, obwohl sie überhaupt nicht mitbekommen hatte, wovon er gesprochen hatte. Seiketsu hatte sie vor der Zeremonie herumgeführt – daher wusste Shiko, dass im Chronikum nicht nur sämtliches Wissen und bedeutende Artefakte aufbewahrt wurden, außerdem wurde dort Forschung betrieben. Direkt darunter befand sich die Tempelschmiede. Das Gebäude daneben wurde »Scuola« genannt, es war die Ordensschule. Im Emporium auf der gegenüberliegenden Seite tagte der Rat. Und dann gab es noch den »Götterblick«, von dem aus man ganz Ark überblicken konnte. Klerus brachte sie in den höchsten Stock und zeigte ihr mehrere violette Steinsplitter, während er erklärte: „Dies sind die Fragmente eines Siegelsteins, die wir bei Ausgrabungen gefunden haben. Laut den Schriften der Pyräer bieten sie ihrem Träger nach Aktivierung Schutz vor dem Roten Wahnsinn – leider werden sie nicht für die Bevölkerung ausreichen.“ Er nahm die Schriftrolle mit den magischen Formeln zur Hand. Während die Worte der Macht erklangen, wurde Shiko leicht schwindlig. Ihr Blick fokussierte sich auf die Steine, die immer näherzukommen schienen. „Die Hohen haben gesiegt – die Läuterung wird passieren …“, sagte eine ihr unbekannte Stimme mit verzweifeltem Unterton, „Wir können nicht fliehen! Nirgends wären wir vor ihnen sicher.“ Genauso schnell wie die Vision begonnen hatte, war sie wieder zu Ende. Das Schimmern ließ Klerus vor Freude in die Hände klatschen. Die Rothaarige strich mit den Fingern vorsichtig über die Kante, um sich nicht zu daran zu verletzen. Der bittere Geschmack verschwand, den sie seit Ende der Prüfung auf ihrer Zunge gespürt hatte – es war also gar nicht der Trank gewesen! „Ich fühle mich irgendwie … klarer.“, sagte Shiko und begann von ihrem Erlebnis im Traum sowie ihrer neuesten Vision zu erzählen. Aufmerksam hörte Klerus ihr zu und dachte noch eine ganze Weile nach, bevor er das Wort wieder ergriff: „Das bedeutet, unser Feind hat nun einen Namen … die >Hohen< – so wie Ihr es beschreibt, scheint der Schutzmechanismus auch ihr Eindringen zu verhindern. Wir müssen sofort den Großmeister davon in Kenntnis setzen, damit die Fragmente schnellstmöglich verteilt werden.“ Gesagt, getan und Tealor lobte ihre Gabe: „Ich hätte einen Bruchteil dessen bereits als Erfolg gewertet! Deshalb möchte ich auch, dass Ihr die nächste Mission leitet. Bei einer unserer Ausgrabungen sind wir auf die Einzelteile einer Maschine gestoßen, von der wir glauben, dass sie die Pyräer vor der Läuterung retten sollte. Der Zyklus wirkt auf einer Ebene, die wir noch nicht einmal ansatzweise verstehen, wie eine Art kosmische Gewalt – wir können die Hohen also nicht bekämpfen, wie einen Gegner aus Fleisch und Blut … Aber um das ganze Geheimnis zu lüften, brauchen wir Eure Visionen, Prophetin!“ Er zeigte ihr den Ort auf der Karte, der unweit von Ark entfernt lag. Laut seinem Befehl wurde sie vor den Stadttoren bereits erwartet – allerdings nicht von Ohtah, wie die Elementalistin für einen kurzen Augenblick gehofft hatte. Seiketsu trug ihre neue Rüstung, samt des roten Umhangs mit dem Wappen des Ordens und hatte ein neues Schwert sowie dazu passenden Schild erhalten – auch Shiko war in ihrer weißen Robe wie eine Hüterin gewandet. So brachen die beiden Frauen in Richtung Westen auf. Die Ausgrabungsstätte der Ruine lag mitten im Wald, was bedeutete, dass in Zukunft weit weniger Verlorene auf diesem Weg anzutreffen wären. Oberhalb der Erdoberfläche markierten lediglich ein paar eckige Gesteinsbrocken die Stelle, an der früher ein Tempel gestanden hatte. Die Archäologen wiesen ihnen den Weg hinab und schnell begriff Shiko, warum ausgerechnet sie hier vor Ort so wichtig war – kurz nach seiner Entdeckung war der Zugang verschüttet worden und nun sollte sie unter anderem nach einer zweiten Möglichkeit suchen. Einer der Gänge führte in einen Höhlenabschnitt, in dem vier gewaltige Glocken aufgebaut waren. Auf dem Podest kniete zudem eine geschwärzte Leiche – doch kein Feuer hatte sie verbrannt. Shiko schluckte hart. Genauso sahen die Überreste der Pyräer aus, die sie nach ihrer Begegnung mit der verschleierten Frau gesehen hatte … dies war das Ergebnis der Läuterung! Die Vision kam diesmal nur schleichend, fast sanft und sie hörte die Glocken in einer bestimmten Reihenfolge erklingen. Ihre Begleiterin bemerkte ihren Zustand: „Shiko, ist alles in Ordnung? Du siehst so blass aus.“ „Das Echo …“, erklärte sie, während sie sich umsah, „Dies scheint, ein geheimer Eingang zu sein.“ Die Arkanistin stellte sich neben den Toten auf die Plattform, dicht gefolgt von Seiketsu, und aktivierte die Glocken nacheinander mit einem magischen Luftschoß. Als die letzte von ihnen verklungen war, begann die Bodenplatte einen Schacht hinunter zu fahren. Unten angelangt folgten sie dem angrenzenden Tunnel, der in eine große Höhle mündete. Dort fanden sie eine Art Werkstatt und trotz dessen, dass alles vollkommen zerstört war, erkannte Shiko die Ähnlichkeiten zu jener Maschine aus ihrer vergangenen Vision … „Ja, die Läuterung kommt näher.“, erklang eine andere Stimme als im Chronikum in ihrem Kopf. Fasziniert trat sie näher, als plötzlich mehrere Banditen aus den Schatten hervorsprangen. In diesem kurzen Überraschungsmoment gelang es einem von ihnen, Shiko zu Boden zu stoßen. Da ertönte gleich einer Kettenreaktion ein furchterregendes Brüllen … Etwas benommen beobachtete die Elementalistin, wie Seiketsu – eingehüllt von einer wabernder Finsternis – auf die Feinde zustürmte. Doch sie griff nicht etwa mit ihrem Schwert an … es waren lange, gebogene Krallen, welche sie in die feindlichen Körper schlug. Innerhalb weniger Sekunden war alles vorbei … Sofort musste Shiko daran denken, was Seiketsu ihr über das Dorf erzählt hatte – ein Todesgott hätte dafür verantwortlich sein können. Erschöpft sackte Seiketsu – in ihrer ursprünglichen Gestalt – zusammen und versuchte mit abgewandtem Blick ihren eigenartigen Zustand zu erklären: „Ich … war gerade nicht ganz ich selbst und nicht ganz ehrlich zu dir, was mich betrifft. Dieses … Ding, das du gerade gesehen hast, ist wie eine zweite Seele in mir, die stetig versucht, die Kontrolle über mich zu erlangen, sobald ich nur den kleinsten Funken Schwäche zulasse. Ich weiß, was du jetzt denkst … Ich habe mir die Frage ebenfalls oft gestellt – war nicht doch ich für die Zerstörung dieses Dorfes verantwortlich? Nur mit Meister Tyras habe ich diese Befürchtung geteilt. Es tut mir leid, Shiko, ich hatte Angst … Du solltest mich nicht auch noch als … >Monster< sehen. Das klingt so absurd … Ich würde verstehen, wenn du nicht glaubst, dass das nicht ich getan habe – zumindest nicht direkt. Ich war naiv zu glauben, ich wäre inzwischen stark genug, um es nie mehr so weit kommen zu lassen …“ Es war schwer diesen Anblick und ihre Worte zu verstehen. Shiko griff nach ihrer Aura. Wie erwartet lag keinerlei böse Absicht darin. Erst als sie noch tiefer drang, entdeckte sie die schlafende Dunkelheit. Es war jedoch keineswegs menschlich … „Ich habe keine Ahnung, was das in dir ist … aber ich habe meine Meinung über dich nicht geändert – ich mag dich, Sei.“, sagte Shiko nach einer ganzen Weile des Schweigens wahrheitsgemäß, „Du bist bist keine Mörderin … Und dennoch versuchst du diese Taten zu sühnen, weil du dir eine Mitschuld gibst.“ Seiketsu starrte sie mit offenem Mund an. Wie konnte sie das einfach so hinnehmen? Ob sie genauso wie die Endraläerin dieses merkwürdige Band zwischen ihnen spürte, welches von Beginn an zwischen ihnen bestand? Und Shiko hatte sogar ihre Motive erkannt … „Lass´ uns jetzt nachsehen, ob wir irgendwelche Teile bergen oder sogar Baupläne finden können.“, wechselte Shiko abrupt das Thema und zog ihre Gefährtin auf die Füße. Ihr Leben lang war Seiketsu fast nur auf Ablehnung gestoßen und selbst die gläubigsten Hüter hatten sie wie eine Aussätzige behandelt; dankbar murmelte sie: „Mich hältst du für einen Engel … du bist wahrhaftig meine gute Fee.“ Shiko hatte sie trotz der geringen Lautstärke genau verstanden. Eine Fee … ja, die Fee der vier Elemente, so wollte sie sich von nun an selbst sehen. Von den Trümmern war nicht mehr viel zu retten. Zum zweiten Mal an diesen Tag kam Shiko´s Luftzauber zum Einsatz, damit konnte sie die schweren Metallteile verschieben. Unter einer der Platten entdeckte sie einen matten Kristall. Als sie ihn berührte, hörte sie den Pyräer sagen: „All die Energie ist nutzlos ohne den Numinos.“ Numinos? Davon hatte die Rothaarige noch nie etwas gehört. Doch da es so klang, als würde die Maschine ohne ihn gar nicht erst funktionieren, packte sie das Objekt in den Reisebeutel auf ihrem Rücken. Da winkte Seiketsu sie heran. Die Hüterin hatte in einem Arbeitszimmer etwas gefunden – auf dem steinernen Schreibtisch lag umhüllt von einer magischen Kuppel ein Blatt Pergament. „Meine Hand ist an dem Bannkreis abgeprallt – vielleicht gelingt es ja dir.“, bemerkte sie hoffnungsvoll. In ihrem Geist hielt sich Shiko ihre Rolle vor Augen – als Prophetin war es ihr Schicksal gegen die Hohen zu kämpfen. Und so löste sich der Zauber unter ihren Fingern. „Das ist es – unser >LeuchtfeuerSchöpfertempel< sind endgültig vernichtet.“ Shiko´s Augen weiteten sich vor Erstaunen. Sie hatte im Süden gelebt und ihr ganzes Leben die Lehren des Tempels gehört … Als Kind waren ihr die Sonnenkrieger stets unbesiegbar erschienen, wenn auch nicht gerade anbetungswürdig. Lange wäre ihr Zuhause wohl ohnehin nicht mehr vom Krieg verschont geblieben … „Er hat das Land unter der Flagge der >Freien Völker Nehrim´s< vereint. Sein Ziel ist es, die Religion als solche und alle Überbleibsel der Götter auszulöschen! Und Enderal ist der Inbegriff des Glaubens … Diese Missionierung haben wir meinem Sohn zu verdanken.“, fuhr der Großmeister mit ernster Miene fort. Nun schaltete sich Klerus ein: „Zudem vermuten wir, dass er von unserem Widerstand gegen den Zyklus weiß, diesen aber für … wünschenswert hält.“ „Wir sprechen weiterhin von der Vernichtung der Menschheit, ja?“, entfuhr es der Rothaarigen. Der Arkanist nickte bestätigend: „Er könnte die Hohen als Boten eines neuen Zeitalters sehen. Vielleicht hält er sich sogar für eine Art … Messias.“ „Wir brauchen Gewissheit! Kennt Ihr die sogenannten >SilberplattenGerechtigkeit kennt keine Kompromisse< … Egal, wer der Angeklagte war, mein Vater begegnete allen gleich. Du magst jetzt denken, so solle es doch sein … und wahrscheinlich würde ich dir sogar zustimmen, wären die Umstände anders gekommen. Eines Tages stand der Sohn eines Arker Erhabenen vor den Zwölf – einzig Ken Dal´Taiyo stimmte für eine Verurteilung. Eine Woche später stand unser Anwesen auf der Halbmondinsel in Flammen … Außer ihm kamen meine ältere Schwester und meine zwei jüngeren Brüder darin um. Ich bin der einzige Überlebende, weil ich mich wie des öfteren schon nachts zum Spielen hinausgeschlichen habe. Das Feuer war meilenweit zu sehen und ich rannte zurück – aber es war zu spät, es stürzte bereits ein. Ich weiß nicht mehr genau, was mich damals getroffen hat. Der Schmerz ließ mich zurücktaumeln … Einige Tage später kam jemand, um nach dem Rechten zu sehen, weil mein Vater natürlich nicht zur Arbeit erschienen war. Seitdem bin ich nicht mehr dort gewesen … jedenfalls nicht in wachem Zustand.“ Gänsehaut breitete sich über ihrem Körper aus. Feuer … Ihre Vergangenheit schien sie partout nicht loszulassen. Nun auch noch Ohtah. Bei dem Rest der Fahrt schaffte sie es nicht mehr, ihm in die Augen zu sehen … Als sie auf der Halbmondinsel ausstiegen, hielt Shiko ihn zurück: „Ohtah, warte … Willst du nicht das Grab deiner Familie besuchen? Wir befinden uns am Rande eines Krieges … Dies ist möglicherweise die letzte Gelegenheit, die sich dir bietet. Noch haben wir es hier nur mit einem Bruchteil der nehremesischen Armee zu tun – ich werde die Mission schon irgendwie schaffen.“ Ohtah seufzte resigniert. Sie hatte natürlich recht … Ihm waren bereits ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen. Er griff nach ihrer Hand und berührte diese mit seinen Lippen. Eine verlegene Röte legte sich auf ihre Wangen. „Pass´ auf dich auf …“, sagte der Söldner leise, bevor er in den Ausläufen des Dschungels verschwand. Gleichzeitig mit der Dunkelheit kam das Feldlager in Sicht. Da durchfuhr Shiko auf einmal ein stechender Kopfschmerz und ein rotes Leuchten erschien vor ihr. Es war dasselbe Wesen, von dem sie nach ihrer Prüfung geträumt hatte … ein Hoher! „Sieh´ mal einer an – die Prophetin hält sich wacker. Ihr fragt Euch sicher, was wir diesmal von Euch wollen … Ihr amüsiert uns und seid weit gekommen. Nichts ist spannender, als eine Ernte, die sich wehrt!“, sprach er überheblich, „Also, Prophetin, wir werden Euch die Fragen wahrheitsgemäß beantworten, die Ihr auf dem Herzen tragt …“ Doch die Elementalistin blieb misstrauisch: „Warum sollte ich Euch glauben?“ „Wisst Ihr, was uns als wahre Gottheit von einfachen Götzen wie euren Lichtgeborenen unterscheidet? Wir können die Welt allein mit unserem Willen formen – aber es würde uns langweilen, Eure jetzige Existenz ohne Gegenwehr zu beenden …“, erklärte der Hohe und berichtete weiter über ihr Sein als Prophetin. Laut ihm hätte sie diese Rolle nur deshalb übertragen bekommen, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen wäre. Lächerlicherweise hielt sich der Anführer der Nehremesen ebenfalls für einen Schicksalsboten … dabei waren die Hohen weder ihm noch Tealor Arantheal jemals erschienen. Denn einzig sie würde über den Ausgang dieses Spiels entscheiden – zumindest wenn sie so lange überlebte. Während sie nämlich dieses innere Zwiegespräch geführt hatte, war ihr Körper in der realen Welt zusammen geklappt – und wurde von einer Patrouille Soldaten aufgegriffen. Nach einiger Zeit kam Shiko wieder zu sich und eine männliche Stimme meinte: „Ihr seid wach … Ich gehe davon aus, dass Ihr keine Schwierigkeiten machen werdet, während wir uns unterhalten.“ So verschnürt wie sie war, hatte die Rothaarige ja ohnehin keine eine andere Wahl … Frustriert nickte sie. Man nahm ihr die Augenbinde und den Knebel ab. Die magiebannenden Fesseln blieben jedoch. Vor ihr stand ein gepflegter Soldat, auf dessen Brust das nehremesische Wappen prangte und auf beiden Seiten von ihm standen seine Leibwächter. „Ich bin Taranor vom Blute Coarek, Repräsentant der Freien Völker Nehrim´s. Wer seid Ihr und warum habt Ihr Euch in der Nähe dieses Lagers herumgetrieben?“, verlangte er zu erfahren. Nur eine Sekunde lang erwähnte Shiko zu lügen, bis ihr die Methode des Schöpfers einfiel – im Tempel waren »Sünder« durch einen speziellen Zauber entlarvt worden. Nun da ihre ganze Heimat seinem Kommando folgte, konnte sie nicht ausschließen, dass jemand in seinen Reihen diesen gerade auf sie wirkte. Daher antwortete sie: „Shikon. Ich wurde vom heiligen Orden geschickt, um mit Hilfe einer Silberplatte Informationen über Euch und Eure Absichten einzuholen.“ „Ich wusste es – diese Situation schreit geradezu nach seiner Handschrift!“, entgegnete Taranor knurrend, „Hört Ihr mich, Tealor Arantheal? Ich will Euch eine Chance geben … Wir wissen, dass Ihr gegen die Hohen kämpft. Dabei wollt Ihr offenbar nicht verstehen, was sie für die Menschheit bedeuten – Evolution! Hier also unser Angebot … Wir werden dafür sorgen, dass die Läuterung geschieht – notfalls mit Gewalt, wenn Ihr ablehnt.“ Da erklang auf einmal Tealor´s Stimme aus ihrem Reisebeutel: „Eigentlich hätte ich gedacht, Ihr hättet nach zwei Dekaden genug vom Krieg. Bedenkt die Ausmaße – es würde unschuldiges Blut kosten! Ich kann diesen Wahn nicht unterstützen …“ „Elender Narr … Er hat zu meinem Bedauern genauso reagiert, wie erwartet. Und ist Euch aufgefallen, dass er gar nicht nach Euch gefragt hat? Ihr habt allerdings nicht gelogen … deshalb kann ich als Mann von Ehre Euch nicht töten, aber Ihr seid trotzdem mein Feind … Ich werde also den Zufall über Euer Schicksal entscheiden lassen. Wenn Ihr überlebt, gut für Euch – wenn nicht, soll es eben so sein.“, meinte er und wandte sich an einen seiner Untergebenen, „Bringt sie auf ein Floß!“ Sie lief den Weg zu ihrer Hütte entlang. Ihr Vater war wieder einmal beim Holzhacken. „Na, wenn das nicht mein kleiner Liebling ist … Bist du immer noch auf der Suche?“, fragte er und winkte sie zu sich, „Jetzt komm´ schon rein, ich habe eine Überraschung für dich!“ Sie folgte ihrem Vater in den Wohnbereich. Dort saß auf einem der Stühle ihre Mutter, deren Haut mit Verbrennungen übersät war … Als ihr Vater sie wieder ansah, zeigte sein Äußeres dieselben Verletzungen. „Ich habe deine Mutter gefunden! Aber … ich schätze, was wir Toten nun tun, interessiert dich nicht mehr, nicht wahr, mein Kind? Du hast ja schließlich deine große Aufgabe! Dabei vergisst du etwas – wir waren nur fromme Bauern … keine Familie, die Helden hervorbringt. Warum solltest ausgerechnet du etwas aufhalten können, was sich seit Jahrtausenden kontinuierlich wiederholt? Du bist doch nur ein mordendes, dummes Drecksbalg – wie willst du überhaupt Leben retten? Deine Magie spiegelt dich selbst … pure Zerstörung! Und tief in dir, weißt du das auch.“, warf er ihr vor, doch dann wurde seine Stimme weicher … gar flehend, „Sag´ mir, warum weigerst du dich aufzugeben? Dein Platz ist hier bei uns, im Reich der Toten … Wir vermissen dich doch so sehr! Lass´ dich einfach fallen, mein Kind …“ Der Raum ging wie gewohnt in Flammen auf. Da spürte Shiko, wie sie jemand von hinten an der Schulter packte und an ihr rüttelte. Ihre Eltern verschwanden vor ihrem Blick, stattdessen schwebte das Gesicht einer Frau über ihr – es war eine endraläische Fischerin, die sie im Meer treibend aufgegabelt hatte. Des Teufels Bann Bei ihrer ersten Ankunft in Ark hatte Ohtah sie vor der Unterstadt gewarnt … ein zwielichtiger Ort, der nichts für sie wäre. Dennoch war Shiko drauf und dran dort hineinzuspazieren. Warum? Eine sehr gute Frage … Wegen einem Gerücht, das sie bereits durch die gesamte Stadt getrieben hatte. Nachdem sie sich in Dünenhaim einem Händler anschließen konnte, der sie in seiner Kutsche mit zurück zur Hauptstadt genommen hatte, war sie zum Tanzenden Nomaden gegangen, in der Hoffnung, Ohtah wäre bereits vor ihr angekommen – doch sein auf unbestimmte Zeit gemietetes Zimmer war verwaist … Stattdessen hatte sie durch Zufall das Gespräch einiger jungen Frauen mitangehört, ein gutaussehender Söldner mit einer markanten Narbe im Gesicht würde durch die Tavernen ziehen. Natürlich, es gab sicher mehrere Männer, auf die diese Beschreibung zutraf – vor allem da Shiko noch nicht einmal im Orden nach ihm gefragt hatte. Doch ihr Gefühl sprach überdeutlich davon, dass es sich um Ohtah handeln musste … Deshalb war sie den Erzählungen durch ganz Ark gefolgt, bis ihr der Wirt im Adelsviertel schließlich berichtet hatte, er hätte ihn vor die Tür gesetzt, weil er die adeligen Damen belästigt habe … Ergab das alles einen Sinn? Nein … aber die schlechte Vorahnung ließ sich nicht abschütteln. Vielleicht war es auch nur eine negative Folge ihres Daseins als Prophetin … Sei es, wie es sei – im Sonnentempel hätte Shiko ohne diese Überprüfung keine einzige, ruhige Sekunde und daher betrat sie entschlossen die Unterstadt. Zuerst schlug ihr der beißende Geruch nach Verwesung entgegen, dann hörte sie das schmerzerfüllte Stöhnen … überall am Wegesrand lagen Erkrankte – die meisten waren Opfer der heimtückischen Fleischmaden. Es schmerzte sie, diese Zustände zu sehen … Als Shiko um die nächste Ecke bog, wäre sie fast mit einem Mann zusammengestoßen. Sein gieriger Blick richtete sich auf ihr Dekolleté und wollte sie schon in Richtung der nächsten Wand drängen, da erwachte ein Feuerball in ihrer rechten Hand. „Ich würde es mir an deiner Stelle sehr genau überlegen, ob du dich wirklich mit mir anlegen willst.“, zischte sie zornig. Schulterzuckend zog er ab. Die Elementalistin beendete den Zauber und ging weiter. Es erschien ihr, wie ein Irrgarten … »Marktplatz« stand auf einem der Schilder geschrieben, das klang doch mal vielversprechend. Je näher sie den kleinen Buden mit den illegalen Handelsabkommen kam, desto mehr Leute tummelten sich auf der Straße. Einige von ihnen taumelten im Suff, andere priesen lauthals ihre speziellen Waren an. Mehrmals musste Shiko vor aufdringlichen Hehlern zurücktreten. Im hintersten Teil entdeckte sie schließlich ein heruntergekommenes Gebäude mit der Aufschrift »Silberwolke«. Zögerlich trat Shiko ein und wurde sofort von zwei Frauen in spärlicher Bekleidung gefragt, ob sie sich nicht etwas Zeit zu zweit wünschte … Ihr wandernder Blick bestätigte ihr, dass sie in einem Bordell gelandet war. Überall waren Türen in die Wände eingelassen, die zu kleinen Zimmern gehörten … Ein schallendes Lachen erweckte ihre Aufmerksamkeit. Mit zitternder Hand griff Shiko nach dem nächstgelegenen Türgriff – es erschreckte sie, was sie dahinter finden würde. Der größte Teil des Raumes wurde von einer Pritsche mit mehreren Kissen und Decken eingenommen, auf der sich zwei fremdländische Frauen räkelten, die stetig mehr Verhüllung verloren. Beim Eintreffen des unerwarteten Besuchers hielten sie inne. Shiko folgte ihren Augen, die sich zur gegenüberliegenden Seite richteten. Dort saß auf einem gepolsterten Holzstuhl Ohtah, der nur noch an einer einzigen Stelle Kleidung trug. Der Holztisch neben ihm war überladen von leeren Flaschen und der populären Drogae Glimmerkappenstaub. Kein Wunder, dass er die Unterstadt als letzte Etappe seines Trips gewählt hatte … Lallend begrüßte Ohtah seine Kumpanin: „Ah, siehe da – die heilige Prophetin höchstpersönlich! Was machst du denn hier? Brauchst du auch mal eine kleine Auszeit?“ „Verschwindet! Mein Freund und ich müssen reden.“, fuhr Shiko die Prostituierten an, wobei sie bei ihrem Abziehen ein verärgertes Maulen kassierte, „Ich habe nach dir gesucht! Warum hast du mir nach deiner Rückkehr keine Nachricht hinterlassen?“ Er hob die Flasche an die Lippen und meinte: „Muss ich mich nun schon bei dir abmelden, oder was? Du bist viel zu ernst … Es gibt Momente, da muss man einfach in das Leben eintauchen. Ich genieße die Zeit, die mir noch bleibt – solltest du auch mal versuchen.“ Abneigung stieg in ihr auf, als sie entgegnete: „Was soll das, Ohtah? Das bist doch nicht du. Ich kenne dich … Das ist dieses Teufelszeug, das da aus dir spricht!“ „Ist das so? Aber was wäre, wenn das, was du jetzt siehst, die Wahrheit ist? Mein wahres Ich … Wenn du mich wirklich kennen würdest, wärst du enttäuscht … angeekelt. Denk´ von mir aus, was du willst – aber mach´ aus mir nicht jemand, der ich nicht bin … niemals war oder jemals sein werde.“, hielt er plötzlich viel klarer dagegen. Innerlich verfluchte die Elementalistin den ganzen Laden und widersprach ihm energisch: „Wir sind Freunde, Ohtah – es interessiert mich nicht, was gewesen ist, bevor wir uns kennengelernt haben!“ Sie trat näher, wollte seine Hand berühren, doch er entzog sich ihr. „Du willst es wirklich nicht kapieren, oder? Ich habe keine Freunde! Als wir uns getroffen haben, wusste ich, dass mit dir Gold zu machen ist! Glaubst du ernsthaft, ich würde etwas für dich … empfinden? Mir ist das alles so egal – und wer weiß, vielleicht warte ich ja nur auf die richtige Gelegenheit, um euch zu verraten … oder ich habe es schon getan. Ist das nicht das schönste am Leben? Man weiß nicht, wohin es einen führt.“, gab er gespielt von sich. Etwas in ihr zerbrach, schon wieder … aber noch wollte sie ihn nicht aufgeben: „Wenn du wirklich so denken würdest, wärst du inzwischen längst auf Kilé – du glaubst an diese Mission, deshalb bist du geblieben.“ Da erhob er sich wie vom Blitz getroffen und packte sie am Kinn. Wut erfüllte seine Augen. „Es hat mich nie sonderlich gekümmert, woher meine Aufträge kamen oder was ich zu tun hatte, solange nur die Bezahlung stimmte – so konnte ich diesen ganzen Mist wenigstens ignorieren … Ich wollte nicht zurück, nie.“, sagte er mit bedrohlich wirkendem Unterton, „Aber nein, dann musste ich ja an diesen verfluchten Orden geraten und du hattest prompt die glorreiche Idee, dass ich meiner Vergangenheit stelle. Also lass´ mich einfach in Ruhe, Shiko!“ Shiko … nicht mehr »mein schönes Fräulein«. Dieses Wort, ihr Name versetzte ihr den letzten Stoß. Sie taumelte mehr hinaus, als dass sie ging, während ihr Herz von tausend Nadeln durchbohrt wurde – oder eher Dolchen, die Waffe seiner Wahl. Erst einige Stunden später – als die Wirkung des Glimmerkappenstaubs nachließ – begriff Ohtah, was geschehen war … Niedergeschlagen zog sich der Silberhaarige in die unterstädter Taverne zurück. Doch Shiko blieb nicht sein einziger Besucher – Klerus war den Informationen seiner Spitzel gefolgt und berichtete ihm, dass Shiko und Seiketsu alsbald auf eine sehr komplizierte Mission aufbrechen würden, auf der er ihnen sicher hätte behilflich sein können ... Da er sie jedoch kaum mehr rechtzeitig in einem adäquaten Zustand erreichen würde, bat der Nehremese wenigstens für die nächste Phase um Ohtah´s Unterstützung. „Warum eigentlich ich? Ihr könntet sicherlich zig andere anheuern.“, brummte der Dolchträger teils verächtlich, teils immer noch beschwipst. „Ihr erledigt Eure Aufträge gewissenhaft, Ortwin – es ist ziemlich schwer, gute Söldner zu finden. Reicht Euch das als Antwort … oder wollt Ihr die Wahrheit?“, antwortete der Arkanist und schwieg einige Zeit, bis Ohtah schließlich kaum merklich nickte, „Ich hatte keineswegs vor, Euch mit einem weiteren Auftrag zu betrauen … Das Schicksal der Welt in den Händen eines Profit besessenen Frauenhelden? Ihr habt nie wie jemand gewirkt, der diese ganze Geschichte ernst nehmen würde … Aber dann habt Ihr uns die Prophetin gebracht und ich habe bei dem Ritual in ihrer Aura gelesen. Ihr habt sie gerettet, lange bevor sie Euch ihre Fähigkeiten offenbarte. Und sie vertraut Euch … Ihr weckt in ihr eine unglaubliche Kraft. Bedenkt, was es für sie … und Vyn bedeutet, wenn Ihr also der Unternehmung fernbleibt.“ Das brauchte er ihm nicht zu sagen … Er hatte Shiko erneut im Stich gelassen und schämte sich dafür. Eine solche Abfuhr verdiente sie nicht … Ob er ihr überhaupt noch unter die Augen treten dürfte? Alles in ihm schrie – er hatte sich gehen lassen, ihr die Schuld an seiner Verzweiflung gegeben. Dabei … wollte er sich nicht eingestehen, dass sie ihm wirklich wichtig war – keine Bettgeschichte, mehr als nur eine Kampfgefährtin. Eigentlich hätte er laut lachen können; genau vor so einer Aktion hatte ihn Seiketsu vor dem Aufbruch zur Halbmondinsel gewarnt. „In Ordnung. Ich arbeite für Euch, Meyser Heilbringer … Ich glaube allerdings kaum, dass Shiko mich noch in ihrer Nähe haben möchte.“, erklärte Ohtah, als er sich vom Barhocker erhob. Ein wissendes Lächelte trat auf seine Lippen und er murmelte: „Darauf würde ich nicht wetten …“ Die Bürde eines Engels Bevor es zu diesem Gespräch gekommen war, saß Seiketsu schon eine ganze Weile auf der Treppe vor dem Sonnentempel, als endlich Shiko den steinernen Pfad hinaufstieg. Ihren Gefühlszustand ließ sie sich nicht anmerken, stattdessen führte die Braunhaarige sie auf den Götterblick. Anstelle der freien Fläche erblickte die Elementalistin nun auf der Aussichtsplattform ein fast dreieckiges Metallgebilde … eine Maschine, die sie schon einmal kurz nach ihrer Ankunft gesehen hatte. „Das Leuchtfeuer!“, staunte sie nicht schlecht. Mit einem Lächeln wurde sie von Tealor Arantheal begrüßt: „Prophetin, Ihr habt es geschafft zu entkommen, Malphas sei Dank! Wie ist es Euch ergangen?“ Taranor´s Bemerkung über ihr Gespräch hatte Shiko zwar nicht vergessen, doch für den Moment gab es weit wichtigere Dinge zu besprechen – über mögliche Hintergründe diesbezüglich konnte sie nachdenken, wenn die Läuterung abgewendet war. Allerdings verschwieg sie ihm, dass Ohtah sich von ihr getrennt hatte … „Ein Zweifronten-Krieg …“, brummte Seiketsu und verschränkte die Arme vor der Brust, „Das bedeutet, wir müssen nicht nur die Hohen aufhalten, sondern gleichzeitig die Verteidigung organisieren.“ Der Großmeister seufzte, bevor er erklärte: „Und aus diesem Grund muss ich euch schnellstmöglich auf die Suche nach den drei, schwarzen Steinen schicken.“ Auf die fragenden Blicke der beiden Frauen, berichtete er ihnen von der Energiequelle des Leuchtfeuers, welche das materielle Gegenteil ihrer Feinde sei und sie deshalb in gebündelter Form vernichten konnte. Es gab in diesem Zusammenhang allerdings auch eine schlechte Nachricht … wie die Silberplatten stammten die schwarzen Steine ursprünglich aus Arktwend und waren dort von den Zwergen aus den Tiefsten dieser Welt ans Tageslicht geholt worden. Mit den Jahrhunderten, in denen sie durch allerlei Hände gingen, stellte man irgendwann fest, dass all ihre Besitzer früher oder später einen grausamen Tod ereilte … beinahe als wären die Schmuckstücke verflucht. So befahl ein früherer Großmeister, alle müssten eingesammelt und an einem geheimen Ort in der Erde verborgen gehalten werden. „Das heißt, wir sollen diese Stelle ausfindig machen und sie bergen?“, hakte Shiko nach. In diesem Moment erklomm Klerus gerade die Stufen zum Götterblick – offenbar hatte er mitgehört, da er entgegnete: „Nein, die schwarzen Steine wurden bereits an jedem Ort gefunden … und gestohlen. Von dem sogenannten >Armenheiler< Samael Dal´Galar.“ „Ihr meint diesen Apothekarius, der nur von den Reichen Gold für seine Behandlungen forderte? Ich habe gehört, es kam aufgrund einiger … fragwürdiger, wegeloser Methoden zum Bruch mit dem Bund und er musste Ark verlassen.“, schaltete sich nun Seiketsu ein. Tealor nickte zustimmend: „Richtig. Er bezog ein abgelegenes Schloss im Nordwindgebirge. Bislang konnte der Orden dort nicht eindringen, weil er vor seinem Tod einen unüberwindlichen Bannkreis um seine Ländereien gelegt hat – doch das Echo könnte Euch Zugang verschaffen, Prophetin. Ohne Euch wären wir wahrhaft verloren … seid also bitte vorsichtig – vor allem da überall auf Enderal bereits nehremesische Stoßtruppen gesichtet wurden.“ Irgendetwas sagte Shiko, dass sie sich wirklich in Acht nehmen musste … und das bezog sich nicht nur auf die beiden Feinde, die sie bereits kannte. „Kommt dieser Söldner auch mit?“, wollte Seiketsu wissen. Shiko wurde blass. Wie nur sollte sie Tealor und vor allem Klerus beibringen, was zwischen ihnen vorgefallen war? Sie setzte schon zu einem Wort an, doch der Arkanist unterbrach sie: „Otto ist derzeit mit einer anderen Sache beschäftigt.“ Als wäre der Boden unter ihren Füßen plötzlich nicht mehr existent, fühlte sich Shiko fallen. Was hatte das zu bedeuten? Wussten sie etwa schon Bescheid oder war Ohtah allen Ernstes zur Besinnung gekommen? Auf dem Weg zum Schloss mussten sich Shiko und Seiketsu mehrere Scharmützel mit Soldaten Nehrim´s liefern. Zusätzlich zehrte die eisige Kälte des Gebirges an ihren Kräften – die Elementalistin webte unablässig einen Zauber, um die Luft zu erwärmen. Irgendwann kamen die hohen Türme in Sichtweite und am ersten Torbogen angekommen, bemerkte Shiko knapp über dem Boden eine flackernde Linie … der Bannkreis. Sie näherte sich ihm. Vor ihr erschien die Gestalt eines älteren Mannes in einer Kutte, der in ihre Richtung schaute und sagte: „Doorual neento Jaaronis …“ »Der Geduldige findet einen Weg.« Ihre Mutter hatte sie von klein auf die Sprache ihrer Heimat gelehrt … Aber warum benutzte Samael Dal´Galar einen derartigen Satz zur Sicherung seines Schlosses? Trotz dieser Verwirrung wiederholte sie seine Aussage. Das Leuchten stieg zum Himmel hoch, löste sich auf. Seiketsu klatschte begeistert in die Hände. Doch mit dem Bannkreis allein hatte sich der Hausherr nicht zufrieden gegeben, denn das Eingangstor des Schlosses war von Innen verbarrikadiert. „Hm, wenn wir Schwarzpulver hätten, könnten wir es sicher aufsprengen.“, meinte die Hüterin nachdenklich. Shiko ließ lachend eine Flamme in ihrer Hand erwachen: „Wozu gebiete ich denn über das Feuer?“ Nachdem sie das Holz in Brand gesteckt hatte, setzte sie einen Meteorschlag hinterher, welcher den Eingang regelrecht freisprengte. Dahinter erwartete sie allerdings ein schauerlicher Anblick – der Weg wurde von hölzernen Kreuzen gesäumt, an denen festgenagelte Leichen hingen … Ein bedrohliches Knurren erklang seitens Seiketsu und diese merkwürdige Finsternis legte sich erneut um sie. Angestrengt versuchte sie ihre dunkle Seite niederzukämpfen. „Verzeih´ mir … das kam einfach unerwartet.“, hauchte die Braunhaarige geschwächt, „All die Toten … das sind sicher Dal´Galar´s Lehrlinge und die Dienerschaft.“ Shiko stützte sie und fragte: „Kommst du klar?“ Mit einem Nicken richtete sich Seiketsu auf, während sie antwortete: „Ja. Wir sollten einen Zugang suchen. Siehst du etwas mit deiner Gabe?“ Beim Bannkreis hatte sie einen Punkt gehabt, an den sie hatte anknüpfen können … nun sollte sie zum ersten Mal von sich aus eine Vision herbeirufen. Die Rothaarige schloss die Augen, konzentrierte sich. Ihrem Gefühl folgend lief sie über den Hof. Schließlich standen die beiden Frauen vor einer Tür. So gelangten sie in einen der Flügel und dadurch in das Haupthaus. Dort stießen sie auf ein weiteres, diesmal mechanisches Hindernis – das Portal zum Turm war mit einem speziellen Schloss versehen, welches sich nur mit zwei Losungsworten öffnen würde. Seiketsu sah sich in der Halle um, als ihre Bewegungen plötzlich einfroren und derselbe Mann, den Shiko bereits zuvor gesehen hatte, schritt durch die Halle. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, ihre Begleiterin wolle nur nicht seine Aufmerksamkeit erregen – bis er wie ein Geist durch Seiketsu´s Körper glitt. Auf seinen Armen trug er ein Bündel aus Decken, aus dem der Kopf eines kleinen Mädchens ragte. „Meine Experimente sind fast abgeschlossen … Ich muss mich beeilen, bevor mir deine Medizin ausgeht. Das nächste Schiff aus Kilé kommt zu spät – dieser verdammte Bürgerkrieg!“, erklärte der Apothekarius, „Aber sei unbesorgt, Maya … Ich habe bereits deine Mutter verloren, dich dagegen werde ich retten. Hörst du, Taniysha? Unsere Tochter wird etwas ganz besonderes sein … ein Engel, so mächtig und erhaben! Wenn du erst einmal die Macht der Steine nutzen kannst, wirst du dir jeden Wunsch erfüllen können … Selbst die Lichtgeborenen werden neidisch auf dich sein, wenn du die Welt von allem Leid befreist!“ Damit verschwand er und Seiketsu lief einfach weiter. Für sie hatte die Zeit still gestanden … Auf einen Wink kam sie zu ihr und Shiko berichtete von ihrer Begegnung mit Dal´Galar. Keine von ihnen hätte sagen können, was sie sprachloser machte – was er mit den schwarzen Steinen geplant oder warum er es getan hatte. Die Elementalistin kam nicht umhin, Bewunderung für diesen Mann zu empfinden. „Damit haben wir auch die Schlüssel.“, bemerkte die Endraläerin freudig, „Taniysha. Maya.“ Ein Klicken von einrastenden Zahnrädern drang aus der Wand und gab den Treppenaufgang zum Turm frei. Hastig stiegen sie hinauf und fanden sich in einem großen Saal wieder, dessen Stirnseite eine weitere Tür barg. Kaum dass Shiko einen weiteren Schritt getan hatte, hielt sie inne … Es war keine Vorahnung, die sie überkam. Vielmehr fühlte sie etwas … fremde Auren! Da traten auch schon mehrere Personen aus den Schatten heraus – nehremesische Assassinen! Seiketsu zog sofort blank und rief: „Shiko, finde die schwarzen Steine – ich kümmere mich um sie.“ Angesichts der Anzahl ihrer Gegner zögerte sie, aber die Braunhaarige hatte recht; die Zeit drängte zu sehr. Schweren Herzens rannte sie die Treppen hinauf, während hinter ihr die Kampfgeräusche tobten. Sie gelangte in einen kahlen Raum – ein steinerner Altar und ein Sockel waren die einzige Einrichtung. Beim genaueren Hinschauen entdeckte sie darin die drei, schwarzen Steine … Und schon begann die nächste Vision – das Mädchen lag auf der Opferstätte, ihr Vater hantierte an der Fassung der magischen Artefakte. Beim letzten Mal hatte Shiko es nicht wirklich wahrgenommen, nun war es nicht mehr zu übersehen … seine Tochter atmete nicht. Da ergab plötzlich alles Sinn – das Mittel, von dem- er unten gesprochen hatte, war der Totenbalsam, mit dem die Kilé ihre Verstorbenen bestrichen, bevor sie dem Meer übergeben wurden … Er verhinderte, dass der Verwesungsprozess einsetzte. Deshalb auch diese Worte für den Bannkreis; Dal´Galar verdankte der kiléianischen Kultur seinen Plan – er wollte sie wieder zum Leben erwecken! „Bist du bereit, Maya?“, fragte er und webte den Zauber. Ein dunkles … Glühen fuhr aus den Steinen in den Körper des Mädchens, welches das ganze Schloss zum Beben brachte. Etwas abgehackt setzte sie sich auf. Dal´Galar eilte zu ihr und umarmte sie. „Papa …“, sagte Maya schwach, „Ich-“ Sie brach ab, krümmte sich und schrie vor Schmerz. Eine finstere Woge schleuderte den Apothekarius gegen eine Wand, sodass dieser tödliche Verletzungen erlitt. Anschließend wurde ihr Leib davon umhüllt, was der Elementalistin leider nur äußerst bekannt vorkam. Die Laute der Kleinen verloren alles menschliche, glichen eher einer Bestie. Ein Schaudern überlief Shiko. Da erschien wie aus dem Nichts jene verschleierte Frau, die sie nach ihrer Ankunft in Enderal gesehen hatte … Ihre Augen schienen die Prophetin zu streifen, so als wüsste sie von ihrer Gegenwart, dann beugte sie sich zu dem Wesen hinab und streichelte ihm über den Rücken. Die böse Energie verschwand, Maya kam wieder zum Vorschein. „Das Schicksal fügt sich Stück für Stück, bis alles an seinem Platz ist … wie ein Puzzle.“, sprach sie gewohnt geheimnisvoll, „Und du bist ein Teil dessen, Seiketsu.“ Obwohl die Vorahnung bereits in ihr gekeimt hatte, knickten Shiko´s Beine ein. Ihre beste Freundin war das Ergebnis eines abscheulichen Experiments, das für all ihre Qualen und Leiden verantwortlich war … Wie nur sollte sie ihr das beibringen? Durfte sie Seiketsu überhaupt einweihen? Was wäre, wenn sie darüber schwieg? Fragen über Fragen – doch in einem Punkt war Shiko sich sicher … Seiketsu würde niemals aufhören, nach dem Ursprung ihrer Kräfte zu suchen. Nachdem sie minutenlang ohne eine Regung am Boden gekauert hatte, erhob sich die Rothaarige schließlich und verstaute die wertvolle Fracht in ihrem Beutel. Wenigstens war die Mission ein Erfolg gewesen … Ihre Füße bewegten sich nur langsam zurück. Die Bürde lastete schwer auf ihren Schultern. Aber im Saal angekommen, erlebte Shiko bereits den nächsten Schock – ein Bild des Grauens breitete sich vor ihr aus … zerfetzte Leichenteile, Blutspritzer überall und inmitten dessen eine bewusste Seiketsu. Sie begriff augenblicklich, was hier geschehen war und hastete an die Seite der geschwächten Hüterin. Ihre Haut war eiskalt, die Atmung flach. Shiko griff nach ihrer Magie – die Elemente konnten einzeln für sich eine große Zerstörung anrichten, gebündelt noch mehr … und sie vermochten es zu heilen. Das Feuer weckte Seiketsu´s Lebensgeister, die Erde stärkte sie, mit der Luft füllte Shiko ihre Lungen und der letzte Schliff fiel dem Wasser zu. Stöhnend öffnete Seiketsu die Augen, ihr ganzer Körper schmerzte. Die Ereignisse fuhren durch ihre Gedanken und sie presste sich die Hände auf den Kopf, wollte sie ausblenden. „Du trägst keine Verantwortung, an dem was geschehen ist, Sei – sie wollten uns töten und damit die Rettung Vyn´s verhindern.“, meinte Shiko und strich ihr beruhigend über den Rücken, „Macht es denn ernsthaft einen Unterschied, wie sie gestorben sind? Du kennst meine Magie … auch sie ist grausam und tödlicher als jeder Schwerthieb. Du machst dir Vorwürfe und das zeigt, dass du kein Monster bist! Egal, was du empfindest, wenn … es die Kontrolle übernimmt, es sind nicht deine Gefühle! Sei, ich … Als wir auf der Suche nach dem Leuchtfeuer waren, habe ich in deiner Aura gelesen – damals wusste ich nicht, was das in dir ist … das hat sich inzwischen geändert.“ Mit brüchiger Stimme berichtete sie Seiketsu, was sie herausgefunden hatte. Die Braunhaarige starrte zitternd ins Leere … „Meister Tyras ist und bleibt mein Vater …“, murmelte sie schließlich, „Ein Teil der schwarzen Steine lebt in mir … Wenigstens verstehe ich es jetzt. Mir war ja von Anfang klar, dass meine Vergangenheit keine Gute Nacht-Geschichte sein konnte. Trotzdem … danke, dass du es mir nicht verschwiegen hast. Ich werde noch härter trainieren, solange bis sich kein einziger Gedanke mehr meiner Kontrolle entzieht! Nur so werde ich es je beherrschen können, um so etwas wie im Saal zu verhindern … Wenn ich mir vorstelle, du wärst noch da gewesen, dann … hätte ich dich genauso massakriert …“ Ihr Atem stockte, heiße Tränen rollten über ihre Wangen. Shiko umarmte sie tröstlich. „Mich wirst du nicht los … Ich werde auch stärker werden, damit du in einer solchen Situation nie mehr auf diese Kraft zurückgreifen musst.“, versprach sie entschlossen. Himmelfahrt(skommando) Begeistert setzte Klerus den ersten Stein ein und eine Welle purer Energie fegte über den Götterblick. Ein leuchtendes Band spannte sich vom Sockel bis zur Mitte der Maschine. „Faszinierend … der Stein hat sich mit dem Leuchtfeuer verbunden.“, kommentierte er und wiederholte seine Tat auch beim zweiten sowie dritten Kristall. Alles hatte ein Gegenteil … Shiko spürte, wie die Essenz des Feuers im Gegensatz zum Wasser stand, wie sich Erde und Luft voneinander unterschieden, was eine gute oder eine böse Aura ausmachte … Sie war den Hohen bereits gegenübergestanden und diese Kraft würde es vermögen, sie zu vernichten! Beim Anblick der seriellen Bewegungen des Zentrums wurde der Nehremese jedoch nachdenklich:„Irgendetwas stimmt noch nicht … es scheint, als würde eine Art … Fokuspunkt fehlen.“ Innerlich schlug sich die Elementalistin eine Hand gegen die Stirn und rief aus: „Der Numinos! Als ich den Kristall des pyräischen Leuchtfeuers in den Ruinen gefunden habe, sagte eine Stimme in meiner Vision, ohne den Numinos sei die Energie nutzlos.“ Klerus nickte verstehend, murmelte undeutlich vor sich hin. Da geschah es – Shiko brach zusammen! Die vergangenen Tage forderten ihren Tribut … der Streit mit Ohtah, die Wahrheit über Seiketsu und deren Heilung sowie der ununterbrochene Gebrauch ihrer Magie im Nordwindgebirge – der Arkanist hatte ihr zu Beginn geraten, es nicht zu übertreiben. Besorgt brachte die Braunhaarige ihre Freundin sofort ins Kurarium, damit sie sich erholen konnte und wachte dort an ihrer Seite. Währenddessen formte der Orden ein neues Bündnis mit einem Experten für das Volk der Zwerge, welche erstaunliche Technologien hervorgebracht hatte und deren Pläne denen des Leuchtfeuers ähnelten! Aus diesem Grund glaubte Klerus in ihrer Heimat einen Hinweis auf den Numinos zu finden … Warum ihnen diese Möglichkeit nicht bereits früher eingefallen war? Weil die Sternenstadt hoch oben am Himmel schwebte … Kurmai Kajape allerdings hatte ein Luftschiff nach Sternlingsart gebaut, welches er mit den Ressourcen der Hüter fertigstellen konnte – im Austausch dafür, dass sie ihn auf seiner Reise begleiten durften. Einer, der sich beim Beschaffen der notwendigen Materialien aus Zeiten der Pyräer besonders hervortat, war kein geringerer als Ohtah – genau das war ja sein Spezialgebiet. Außerdem wollte er seinen Fehler wieder gutmachen und die Arbeit lenkte ihn etwas von seinen trüben Gedanken ab. Doch bereits vier Tage später erklärte Kurmai seine »Gertrude« für Abflug bereit und wie auf Kommando erwachte Shiko, als hätte sie nur ein kleines Nickerchen gemacht. Auf dem Weg zum Großmeister setzte Seiketsu sie über die aktuelle Lage und ihren baldigen Aufbruch in Kenntnis. „Prophetin! Wie geht es Euch?“, wollte Tealor Arantheal erleichtert bei ihrem Anblick wissen. Die Elementalistin stellte sich diese Frage selbst kurz, bevor sie antwortete: „Besser, danke … Hüterin Lichtsegen hat mich bereits informiert und ich bin bereit.“ „Sehr gut. Sie wird Euch begleiten, ebenso wie Meyser Dal´Taiyo, falls Ihr auf Widerstand stoßen solltet. Ich habe Meyser Kajape angewiesen, zuerst den >Nexusturm< anzusteuern; den Überlieferungen zufolge befindet sich dort ihr geballtes Wissen, es ist sozusagen das Herz der vergessen Stadt …“, erklärte der Endraläer, „Hoffen wir, dass wir bis zu Eurer Rückkehr von einem Angriff verschont bleiben. Schreitet wohl – ich wünsche Euch jedes erdenkliche Glück Vyn´s!“ Da Kurmai vor seiner Zusammenarbeit mit dem Orden heimlich an dem Luftschiff getüftelt hatte, befand es sich in einer versteckt gelegenen Höhle in der Pulverwüste, im Osten von Enderal. Um weitere, mögliche Konfrontationen mit nehremesischen Soldaten vorerst zu vermeiden, engagierte Seiketsu einen Myradenwärter, der sie zu ihrem Zielort bringen sollte. Sein Myrade – ein gewaltiges, gefiedertes Flugtier, dessen Flügelspannweite bis zu dreißig Meter messen konnte – war darauf trainiert, anstelle der üblichen Myradentürme Ziele in der Wildnis anzufliegen. Shiko glaubte fast, sie würde träumen … Es war ein unglaubliches Gefühl auf seinem Rücken durch die Lüfte zu schweben. Gerne hätte sie diese Erfahrung schon früher gemacht und sicher würde sie einen solche Transfermöglichkeit nach dieser ganzen Geschichte erneut nutzen – nicht, weil die Zukunft der Welt von ihr abhing … sondern einfach nur aus Spaß. In der Höhle angelangt wurden sie von einem Trupp Hüter begrüßt, der sie bereits wie Helden feierte. In Reih´ und Glied eskortierten sie die beiden Frauen durch die labyrinthischen Gänge zu Kurmai´s Werkstatt. Shiko und Seiketsu stand der Mund offen – ein gigantisches Schiff, an dem ein noch größerer Ballon und sogar ein Segel befestigt waren, raubte ihnen den Atem. Ehrfürchtig schritten sie darauf zu, über die Rampe und auf das Deck. Ihre Augen wurden immer größer. „Herzlich willkommen!“, begrüßte sie ein Arazealer mit ausgebreiteten Armen, „Endlich können wir ablegen. Wohl an denn – alle an Bord, wir starten! Los, Getrude, zeig´ dein Können!“ Die Arbeiter vom heiligen Orden lösten die Halterungsseile. Die Hüterinnen liefen zur Reling. Sie staunten, wie das Luftschiff langsam emporstieg und zu einem Loch in der Höhlendecke hinauf in den Himmel. Als es über den Wolken segelte, richtete es sich nach Westen aus. Eine Welle von Euphorie pumpte durch ihre Körper. Die Welt unter ihnen schien so unglaublich fern zu sein und damit gleichzeitig ihre Probleme. Fast eine Stunde lang konnten sich die beiden Frauen nicht von der faszinierenden Aussicht lösen, bis Seiketsu schließlich fragte: „Sollen wir uns ein bisschen umsehen?“ Shiko lächelte und nickte. Zusammen gingen sie durch einen niedrigen Durchgang unterhalb des Steuerrads in das Innere, welches mit goldenen Gitterplatten gepflastert war, durch die man die Maschinerie sehen konnte. „Wow …“, hauchte die Rothaarige beeindruckt. Da traf sie wie ein Funke eine bekannte Aura – sie wirbelte auf dem Absatz herum und konnte im letzten Moment einen silbernen Haarschopf erkennen, der hinter der nächsten Ecke verschwand. Sie hatte gewusst, dass er hier sein würde … doch er ging ihr wohl absichtlich aus dem Weg. Deshalb war er beim Start auch nicht an Deck gewesen. Allerdings konnte sie nicht sagen, ob er das wegen ihr oder sich selber tat. Seiketsu packte ungeduldig ihre Hand und zog sie durch die Gänge hinter sich her. Es war, als wüsste sie genau, wohin sie wollte – vor einer Metalltür blieb sie stehen. „Kle- … Meyser Heilbringer hat die Pläne dieses Schiffs studiert, um Hinweise für das Leuchtfeuer zu finden und meinte, wir müssten unbedingt in diesen Raum.“, gestand Seiketsu etwas unbeholfen. Hätte sie Klerus eben beinahe bei seinem Vornamen genannt? Außer dem Plan für ihre Himmelfahrt musste im Sonnentempel noch mehr geschehen sein … Bevor Shiko sie danach fragen konnte, hatte Seiketsu bereits den Hebel bedient, welcher den Blick in den Generatorraum freigab. Vor ihnen schwebte eine weiß leuchtende Kugel, Wasser spritzte umher und überall standen grüne Pflanzen. „Diese Sphäre treibt das Schiff an und sie bezieht ihre Energie aus dem Kristallwasser.“, erklärte Seiketsu grinsend, dann fing sie plötzlich an schallend zu lachen, „Wir sind auf einer Mission, von der das Fortbestehen der Menschheit abhängt – aber anstatt unsere Waffen zu schärfen oder düster daher zu reden, gehen wir auf Entdeckungsreise wie kleine Kinder! Hach, das tut gut …“ Shiko nickte erneut. Niemals zuvor hatte sie eine derart wunderschöne Landschaft betrachtet und nirgendwo hätte sie weniger damit gerechnet. Die beiden stiegen die Treppe hinab, liefen durch den schieren Dschungel. „Shiko, ich … ich habe noch einmal nachgedacht … über diese Sache im Schloss.“, meine die Braunhaarige, „Mein ganzes Leben habe ich versucht, diese zweite Seele zu verbannen und wenn ich gescheitert bin, habe ich mich dafür gehasst. Aber das war der falsche Weg – es ist ein Teil von mir! Die einzige Möglichkeit es auszulöschen, wäre mich umzubringen und das kann ich weder jetzt … noch in Zukunft. Ich möchte vielmehr anfangen, es zu akzeptieren. Es wird für immer schwierig sein, damit zu leben … aber ich will endlich all das tun, was ich mir bislang verwehrt habe – Freundschaften schließen, mich verlieben, die Welt sehen … Weißt du, ohne dich wäre ich niemals zu diesem Entschluss gelangt – dafür möchte ich dir danken, Shiko!“ Überraschung legte sich auf die Züge der Elementalistin und sie antwortete: „Ich habe kaum etwas getan … Verdient nicht jeder, die Chance auf ein glückliches Leben?“ Sie umarmten einander und genossen noch für einige Zeit die Magie dieses Ortes. Während sich Seiketsu schließlich in ihr Quartier zurückzog, hatte Shiko etwas dringendes zu erledigen … Sie begab sich wieder an Deck des Luftschiffs. Es war Nacht, Tausende von Sternen funkelten am Firmament und ein grünlich schimmernder Nebel verlieh ihm einen mysteriösen Glanz. Am Bug stand Ohtah. Um ihm die Chance zu geben, sich erneut von ihr zurückzuziehen, näherte sie sich ihm absichtlich langsam … doch er bewegte sich nicht. Trotzdem blieb die Rothaarige einige Meter von ihm entfernt stehen und sagte ruhig: „Ich wusste, ich würde dich hier finden. Von so weit oben wirkt auf einmal alles anders, findest du nicht? Ich hätte nicht gedacht, dass du deine Meinung noch einmal änderst …“ Ohne es zu wollen, hatte er ihr eine Seite von sich gezeigt, die er sonst vor der Welt verborgen hielt – aber schon vor seinem Eklat war ihm im Grunde klar gewesen, dass sie … mehr war. „Ich …“, begann er mit unsicherer Stimme und drehte sich zu ihr um, „Shiko, ich habe keine Ahnung, wie ich mich bei dir entschuldigen soll … Kein Wort von dem, was ich in der Silberwolke zu dir gesagt habe, war wahrhaft ehrlich.“ Ihr Streit hatte sie hart getroffen. Als Tealor sie darüber in Kenntnis gesetzt hatte, er würde ebenfalls zur Crew gehören, war sie sich nicht sicher gewesen, was sie davon hatte halten sollen – erst jetzt, nach ihrem Gespräch mit Seiketsu, hatte sie den Mut fassen können, ihm gegenüber zu treten. Und so murmelte Shiko mehr verständnisvoll denn verletzt: „Du hast getrauert … In solchen Momenten handelt man nicht rational. Von der Droga mal ganz abgesehen.“ Sie wollte ihn nicht verurteilen. Ja, es war dumm gewesen … doch wenn jemand den Wunsch, vergessen zu wollen, nachvollziehen konnte, dann sicher Shiko. „Das rechtfertigt nicht, wie ich mit dir gesprochen habe! Es tut mir leid, Shiko … Ich schätze unsere Freundschaft, wirklich … und ich vertraue dir, nicht nur im Kampf. Seit ich dich kenne, habe ich das Gefühl, als hätte sich die ganze Welt verändert – und damit meine ich nicht das Handeln der Hohen.“, erklärte er. Freundschaft … natürlich, als ob sie etwas anderes erwartet hätte. Er hatte ihr immerhin oft genug deutlich gemacht, eine Beziehung käme in seiner Lebensplanung nicht vor … Mit einem knappen Nicken wandte sie sich von ihm ab, wollte gehen – da griff er wider erwartend nach ihrem Arm, um sie aufzuhalten. „Ich habe dir erzählt, dass ich nicht geschaffen bin für Bindungen. Die Geschichte mit Livia hat mich ziemlich mitgenommen. Sie … hat mich verlassen, ja, aber deshalb weil ich sie nicht gerettet habe. Unser Lager wurde von Banditen angegriffen, während ich unterwegs war, um Brennholz zu sammeln – als ich zurückkam, waren sie gerade dabei Livia … Sie hat sich gegen ihre Berührungen gewehrt, da haben sie ihr die Kehle durchgeschnitten. Und ich bin geflohen …“, gestand er gebrochen, „Jetzt kennst du die ganze Wahrheit über mich. Erst habe ich meine Familie im Stich gelassen und dann sie. Ich bin das genaue Gegenteil von dem, was du verdienst … ein elender Feigling, mehr nicht.“ Sanft legte Shiko ihre freie Hand an seine Wange und meinte: „Niemand möchte leichtfertig sterben, das ist menschlich … Vielleicht war es ein Fehler, vielleicht solltest du auch einfach am Leben bleiben. Erinnere dich, Ohtah, du hast mir mehrmals das Leben gerettet! Ohne dich wäre ich vermutlich immer noch ziellos an der Sonnenküste … oder wohl eher bereits dem Blauen Tod erlegen. Du kannst mich dafür verachten, doch ich bin froh, dass du damals die Flucht ergriffen hast! Und was mit deinen Eltern und deinen Geschwistern geschehen ist, ist nicht deine Schuld – du warst ein Kind. Dieser Tag hat dich gezeichnet … körperlich und seelisch. Mich interessiert kein anderer Mann, noch nie – du warst es von Anfang an, der mir mein Herz geraubt hat!“ Er sah sie an, als würde er sie zum ersten Mal betrachten. Niemals hätte er sich vorstellen, dass sie derart reagieren würde – eher mit einem Feuerhagel. „>Liebe< ist für mich nur ein Wort, zugepflastert mit den Erwartungen der Gesellschaft. Es bedeutet mir nichts …“, fuhr er fort und zog sie an sich heran, „Anders als du – das, was ich für dich empfinde, ist echt, wertvoll, einzigartig. Und wenn es nach mir ginge, hättest du den ein oder anderen Platz in meinen zukünftigen Erwägungen … Ich möchte gern an das glauben, was zwischen uns ist. Wenn ich dich ansehe, fällt mir so viel ein, was ich mit dir erleben möchte … Aber selbst wenn ich wollte, ich könnte dir nichts versprechen.“ Ihr Gesicht schwebte über seinem, als sie hauchte: „Ich brauche keine zwanghaften und haltlosen Schwüre – nur dich, so wie du bist.“ Und dann kam er endlich … der erlösende Kuss, den sich beide schon so lange ersehnt hatten. Die Sternenstadt Ein Ruck weckte Shiko und ein breites Lächeln erschien auf ihren Lippen. Ohtah´s dunkle Augen ruhten auf ihr, seinen Arm noch immer um sie gelegt. Es war wundervoll gewesen an seiner Brust einzuschlafen, das stetige Pochen seines Herzens als Schlaflied im Ohr. „Guten Morgen … Willkommen in der Sternenstadt, mein schönes Fräulein!“, sagte er mit einem schiefen Grinsen und küsste sie, „Zumindest glaube, wir sind da … Zusammen.“ Röte legte sich auf ihre Wangen, auch durch die Erinnerung an ihre erste Begegnung. Gerne hätte sie diesen gelösten Moment noch etwas ausgedehnt … doch die Pflicht rief. Das Pärchen löste die Hände voneinander kurz bevor sie auf das Deck hochstiegen. Dort standen bereits Kurmai und Seiketsu. „Schön, dass selbst in solchen Zeiten Menschen zueinander finden …“, meinte die Hüterin ehrlich. Ein Blick in Shiko´s vor Freude strahlendes Gesicht hatte gereicht, um all ihre Vorbehalte gegenüber Ohtah fallen zu lassen. „Wo seid ihr?“, schrie der Kapitän plötzlich und rannte von Bord, „Er hat nach euch gesucht!“ Ihnen war zuvor bereits aufgefallen, dass er von sich selbst in der dritten Person sprach – Genie und Wahnsinn lagen wohl doch nah beieinander … Die drei Gefährten sahen ihm in der ersten Sekunde nur verwirrt hinterher, bevor sie ihm folgten. Die Sternenstadt bestand aus mehreren hohen Gebäuden, die alle miteinander verbunden waren – man hätte sie sogar als einen einzigen Gebäudekomplex bezeichnen können. Der helle, ornamentierte Stein war mit Lianen und Gestrüpp überwuchert. Alles wirkte … verlassen, keine Spur von irgendwelchen Zwergen, die nicht mit nach Vyn gegangen waren, und gleichzeitig so erhaben. „Unfassbar … das ist wirklich das schönste, was ich je gesehen habe – natürlich abgesehen von dir, Shiko.“, erklärte Ohtah und kratzte sich verlegen an der Wange. Aus der Ferne hörten sie den Tüftler krakeelen: „Er ist hier – nun öffnet ihm! Warum antwortet ihr nicht? Bei den Sternen, wieso straft ihr ihn mit Schweigen? Lasst ihn hinein, er fleht euch an! Nein, nein, nein, nein! Er wird sie finden, selbst wenn sie sich vor ihm verstecken!“ Er öffnete die Pforte eigens durch einen geheimen Mechanismus. Sie wollte sich bereits wieder schließen, als die Helden in Sichtweite kamen – Shiko riss den Arm hoch, sodass es ihr gerade noch gelang, einen Felsbrocken zwischen die beiden Torflügel zu bekommen. Die drei betraten die Sternenstadt also ohne ihren Führer … Überall waren goldglänzende Metalle mit dem Stein verwoben und bläuliche Kristalle warfen ein geheimnisvolles Licht. „Sie erinnern mich an die pyräische Energiequelle der Unterbahn.“, gab der Söldner zu bedenken. Shiko nickte bestätigend und überlegte laut: „Wenn der Nexusturm als Zentrum der Sternenstadt gilt, wäre es gut möglich, dass sich dort auch die größte Ansammlung an Energie befindet …“ Der Energie folgend entdeckten sie im angrenzenden Raum zwei in den Boden eingelassene Gitter und eine weitere Stelle, die davon zeugte, dass auch dort eine solche Platte ihren Platz hatte. Ohtah betätigte den Hebel, der daneben aufgebaut war, woraufhin sie wieder herunterfuhr. Durch erneute Betätigung beförderte der Lift sie etwas wackelig nach oben. Nachdem sie dort eine weitere Rampe hinaufgestiegen waren, gelangten sie in einen kreisförmigen Raum. „Sehen wir uns um, es muss irgendwo weitergehen.“, bemerkte die Braunhaarige ernst. Nach einigen Minuten erspähte Shiko im Schatten einer Statue einen weiteren Griff, welcher eine verborgene Treppe in der Wand freigab, die auf eine noch höhere Ebene führte. Überall wucherten neben den ganzen Pflanzen gewaltige Kristallformationen – sie hatte also recht behalten. Die Prophetin bekam leichte Kopfschmerzen, sie taumelte etwas und aktivierte aus Versehen eine Art Bedienungskonsole. Da senkte sich die Bodenplatte und hielt bei den steinernen Abbildungen der pyräischen Geschichte an. „Das ist … als hätte diese Maschine deine Gedanken gelesen!“, staunte der Silberhaarige. Seiketsu war derweil bereits in die Wandabschnitte vertieft und schwärmte: „Das Sternenvolk hat tatsächlich die letzte Läuterung überlebt und wer weiß, wie viele davor. Hier oben konnten die Hohen ihnen nichts anhaben – aber was ist nur mit ihnen passiert?“ „Ich fürchte, um das herauszufinden, fehlt uns die Zeit.“, entgegnete die Rothaarige nachdenklich und trat näher, „Durchforsten wir die Aufzeichnungen nach einem Hinweis auf den Numinos. Wenn unsere Theorie richtig ist, sollten die Pyräer ja dieselben Phasen des Zyklus durchlaufen haben …“ Schritt eins bezeugte, wie die ersten Menschen begonnen die Welt zu bevölkern. Das nächste Relief zeigte bereits eine bäuerliche Szene mit mehreren Feldern und einer befestigten Stadt. Die Zivilisation hatte sich gebildet, weiterentwickelt … und war anschließend in eine Theokratie übergangen, wie die Darstellung von knienden Menschen und den beiden Kasten der Sonnenpriester ihnen vor Augen führte und in ihrer Ära die Anbetung der Lichtgeborenen beinhaltet hatte. Dem folgte eine brutale Schlachtszene – der Sturz der vermeidlichen Götter; damals durch einen jungen Feldherrn, welcher den Priestern zunächst gedient, dann jedoch verraten hatte … ähnlich wie Narathzul Arantheal. Dieses Ereignis löste ebenfalls mehrere Bürgerkriege aus und die ersten Fälle von Rotem Wahnsinn traten auf; hinter all dem steckten – auf dem Bildnis sehr deutlich aufgezeigt – die Hohen. Die letzte Gravur ließ Shiko und ihre Freunde besonders erschauern … darauf flogen Menschen durch die Luft und eine dunkle Wolke sammelte sich am Himmel. Ohtah raufte sich die Haare und keifte: „Und wie soll uns das weiterhelfen? All das haben wir doch schon gewusst!“ Während Seiketsu noch einmal alle Bilder einzeln ablief, setzte sich die schöne Nehremesin vor die Veranschaulichung der Läuterung … Sie passte einfach nicht zu ihrer Vision und den verkohlten Leichen. Warum diese Symbolik? Die anderen Abschnitte waren so klar erkennbar gewesen … Da traf sie die Erkenntnis! Shiko schlug sich die Hände vor den Mund, ihr wurde schlecht. Die Erinnerung an die Begegnung mit ihrem Feind auf der Halbmondinsel kam ihr wieder ins Bewusstsein – in diesem Gespräch hatte er die Menschheit als »Ernte« bezeichnet! „Was hast du was herausgefunden?“, wollte Seiketsu wissen. Sie schlotterte am ganzen Körper, ihre Stimme war gebrochen: „Die … die Läuterung soll uns nicht vernichten. Wir werden nicht … >verschwinden<, sondern zu einem … einem neuen Hohen.“ „Und ich hielt meine zweite Seele für abscheulich …“, murmelte die Hüterin und schüttelte resigniert den Kopf, „Es ist skurril, aber es macht Sinn. Das würde auch Taranor Coarek´s wahnhafte Vorstellung erklären – die Zivilisation würde tatsächlich irgendwie … aufsteigen.“ „Nur wie verhindern wir das? Ich habe absolut keine Lust zur Lebensgrundlage für solch ein Monster zu werden!“, schimpfte der Silberhaarige genervt. Seine Liebste berührte ihn am Arm, um ihn zu beruhigen und sprach wieder ganz sachlich: „Mit der Essenz eines Hohen … Das Leuchtfeuer benötigt eine Zielsignatur. Es ist so ähnlich, wie beim Spüren von Auren – ich kann unbekannte Personen zwar wahrnehmen, allerdings nur bekannte identifizieren und genau orten.“ „Und ich dachte, wir hätten nach dieser Expedition den verrücktesten Teil hinter uns …“, knurrte er. Mit den notwendigen Informationen kehrten die drei zurück in die Halle, wo sie ein hämisches Lachen hörten – zwischen den Kristallen auf der Empore stand Kurmai! „Sie sind hier – die ganze Zeit schon!“, kreischte er, wie von Sinnen, „Er war ein Narr, euch hierher zu bringen, ihr seid unwürdig … deshalb verbergen sie sich! Aber er war zu verblendet von seinem Traum, Gertrude endlich fertigzustellen … Er wird ihnen beweisen, dass er seine Tat bereut.“ Kurmai betätigte einige Knöpfe an einem Sockel … ähnlich dem, welchen Shiko zuvor benutzt hatte. Metall scharrte, Dampf zischte aus den Fugen – er hatte das Verteidigungssystem der Sternenstadt aktiviert! Ein spitzer Schrei hallte durch die Luft und was zuvor einer harmlosen Säule gleich gekommen war, zerlegte sich und setzte sich als gigantischer Greifvogel wieder zusammen. „Lauft!“, schrie Shiko. Gemeinsam mit Ohtah und Seiketsu rannte sie zum Ausgang – nur eine Sekunde nachdem sie sich in Bewegung gesetzt hatten, schlug an genau jener Stelle eben ein Energieblitz ein. Auf dem Rückweg in die Haupthalle erschienen mehrere Sternlingskonstruktionen in verschiedenster Form und Größe. Es kostete sie einen großen Teil ihrer Kräfte diese zu besiegen. Vor allem da sie immer zahlreicher wurden, je näher sie der Pforte kamen. Schlussendlich nutzte Shiko ihren stärksten Feuerzauber – den Meteorenschauer! Flammende Gesteinsfragmente krachten auf die metallenen Roboter, die allein von der Hitze schmolzen. Der Söldner stützte sie, während die Freunde nach draußen gingen. Dort traf sie sprichwörtlich erneut der Schlag – ihr Transportmittel war fort! Anhand der Schäden auf dem Vorplatz schloss Shiko daraus, dass der Stahlvogel das Luftschiff abgeschossen hatte. Sie waren gefangen … „Ich habe einen Plan!“, rief Seiketsu nach einem ersten Schockmoment aus, „Klerus hat mir von Rettungskapseln des Sternenvolkes erzählt – Kurmai hatte wohl ähnliche an Bord. Mit ihnen könnten wir entkommen.“ Also betraten die Gefährten erneut die Sternenstadt, nahmen diesmal jedoch eine andere Abzweigung, die in eine Werkstatt oder eher Fabrik führte. Auch hier stießen sie auf Widerstand – die Kämpfe ermüdeten sie zusehends, doch für eine Pause war die Umgebung zu gefährlich. Die Gänge erinnerten immer mehr an ein Labyrinth … Schlussendlich erreichten Shiko, Seiketsu und Ohtah einen vielversprechenden Tunnel aus denselben Gittern wie der Lift, durch die man die Wolken unterhalb der Stadt sehen konnte. Um nicht durch zu starkes Gewicht oder ähnliches durchzubrechen, wollten sie nacheinander gehen. Die Braunhaarige machte den Anfang. Als sie angekommen war, bestimmte der Dolchnutzer: „Jetzt du!“ „Sollte das Metall doch noch bersten, kann ich mit meiner Magie mehr ausrichten, wenn ich als letztes gehe.“, widersprach sie ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange, „Wir sehen uns auf der anderen Seite …“ Widerwillig gab er nach. Doch als er die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte, kündigte ein durchdringender Schrei davon, dass der Wächtervogel sie gefunden hatte. Der Söldner wollte sofort umkehren, aber Shiko zauberte eine Windböe herbei, welche ihn hinüber schleuderte. Der stählerne Adler richtete seine Aufmerksamkeit und somit seinen Angriff auf die Prophetin. Ohne das Metall zu beschädigen traf dafür sein Ziel mit voller Wucht. In der Gewissheit seine Aufgabe erfüllt zu haben, zog er ab. Seiketsu erstarrte, war unfähig zu begreifen … Ohtah dagegen brüllte verzweifelt: „Nein, nein … SHIKO!“ Nicht sie … Schon wieder hatte er nichts tun können. Hatte sie ihn nicht gerade erst noch aufgebaut, dass er ihr Retter sei? Statt dem gerecht zu werden, hatte er sie enttäuscht … deshalb verabscheute er Versprechungen, Schwüre, Eide! Von einem Hustenanfall geschüttelt, setzte sich Shiko etwas unbedarft auf. Seiketsu und Ohtah starrten sie perplex an. Mit einem prüfenden Blick zu beiden Seiten des Tunnels, sprintete sie – beflügelt durch ihre Luftmagie – zu ihren Gefährten. Der Silberhaarige legte die Hände auf ihre Gesicht, als müsse er sich davon überzeugen, dass sie wirklich real war. Tränen glitzerten in seinen Augenrändern. „Wie … wie hast du das geschafft?“, fragte die Endraläerin, ebenfalls noch völlig ungläubig. Shiko lachte etwas verhalten, dann antwortete sie: „Genau genommen ist sein Angriff ein mächtiger, künstlicher Blitz – ich habe ihn per Magie umgelenkt.“ Mit einem Lächeln öffnete sie die Kammer, in der mehrere Startvorrichtungen mit Sternlingskugeln aufgebaut waren. Es war eine beeindruckende Ausstattung – das Sternenvolk hatte über eine weit ausgeprägtere Technologie verfügt, als das, was auf Vyn davon übrig war, hatte vermuten lassen. „Und du bist dir sicher, dass wir damit einen Fall aus dieser Höhe … na ja, heil überstehen?“, hakte Ohtah nach – eine Nahtoderfahrung genügte ihm eigentlich. Seiketsu ließ sich von ihm nicht aus der Ruhe bringen und wies ihre Gefährten ein: „Wir müssen jeder eine eigene nehmen und haltet euch gut fest. Der Aufprall wird ziemlich hart werden.“ Um ihnen zu zeigen, wie es funktionierte, stieg sie die Treppe zur Kapsel hoch, entriegelte sie und verschloss sie von innen. Nur wenige Momente später war sie verschwunden. „Wir sehen uns unten …“, flüsterte Ohtah nahe Shiko´s Lippen und streifte diese flüchtig, „Das ist kein Versprechen, sondern eine Tatsache!“ Sie nickte entschieden. Anschließend taten sie es der Hüterin gleich. Ein lautes Surren dröhnte während des Fluges in ihren Ohren und die Elementalistin verlor jedes Zeitgefühl. Irgendwann kam der Knall, als das metallene Gebilde einschlug. Ob durch Zufall oder ob auch hier die Gedanken der Insassen eine Rolle spielten – sie waren auf Enderal gelandet, genauer gesagt irgendwo im Nordwindgebirge. Shiko lag im Schnee und ihr Körper schmerzte, doch sie konnte problemlos aufstehen. Da stürmte auch schon Ohtah auf sie zu, presste sie fest an sich. Sie erwiderte seine Umarmung ebenso erleichtert. „Wo ist Seiketsu?“, erkundigte sie sich nach ihrer besten Freundin. Mit seinem geschulten Blick entdeckte er ihre Kugel trotz der dichten Schneeverwehung. Seiketsu selbst lag mit einer Kopfverletzung blutend auf der Erde. Hastig rief Shiko die vier Elemente an und schloss die Wunde. „Wir müssen schnellstmöglich zum nächsten Myradenturm, am besten bei der Schneefelstaverne.“, verkündete der Söldner, „Hoffen wir, dass der Wärter bei diesem Wetter überhaupt fliegt …“ Zukunftspläne Zurück im Tempel brachten sie Seiketsu erst einmal zu den Heilern, anschließend berichteten Shiko und Ohtah dem Großmeister von den Ereignissen. Er lobte ihren überschwänglichen Einsatz und stellte bereits Überlegungen für den nächsten Schritt an. „Ich wüsste da eine Möglichkeit.“, schaltete sich Yuslan Sha´Rim ein, den der Orden vor einiger Zeit als Kundschafter zur Halbmondinsel geschickt hatte, „Erinnert Ihr Euch an dieses bestimmte Artefakt aus Qyra? Das >Wort der Toten< ermöglicht es, in den Verstand eines Verstorbenen einzutauchen – und wie wir nun wissen, sind die Hohen nichts anderes als astrale Leichen.“ „Das könnte durchaus unsere einzige Chance sein … Und wenn Ihr, Prophetin, dem Echo der letzten Läuterung lauscht, könnte es uns gelingen, einen Hohen ausfindig zu machen, ehe er entschwindet.“, bestätigte Tealor und erzählte ihnen vom Hauptsitz der pyräischen Kultur – dem >Tempel der tausend Fluten<, der sich ausgerechnet unter ihren Füßen befand. Ohtah hatte jedoch so seine Bedenken: „Aber wie gelangen wir dorthin? Mit einer Armee, die jeden Augenblick vor unseren Toren auftauchen könnte, haben wir keine Zeit für größere Ausgrabungen.“ Ein Schatten huschte über das Gesicht des Hüter, als er erklärte: „Es gab mit den Unterstädtern schon immer eine Art … Abmachung. Solange sie den oberen Vierteln fernbleiben, würde der Orden sie in Ruhe lassen. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit – es existiert ein Rohrsystem, über das bislang einzig der Großmeister Bescheid wusste und durch das Giftgas in sämtliche Gänge geleitet werden kann, falls sie eines Tages revoltieren sollten.“ Schweigen legte sich über die Kämpfer. Ein solcher Anschlag hätte Dutzende von Leben gekostet – selbst das der Unschuldigen … Es lebten ganze Familien dort unten, von denen entweder ein Mitglied in Ungnade gefallen war oder die einfach als Wegelose geboren worden waren. Die Zornesfalte an Ohtah´s Stirn begann zu pochen – bevor es zu einer sprichwörtlichen Explosion kam, stapfte er jedoch den Saal hinaus. Shiko konnte nachvollziehen, wie wütend ihn diese Methodik machte – diesen Teil der Machtinhaber hasste er abgrundtief. „Das heißt, durch diese Schächte können wir auch ins Innere des Königsbergers vordringen und dort das Gefäß des Numinos füllen …“, fasste die Elementalistin kurz zusammen, „Wann brechen wir auf?“ Nach einem Blickwechsel der beiden Männer, meinte Tealor: „Morgen früh. Die Fälle von Rotem Wahnsinn werden stetig zahlreicher – ich befürchte, die Läuterung steht kurz bevor. Trotzdem möchte ich vorher noch letzte Befehle zur Sicherung der Stadt geben. Dies wird unsere wichtigste Unternehmung … Sie darf nicht scheitern!“ Bevor sich Shiko zu Ohtah begab, stattete sie dem Kurarium einen Besuch ab. Dort saß Seiketsu mit einem leichten Verband am Kopf auf einem der Betten. „Sei, wie geht es dir?“, fragte sie beim Eintreten. Ihre Freundin sah sie lächelnd an und antwortete: „Alles in Ordnung. Ich werde mich noch in dieser Stunde wieder zum Dienst melden. Gibt es schon einen Plan in Sachen Numinos?“ Bei ihrer Erzählung sparte sie das tödliche Risiko für die Bevölkerung der Unterstadt aus – die Hüterin war größtenteils im Sonnentempel aufgewachsen, lebte für dessen Ideale … Shiko wollte ihr dies nicht zerstören. „Sieg oder Niederlage – morgen wird es sich also entscheiden.“, sprach Seiketsu und nahm ihre Hand, „Bevor es dazu kommt, möchte ich, dass du noch eines weißt, Shiko – du bist für mich wie eine Schwester! Und nicht wegen den Gebräuchen des Ordens … Seit Meister Tyras´ Tod bist du die erste Person, die ich wirklich als >Familie< betrachte.“ Gerührt bestätigte Shiko: „Das freut mich … ich sehe dich genauso. Das ist kein Abschied, Sei – glaub´ mir, ich werde all mein mögliches und unmögliche geben!“ „Ich weiß. Und jetzt geh´ zu Ohtah – er wartet doch sicher auf dich.“, scheuchte die Braunhaarige sie spielerisch hinaus. An der Schwelle drehte sich Shiko noch einmal um. Es war gut, dass sie nach Enderal gekommen war … nicht nur wegen ihrer Position in diesem Kampf. Ohne Seiketsu und natürlich Ohtah wäre ihr Herz noch immer zerschmettert. Shiko klopfte zweimal an die Tür seines gemieteten Zimmers im Tanzenden Nomaden. Als Ohtah ihr öffnete, wirkte sein Gesicht hart. Sie wunderte sich, verlangte jedoch keine Erklärung – wahrscheinlich nahm ihn die Sache mit der Unterstadt immer noch mit. Er zeigte auf ein Buch, das aufgeschlagen auf dem kleinen Tisch lag. Verwirrt folgte sie seiner Anweisung, während er mit verschränkten Armen an der Wand Stellung bezog. Es handelte von einem geheimnisvollen, weit entfernten Land. „Der Verfasser hat es vor gut fünf Jahren geschrieben … und alle haben ihn damals verspottet. Über ein Jahr Seefahrt von Enderal entfernt – selbst oder gerade die besten Kartographen hielten ihn für größenwahnsinnig. Aber eines Tages suchte ihn ein reicher, umherziehender Händler auf … und stellte ihm die notwendigen Mittel für eine Expedition zur Verfügung. Tja, und bevor ich den Auftrag des Heiligen Ordens annahm, habe ich mitbekommen, wie ein Botenfalke einen der Arker Wachtürme erreicht hat – Lethonia existiert! Kurz darauf wurden drei Schiffe beordert, die dem Kaufmann nachsegeln sollen …“, beschrieb er und suchte ihren Blick, „Als ich dir von meinem Vorhaben bezüglich Kilé erzählt habe, habe ich gekniffen. Diesmal will ich dich fragen – Shiko, würdest du mit mir an Bord gehen?“ Sie brauchte einige Augenblicke, bevor ihr Verstand begriff, was er da gerade gesagt hatte … Ihre Augen weiteten sich. „Ich weiß, was für ein Idiot ich war und was ich auf dem Luftschiff zu dir gesagt habe … Ich hatte trotz allem, was ich für dich fühle, Angst … Doch dieser kurze Moment in der Sternenstadt, in dem ich dich für tot hielt … hat mir gezeigt, wovor ich mich noch viel mehr fürchte – dich zu verlieren. Shiko, ich will mit dir zusammen sein … für immer!“, gestand er aufrichtig. Ein leises Lachen entwich ihrer Kehle: „Und du behauptest, du wärst nicht romantisch.“ „Für dich bin ich es …“, entgegnete er mit seinem typisch verschmitzten Grinsen, das jedoch schnell ernst wurde, „Du weißt, das wird dann vermutlich unser letzter Kampf gegen die Hohen. Entweder wir gewinnen … oder ganz Vyn ist verloren. Deshalb würde ich gerne die verbliebene Zeit hier mit dir allein verbringen.“ Seine Lippen fuhren über ihre Stirn, ihre Wangen und bahnten sich schließlich den Weg zu ihrem Mund. Er küsste sie mit einer Hingabe, wie nie zuvor. Ihre Hände streichelten über seine starken Armen, während er sie langsam nach hinten in Richtung Schlafstätte dirigierte. Freudig ließ sie sich darauf fallen und zog ihn mit sich. Bevor seine Fingerspitzen unter den Saum ihrer Kleidung glitten, sah Ohtah ihr fest in die Augen. Eine stumme Frage stand darin … Sie nickte. Die zärtlichen Gesten schickten kleine Stromschläge in ihren Körper, hinterließen eine Spur aus Flammen auf ihrer Haut. Selbst wenn ein anderer ihr auf diese Weise jemals nahe gekommen wäre, hätte er niemals dasselbe in ihr ausgelöst … ihre Gedanken waren einzig von ihm erfüllt. Alles, was sie durchlebt hatten und noch vor ihnen stand, wirkte bedeutungslos im Gegensatz zu diesen tiefen Gefühlen, welche sie einander entgegen brachten … Als er ihre Brustbinde streifte, hielt Ohtah erneut inne. Er genoss es, die … Erkundung in die Länge zu ziehen. Zum ersten Mal verzehrte sich nicht einfach nach dem Körper einer Frau … Doch der Silberhaarige hatte die Begierde in Shiko geweckt und um ihn zu ermutigen fortzufahren, löste sie die Schnürung ihres Gewands, schob den Stoff von ihren Schultern. Das Blut sammelte sich noch mehr unterhalb seiner Körpermitte, aber noch hielt er sich zurück, zügelte sein Verlangen ... Dies sollte keine der hemmungslosen Nächte sein, die Ohtah sonst mit seinen kurzzeitigen Liebschaften erlebte. Schließlich war Shiko diejenige, die sein Herz nicht nur ergriffen … sondern vielmehr geöffnet hatte. Bettgeschichten waren zuvor nie eine große Sache für ihn gewesen – er hatte sich nicht einmal sonderlich anstrengen müssen, um das andere Geschlecht für sich zu gewinnen. Bei ihr war das anders, alles war anders … Und so widmete er sich ausgiebig der Steigerung ihrer Lust, ehe er die letzte Barriere zwischen ihnen überwand. Diesmal wirkte das Aufwachen für Shiko noch mehr wie ein Traum … der sich vielleicht noch zum Alptraum entwickeln konnte. Ohtah merkte sofort, dass etwas mit ihr nicht stimmte und befürchte bereits, er hätte sie doch verletzt. „Ich würde gerne alles über dich erfahren und dir alles von mir erzählen …“, sagte die Elementalistin, ohne ihn dabei anzuschauen, „Aber so viel Zeit bleibt uns nicht. Deshalb sollst du wenigstens den wahren Grund kennen, warum ich hierher gekommen bin …“ Und so beichtete Shiko ihm endlich ihre Vergangenheit, wie sie auf Nehrim in einem kleinen Haus abseits der restlichen Bevölkerung und verschont von den Auswirkungen des Bürgerkrieges mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem ungeborenen Geschwisterchen gelebt hatte, bis dieses eines Nachts plötzlich in Flammen gestanden hatte. Verängstigt war sie aus ihrem lodernden Zimmer gestürmt, im Erdgeschoss versuchten ihre Eltern den Brand zu löschen, während die Flammen bereits an ihnen leckten. In dieser Sekunde waren die Stützpfeiler gebrochen und das Haus krachte in sich zusammen. Shiko verlor das Bewusstsein … Später lag sie inmitten von Trümmern und Asche sowie den verkohlten Leichen zweier Personen, die nur aufgrund ihrer Staturen unterschieden werden konnten. Ihr eigener Körper war dagegen fast vollkommen unversehrt geblieben … Eine merkwürdige Hitze hatte damals durch ihre Adern gepumpt. Nachdem sie ihre Familie bestattet hatte, war Shiko zum Hafen geflohen, um sich auf eines der Schiffe zu schleichen, ohne dessen Kurs zu kennen. Ohtah legte seine Hand auf ihre und entgegnete verständnislos: „A-aber es war nirgends die Spur eines Schiffes, als ich dich gefunden habe, und der nächste Anlegeplatz liegt ein ganzes Stück von der Sonnenküste entfernt.“ „Ja, habe ich es auch erst nicht verstanden.“, bestätigte sie, während Tränen in ihr aufstiegen, „Du konntest nichts dafür, was man deiner Familie und im Grunde auch Livia angetan hat … Meine Eltern dagegen wurden von meiner eigenen Magie getötet – genauso wie die gesamte Mannschaft des Schiffes. Das Feuer ist ein Teil von mir geworden … und sie waren der Preis dafür!“ Der Silberhaarige starrte sie an – sprachlos, fassungslos. Sie hatte sich so lange allein gequält und sich stattdessen um sein Seelenleid gekümmert. Weil sie ihn nicht noch mehr an die Schrecken seines eigenen Verlustes erinnern wollte … Jetzt begriff er, warum sie dermaßen gütig war. Sie bewertete ihre eigene Schuld viel höher. Und daher auch ihr gebrochenes Herz … „Shiko, es ist mir egal, welche Gefahr deine Kräfte möglicherweise bieten! Du bist meine Welt …“, erklärte er entschlossen, „Deine Macht hat Leben genommen … aber genauso Leben geschützt! Weißt du, wie das alles auch immer ausgehen mag, ich bereue es nicht ein Teil dessen zu sein … und ich bin dankbar, dass sich unsere Wege gekreuzt haben.“ Nun gab es für die salzige Trauerbekundung kein Halten mehr. Shiko barg ihr Gesicht an Ohtah´s Brust und weinte schier endlos. Ihr Liebster hielt sie fest, streichelte ihr über den Rücken. Kaum dass sie sich einige Minuten später soweit wieder gefasst hatte, brach ein lauter Aufruhr los und Kanonen knallten. Shiko und Ohtah begriffen prompt, was das bedeutete – Taranor Coarek und seine Armee waren in Ark eingedrungen! In aller Eile sammelten sie ihre Sachen zusammen und hasteten aus der Taverne hinaus auf die Straße. Einige Gebäude in Flammen, Kampfgeräusche und panische Schreie erklangen aus allen Richtungen. Sie wandten sich Richtung Kasernenviertel, als sie zwischen der Stadtgarde noch jemanden entdeckten. „Prophetin, der Sonne sei Dank, Ihr lebt!“, sprach Yuslan sie erleichtert an, „Der Großmeister schickt mich, Euch und Eure Begleitung abzuholen. Ich habe soeben die Schutzzauber über die inneren Tore gesprochen, um das Vordringen der Nehremesen zu verzögern.“ Trotz dessen trafen sie auf Assassinen ähnlicher derer aus Dal´Galar´s Schloss. Doch mit den Dolchkünsten von Ohtah konnten sie bei weitem nicht mithalten. Der Schattenstahl seiner Klingen leuchtete regelrecht in Schein der aufgehenden Sonne, während er durch die gegnerischen Reihen pflügte. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Shiko gelacht, weil er sie beeindrucken wolle … Je höher sie kamen desto dünner wurde die Anzahl an Feinden. Auf dem Hauptplatz des Sonnentempels tummelten sich schwer bewaffnete Krieger, hinter ihnen standen die Arkanisten und an der Treppe zum Götterblick erwartete sie Tealor. Hastig brachte er sie auf den aktuellen Stand – der Orden war von einem der seinen verraten worden … Jorek Bartarr, bei dem Shiko und Seiketsu die Prüfung zur Erhebung in das erste Siegel abgelegt hatten. Es gab eben nicht nur den Roten Wahnsinn … „Meyser Sha´Rim, riegelt mit Eurer Magie den Tempel ab – den Kampf gegen Taranor Coarek und seine Anhänger können wir nicht mehr gewinnen, aber jenen gegen die Hohen!“, erklärte Tealor so laut, dass alle ihn hören konnten, „Und anschließend werden wir uns ergeben, so verschont er vielleicht zumindest das gemeine Volk. Das dort unten sind nichts als verblendete Schlächter – doch wir sind mehr! Unser Tod wird ein Zeichen sein … Also steht bei mir, wenn der Moment gekommen ist – oder geht. Ich werde niemanden aufhalten … Bis dahin müssen wir kämpfen!“ Die Hüter applaudierten, schworen durchzuhalten. Nur Shiko und Ohtah sahen einander an. Eben noch hatten sie Pläne für die Zukunft geschmiedet … „Wirst du seiner Kapitulation folgen?“, fragte er leise. Die Rothaarige seufzte schwer und antwortete: „Ich kann nachvollziehen, warum er diese Entscheidung getroffen hat … und ich bewundere ihn sogar dafür. Doch dies kann nicht mein Weg sein – vor allem wegen uns.“ Erleichterung verstärkte sein Lächeln, als er bestätigte: „Es gefällt mir, wie du das sagst … Ich bin unglaublich froh, dass du so denkst – dein Opfer wäre sinnlos. Es sind schon genug gestorben … und das sage ich nicht nur, weil du mir wichtig bist.“ „Sei!“, rief Shiko bei diesem Stichwort erschrocken aus und wandte sich an Tealor, „Was ist mit Hüterin Lichtsegen?“ Der Endraläer seufzte gequält: „Sie ist in einen Trupp zur Sicherung der Stadt eingeteilt – wir haben jedoch den Kontakt verloren. Ich habe nur wenig Hoffnung, es tut mir leid …“ Shiko wusste nicht, welche Vorstellung ihr mehr Sorgen bereitete – dass ihre beste Freundin oder aber die Menschen um sie herum in Gefahr schweben könnten … Numinus – das Geheimnis der Wahrheit Tealor hatte Shiko, Ohtah und Yuslan zu einer versiegelten Tür unterhalb des Kellers geführt und seinen mächtigen Zweihänder singen lassen. Durch die Resonanz der Waffe löste sich der Zauber, gab den Schacht frei. Während Shiko gerade noch aufrecht stehen konnte, mussten die Männer leicht gebückt durch das Rohr laufen – man bemerkte auf gewisse Weise, dass es eigentlich nicht als Verbindungspfad gedacht war … Die Elementalistin erschuf kleine Flämmchen, die ihnen Licht spendeten. Als es begann abfallend zu werden, nahm Ohtah ihre Hand und sie wurde etwas verlegen. Ihren Begleitern schien die zarte Geste nicht aufzufallen oder sie interpretierten nichts hinein. Über eine halbe Stunde verging, ehe der Weg in einer zweigeteilten Schleuse endete. „Rechts geht es in die Unterstadt – wir halten uns links, um tiefer hinabzusteigen.“, informierte sie Tealor. Er schob die hölzerne Verkleidung beiseite und entblößte eine Steintreppe, die einst direkt aus dem Felsen gehauen sein musste. Der unterste Absatz war lange nicht auszumachen … Dort führte er in ein verwildertes, teils eingestürztes Tunnelsystem. Beim Anblick der Verzierungen an den Wänden fuhr ein stechender Schmerz durch Shiko´s Kopf, sie krümmte sich. Ohtah legte besorgt die Arme um sie. Es war keine bildliche Vision … eher qualvolle Eindrücke, Gefühle. Und da sah sie es – nicht geistig, sondern wortwörtlich … eine Leiche, die jener aus der Ruine bei dem Glockenrätsel glich. Zitternd streckte die Prophetin den Arm aus. Damals war Seiketsu bei ihr gewesen – zwar hatte Shiko es ihnen beschrieben, doch zu sehen war etwas ganz anderes. Ein Schauer lief den Herren eiskalt über den Rücken. Langsam ebbte das Echo ab … Dafür vernahm sie einen anderen, wesentlich wohligeren Klang … Wasserrauschen. Sie bogen um mehrere Ecken, immer dem Geräusch nach, und standen vor einem gewaltigen Wasserfall. „Er ist wunderschön …“, hauchte Shiko. Direkt dahinter erhob sich ein beeindruckendes Bauwerk, das die Zeit überdauert hatte – der Tempel der tausend Fluten! Selbst aus der Entfernung konnte man die pyräischen Hieroglyphen ausmachen, die einst kunstvoll angebracht worden waren … Versetzt ragten Türme in die Luft, eine steinerne Mauer hatte den Tempel eingefasst. Vor ihnen spannte sich eine Brücke über den reißenden Fluss, die mit weiteren Pyräern in allen möglichen Positionen gespickt war. Wahrscheinlich hatten sie im inneren Heiligtum Schutz suchen wollen … „Ich fürchte, es ist die einzige Möglichkeit, um zum Tempel zu gelangen.“, meinte Tealor und versuchte aus Respekt vor den Opfern seine Abscheu zu unterdrücken. Vorsichtig balancierten sie zwischen den geschwärzten Körpern hindurch. Auf der anderen Seite erwartete die Kämpfer eine hohe Treppe, die zum Eingangstor des Tempels führte. Da glomm ein rötlicher Schein auf und eine durchdringende Stimme sprach: „Beeindruckend – wir hätten nicht geglaubt, dass ihr es bis hierher schafft. Ihr weigert euch nach wie vor aufzugeben … Verratet uns, Tealor Arantheal, woher nehmt Ihr diese Kraft? Von Eurer süßen, kleinen Prophetin wissen wir es ja bereits … nun interessieren wir uns für Euch. Ihr seid so verbissen … Wollt Ihr auf diese Weise etwa Euer Gewissen erleichtern?“ Shiko zuckte zusammen, als Ohtah sie hinter sich bugsierte. Yuslan sah Tealor an, der sein Schwert gezogen hatte. Aus dem Licht formten sich zwei Gestalten – eine arazealische Frau und ein junger Mann, dessen Gesichtszüge ihnen irgendwie vertraut vorkamen. „Er kann nicht in Inodan bleiben, Tealor …“, sprach sie und kassierte damit entgeisterte Blicke, „Die Schwangerschaft konnten wir verbergen, aber ein Kind? Du musst mit ihm türmen – dahin, wo dich niemand erkennen wird. Es tut mir leid … Mir hätte früher klar sein müssen, dass unsere Liebe unmöglich ist! Eine Lichtgeborene und ein Sterblicher … In den Augen der Welt wäre das nichts anderes, als Ketzerei.“ Tealor selbst wirkte bestürzt. In seinem Kopf durchlebte der das Gespräch aus seiner eigenen Erinnerung … Doch seine jüngere Version antwortete entschieden: „Nein, ich kann das nicht, Irlanda. Du weißt, dass der Rat kurz davor steht, mich zum Großmeister zu ernennen! Ich habe Verpflichtungen, verdammt – ich bin ein Krieger, kein … Vater! Wir werden ihn fortgeben – es ist besser für ihn und für uns.“ Keiner der Gefährten rührte sich. Sie waren geschockt von den Worten des Großmeisters … „Was wäre wohl passiert, wenn Ihr Euch um Euren Sohn gekümmert hättet? Wahrscheinlich hätte er niemals diese Leere in sich gespürt, die ihn die Götter hassen ließ … Und er wäre nicht gegen sie in den Krieg gezogen. Ihr tragt die Schuld an diesen Ereignissen, Tealor Arantheal – aus Eitelkeit und Gier nach einem Titel!“, warf ihm der Hohe vor, „Deshalb wollt Ihr unbedingt als Held gesehen werden … doch das seid Ihr nicht.“ Genauso schnell, wie seine Präsenz erschienen war, verschwand sie auch wieder. „Gehen wir weiter. Die Siegel werden nicht ewig halten.“, rief die Elementalistin ihnen ins Gedächtnis, wenn auch nur monoton, und erklomm die Stufen. Das schmiedeeiserne Tor rührte sich keinen einzigen Millimeter – es war sicher von ihnen verbarrikadiert. Kurz überlegte Shiko es ebenso aufzubrechen, wie jenes beim Schloss, da durchfuhr sie ein merkwürdiges Gefühl … eine Hitze, jedoch nicht ihre eigene oder gar das Arkanistenfieber. In schrecklicher Vorahnung schaute sie zurück. Dort erhob sich in der Ferne sich ein ätherischer Drache – eine Personifikation der Hohen! Sie rief gerade zur Vorsicht, da schoss er eine Salve von Feuerbällen auf die Kämpfer ab, die ringsherum einschlugen. Shiko konnte nicht sagen, wie lange sie bewusstlos gewesen war … Ihren schmerzenden Gliedern nach musste sie von irgendetwas getroffen worden sein. Stückweise setzte sie sich auf und sah sich einem Bild der Zerstörung gegenüber – das Eingangsportal war nur noch mit Mühe unter dem Berg von Trümmern auszumachen, überall loderten kleine Feuer. Yuslan und Tealor eilten zu ihr – beide ebenfalls verletzt. Einer war allerdings nirgends auszumachen … „Wo ist Ohtah?“, wollte Shiko schwach wissen. Der Qyräer schaute zur Seite, während Tealor entgegnete: „Er wurde verschüttet … Ich weiß, wie nahe er Euch stand. Hauptsache Ihr habt überlebt!“ Die Vergangenheitsform seiner Worte versetzte ihr einen Schlag. Die schöne Nehremesin schwankte, als sie näher an die Verwüstung herantrat. Nicht Ohtah oder Seiketsu trugen einen Fluch in sich – sie war es! Sie hätte sich ihm niemals nähern dürfen … Einzig wegen ihr hatte er an dieser Unternehmung teilgenommen. Und nun war sie unfähig, ihm zu helfen. Die gewaltigen Gesteinsbrocken fortzuschaffen, würde ihre gesamte Magiereserven verbrauchen … Dann hätten die Hohen vollends gewonnen – doch machte eine Welt ohne ihn überhaupt noch Sinn? Shiko erhob die Hände, um den Zauber zu weben … Dann verharrte sie regungslos. Seiketsu und Klerus kamen ihr in den Sinn, ihre aufkeimenden Gefühle füreinander – sie konnte die beiden und den Rest der Menschheit nicht verdammen, sie durfte es nicht! „Prophetin, wie müssen gehen.“, erklärte der Endraläer, „Unsere Feinde haben ihren letzten Trumpf ausgespielt und sind gescheitert!“ Um ihr einen letzten Augenblick des Abschieds zu gewähren, ging er mit Yuslan einige Schritte voraus. Shiko biss sich auf die Unterlippe. Was waren ihre Kräfte eigentlich wert, wenn sie damit nicht einmal den Mann retten konnte, den sie liebte? Mit einem Mal fiel ihr das Bardenlied ein, welches er auf ihrer Reise nach Ark in dem verlassenen Handelsposten gesungen hatte. Auch darin war der Protagonist ausgezogen, um für seine Heimat zu kämpfen … und hatte deshalb seine Liebe zurückgelassen. Erst Jahrzehnte später waren sie im Tod wiedervereint. Aber was wäre gewesen, wenn seine Frau ebenfalls auf dem Schlachtfeld gewesen wäre? Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen und sie breitete die Arme zu beiden Seiten aus. Das Feuer gehorchte anstandslos ihrem Willen, drang in sie ein. Von dieser neuen Energie gestärkt, verpasste Shiko den Erdmassen einen kräftigen Stoß, gleich einem Erdbeben. Mehr konnte sie nicht tun … Ohne die Auswirkung zu überprüfen, folgte sie dem Großmeister. Die Überreste der Fliehenden führten die verblieben Kämpfer direkt ins Herzstück des Tempels – im Altarraum stand das pyräische Leuchtfeuer, wie einst in ihrer allerersten Vision. Die verzierten Streben waren teilweise zusammengestürzt, die schwarzen Steine hatten ihren Glanz verloren. Es wunderte Shiko, dass sie den Kristall des Numinos nicht entdecken konnte … „Bei den Göttern, wie ähnlich sie aussehen … Meyser Sha´Rim, platziert das Wort der Toten auf dem vordersten Sockel und haltet Euch bereit.“, befahl Tealor euphorisch, „Jetzt liegt es an Euch, Prophetin, beschwört die Erinnerung an die Läuterung!“ Shiko kniete nieder und schloss die Augen, um sich zu sammeln. Im Ansatz war es ihr bereits gelungen, das Echo selbst zu rufen … Unwillkürlich fragte sie sich, ob die vorherigen Prophetinnen ähnliche Ereignisse erlebt hatten? Eine erwiderte Liebe, eine solch tiefe Freundschaft … all die Wunder und Abenteuer. Waren ihnen ähnliche Gedanken durch den Sinn gegangen. Hatten manche von ihnen den Kampf sogar aufgegeben? „Das ist es – unser Leuchtfeuer! Es wäre unsere Rettung gewesen … All die Energie ist nutzlos ohne den Numinus. Die Hohen haben gesiegt – die Läuterung wird passieren … Wir können nicht fliehen! Nirgends wären wir vor ihnen sicher.“, zweifelte ein Pyräer in ihrem Kopf. Eine weibliche Stimme bestätigte ihn: „Ja, die Läuterung kommt näher. Und es gibt nur noch eines, was wir für unser Volk tun können … Entzünden wir es! Lieber durch die Explosion sterben, als ihre Lebensgrundlage zu werden.“ Das Gespräch brach ab und ein rötlicher Nebel zog auf. Yuslan öffnete die Schatulle, um dessen einzigartige Fähigkeit zu aktivieren … Ein helles Leuchten blendete die drei und sie fanden sich auf schwebenden Steinen inmitten des feindlichen Energiefeldes wieder. Unweit vor ihnen befand sich die Erfüllung all ihrer Mühen – der Essenzkern des Hohen! Tealor seufzte erleichtert, er hatte es geschafft. Der Qyräer nahm den Kristall aus der Tasche, den Shiko zusammen mit Seiketsu gefunden hatte und ging damit zur Plattform. Dort verweilte er und äußerste seine Gedanken: „Sagt mir, Meyser Arantheal, als die Hohen uns vorhin die Erinnerung gezeigt haben, war es das erste Mal, dass Ihr wahrhaft betroffen gewirkt habt. Bereut Ihr wirklich, was Ihr Eurem Sohn antatet … oder hat es Euch bloß an Euer Versagen erinnert? Ich frage mich, ob Ihr überhaupt jemals bedenkt, was Eure selbstsüchtigen Entscheidungen für andere bedeuten … welche Konsequenzen sie nach sich ziehen. Wahrscheinlich eher nicht – sonst müsstet Ihr Euch ja mit Euren Verfehlungen auseinandersetzen, nicht wahr? Wie etwa die Sache damals in Qyra!“ „Das … Nein, Ihr … Ihr wart dort, beim rechten Weg.“, stammelte der Großmeister, „Bitte, ich … ich habe einen Fehler gemacht – wir sollten eine Revolution gegen die Goldene Königin niederschlagen, aber … Ich weiß, es ist keine Entschuldigung zu behaupten, ich wäre zu jung gewesen … Ich habe die Nerven verloren und bereue diesen Tag zutiefst.“ Schmerz legte sich über Yuslan´s Gesicht, als er berichtete: „Die >Nacht der tausend Feuer< – recht klangvoll für ein Massaker, findet Ihr nicht? Damals habe ich einen Schwur geleistet … eines Tages wäre ich derjenige, der Euch alles nimmt! Ihr habt mir einmal die Frage gestellt, wie das Wort der Toten in meinen Besitz gelangt ist – nun könnt Ihr Euch sicher auch vorstellen, warum ich es unbekannt haben musste. Ich habe damit unzählige Male die letzten Sekunden in der Gedankenwelt meiner Frau … und meiner Tochter durchlebt!“ „Aber mit dieser Sabotage schadet Ihr nicht nur mir, sondern ganz Vyn!“, versuchte Tealor ihn zur Verfügung zu bringen. Doch auf diesem Ohr schien er taub zu sein: „Ich habe mit dieser Welt längst abgeschlossen … Und Ihr wünscht Euch einen Märtyrertod doch mehr, als alles andere – Tealor Arantheal, Bezwinger der Hohen und Retter der Menschheit! Das würde Euch gefallen, oder? Jetzt scheitert Ihr bei Eurem letzten Aufbegehren durch meine Hand … das ist die perfekte Rache!“ Damit zerschmetterte Yuslan den Kristall und die freigesetzte Energie schleuderte sie aus dem Bewusstsein des Hohen. Shiko hatte das Gefühl in einer Blase zu landen … Die Verzweiflung brach über ihr zusammen. Selbst wenn Ohtah noch lebte, wäre es soeben bedeutungslos geworden … Im entscheidenden Moment hatte sie als Prophetin vollkommen versagt! Waren so etwa auch die anderen Zyklen zu Ende gegangen? „Alles beginnt mit den Träumen …“, flüsterte eine ihr bekannte Stimme und Shiko erblickte erneut die verschleierte Frau, „Ich weiß, was Ihr gesehen habt. Es war eine Möglichkeit der Zukunft … Soll ich Euch erzählen, wie es für Eure Ära weitergegangen wäre? Von seinem falschen Stolz zerfressen, tötet Tealor Arantheal zunächst Yuslan Sha´Rim und entzündet anschließend das Leuchtfeuer ohne den Numinos, was das Ende der Menschheit einläutet – genau wie es all seine Vorgänger getan haben. Es mag für Euch kaum vorstellbar sein, aber im Grunde verfügen die Hohen nur über jene Macht, welche die Sterblichen ihnen selbst verleihen … Seit Äonen verderben sie meine Schöpfung mit demselben Verlauf und am Ende geschieht die Läuterung durch ihre psychischen Spiele. Es war nie meine Art auf die Geschicke Vyn´s Einfluss zu nehmen. Doch Ihr … irgendetwas ist anders an Euch. Deshalb habe ich Euch damals an der Sonnenküste geholfen – um die Gabe der Prophetin auf meine Weise wirken zu lassen und Euch eine zweite Chance zu verschaffen. Nutzt sie weise!“ Bevor Shiko etwas erwidern konnte, begann sie schon sich aufzulösen und die Elementalistin wurde ohnmächtig. Geschwächt erwachte Shiko an derselben Stelle wie zuvor, nachdem die Hohen sie angegriffen und den Zugang zum Tempel verschüttet hatten. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Brust – irgendwo dort draußen lag Ohtah unter Trümmern begraben … und diesmal würde nicht einmal das Drachenfeuer genügen, ihn zu retten. Tealor kam zu ihr – genauso ramponiert, wie in ihrer Vision – und fragte: „Prophetin, seid Ihr wohlauf?“ „Ja, soweit schon.“, erwiderte sie, bevor sie sich dem Qyräer zuwandte, „Gebt mir das Wort der Toten! Yuslan Sha´Rim, Ihr stammt nicht einfach nur aus Qyra … Ihr wart Teil der Nacht der tausend Feuer und habt Eure Familie an Meyser Arantheal verloren, nicht wahr?“ Die beiden Männer starrten sie an – Tealor überrascht, Yuslan zornig und er gab in leicht abgewandelter Form dasselbe wie bereits im Numinos wieder. Als er geendet hatte, hob er das Wort der Toten hoch und wollte es zerschlagen, da wirkte Shiko geistesgegenwärtig einen Zauber, der ihn zu Eis gefrieren ließ … Es stimmte, ihr nähestes Element war das Feuer mit seiner zerstörerischen Wut – doch das hieß nicht, dass sie deshalb eine Mörderin sein musste. „Ich ...“, begann Tealor und suchte nach Worten, „Was ist hier gerade geschehen?“ Die Elementalistin nahm die Schatulle sowie den Kristall an sich und murmelte: „Für den Moment sollten wir erst einmal die Mission zu Ende bringen …“ »Zurück« am Leuchtfeuer versperrte Shiko dem Großmeister allerdings den Weg und sagte: „Ich werde den Numinos bergen – Ihr bleibt hier … Ich will nicht, dass Ihr direkten Kontakt mit den Hohen habt. Euer Geist ist angeschlagen.“ In seinem Stolz gekränkt, fuhr Tealor sie an: „Ach, und Eurer etwa nicht? Trauert Ihr nicht um diesen Söldner, den Ihr so heiß und innig liebt?“ „Gerade deshalb werde ich sie um jeden Preis büßen lassen!“, widersprach sie energisch und rief noch einmal die Erinnerung an die letzte Läuterung zu sich. Diesmal aktivierte sie das Wort der Toten selbst, wobei sich Tealor ihrem Willen fügte. Die Gedankenwelt des Hohen hatte sich nicht verändert – beinahe zumindest. Denn da erklang dessen Stimme: „Wenn das nicht die hochgeschätzte Prophetin ist – Ihr seid wahrlich zäh, das müssen wir Euch lassen! Schade, dass Ihr so allein seid …“ Shiko versuchte die Worte zu ignorieren, auszublenden und hielt auf ihr Ziel zu. „Oh, wie unsensibel von uns – schließlich ist es Euer größter Wunsch, dieser Silberschopf könnte bei Euch sein.“, fügte er gespielt empathisch hinzu. Und vor ihr erschien Ohtah, vollkommen unverletzt … Ohne es unterdrücken zu können, kamen ihr die Tränen. Siegessicher versuchte er sich noch weiter bei ihr einzuschmeicheln: „Ihr müsst nichts anderes tun, als diesen albernen Gegenstand in die endlose Leere fallen zu lassen … und wir werden Euch eine gemeinsame Existenz schaffen, für alle Ewigkeit.“ Ein schelmisches Lächeln umspielte Shiko´s Lippen: „Es tut mir leid – aber Ohtah hält nichts von Versprechungen!“ Angetrieben von der Kraft des Windes sprintete sie zu seiner Essenz und entriss ihm dessen Kern, den sie sogleich im kristallinen Behältnis des Numinos verschloss. Loderndes Ende Tealor und Shiko begaben sich schnellstmöglich wieder zum Sonnentempel. Im Kellergewölbe hörten sie bereits den Schlachtlärm – wahrscheinlich hatten sich Yuslan´s magische Barrieren mit seiner Bewusstlosigkeit gelöst. Wenigstens hielt die Mauer noch Stand, sodass die Nehremesen nur nach und nach eindringen konnten. Eine hastige Ortung seiner Aura bestätigte der Elementalistin, Klerus harrte weiterhin auf dem Götterblick aus … Shiko rannte die Treppe hinauf, der Großmeister griff in den Kampf ein. „Prophetin! Ihr habt es vollbracht!“, rief der Arkanist sichtlich erleichtert und bestaunte den Numinos. Vorsichtig übergab sie ihm das kostbare Gut, damit er es in das Zentrum des Leuchtfeuers einsetzen konnte. Gerade als ihm das gelungen war, schlugen ihre Gegner eine Bresche in die Reihen der Hüter und erklommen den ersten Absatz. „Beeilt euch, Meyser Heilbringer – entzündet es!“, befahl Shiko und stellte sich den feindlichen Soldaten entgegen. Eine Wand aus Flammen wuchs aus dem Stein, bremste sie aus. Das Leuchtfeuer sandte unterdessen einen weißen Energiestrahl in den Himmel, der sich dort in unzählige Facetten aufspaltete und sich gegen jeden einzelnen Hohen richtete … Von dem Anblick und dem Abfallen ihrer Bürde überwältigt, sank Shiko in die Knie. Ihr Widerstand war gebrochen und Tealor Arantheal verkündete ihre offizielle Kapitulation. Außer ihnen wurden weitere zweiundsiebzig Hüter sowie Klerus und vierundzwanzig seiner Magier in Gewahrsam genommen, die bis zu dem Zeitpunkt überlebt hatten. Während sie abgeführt wurden, bemerkte die Rothaarige Seiketsu´s Fehlen. Also war auch sie gefallen … damit hatte ihr Leben endgültig jeden Inhalt verloren. Ihr Liebster und ihre Schwester im Geiste waren tot, die Hohen vernichtet – aber ihre Aufgabe hatte sie letztendlich doch erfüllt! Bereits drei Tage später waren sämtliche Scheiterhaufen über die Innenstadt Ark´s verteilt. Die »Haupttäter« und Arkanisten wurden auf dem Marktplatz zur Schau gestellt und allen waren magieblockende Fesseln angelegt worden. Wie ein Kaiser stritt Taranor Coarek auf sie zu und verlautete: „Für Euren verblendeten Idealismus, der zur Vereitlung des menschlichen Aufstiegs geführt hat, verurteile ich Euch, Tealor Arantheal, mitsamt Eurer Prophetin und allen anderen Verrätern des Wächterordens zum Tod auf dem Scheiterhaufen! Habt ihr noch irgendwelche, letzten Worte?“ „Unser Tod ist Eure Genugtuung – die Hohen gibt es nicht mehr. Es gibt jedoch keinen Grund, Enderal dafür bluten zu lassen … bitte, verschont die Bürger.“, entgegnete der Großmeister und ließ seinen Blick über die eingeschüchterten Zuschauer wandern, die ebenfalls von nehremesischen Soldaten bewacht wurden. Klerus dagegen schwieg, genauso Shiko. Für sie war alles gesagt – wenigstens würde es keine weitere Marionetten ihrer Machenschaften geben. Und sie glaubt fest daran, Ohtah und vielleicht sogar Seiketsu nach ihrem Tod wiederzusehen … so wie es im »Lied vom Winterhimmel« erzählt wurde. Dennoch war es schon regelrecht ein schlechter Witz, dass ausgerechnet sie derart sterben sollte, eine Elementalistin mit besonderer Affinität zum Feuer … Sie würde diese Welt also ihren Elten gleich verlassen. „Ihr seid wahrlich mutig, mir auf diese Weise noch Eure Forderung unterjubeln zu wollen … Aber in einem Punkt hattet Ihr wohl recht – ich habe genug Krieg gesehen … Wir sind trotz unserer zahlreichen Verluste stark. Ihr kennt hier keine Sklaverei … das wird sich in Zukunft ändern. Enderal soll leben … durch die Gnade der freien Völker Nehrim´s!“, tat Taranor seine Absichten kund und senkte die Fackel. Das Feuer sprang sofort auf das trockene Stroh über, breitete sich lichterloh aus. Als es Tealor erreichte und ihn gefangen nahm, musste die Rothaarige ihre Augen abwenden, während der Nehremese sich eher an dem Leid seines alten Rivalen ergötzen wollte – es kam allerdings kein einziger Schmerzensschrei über dessen Lippen. Minutenlang beobachtet er das Geschehen, bis sich das Fleisch von Tealor dunkel verfärbt hatte. Dann richtete sich seine Aufmerksamkeit auf Shiko: „Wenn man es genau nimmt, trage ich eine Mitschuld … Ich hätte Euch damals bereits auf der Halbmondinsel töten sollen. Nur wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dass dieser alte Narr seine wichtigste Spielfigur einer solchen Gefahr ausliefern würde … Wer weiß, möglicherweise gelingt es mir ja eines Tages, die Läuterung dennoch geschehen zu lassen und damit Buße zu tun.“ Schockiert starrte sie ihn an. Er hatte seinen Wunschtraum noch immer nicht aufgegeben? Das durfte nicht war sein! Sollte ihr Handeln etwa vollkommen sinnlos gewesen sein? Shiko zerrte an den Fesseln, schrie auf in ihrer Wut. Taranor lachte und wollte gerade ihren Holzstoß anzünden, da brach er röchelnd und Blut spuckend zusammen – aus seiner Kehle ragte ein Dolch aus Schattenstahl! Shiko´s Herz setzte einen Moment lang aus. Diese Klinge und seinen Zwilling würde sie unter Tausenden erkennen … Die Welt schien auf Zeitlupe umgeschaltet zu haben – der Tumult, das Geschrei und klirrendes Metall drangen nur gedämpft an ihre Ohren. Ihre Seelenspiegel klebten förmlich an der Waffe. Plötzlich bemerkte sie etwas kaltes an ihrem Handgelenk … jemand befreite sie. Kaum waren die Spruchbänder gelöst, kehrte ihre Magie schlagartig zurück. Shiko drehte sich um … und tatsächlich da stand er! In seine schwarzen Gewänder gehüllt, die Halfter und Beutel an den Hüften, das Haar noch zerzauster. Auf seinen Lippen lag das für ihn typische, schiefe Grinsen: „Tut mir leid, dass ich erst so spät komme, mein schönes Fräulein.“ Ohne etwas zu erwidern, fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn erleichtert. Seine Arme umschlungen sie, pressten sie fest an sich. Am liebsten hätte er sie gar nicht mehr losgelassen – würden sie sich nicht gerade auf einem Schlachtfeld befinden. Denn Ark verfügte über eine Streitmacht, die bislang niemand von ihnen in Erwägung gezogen hatte … die Unterstädter. Obwohl sie verständlicherweise nicht besonders gut auf die Hüter zu sprechen waren, hatten die Nehremesen noch schlechtere Karten. Wegelos oder nicht – Enderal war ihre Heimat. Und sie verstanden sich besonders gut auf das Anschleichen sowie im Verborgenen zu handeln, was sie für die Befreiung der Arkanisten und restlichen Hüter prädestinierte. Bei Klerus hatte dies hingegen jemand ganz besonderes übernommen … Seiketsu! Als der Ansturm ihrer Feinde zu übermächtig geworden war, hatte sie ihren Trupp in die Unterstadt geführt und war dort Ohtah begegnet, der sich alsbald an die Planung einer Rettungsmission machte. Mit dem Tod ihres Anführers verloren die Soldaten jegliche Disziplin – keine Formation blieb beisammen und so fasste auch das gemeine Volk wieder neuen Mut, stürzte sich in den Kampf. Als Shiko zudem ihren Meteorenschauer vom Himmel regnen ließ, ergriffen die ersten die Flucht und bis zum Abend befand sich kein feindlicher Nehremese mehr auf endraläischem Boden … Ein großes Fest, welches sich durch sämtliche Viertel zog, lenkte die Menschen zumindest vorläufig von den zahlreichen Verlusten und der Zerstörung ab. Selbst diejenigen, die trauerten, zogen sich nicht zurück, sondern erhoben stolz die Krüge. Shiko und ihre Freunden hatten sich eine etwas ruhigere Ecke am Rande des Geschehens gesucht. Schließlich gab es eine Menge zu erzählen. „Wie hast du diesen Einsturz überlebt?“, fragte sie an Ohtah gewandt, nachdem er und Seiketsu von ihrem Aufeinandertreffen berichtet hatten. Der Söldner kratzte sich verlegen an der Wange, während er antwortete: „Als das Leuchtfeuer seine Macht entfaltete, hat sich das Geröll durch die Druckwelle verschoben. Doch ich konnte mich nicht bewegen … da erschien deine verschleierte Frau – sie hat mich geheilt.“ Die Sicht verschwamm der Elementalistin und wie aus dem Nichts stand Besagte in einer unbekannten Sphäre vor ihr, wie nach der Vision des Numinos. „Dies ist mein Dank, Prophetin …“, sprach sie, wobei Shiko glaubte, die Spur eines Lächeln zwischen den Tüchern hindurch blitzen zu sehen, „Ohne Euch wäre ich vermutlich weiterhin untätig geblieben. Vielleicht war es Hoffnung … oder gar Verzweiflung? Menschliche Regungen sind mir fremd. Dennoch ist es meine Schuld, dass Ihr, die ganze Menschheit und alle Völker vor Euch zu ihren Opfern wurdet … dafür bitte ich um Verzeihung. Ich weiß nun, dass mehr dazu gehört, Göttin zu sein, als nur eine Welt zu erschaffen.“ Etwas ähnliches hatte Shiko bereits geahnt und meinte milde: „Ich mag durch Euch viel Leid erfahren haben, aber genauso viel Glück. Und was die Aufgabe betrifft, die auf Euch ruht – die Vyner können nur an Euch glauben und Euch ihre Kraft schenken, wenn sie Euch kennen.“ „Der Tag mag noch kommen, da meine Kinder von meiner Existenz erfahren … für den Moment habe ich mich genug eingemischt.“, erklärte sie und verschwand langsam, „Doch seid versichert, von jetzt an werde ich das Schicksal nicht einfach dem Zufall überlassen. Und vielleicht werden wir uns ja eines Tages wiedersehen … für Euch scheint alles möglich zu sein.“ Lächelnd kehrte ihr Geist in die Gegenwart zurück, wo Ohtah ihr wild vor dem Gesicht herumwedelte, und sie warf einen neuen Gedanken auf: „Da fällt mir ein, wann legen die Schiffe nach Lethonia eigentlich ab?“ „Durch unseren unliebsamen Besuch wird es wahrscheinlich noch ein paar Wochen dauern, aber sicher schnellstmöglich – Meyser Roth benötigt sicher noch einiges an Gütern.“, überlegte der Silberhaarige grinsend. Verliebt sahen sie einander an … ein völlig neues Leben erwartete die beiden auf diesem unbekannten Kontinent voller Abenteuer. „Was dagegen, wenn ich mich euch anschließe?“, wollte Seiketsu von ihnen wissen. Klerus verschluckte sich daraufhin fast an seinem Bier und verkündete entschieden: „Dann komme ich ebenfalls mit euch – ich muss mich schließlich bei meiner Retterin revanchieren!“ Eine leichte Röte trat in das Gesicht der Hüterin, welche nichts mit dem Alkohol zu tun hatte. Shiko wusste zwar nicht, wie oder wann genau es passiert war, doch hatten Vermutungen in diese Richtung sie vorher schon beschäftigt und was sonst noch geschehen würde … Vor Ende der Überfahrt wären Shiko und Ohtah wohl nicht das einzige Paar, welches dort neu anfangen würde. Es gibt wenige Momente der Klarsicht im Leben, in denen die Menschen wichtige … richtige Entscheidungen treffen und etwas gegen die unliebsamen Wahrheiten dieser Welt tun können oder Sklave ihrer eigenen Gewohnheiten bleiben. Wandel ist möglich … doch er ist kein lauter Knall, sondern ein langer Weg voller kleiner als auch großer Hindernisse … Jene Frau, die der Geschichtsschreibung als »Prophetin der Legende« in Erinnerung verbleiben wird, hat dies durch ihren unbeugsamen Willen bestätigt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)