Die Legende von Shikon No Yosei von Ami_Mercury (Das Schicksal einer Elementarmagierin) ================================================================================ Kapitel 14: Buch 07: Die Kinder der Legenden -------------------------------------------- In den Tiefen der Unterwelt In den tiefsten Tiefen der Unterwelt, in den entlegensten Verliesen wurden die stärksten und bösartigsten Wesen aus der gesamten Geschichtsschreibung der drei Kontinente dieser Welt gefangen gehalten – Shiro Tagachi, der Untote Lich, Abaddon, der Große Zerstörer. Seit Jahrzehnten Gefangene ihrer eigenen abscheulichen Gedanken, sonnen sie auf Rache. Rache an der Person, welche für dieses ihr Schicksal verantwortlich war. Jene Elementarmagierin, die das unmögliche vollbracht und sie bezwungen hatte. Und wäre die Zeit nicht sogar ein Feind der Götter selbst, ihre Gefängnisse hätten für alle Ewigkeit bestanden. Doch so wie der Friede in Tyria einzog, ließ auch die Vorsicht der Sechs Götter nach. Diese Nachlässigkeit zusammen mit ihrer unbändigen Wut schwächte die Fesseln der Gefängnisse. Shiro Tagachi, der Untote Lich, Abaddon und der Große Zerstörer spürten die Veränderung und steigerten ihre Bemühungen auszubrechen. Stück für Stück zerschlugen sie die Banne, Schutzmauern und Gitterstäbe. Nichts hätte sie mehr aufhalten können zu fliehen. Sie waren frei, frei und entschlossener denn je wollten sie ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Und genauso wie sie es für vollkommen undenkbar gehalten hatten, dass ein kleines Menschlein sie besiegte, taten sie etwas ebenso Unvorstellbares – sie schlossen sich zusammen! „Ich werde sie büßen lassen! Sie, die meine Regentschaft verhinderte und mich hierher verbannte!“, knurrte Shiro Tagachi und sah dabei ihr Antlitz vor seinem inneren Auge. Der Untote Lich nickte zustimmend: „Ja … mein Vorhaben war so perfekt! Die angebliche Retterin, die für den Untergang der Welt verantwortlich ist und daran zerbricht!“ „Es ist dieser Junge an ihrer Seite, der ihr diese Kraft gibt.“, erklärte Abaddon mit nachhallender Stimme, während er daran dachte, wie er sie von seinem Einfluss befreit hatte. Zischend entgegnete der Große Zerstörer: „Sie sind alle dem Tode geweiht! Die ganze widerliche, menschliche Brut!“ „Wir werden dich vernichten!“, schrien sie donnernd und schossen aus der Unterwelt hinaus, „Dich und deine Freunde! Fürchte unsere Rache, Shikon No Yosei!“ Besagte Shing Jea wurde in diesem Augenblick aus ihren Träumen gerissen. Angstschweiß stand auf ihrer Stirn. Ein starker, wallender Drang in ihrem Innern zwang sie zum Aufstehen. Leise schlich sie aus dem Raum, um ihren Mann nicht zu wecken. Sie verließ das Haus und nahm die Straße, welche aus dem Dorf hinausführte. Direkt zu ihrem Schrein. „Shiko … hörst du mich? Shiko …“, erklang eine warme, vertraute Stimme wie aus weiter Ferne. Shikon No Yosei riss die Augen auf und rief: „TEINAI! Ich bin hier! Wo bist du?“ „Ich kann meinen Geist nicht materialisieren … aber ich muss dich warnen, Shiko!“, erklärte die Elementarmagierin ernst, „Shiro Tagachi, der Untote Lich, Abaddon und der Große Zerstörer sind aus der Unterwelt ausgebrochen! Sie sind auf dem Weg nach Shing Jea … Ich weiß nicht, wann sie euch erreichen werden. Sie wollen dich vernichten!“ Von einer Sekunde zur anderen verschwand Teinai´s Aura wieder, die Verbindung mit den Nebeln war abgerissen. Shikon No Yosei schauderte, Schmerz griff nach ihrer Brust, Tränen traten in ihre Augen. All ihre besiegten Feinde waren aus ihren Gefängnissen geflohen?! Ihre Beine gaben nach, zitternd sank sie zu Boden. Obwohl Teinai so schwach gewesen war, hatte sie alles gegeben. Aber sie konnte nicht kämpfen … nicht mehr. Nicht seit dem Ende des zweiten Tengu-Krieges. Und das Amt der Verteidiger ruhte auf den Schultern ihrer Kinder – Yoso No Koshi, Ryukii No Mai, Toki No Kibo. Eine neue Woge der Angst überwältigte sie. Sie wusste, was es bedeutet diesen Gegnern gegenüberzustehen. Elterliche Pflicht Noch bevor Ohtah Ryutaiyo ihre Abwesenheit bemerkt hatte, war Shikon No Yosei zurück. Früher wäre ihm das nie passiert. Wenn sie unterwegs gewesen waren, hatte er selbst im Schlaf stets über sie gewacht. Kein Überraschungsangriff hatte ihn unvorbereitet getroffen. „Was ist los?“, murmelte der Assassine verschlafen, als sie ihn weckte. An jedem anderen Tag hätte Shikon No Yosei über seine Sorglosigkeit gelacht. Er hatte sich in der ganzen Zeit wirklich an das friedliche Leben eines einfachen Canthaners gewöhnt – wenn man vom Unterricht im Kloster einmal absah. Zu lange hatte es keinen Ernstfall mehr gegeben. Die fehlende Reaktion seiner Frau veranlasste Ohtah Ryutaiyo dazu sich kerzengerade aufzusetzen und sie aufmerksam zu mustern. „Was ist los?“, fragte er noch einmal, diesmal hellwach. Mit schwacher, brüchiger Stimme antwortete Shikon No Yosei: „Ruf´ alle zusammen. Ich habe euch etwas mitzuteilen …“ Sorge durchflutete seine Gedanken. Doch er wagte es nicht zu zögern. In der nächsten Sekunde war er bereits via Schattenschritt verschwunden. Während Seiketsu No Akari schweigsam am Tisch saß, Ohtah Ryutaiyo rastlos auf und ab lief, sahen Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo sie erwartungsvoll an. Shikon No Yosei hatte beinahe eine Viertelstunde nur geschwiegen. „Teinai hat heute Morgen zu mir gesprochen …“, sagte sie schließlich in die Stille hinein, „Shiro Tagachi, der Untote Lich, Abaddon und der Große Zerstörer sind auf dem Weg hierher.“ Ohtah Ryutaiyo verharrte mitten in der Bewegung. Seiketsu No Akari starrte sie entsetzt an. Die drei Verteidiger stießen einen erschrockenen Laut aus. Sie kannten alle Geschichten über die Kämpfe ihrer Eltern, den lebenden Legenden. Der Assassine fand als erster seine Stimme wieder: „Das heißt, wir müssen uns vorbereiten … Dies wird unser schwerster Kampf!“ Shikon No Yosei schüttelte jedoch den Kopf und widersprach ihm: „Es ist nicht unser Kampf, Ohtah. Nicht wir haben die Aufgabe Cantha zu beschützen …“ „Sollen Yoso, Ryukii und Toki etwa allein kämpfen? Wir reden hier von unseren schlimmsten Feinden! Hast du vergessen, wie viel Kraft es uns gekostet hat, sie zu besiegen? Und wir hatten nur jeweils einen Gegner!“, fuhr er sie wütend an, „Was wird zum Beispiel aus Ryukichi, wenn ihnen etwas zustößt?“ Ryukichi – der Sohn von Ryukii No Mai und Kaiser Kisu´s Erben Koichi, den sie während ihres Aufenthalts in Kaineng als Schattendiener kennen- und lieben gelernt hatte … Und knapp neun Monate, nachdem sie die Nacht des Abschieds gemeinsam verbracht hatten, war ein kleiner Junge mit seinem rabenschwarzen Haar und ihren dunklen Augen zur Welt gekommen. Sie ignorierte den Stich in ihrem Herzen, den sein Zorn in ihr auslöste, und antwortete: „Nein … weder habe ich auch nur einen unserer Kämpfe vergessen, noch werde ich einfach tatenlos zusehen. Ich werde alles tun, was mir möglich ist, um ihnen zu helfen! Ich glaube an sie … Ich vertraue ihnen. Mehr kann ich nicht tun. Diesmal nicht … Oder hast du vergessen, dass ich über keinerlei Magie verfüge? Glaub´ mir, wenn ich könnte … wenn ich könnte, würde ich mich ihnen selbst stellen. Ich würde mich ihnen sogar opfern, um ihre Rache zu stillen – denn ich bin diejenige, die sie wollen! Aber … sie werden sich damit nicht zufrieden geben. Wenn sie nicht aufgehalten werden, sind Cantha, Tyria und Elona für immer verloren!“ Einsetzen spiegelte sich auf den Gesichtern von Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo – Ohtah Ryutaiyo stand der Mund offen; er konnte nicht glauben, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Gerade als er widersprechen wollte, ergriff Seiketsu No Akari das Wort: „Ich bin derselben Ansicht, wie Shiko … Unsere Zeit ist vorbei. Außerdem … es ist die Pflicht der Eltern ihren Kindern zu vertrauen und an sie zu glauben!“ Wütend ballte der Assassine seine Hände zu Fäusten. Dann packte er Ryukii No Mai am Arm und zog sie hinter sich her nach draußen – zum Training. Shikon No Yosei versuchte den Kontakt zu Teinai wiederherzustellen. Ohne Erfolg. Es war, als würde etwas den Zugang zu den Nebeln verhindern, blockieren. Sie hoffte, ihrer Freundin ging es gut … Ob ihr Geist durch die große Anstrengung Schaden genommen hatte? Aber es gab außer ihr noch jemanden, der Rat suchte – Yoso No Koshi. Er setzte sich neben seine Mutter und holte tief Luft. „Wie kann ich den bevorstehenden Kampf gewinnen?“, fragte er leise. Ohne ihn anzusehen, erwiderte sie: „Du wirst eine Möglichkeit finden … zusammen mit Ryukii und Toki.“ „Aber ich weiß einfach nicht, was ich tun soll! Verstehst du nicht? Ich muss euch alle beschützen!“, rief er, „Sag´ mir, was soll ich tun? Bitte!“ Doch sie schüttelte betrübt den Kopf: „Das kann ich nicht … Selbst wenn ich es wollte. Ihr müsst euren eigenen Weg finden! Nichts geschieht zweimal auf dieselbe Weise.“ „Du hast sie schon einmal besiegt! Warum kannst du mich nicht trainieren, wie Vater Ryukii? Warum willst mir nicht helfen?“, schrie er beinahe. Die Shing Jea gab sich ruhig und erklärte: „Ich verstehe deine Verzweiflung, Yoso … Mir erging es all die Jahre nicht anders. Ganz am Anfang meiner Reise habe ich mitangesehen, wie Meister Togo seinen besten Freund tötete … Ich habe es nicht verstanden. Durch die Pest war aus Minister Cho zwar ein Monster geworden, aber … Ich habe damals eine sehr wichtige Lektion gelernt, mein Sohn. Es gibt Dinge, die notwendig sind … Dinge, die wir nicht immer nachvollziehen können. Und für den Kampf, der euch bevorsteht, ist es notwendig, dass ihr selbst eine Möglichkeit findet. Ihr könnt es schaffen … gemeinsam!“ Yoso No Koshi´s Wut verrauchte. Plötzlich begriff er, worauf sie hinaus wollte und was seine Tante am Morgen gemeint hatte. Sie mussten nicht kämpfen. Sie vertrauten wirklich darauf, dass Toki No Kibo, Ryukii No Mai und er es schaffen würden. Sie glaubten von ganzem Herzen daran! Nur seinem Vater fehlte diese Überzeugung … Sein Training bewies, dass er der Meinung war, Ryukii No Mais Fähigkeiten würden noch nicht ausreichen, um den Kampf zu überstehen. „Glaubst du … glaubst du, dass Vater das auch noch so sehen wird?“, wollte er etwas kleinlaut wissen – er schämte sie für die Vorwürfe, die er seiner Mutter gemacht hatte. Die Heldin seufzte schwer und erklärte: „Ohtah war … und ist manchmal etwas halsstarrig. Wenn er sich in etwas verrannt hat, fällt es ihm oft schwer, einen anderen Blickwinkel einzunehmen … Aber ich glaube auch er wird bald erkennen, was Seiketsu und ich bereits wissen. Ihr drei seit schon längst keine Kinder mehr … Ihr seit genauso bereit und stark, wie wir es einst waren. Vielleicht seid ihr uns sogar überlegen …“ „Woher willst du das wissen?“, hakte Yoso No Koshi nach und plötzlich fiel ihm ein, dass Argo etwas ähnliches gesagt hatte, „Wie kannst du dir so sicher sein?“ Jetzt lachte Shikon No Yosei laut auf und antwortete: „Weil ich gesehen habe, wie sehr ihr dieses Land liebt … Und wie stark deine Gefühle zu Toki und Ryukii sind. Weißt du, der Wunsch etwas oder jemanden zu beschützen, den man liebt, verleiht einem unglaublich viel Kraft!“ Er nickte. Zum ersten Mal in seinem Leben glaubte er, die Botschaft ihrer Worte wirklich verstehen zu haben. Und gleichzeitig hatte er noch etwas viel wertvolleres von ihr bekommen – Selbstvertrauen. Rache gegen Liebe: die Entscheidung Jeden Tag betete Shikon No Yosei viele Stunden vor ihrem Schrein zu Teinai. Verzweifelt versuchte sie mit ihr in Kontakt zu treten. Irgendwann – es dämmerte gerade – spürte sie einen schwachen Ruf, eine sanfte Berührung ihrer Seele. Sie öffnete ihren Geist und ließ die leisen Worte in sich widerhallen. Im Stillen dankte sie ihrer Freundin. Allein hätte sie es nie geschafft, Teinai zu erreichen. Zwar hatte sie sich ein paar vereinzelte Ritualisten-Fertigkeiten ihres Vaters abgeschaut, aber diese waren ebenfalls mit dem Rest ihrer magischen Kräfte versiegt. „Es ist soweit, nicht wahr?“, ertönte die Stimme von Ohtah Ryutaiyo hinter ihr. Shikon No Yosei stand auf, ein sachtes Nicken ihres Kopfes genügte als Antwort. Gefolgt von einem erleichterten Seufzen, als sich die ihr wohl bekannten, starken Arme um ihre Schultern legten und an seine Brust zogen. Lächelnd nahm sie sein Friedensangebot an und entspannte sich. Lange, viel zu lange war er ihr nicht mehr so nah gewesen – weder körperlich, noch emotional. „Ich liebe dich …“, hauchte er ihr ins Ohr, „Verzeih´ meine Sturheit. Du hattest Recht … Ich konnte Ryukii nicht ein einziges Mal besiegen. Sie ist viel stärker, als ich.“ Eine angenehme Wärme breitete sich in Körper aus. Sie beugte ihren Kopf leicht zur Seite, sodass sie in das Gesicht ihres Mannes sehen konnte. „Sie weiß, wofür sie kämpft … Sie will ihren Vater nicht enttäuschen und gibt deshalb ihr bestes.“, flüsterte Shikon No Yosei, „Unsere Kinder haben mehr von dir, als man vermuten könnte …“ Ohtah Ryutaiyo´s Augen waren voller Zuneigung für sie, welche er in einen langen, sinnlichen Kuss legte. Die Tiere hatten sich verzogen. Ein Mantel des Schweigens lag über dem Sunqua-Tal. Anspannung erfüllte die Luft – die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Die drei Verteidiger standen auf der Anhöhe vor dem Eingang zum Kloster von Shing Jea. Hier auf dieser Insel war alles, was ihnen etwas bedeutete. Ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde. Ihr Blick war starr auf die Ebene vor ihnen gerichtet. Der Boden vibrierte. Ein lauter Knall. Ein helles Licht. Dann standen sie da – Shiro Tagachi, der Untote Lich, Abaddon und der Große Zerstörer. Trotz aller Geschichten erschraken Ryukii No Mai und Toki No Kibo sichtlich der Gefahr. Nur Yoso No Koshi blieb ruhig. Er wusste, seine Mutter war jedem einzelnen schon einmal gegenüber gestanden. Und hatte sie besiegt. „Wo finden wir Shikon No Yosei?“, knurrte Shiro mit drohendem Unterton in der Stimme. Der junge Elementarmagier trat entschieden einen Schritt vor und antwortete: „Nicht sie ist euer Gegner … wir sind es!“ „Lachhaft, Junge!“, höhnte Abaddon, dessen Stimme direkt in ihren Köpfen zu hören war, „Wieso sollten wir uns mit euch aufhalten?“ Yoso No Koshi blieb ernst, die Worte kamen klar über seine Lippen: „Weil ich ihr Sohn bin! Wir haben von ihr die Aufgabe übertragen bekommen, Cantha und Shing Jea zu beschützen!“ Shiro spukte aus. Daher war ihm dieser Junge so bekannt vorgekommen. Dieselben Augen, dasselbe Haar. Er war das Ebenbild der Frau, die ihn verschmäht hatte. Bittere Wut kochte in ihm hoch – wenn sie sich anders entschieden hätte, könnte er der Vater dieses Kindes sein. Doch stattdessen trug es die Gene dieses schwächlichen Am Fah-Abschaums in sich. Das hemmungslose Lachen des Untoten Lich, Abaddon und des Großen Zerstörers riss Shiro aus seinen Gedanken. Er verstand sie nur zu gut, blieb aber trotzdem stumm. Es war eine lächerliche Vorstellung, ein anderer Sterblicher könne an Shikon No Yosei heranreichen, könne es ihr gleichtun und sie alle besiegen. Noch dazu gleichzeitig … Aber dieser Blick, mit der er sie ansah – genauso hatte Shikon No Yosei ihn bei ihrem letzten Angriff angesehen. Eine solche Entschlossenheit war gefährlich. Selbst für sie. Der Untote Lich, der Shiro´s Besorgnis nicht mitbekommen hatte, sendete mit einem kräftigen Flügelschlag einen Energiestoß aus, welcher direkt auf Yoso No Koshi zuhielt. Die Wucht des Treffers schleuderte ihn zu Boden. Sie würden mühelos getötet werden, wenn er nicht sofort etwas unternahm. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung. Es gab niemanden, der ihnen helfen konnte. Sie waren auf sich allein gestellt. Er dachte an seine Mutter. Wie oft war sie in einer so ausweglosen Situation gewesen? Unzählige Male … Dennoch hatte sie niemals aufgegeben. Und mit jedem Kampf war sie stärker geworden. Weil sie ihr Ziel nicht aus den Augen verloren hatte! Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Plötzlich erinnerte er sich wieder an die Worte, die sie ihm mitgegeben hatte, als er beschlossen hatte, Elementarmagier zu werden. „Wenn Erde, Feuer, Luft und Wasser sich vereinen, entsteht reine Magie. Aber … es gibt noch zwei weitere Elemente, die unsere Welt im Gleichgewicht halten … Licht und Dunkelheit. Aus ihnen erwächst eine viel gefährlichere Energie. Das Chaos …“, erklärte Shikon No Yosei ernst, „Als Elementarmagier kannst du diese Verbindung steuern. Du darfst es nie vergessen, mein Sohn … Kein Zauberwirker sollte seine Kräfte leichtfertig einsetzen. Wer über solche Macht verfügt, unterliegt auch der Pflicht diese mit Bedacht einzusetzen!“ Yoso No Koshi stand auf. Er wusste nun, was zu tun war. „Du kommst also nicht nur nach deiner Mutter …“, flüsterte Shiro kaum hörbar, bevor seine Stimme erstarkte, „Sondern hast auch die Angewohnheit deines widerwärtigen Vaters nie zu wissen, wann man besser liegen bleiben sollte!“ Er nickte bestimmt: „Ich habe eben, genau wie er, einen Grund zu kämpfen. Um diejenigen zu beschützen, die ich liebe, setze ich mein Leben ein!“ „YOSO!“, riefen Ryukii No Mai und Toki No Kibo erschrocken. Er sah sie durchdringend an, während er sagte: „Hört mir zu, es gibt nur eine Chance sie zu besiegen ... Wir müssen noch stärker werden, als es unsere Eltern waren!“ „A-Aber wie … wie soll das gehen?“, wollte die Mönchin wissen. Entschlossen ergriff er ihre Hand und die seiner Schwester. Die Berührung reichte aus, um ihnen seinen Plan zu vermitteln. Es war ihre Verbindung, die sein Vorhaben zum Erfolg führen würde – genauso wie Shikon No Yosei gesagt hatte, nur gemeinsam konnten sie es schaffen! Mit geschlossenen Augen beschwor Yoso No Koshi die Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser, Ryukii No Mai bediente sich ihrer Verbindung zu den Schatten, um die Dunkelheit herbeizurufen und Toki No Kibo setzte ihr heilendes Licht frei. Alle sechs Mächte vereinten sich unter dem Willen des Elementarmagiers zu einer Kraft jenseits von Magie und Chaos. Ein Wirbel aus allen Farben des Regenbogens, gespickt von weiß und schwarz. Es kostete all seine Konzentration und Kanalisierungsfähigkeiten, um die gewaltige Energie so gut es ging unter Kontrolle zu halten. Und als er seine Gegner wieder ins Visier nahm, schoss sie ihnen so schnell entgegen, dass man nur noch die Explosion mitbekam. Eine Schockwelle schwappte über die Insel hinweg, streifte fast den ganzen Kontinent. Anders als beim letzten Mal wurden die Seelen von Shiro Tagachi, des Untote Lichs, Abaddon und des Großen Zerstörers – oder das, was von ihnen übrig war – nicht in die Unterwelt verbannt, sondern vollends ausgelöscht. Es blieb nichts – außer der bloßen Erinnerung an ihre einstige Existenz – von ihnen übrig. Niemals wieder würde eine Bedrohung von ihnen ausgehen ... weder für Cantha, noch für Tyria oder Elona! Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo hatten beendet, was ihre Eltern, die drei lebenden Legenden, begonnen hatten. Von Vater und Sohn Yoso No Koshi öffnete die Augen. Er brauchte einen Moment bis er wieder wusste, was geschehen war. Der Kampf gegen Shiro Tagachi, den Untoten Lich, Abaddon und den Großen Zerstörer … irgendwie hatten sie es geschafft. Nur … wo waren Toki No Kibo und Ryukii No Mai? Er setzte sich auf, ließ den Blick durch das Zimmer wandern. Jemand hatte ihn nach Hause, in sein eigenes Bett gebracht. Ein warmes Gefühl stieg in ihm auf. Im Kreis seiner Familie, hier im Dorf Tsumei fühlte er sich am wohlsten. Auf einmal bemerkte er ein fremdes Gewicht auf seiner Decke – Shikon No Yosei lag auf den Armen und schlief. Sie war nicht von seiner Seite gewichen. Dankbar lächelte der Elementarmagier. Vorsichtig stieg er aus dem Bett, doch seine Mutter bemerkte es dennoch: „Du bist wach … wie schön.“ „Ja, es kommt mir alles wie ein Traum vor …“, erwiderte er leicht verlegen, „Wie lange habe ich denn geschlafen?“ Shikon No Yosei stiegen die Tränen in die Augen, als sie antwortete: „Vier Tage. Seiketsu sagte, der Zauber hätte deine Magie erschöpft und wir sollten uns keine Sorgen machen. Ich bin so erleichtert, dass es dir gut geht, Yoso! Die Energie war so stark … Kaum jemand hätte sie gänzlich kontrollieren können. Na ja … gerade ich dürfte dir deswegen eigentlich keinen Vorwurf machen.“ Er umarmte seine Mutter herzlich. Sie war in den vergangenen Tagen wegen ihm »tausend Tode« gestorben. „Ich habe das getan, was du auch getan hättest … Für Shing Jea. Für meine Familie.“, meinte er und zog die Schultern hoch, „Sind Toki und Ryukii auch wohlauf?“ Sie zögerte erst, dann erklärte sie: „Sie sind im Kloster bei Seiketsu.“ Yoso No Koshi wusste sofort, dass seine Mutter ihm etwas verschwieg, was ihn nur noch besorgter machte. Wenn Shikon No Yosei etwas nicht über die Lippen kam, musste es sehr schwerwiegend sein … Yoso No Koshi lief den Pfad entlang, der vom Dorf Tsumei ins Kloster führte. Keuchend spurtete er die Treppen zum Linnok-Hof hinauf. Das lange Liegen forderte seinen Tribut. Toki No Kibo stand umringt von Seiketsu No Akari, Ryukii No Mai und Ohtah Ryutaiyo. Der dreijährige Ryukichi schaute sie aufgeregt an, tänzelte unruhig auf der Stelle – aufgeweckt und neugierig, das zeichnete das jüngste Mitglied der Familie aus, wie keinen zweiten. „Kann mir endlich jemand erklären, was hier los ist?“, fragte Yoso No Koshi, als er in Begleitung von Shikon No Yosei das Ende der Stufen erreicht hatte. Seiketsu No Akari ignorierte seine Forderung, sondern wandte sich stattdessen an ihre Seelen-Schwester: „Shiko, du spürst es doch sicher ebenfalls, nicht wahr?“ „Ja, es besteht kein Zweifel mehr.“, bestätigte die rothaarige Shing Jea, „Toki trägt eine zweite Lebensenergie in sich. Ein Mädchen … etwas älter als ein Monat, würde ich sagen.“ Scheu suchte Toki No Kibo den Blick von Yoso No Koshi. Er regte sich nicht, starrte sie nur sprachlos an. Es war Ryukichi – was nicht sehr überraschend war –, der die Anspannung brach: „Ein Mädchen? Dann werde ich ihr Beschützer! Und wenn wir erwachsen sind, heiraten wir!“ Die Anwesenden sahen sich kurz an, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrachen. Sogar die werdende Mutter, obwohl ihr Yoso No Koshis Reaktion – oder besser gesagt seine fehlende Reaktion – zu schaffen machte. Er blieb weiterhin stumm. Er bewunderte den Mut und das Verantwortungsbewusstsein seines Neffen. Gleichzeitig fragte er sich, warum ihn diese Begeisterung nicht erfasst hatte … Yoso No Koshi wusste nicht, wohin er laufen sollte. Überall schien der falsche Ort zu sein, nirgends kam er zur Ruhe. Irgendwann landete er am Hafen von Seitung. Das Rauschen des Meeres zog ihn an und er setzte sich an den entlegensten Kai, wo ihn niemand beobachten konnte. Über dem canthanischen Meer hing stets eine undurchdringliche Nebelwand. So fühlte sich der Elementarmagier im Moment … Alles war wie verhüllt, unwirklich. Seine Gedanken kamen auf keinen Nenner, seine Gefühle waren wie betäubt. Toki No Kibo erwartete ein Kind von ihm … seine Tochter. Er wurde Vater! Und er bekam diese Information einfach nicht auf die Reihe. „So etwas ist nicht einfach zu akzeptieren, oder?“, meinte Ohtah Ryutaiyo, der wie aus dem Nichts auf einmal neben ihm stand, „Hat ganz schön gedauert, bis ich dich gefunden habe.“ Sein Sohn antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Der Assassine holte hörbar Luft, dann fuhr er fort: „Ich weiß, warum du dich zurückgezogen hast.“ „Ach ja?“, gab Yoso No Koshi äußerst patzig zurück. Mit hochgezogener Augenbraue entgegnete Ohtah Ryutaiyo: „Schon vergessen? Ich habe schließlich auch zwei Kinder. Ich kenne die Ängste eines Vaters zu genüge … Als Shiko mir sagte, sie wäre schwanger, hatte ich das Gefühl allen Boden unter den Füßen zu verlieren.“ „Warum?“, wollte sein Sohn kleinlaut wissen – er ärgerte sich schon wieder über seinen Ausbruch. Er setzte sich neben ihn, richtete den Blick ebenfalls zum Meer hinaus und schob seinen rechten Ärmel nach oben, sodass das Drachen-Tattoo aus seiner Zeit als Am Fah sichtbar wurde. Er hatte einst schreckliche Dinge getan … Und welches Kind wollte schon einen Mörder, einen Verräter zum Vater? Nur wegen Shikon No Yosei hatte er es geschafft – wegen ihrer Liebe konnte er sich vergeben, musste sich nicht mehr selbst hassen. „>Deine Unsicherheit ist nichts, wofür du dich schämen müsstest. Es zeigt vielmehr, dass du die Situation, die Verantwortung ernst nimmst …<“, erklärte Ohtah Ryutaiyo und grinste, „Ich gebe es zu, diese Worte stammen von Shiko. Ich hatte mich fast eine Woche lang verkrochen, dann hat sie mir ordentlich den Kopf gewachsen – ich glaube, ihr Gebrüll hat ganz Shing Jea gehört.“ Yoso No Koshi schluckte, bevor er erwiderte: „Wolltest … wolltest du uns denn trotzdem? Trotz deiner … Angst?“ Der Assassine legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn näher an sich heran. Das genügte ihm als Antwort. Er war so dumm gewesen, die Liebe seines Vaters in Frage zu stellen. Es tat gut, mit ihm zu sprechen … meist hatte er sich ja eher um Ryukii No Mai gekümmert. Wobei … nein, ganz so stimmte das auch wieder nicht. Yoso No Koshi selbst war ihm viel zu oft aus dem Weg gegangen. Weil er befürchtet hatte, dass Ohtah Ryutaiyo seine Schwester mehr liebte, als ihn … Yoso No Koshi klopfte an Toki No Kibo´s Zimmertür und öffnete sie einen Spalt breit. Seine Liebste saß auf dem Fensterbrett und sah ihn an. Etwas Trauriges lag in ihrem Blick. Zum ersten Mal hatte er sie wirklich verletzt. „Toki …“, begann er unsicher, „Ich … Es tut mir leid. Ich hätte an deiner Seite bleiben müssen. Stattdessen habe ich nur an mich selbst gedacht …“ Die Mönchin stand auf, während sie entgegnete: „Ich wusste es schon länger. Ich habe von ihr … geträumt. Vielleicht bin ich ja diejenige, die einen Fehler gemacht hat.“ Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie, anschließend flüsterte er: „Ich liebe dich, Toki … Und ich liebe auch unser Kind … Wir gehören zusammen – für immer!“ Die Wahrheit kommt ans Licht Toki No Kibo und Yoso No Koshi hatten ihrer Tochter den Namen »Chiyo« gegeben – als Zeichen ihrer ewigen Liebe. Ebenso unendlich war aber auch Ryukichi´s Beschützerinstinkt. Und als ihr erster Geburtstag kurz bevorstand, war fast das ganze Dorf wie aus dem Häuschen. Diese Aufregung nahm noch mehr Überhand, nachdem ein Bote aus Kaineng den Besuch des neuen Kaisers angekündigt hatte – wobei die meisten bis dato nicht einmal gewusst hatten, dass der abgedankte Kisu überhaupt einen Sohn hatte. Ryukii No Mai gehörte da zu den wenigen Ausnahmen … Es verging kein Tag, an dem sie nicht an Koichi dachte. Vor allem jetzt, da sie sich unweigerlich begegnen mussten. Das allein wäre schon schlimm genug gewesen … Aber dazu noch Ryukichi? Sein Kind … Sie konnte es ihm nicht länger verschweigen. Er hatte begonnen Fragen zu stellen, wollte etwas über seinen Vater erfahren … Was sie und auch sonst niemand nicht ahnte – Koichi befand sich bereits auf der Insel! Er war am Morgen mit einem gewöhnlichen Schiff angenommen, um sich unerkannt auf Shing Jea bewegen zu können. Er wollte die Orte sehen, von denen er so viel gehört und gelesen hatte. Und so kam es, wie es kommen musste – Koichi wandte sich vom Kloster aus nach Westen, direkt in Richtung des Dorfs Tsumei. „Wer bist du denn?“, fragte ihn dort ein kleiner Junge, der auf den Wiesen spielte. Der Ritualist wollte gerade antworten, da rief jemand den Jungen: „Ryukichi, was machst du hier? Ich dachte, du wolltest auf Chiyo aufpassen.“ Eine schlanke, junge Frau mit rotem Haar und Dolchen in den Halftern kam auf sie zu. Schock spiegelte sich auf ihrem Gesicht, als sie Koichi erkannte. Wie betäubt flüsterte er ihren Namen. Klar hatte er sich gewünscht, sie zu treffen, aber dass es so bald passieren würde und derart zufällig … damit hatte er wirklich nicht gerechnet. „Ach, du kennst meine Mama?“, fragte Ryukichi vergnügt und verbeugte sich, „Tut mir ja leid, ich muss jetzt los – bevor meine kleine Chiyo anfängt zu weinen, weil ich sie so lange allein lasse. Auf Wiedersehen!“ Der Junge rannte ins Dorf, wo er bereits von einer Toki No Kibo erwartet wurde. Ryukii No Mai´s Blick klebte dagegen regelrecht an ihrem Gegenüber. Mehrere Minuten herrschte Schweigen zwischen ihnen. Keiner regte sich, bewegte auch nur einen winzigen Muskel. Dennoch war die Assassine, die als Erste wieder sprach: „Sein Name ist Ryukichi … Er wird dieses Jahr fünf.“ Fünf Jahre. Koichi blinzelte ein paar Mal – genauso lange war es her, dass sie ihn verlassen hatte und da begriff er. „Ja … er ist dein Sohn.“, kommentierte sie seinen Gesichtsausdruck sehr nüchtern. Es war, als würde er aus allen Wolken fallen. Nie, niemals hätte er damit gerechnet, dass sie in jener Nacht ein Kind vom ihm empfangen hatte. „Bist du deshalb nicht zurückgekommen?“, wollte Koichi mit Schmerz in der Stimme wissen. Sie nickte, dann schüttelte sie wiederum den Kopf und antwortete: „Teilweise, ja und nein. Ich habe dir doch damals gesagt, ich hätte eine Pflicht zu erfüllen … Mein voller Name lautet Ryukii No Mai, ich bin die Tochter der legendären Helden Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo. Und gehöre der zweiten Generation der Verteidigern von Cantha an.“ „Das ändert nichts daran, dass ich dich immer noch liebe!“, erwiderte er ernst, „Ich lass´ dich nicht noch einmal gehen, Ryukii … Diesmal werde ich um dich kämpfen! Um dich … und Ryukichi.“ Schneller, als dass Ryukii No Mai sich dagegen hätte wehren können, zog er sie an sich und presste seine Lippen auf ihre. Brennende Leidenschaft pumpte durch ihre Körper. Ihre Arme bewegten sich fast wie von allein, umfingen sie noch enger. Die Sekunden flogen nur so an ihnen vorbei, bis Koichi den Kuss irgendwann beendete und sie unentwegt anschaute. Da riss ihn ein weiterer Neuankömmling aus dem Konzept. „Ryukii, ich habe überall nach dir gesucht. Wir müssen die Ankunft des Kaisers vorbereiten!“, tadelte sie der Elementarmagier. Ryukii No Mai räusperte sich leicht und wies auf ihren Gegenüber: „Was das betrifft … Darf ich vorstellen? Koichi, Sohn des Kisu. Und das ist mein Bruder – Yoso No Koshi, ebenfalls ein Verteidiger von Cantha.“ Dem Rothaarigen stand der Mund offen. Als er sich wieder besonnen hatte, musterte er seinen Gegenüber und staunte noch mehr. Koichi wusste, warum er sich so benahm und zog sich von ihnen zurück. Er musste erst einmal damit klar kommen, dass er von einer Sekunde zur anderen erstens Ryukii No Mai wiedergesehen und zweitens einen Sohn hatte. „Er ist Ryukichi´s Vater.“, stellte Yoso No Koshi fest, nachdem er außer Hörweite war, „Ich kenne dich, Ryukii … Und ich habe Augen im Kopf. Er ist ihm beinahe wie aus dem Gesicht geschnitten!“ Ryukii No Mai nickte nur. Diese Begegnung hatte ihr alle Kraft geraubt. Koichi hatte die Nacht im Kloster verbracht. Nun saß er auf der Wiese vor dem Dorf Tsumei, wo er seinem Sohn gestern zum ersten Mal begegnet war. Und wieder wollte das Schicksal sie zusammenführen. Diesmal wirkte er allerdings verändert. „Ich habe eine Frage.“, sagte Ryukichi irgendwann nach langem Schweigen, „Warum kommst du erst jetzt? Du bist doch mein Papa! Mama hat es mir vorhin erzählt …“ Unsicher erwiderte Koichi seinen Blick. Er hatte absolut keine Antwort parat – er wollte Ryukii No Mai nicht die Schuld geben, schließlich war er ihr auch nie nach Shing Jea gefolgt, obwohl er so viele Male kurz davor gewesen war … „Weißt du, Ryukichi, dein Vater ist sehr beschäftigt.“, erklärte Ryukii No Mai, die hinter einem Baum hervortrat, „Er kämpft genauso für ein friedliches Cantha, wie Yoso, Toki und ich.“ Ryukichi´s Augen wurden groß – er war hellauf begeistert – und erwiderte: „Oh toll! Wenn ich groß bin, werde ich auch ein Held! Aber vorher muss ich noch eine Ausbildung im Kloster machen … dabei bin ich so schon stark!“ Ein Lachen entfuhr Koichi und auch Ryukii No Mai lächelte, denn sie kannte die Wunsch-Klasse ihres Sohnes bereits – Ritualist. Genauso wie fast alle Mitglieder der kaiserlichen Familie … Und wieder ward es Liebe Es war kalt. Eiskalt und neblig. In der vergangenen Nacht war der erste Schnee gefallen. Für Chiyo war es bereits der elfte Winter, den sie erlebte. Nur dass er in diesem Jahr viel früher über die Insel hereingebrochen war, als zumeist üblich. Bald würde sie ihre Ausbildung beginnen. Ryukichi seufzte. Er fror leicht, doch er kümmerte sich nicht darum. Er hatte sich seinen Umhang übergeworfen und wanderte über das Klostergelände. Sein Ziel war der Linnok-Hof, dessen Stufen unter dem Schnee verschwunden waren. Alles wirkte so unberührt, in völliger Harmonie. Nur er widersprach diesem vollkommenen Bild. Er hatte einfach herkommen müssen. An diesen Ort … und obwohl er damals noch ein kleines Kind gewesen war, hatte sich dieser eine Tag regelrecht in sein Gedächtnis gebrannt – der Tag, an dem Toki No Kibo´s Schwangerschaft verkündet worden war. Er wollte alles für Chiyo sein, sie beschützen und lieben. Nur auf welche Art? Als Kind war ihm die Antwort ganz leicht gefallen … heute nicht mehr. Nicht seit seinem gestrigen Gespräch mit ihr … Er war von einem Auftrag in Kaitan zurück. Ein paar Banditen hatten wieder einmal Ärger gemacht und weil alle drei Verteidiger auf Mission waren, hatte er sich darum gekümmert. Zum Glück hatte er seine Ritualisten-Befähigung bereits in der Tasche. Besonders da er davon konnte, dass Ryukii No Mai anschließend noch seinen Vater aufsuchen würde, der – was sein Sohn natürlich nicht wusste – stets das höchste Fenster des Palast offenließ und sich entgegen jedes Protokolls und Tradition weigerte, eine Frau oder Konkubine zu wählen. Denn sein Herz gehörte einem flüchtigen Schatten in der Nacht ... „Tut mir leid, es hat etwas länger gedauert.“, entschuldigte er sich bei Chiyo, die in der Zwischenzeit gekocht hatte, „Dafür hab ich jetzt den Rest des Tages nur Zeit für dich. Auf welches Spiel hast du denn heute Lust?“ Sie ließ den Kochlöffel in den Topf fallen. Ein Zittern durchlief sie, Tränen stiegen ihr in die Augen. „Was ist los?“, wollte Ryukichi verständnislos wissen. Chiyo wirbelte zu ihm herum und fuhr ihn an: „Du siehst mich immer nur als kleines Mädchen, was? Es ist dir vollkommen egal, wie ich mich dabei fühle! Du hast es immer noch nicht begriffen, oder, Kichi? Ich will nicht deine Schwester oder eine Freundin sein … Ich wünsche mir, dass du mich als Frau liebst!“ Natürlich liebte er sie … Sie bedeutete ihm unendlich viel. Aber in welcher Rolle? Ryukichi schlug gegen das Treppengeländer. Um diese Frage beantworten zu können, musste er sich seinen Gefühlen mit allen Konsequenzen stellen. Warum jetzt? Hätte sie mit ihrem Geständnis nicht noch ein paar Jahre warten können? Er war wirklich feige! Dagegen war Chiyo unglaublich mutig gewesen … Wenn er sich weiterhin so anstellte, verdiente er ihre Liebe gar nicht. „Es ist schon seltsam … Unsere Familie scheint immer wieder in dieselben Muster zu fallen. Wir alle scheinen irgendeinen besonderen Ort aufzusuchen, wenn wir Probleme haben …“, meinte Seiketsu No Akari leicht amüsiert, die auf den ersten Treppenabsatz getreten war, „Du hast dich mit Chiyo gestritten.“ Es war eine reine Feststellung gewesen. Sie war schon immer die Beobachterin der Familie gewesen. Und deshalb stand sie auch gleichzeitig als Kummerkasten zur Verfügung. Der Ritualist nickte. Es konnte nicht sicher schaden, wenn er seiner Großmutter davon erzählte. „Ich verstehe.“, sagte sie, nachdem er geendet hatte, „Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich dir so früh offenbart, da gebe ich dir Recht … aber hast du mal darüber nachgedacht, warum sie es getan hat?“ Er musste den Blick abwenden, als er antwortete: „Sie hat mir vorgeworfen, ich würde sie wie ein kleines Kind behandeln. Ich weiß nicht … ja, vielleicht habe ich wirklich nicht richtig wahrgenommen, wie reif sie geworden ist. Sie ist das eertvollste in meinem Leben! Ich will doch nur … ich will, dass sie glücklich ist. Ich möchte für sie da sein, sie beschützen …“ „Endlich warst du ehrlich …“, schluchzte Chiyo, die alles mitangehört hatte. Überrascht starrte Ryukichi sie an. Wieder standen Tränen in ihren Augen, doch diesmal vor Freude und sie warf sich ihm in die Arme. Zur selben Zeit diskutierte der Rest der Familie ein ganz anderes Thema. „Glaubst du nicht, es wird langsam Zeit, ihm die Wahrheit zu sagen?“, fragte Shikon No Yosei. Ryukii No Mai wanderte bereits seit mehreren Minuten durch das Zimmer. Sie hatte einfach keine Ahnung, wie sie es ihrem Sohn beibringen sollte, dass sein Vater Cantha regierte. „Ich werde es ihm sagen!“, entschied Koichi, „Er muss es erfahren … und entscheiden, ob er mein Erbe eines Tages weiterführen will.“ „Ist das deine einzige Sorge?“, gab die Assassine hitzig zurück. Ein melancholischer Ausdruck trat in sein Gesicht, als er erwiderte: „Keinem anderem Thronfolger wurde jemals die Wahl gewährt. Sonst hätte ich niemals nach der Krone gegriffen … nicht nachdem ich dich kennengelernt hatte. Aber Ryukichi soll frei wählen, ohne Zwang!“ „Was soll ich wählen?“, wollte besagter Ritualist wissen. Ohne Vorwarnung standen er, Chiyo und Seiketsu No Akari plötzlich ebenfalls im Raum. „Das Leben, welches du führen willst …“, antwortete sein Vater, wieder gefasst, „Aber zuvor … hör´ mir zu, mein Sohn … ich bin nicht die Art von Kämpfer, wie du denkst. Meine Schlachten lassen sich nicht mit Schwert oder Stab austragen … Ich bin der vierunddreißigste Kaiser von Cantha!“ Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Keiner der Anwesenden tat auch nur einen Atemzug, jeder blickte gespannt zu Ryukichi und wartete auf seine Reaktion. Doch er lächelte und erklärte: „Ich weiß … Es ist schon einige Zeit her, da wollte ich unbedingt sehen, was für ein Leben mein Papa führt, wenn er nicht bei uns sein kann. Darum bin ich dir nach Kaineng gefolgt, Mama.“ „Warum hast du nichts gesagt?“, hauchte Ryukii No Mai wie erschlagen. Er zögerte kurz, dann wandte er sich an Koichi: „Ich wollte es aus deinem Mund hören, wenn … wenn ich wirklich würdig wäre, dein Sohn zu sein und du es überhaupt in Betracht ziehen würdest, ich könne irgendwann deinen Platz einnehmen …“ Der Kaiser ging auf ihn zu, drückte ihn an sich und flüsterte: „Als ich in deinem Alter war, hätte ich mir nicht vorstellen können, ein Kind zu haben … Vor allem keines, auf das ich so stolz sein könnte, wie auf dich, Ryukichi! Es stimmt, wir sind keine Vorzeige-Familie … aber ich bin unglaublich froh, dich als Sohn haben zu dürfen!“ Das Leben ist nicht perfekt … aber es ist schön. Mit all seinen Höhen und Tiefen, Wendungen, Änderungen und unvorhersehbaren Ereignissen. Und es geht immer weiter – denn das Leben endet niemals! So werden Ryukichi als neuer Kaiser und Chiyo, seine Frau und Beraterin, das Reich des Drachens auf ihre ganz eigene Art prägen … Nicht zu vergessen, dass Koichi ohne die Bürde der Krone endlich frei für seine einzige Liebe sein wird. Und natürlich gibt es auch noch Aufgaben für Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari, die geschworen haben, ihr Dasein für immer in den Dienst Cantha´s zu stellen. Die Unterstützung von Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo ist ihnen dabei ebenfalls gewiss – denn einmal Verteidiger, immer Verteidiger! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)