Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 9: Sternenhimmel ------------------------ Es ging alles ganz schnell. Und doch viel zu langsam. Wie von Sinnen schrie ich immer wieder nach dem Doktor. Schrie immer wieder nach Hilfe. Ich merkte kaum, wie die Tür aufging und mehrere Personen den Raum betraten. Erst, als sie sich über Colin beugten, nahm ich sie überhaupt wahr. Bewegungsunfähig starrte ich auf die Szene vor mir. Jemand schob sein Hemd nach oben und entblößte einen blutverschmierten Oberkörper. Trotz der ehemals weißen Verbände war die Wunde anhand der roten Umrisse gut zu erkennen. Doch ich verstand es nicht. Woher kam die Wunde? Warum blutete er so stark? Warum hatte er vor wenigen Minuten noch völlig normal gewirkt und Kekse gegessen?   Hände legten sich auf meine Schultern und zogen mich weg. Ich wehrte mich nicht dagegen. Doch obwohl ich Colin schon bald nicht mehr sehen konnte, hörte ich noch immer die Schreie der anderen Anwesenden, die verzweifelt nach dem Doktor schrien. Die Menschen, die an mir vorbei liefen, beachtete ich kaum. Ich sah niemanden. Spürte nur den kalten Luftzug, den ihre Bewegungen verursachten. Ich ließ mich führen. Die Hände auf meinem Rücken schoben mich immer weiter durch verzweigte Gänge. Fackeln und Glühbirnen wechselten sich ab und ich konnte sehen, dass einige Stollen bereits notdürftig mit Holzbalken abgestützt waren. Einer wurde sogar vollständig von einem Erdrutsch blockiert. Erst an einer rostigen Metalltür hielten wir inne. Mit einem lauten Quietschen schwang diese auf und eine Wand aus Dunkelheit baute sich vor uns auf. Vorsichtig wurde ich hineingeschoben und bald darauf flackerte die Deckenlampe auf und gab den Blick auf ein schönes, gemütliches Zimmer frei. Ein hölzernes Regal gefüllt von alten Büchern stand neben einem alten Spind an der Wand gegenüber der Tür. Gleich daneben stand ein Bett aus Metall, auf dessen Matratze ein grünes Bettzeug lag. Direkt neben der Tür war eine kleine Sitzecke aufgebaut, die aus einem runden Tisch und zwei Stühlen bestand, die ebenfalls aus Metall gemacht waren. Der kleine, ebenfalls grüne, Teppich unter meinen Füßen fühlte sich angenehm weich an, als mich eine Hand zu dem Bett hinüber schob. Erst als ich den weichen Stoff unter mir spürte, hob ich meinen Blick und sah, wer mich überhaupt hierher gebracht hatte.   Ein Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren lächelte mir entgegen. Sie musste beinahe in meinem Alter gewesen sein. Vielleicht Anfang 20. Sie trug eine lange Jeans und ein rot gemustertes T-Shirt, welches im starken Kontrast zu ihrer sehr hellen Haut stand. Zahlreiche Sommersprossen tanzten mit ihren grünen Augen um die Wette, umrahmt von sanften, goldenen Wellen. Sie war ein wunderschönes Mädchen. „Beruhige dich erst mal. Es wird alles wieder gut, okay?“ Ich nickte sprachlos, völlig überrascht von ihrer glockenhellen Stimme. Ihr Klang erinnerte mich stark an eines der Windspiele, die meine Mutter gesammelt hatte. Sichtlich zufrieden wandte sie sich von mir ab und ging hinüber zu dem rostigen Spind. Erst als sie die Türen öffnete bemerkte ich, dass dieser als eine Art Kleiderschrank diente. Sie wühlte einige Zeit darin, ehe sie zu mir hinüber sah und mir einen Haufen Stoff in die Hand drückte. Ich erkannte eine verwaschene, schwarze Jeans, ein blaues T-Shirt und einen grauen Wollpullover, der selbst auf meinem Schoß etwas zu groß wirkte. „Hier, zieh das an“, meinte sie leise und blickte mich an. „Dir muss hier unten in deinem Outfit ja eiskalt sein.“ Ich schaute sie verdutzt an, ehe mir klar wurde, dass ich tatsächlich noch mit kurzen Sommerklamotten herumlief und es hier im Berg wirklich frisch war. Sofort überzog eine Gänsehaut meinen Körper. „Danke“, meinte ich aufrichtig und begann mich umzuziehen. Das Mädchen drehte sich höflichkeitshalber von mir weg und ging langsam zur Tür. „Nichts zu danken. Ich hoffe nur, die Kleidung passt. Ich besorge dir solange etwas zu essen. Du musst einen ganz schönen Hunger haben, nach allem, was passiert ist.“ Tatsächlich hatten die Kekse nur einen ganz kleinen Teil meines ansonsten leeren Magens gefüllt, weshalb dieser sich sofort lautstark zu Wort meldete. „Bin gleich wieder da“, sagte die Blonde und verließ das Zimmer.   Ich ließ mir Zeit. Langsam zog ich mich um und bemerkte, wie dankbar mein doch sehr abgekühlter Körper für diese schützende Stoffhülle war. Draußen waren zwar auch die kurzen Sachen noch zu viel, doch innerhalb des Gebirges, bzw. unter der Erde, war lange Kleidung durchaus angebracht. Erschöpft ließ ich mich zurück auf das Bett sinken. Der etwas zu große Wollpullover spendete sofort eine wohlige Wärme und ich schlang meine Arme um den Oberkörper. Als ich mich sitzend auf der Matratze breit machte, stieß ich plötzlich gegen etwas und blickte neben mich. Dort lag meine Tasche. Das Mädchen musste sie mit hierher gebracht haben. Ich dagegen hatte sie schon völlig vergessen. Doch ich würdigte den schwarzen Beutel keines zweiten Blickes. Im Moment würde er mir überhaupt nicht weiterhelfen.   Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß, bis sich die Tür mit einem leisen, metallischen Geräusch erneut öffnete und das blonde Mädchen wieder den Raum betrat. Doch diesmal war sie nicht alleine … „Da bin ich wieder“, trällerte die junge Frau und balancierte ein mit Essen und Trinken beladenes Tablett in Richtung des Metalltisches. Doch ich schenkte ihr keine Beachtung. Der Junge, der gerade die Tür hinter sich schloss, ließ mich ebenfalls nicht aus den Augen. Sofort braute sich erneut Wut in meinem Magen zusammen, doch ich besann mich im letzten Moment anders. „Was ist mit Colin?“, fragte ich Jaden, der sich bereits auf einem der Stühle breitgemacht hatte. „Geht es ihm gut?“ Sein Gesicht zeigte keine Gefühlsregungen. „Ja, es geht ihm gut. Der Doc hat sich um ihn gekümmert.“ Erleichterung. „Ein Glück. Was war überhaupt mit ihm los? Wo kam all das Blut her?“ Doch der Rothaarige schüttelte nur den Kopf. „Vergiss es einfach. Ihm geht es gut und damit reicht es.“ Seine Stimme war so eisig, dass selbst der Blonden die Züge entglitten und das Lächeln verschwand. Wie versteinert blickte ich ihn an. Interessierte ihn das wirklich so wenig, wie es seinem Kameraden ging? Ich dachte, sie alle teilten ein Schicksal? Wieso reagierte er dann so abweisend? Oder lag es etwa an mir? „Aber Jaden. Sei nicht so kalt. Du magst Colin genauso wie jeder andere hier. Und du solltest die arme Amelina nicht so mies behandeln. Immerhin hast du selber sie hergebracht!“ Die Blonde protestierte, doch Jaden zuckte nur mit den Schultern. „Ob du es glaubst oder nicht, Aurelia, aber du bist heute schon die Zweite, die mir das sagt.“ Die junge Frau schnaubte. „Oh ja und ich kann sehr gut sehen, wie du dir Mühe gibst, daran etwas zu ändern“, zischte sie verärgert, worauf ein Lächeln um seine Mundwinkel zuckte. Langsam erhob er sich von dem Stuhl und beugte sich zu der Blonden herunter, sodass sich ihre Nasen beinahe berührten. Mir stockte der Atem. „Ich habe dir schon mal gesagt, dass du dich besser nicht mit mir anlegst, kleines Fräulein. Wir wollen ja nicht, dass das ausartet, nicht wahr?“ Er grinste breit und es wirkte seltsam … aufrichtig. Nach dem ersten Schock schien auch Aurelia sich wieder gefangen zu haben, denn das Lächeln auf ihren Lippen wirkte ziemlich herausfordernd. „Oh, willst du mir etwa drohen? Soll ich dich etwa an das letzte Ausarten erinnern, mein Freund?“ „Diesmal würde es anders laufen. Der Frauen-Bonus zählt bei dir nicht mehr.“ „Feigling“, lächelte die Blonde und bekam dafür einen Stupser in die Seite, der sie zusammenzucken ließ. „Kümmere dich gut um das Prinzesschen hier. Keith will mit mir sprechen“, waren seine letzten Worte, ehe er durch die Tür verschwand. Prinzesschen, pah. Mistkerl.   Aurelia schüttelte nur seufzend den Kopf, bevor sie zu mir hinüber kam und sich auf das Bett neben mich setzte. „Tut mir echt leid, Amelina. Jaden kann manchmal ein richtiger … Blödmann sein. Du hast jetzt wahrscheinlich einen ziemlich schlechten Eindruck von ihm, nicht wahr?“ Ich starrte zu Boden. „Er hasst mich“, antwortete ich darauf bloß und begann an dem Saum meines Pullovers zu spielen. „Nein, nein. Er hasst dich nicht, glaub mir. Jaden kann einfach nur seine Gefühle nicht gut zeigen. Er hat schon einiges Schlimmes durchgemacht und das hat ihn sehr vorsichtig werden lassen. Eigentlich ist er ein wirklich netter und liebevoller Mensch.“ Die letzten Worte wirkten irgendwie träumerisch. Ich kam nicht umhin mir vorzustellen, dass zwischen den Beiden etwas lief. „Dann ist er das aber seeeeehr tief drinnen“, sagte ich gedehnt. Die junge Frau lachte. „Ja, das stimmt wohl. Man muss ihn schon sehr gut kennen, um den netten Jaden zu finden.“ „Dann … Kennt ihr euch wohl sehr gut, oder?“ Nervös knetete ich meine Finger. Aber warum wühlte mich das Thema überhaupt so auf? Es wäre doch schön, wenn die beiden sich mögen würden. Ging mich ja nichts an. „Oh ja, richtig gut sogar. Es ist jetzt beinahe zwei Jahre her, da hat er mir das Leben gerettet.“ Das ließ mich aufhorchen. Erschrocken sah ich sie an. „Er hat dir … das Leben gerettet?“ Sie nickte bestätigend. „Ja. Ohne Jaden wäre ich heute nicht hier. Weißt du, Amelina, mir ist damals etwas ganz ähnliches wie dir passiert. Auch ich hatte das Glück ihn zum richtigen Zeitpunkt in meiner Nähe gehabt zu haben.“ Mein Körper kribbelte unangenehm bei der Vorstellung. „Vielleicht kann ich dir deshalb auch etwas Mut zusprechen. Auch, wenn du es momentan noch nicht glaubst, du hast alles richtig gemacht. Es war kein Fehler ihm zu vertrauen.“ Sie sah mich an. Ich blickte nur erstarrt zurück, worauf sich ein Lächeln auf ihren Lippen formte. „Ich fange am besten mal von vorne an. Mein Name ist Aurelia Starchain. Ja, der Nachname ist merkwürdig. Ich weiß auch nicht woher der kommt.“ Sie lachte. „Jedenfalls bin ich letzten Monat 22 Jahre alt geworden und lebe seit gut eineinhalb Jahren hier. Ich weiß nicht, wie sie mich damals gefunden und gerade mich ausgewählt hatten, aber plötzlich brach die Hölle um mich herum aus.“ Plötzlich hob sie ihre Hände und führte sie an die Seite ihres Kopfes. Kurze Zeit später hielt sie eine himmelblaue Haarspange in der Hand, an deren Ende sich eine schwarze Stoffblume befand. Ein Stein, so dunkelblau, dass er fast mit dem Schwarz des Stoffes verschmolz, glitzerte wie ein nächtlicher Sternenhimmel im Licht der Lampe. Ich beugte mich ein Stück zu ihr hinüber. Völlig fasziniert von der Tiefe ihres Seelensteins. „Wunderschön“, hauchte ich und hörte Aurelia kichern. „Danke. Ja, er ist wirklich schön. Ein kornblumenblauer Saphir. In dieser Farbe und mit diesen Eigenschaften einzigartig auf der Welt. Colin hatte mir mal gesagt, dass das wahrscheinlich der wertvollste, je gefundene Saphir ist.“ „Wow.“ „Tja, aber gegen deinen roten Diamanten ist das hier nur ein kleines Kieselsteinchen. Völlig unbedeutend. Und genau darum macht sich Jaden auch solche Sorgen um dich.“ Das riss mich aus meiner Starre. „Er macht sich Sorgen? Um mich? Das bezweifle ich.“ Die Momente, in denen er sich über mich lustig gemacht und geärgert hatte kamen wieder hoch. Und außerdem kannten wir uns eigentlich überhaupt nicht. Den Kerl kümmerte es doch gar nicht, was mit mir passierte. Das hatte er schon unmissverständlich klargestellt. „Doch, glaub mir. Gegen deinen millionenschweren Diamanten ist mein Steinchen mit seinen geschätzten 175.000 Euro überhaupt nichts wert. Und genau deshalb werden sie auch nicht aufhören nach dem Stein zu suchen. Nicht immer werden die Steine verkauft. Oft scheinen sie sie auch zu behalten und wichtigen Geschäftspartnern als Geschenk zu geben. Das vermuten wir jedenfalls, weil die Typen ohne Unterstützung lange nicht so viel hätten erreichen können. Schon allein die Informationen über uns und unseren Tagesablauf müssen sie irgendwo herbekommen. Aber zum Glück kennen sie wenigstens unser Versteck bisher nicht.“ Meine Augen wurden groß. „Die erkaufen sich ihre Informationen? Mit Segenssteinen?“ Aurelia nickte und plötzlich sah sie wahnsinnig erschöpft aus. „Genauso wie Waffen, Munition, Autos und ihre zahlreichen Verstecke beziehungsweise Unterschlüpfe. Und die korrupten Reichen haben ihre Sammlung um ein wertvolles Schmuckstück bereichert.“ „Aber …“ Das verwirrte mich. „Müsste es nicht auffallen, wenn irgend so ein Typ und seine Freundin ständig so wertvolle Edelsteine anschleppten?“ Die Blonde schüttelte nachdenklich ihren Kopf. „Nein. Warum auch? Reiche können sich doch ständig und überall neue Edelsteine besorgen. Vielleicht besitzen sie oder einer ihrer Bekannten eine Edelsteinmine im hintersten Teil der Erde. Niemand würde es verdächtig finden, sollte ein Prominenter einen neuen Rubin im Ring tragen. Und sollte doch mal jemand nachfragen, bleiben immer noch gut einstudierte Lügengeschichten. Und für ein bisschen Geld behaupten die meisten Menschen fast alles. So einfach kann das manchmal sein.“ Sie seufzte. Und auch mir war in diesem Moment elend zumute. Es war alles geplant. Bis ins kleinste, widerlichste Detail. Und das nur um einen bunten Stein mehr in einem Tresor verstauben zu lassen. „Aber genug von dem miesepetrigen Gelaber.“ Ich zuckte erschrocken zusammen, als die Blonde aufsprang und in die Hände klatschte. „Du isst jetzt erst mal was und legst dich in Ruhe hin. Alles Weitere wird sich schon bald ergeben.“ Ich sah ihr hinterher, während sie leichtfüßig durch das graue Zimmer schwebte. Es schien, als würde sie auf weichen, flauschigen Wolken laufen und nicht auf dreckigem, unebenem Felsen. Wie aus einer anderen Welt. „Wenn du noch etwas brauchst, sag einfach Bescheid. Ich werde im Zimmer nebenan sein, falls irgendwas sein sollte. Einfach links den Gang runter. Du kannst es gar nicht verfehlen.“   Mit diesen Worten verließ sie den Raum und Stille umfing mich erneut. In meinem Kopf hämmerte es. Viel zu viel schien sich dadurch zu schlängeln, sodass es sich eher wie ein zäher Brei anfühlte, als rasende Gedanken. Da half nur noch eins. Irgendwas Essbares und eine schöne, heiße Dusche. Aber eine Dusche? Ich blickte mich um. Nirgends war etwas Vergleichbares zu entdecken. Das war also etwas, was ich noch hätte fragen können. Aber über unser Gespräch hatte ich den jetzt kaum noch zu ignorierenden Druck in meinem Körper völlig vergessen. Leider linderte dies aber auch genau mein Hungergefühl, so gut mein abendlicher Snack auch riechen mochte. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als doch noch mal vor die Tür zu gehen und Aurelia zu belästigen. Und danach noch zu hoffen wieder zurück zu finden …   Ich zwang meinen steifen Körper sich aufzurichten und durchquerte den Raum. Als meine Finger die kalte Eisentür aufdrückten, durchfuhr mich ein eisiger Schauer. Schnell schüttelte ich das Gefühl ab und trat auf den schwach beleuchteten Gang. Nur zwei alte von Plastik umgebene Glühbirnen warfen ein kaltes Licht in die Schatten. Ein leichter Luftzug wand sich durch die Gänge, der an meinen Haaren zupfte. Eine Gänsehaut kroch meine Arme hoch, die diesmal nichts mit den niedrigen Temperaturen zu tun hatte. Ich fand es hier einfach nur unheimlich. Mit wenigen Schritten lief ich den Gang entlang, und so, wie Aurelia es mir beschrieben hatte, fand ich die Tür, die in ihr Zimmer führen musste. Erstaunt entdeckte ich, dass ein schmaler Lichtstreifen aus der unverschlossenen Öffnung drang. Gerade als ich meine Hand nach der Klinke ausstrecken wollte, erklang ihre Stimme.   „Das war wahnsinnig gefährlich dich so ganz alleine und ohne Rückendeckung mit den Kerlen anzulegen! Du hättest wirklich verletzt werden können! Wir wussten gar nicht, dass du in Schwierigkeiten steckst! Wir hatten keine Möglichkeit zu reagieren!“ Eine leichte Panik war aus ihren Worten herauszuhören und ich fragte mich, mit wem sie da sprach. Doch schon eine Sekunde später wusste ich es. Denn diese Stimme kannte ich bereits zu gut. „Das war eine spontane Aktion, Aurelia. Ich wusste selber nicht, was die diesmal geplant hatten! Aber ich musste schnell handeln! Mir blieb einfach keine Zeit! Wir dürfen den Kerlen nicht noch mehr in die Hände spielen!“ Ein ärgerliches Schnauben ertönte. Mein Körper zitterte. „Ja, ja. Das sagst du immer! Aber denk doch auch mal an uns! Wie sollen wir weiter machen, wenn du nicht mehr da bist? Du weißt, dass die meisten von uns dem Kampf da draußen nicht gewachsen sind!“ Aurelias Stimme schien sich beinahe zu überschlagen. Doch ab und zu stockte sie, beinahe so, als würde ihr die Luft weg bleiben. Weinte sie etwa? „Komm schon, beruhige dich! Es ist ja nicht so, als wäre ich der einzige, der hier etwas bewirken könnte. Aber mach dir keine Sorgen, ich habe alles im Griff.“ „Wie soll ich mich da beruhigen? Du weißt doch, wie viel du mir bedeutest!“   Ich trat einen langsamen Schritt zurück. Das war nun wirklich nichts, bei dem ich zuhören sollte. Das ging mich alles gar nichts an. Ich konnte bestimmt auch jemand anderes fragen. Ein weiterer Schritt. Ein kurzer Blick in Richtung Tür. Und da sah ich sie. Aurelia, wie sie dicht an Jaden gedrückt dastand und seine Arme ihren Körper noch fester an sich zogen. Ein intensiver Blick, den ich vorher nur bei richtig verliebten Menschen gesehen hatte. Ein Anblick, von dem ich mich nicht abwenden konnte. „Ich bin doch wieder hier. Und in nächster Zeit werde ich das Bergwerk nicht alleine verlassen, das verspreche ich dir.“ So sanft. So beruhigend. Eine Seite, die er mir gegenüber nicht einmal angedeutet hatte. „Und was ist mit Amelina? Bist du sicher, dass es eine gute Idee war sie hierher zu bringen?“ Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als mein Name ertönte. Meine Beine begannen zu zittern. Ich wollte weg. Gar nicht hören, was die beiden über mich redeten. Doch warum rührte ich mich dann nicht vom Fleck? „Mach dir nicht so viele Gedanken um sie. Ich bin mir sicher, dass sie uns nicht lange zur Last fallen wird. Sieh es doch mal so: Entweder ist sie der Schlüssel, um die Bande ein für alle Mal vom Erdboden zu tilgen, oder sie löst das Problem mit ihrer eigenen Dummheit. Vielleicht hätte ich ihr doch das Handy zurückgeben sollen …“   He. So fühlte es sich also an innerlich zu zerbrechen? Es war gar nicht so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Keine Wut? Kein Zorn? Kein Gefühl des Enttäuschtseins? Nein. Eher im Gegenteil. Da war gar kein Gefühl mehr in mir. Eine leere Hülle. Ein Nichts. Sie warteten also nur darauf, bis sich ihr Problem selbst erledigte? Bis ich eine Dummheit beging? Doch warum haben sie mich dann eigentlich gerettet? Nur, um den Kerlen eins auszuwischen? Damit sie meinen Stein nicht bekamen?   Waren all ihre netten Worte nur Lügen? Lügen, denen ich beinahe geglaubt hätte? Diese Menschen, denen ich angefangen hatte zu vertrauen, hatten all das nur gespielt? Wie konnte ich nur so dumm sein?   ++++++   Die Nacht war kurz. Und jetzt musste ich mit den Folgen leben. So müde, wie ich es noch nie in meinem Leben gewesen war, fiel es mir richtig schwer auf diesem unbequemen Stuhl sitzen zu bleiben. Ich krallte mich richtig an den Lehnen fest, um meine aufrechte Position beizubehalten. Doch ich spürte, wie die Müdigkeit an mir zog. Wie immer wieder meine Augenlider zufielen. Ich bemerkte ständig, wie sich die Stimmen um mich herum zu einem unverständlichen Brei vermischten. So, als würde jemand mit der Fernbedienung den Fernseher ständig laut und leise drehen.   Wieder richtete ich mich auf, um mir eine neue Sitzposition zu suchen, die vielleicht etwas bequemer sein würde. Oder vielleicht lieber weniger bequem, wenn meine Augen wirklich offen bleiben sollten. Das Zimmer, in dem ich saß, war nicht großartig beleuchtet. Die einzelne Glühlampe, die über dem provisorisch aus Holzkisten und Brettern zusammengeschusterten Konferenztisch hing, erhellte die anwesenden Gesichter nur teilweise. Die meisten von ihnen kannte ich nicht. Da waren Jaden und McSullen, sowie der Doktor, der mich gestern aufgepäppelt hatte. Dazu kamen noch drei andere Männer und eine Frau, die vermutlich schon länger hier unten lebten. Die Haare der Männer waren kurz geschoren und ihre Gesichter zierten mehr oder weniger dichte Bärte. Die Haut von dem einen war sogar so weiß, dass sie beinahe im Lampenschein zu leuchten schien. Die Frau hingegen faszinierte mich. Ihr natürlich rotes Haar schien wie eine Flamme auf ihrem Kopf zu lodern. In perfekten Locken umrahmten sie ihr sehr jung wirkendes Gesicht. Sie schien so, wie sie in dem kurzen Rock und der Bluse mir gegenüber saß, direkt aus einem der Hochglanz-Modemagazine entsprungen zu sein. Man hatte mich ihnen vorgestellt, doch die Namen der Anwesenden hatte ich längst wieder vergessen. Das interessierte mich sowieso sonderlich wenig. Und so finster, wie sie mich ständig ansahen, erging es ihnen bei mir nicht anders.   „Sie scheinen ihr Schema geändert zu haben“, begann McSullen gerade erneut die Diskussionsrunde. „Unsere Leute haben beobachtet, dass die Sichtungen der Männer in der Innenstadt deutlich zugenommen haben. Die Auswahl der Opfer scheint nun also mit zufälligen Begegnungen auf der Straße zu beginnen.“ „Und dann verfolgen sie das Opfer, um mehr über es in Erfahrung bringen zu können? Das ist ein komplett neuer Ansatz!“, erboste sich der sehr korpulente Typ mit dem Vollbart. Genau wie die wenigen Haare auf seinem Kopf, leuchtete auch dieser in einem so hellen Grau, dass er beinahe Weiß erschien. Ich kam nicht umhin zu denken, dass er einen perfekten Weihnachtsmann abgeben würde. „Dann ist niemand mehr sicher, der seinen Seelensstein in der Öffentlichkeit trägt.“ Der weißhäutige Mann fuhr sich bei seinem laut ausgesprochenen Gedanken mit den Fingern durch das haselnussbraune Haar. „Davon müssen wir leider ausgehen.“ McSullen blätterte in ein paar Unterlagen, die vor ihm auf dem improvisierten Tisch lagen. Das Knistern der Blätter hallte im ganzen Raum wider. „Aber so wird es für uns schwieriger ihre nächsten Schritte vorherzusehen!“ Das erste Mal, seit diese Besprechung begonnen hatte, beteiligte sich nun auch Jaden an dem Gespräch. Er saß mir direkt gegenüber; gleich neben der rothaarigen Frau. Seine kupferrote Haarfarbe sah jedoch ziemlich unspektakulär aus gegenüber ihrer. Ein kleines, gedankliches „Ätsch!“ konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Erneut schien mich sein Blick zu durchbohren, während ich ihn so gut es ging ignorierte.   Nach seinen Worten am Abend war ich geflohen. Einfach feige weggerannt. Aber wieso hatte mich das eigentlich so geschockt? Es war doch klar gewesen, dass ich ihnen völlig egal war. Es ging hier um ihr Leben, nicht meins. Das war es, was sie von mir dachten. Ich hatte verstanden. Ich war ihnen egal. Komplett egal. Sie fanden es nett, dass ich ihnen einfach so in die Hände gefallen war. Ich war sogar ziemlich nützlich für sie. Doch mir war mein Leben nicht egal. Nein, mir nicht.   Durch Zufall und der Tatsache, dass ich an meiner Zimmertür vorbeigerannt war, hatte ich tatsächlich eine Art Badezimmer gefunden. Eine improvisierte Dusche war, neben die schon in Bergwerkszeiten errichtete Toilette, gebaut worden, in der es sogar – dank Durchlauferhitzer – warmes Wasser zum Duschen gab. Es hatte sich wahnsinnig gut angefühlt den ganzen Dreck von meinem Körper zu waschen. Trotz der neuen Kleidung, die Aurelia mir gegeben hatte, hatte ich mich die ganze Zeit unwohl gefühlt. Erst als ich aus der Dusche stieg und in den kleinen, verschmierten Spiegel geblickt hatte, konnte ich mich in der Person darin wiedererkennen.   Ich war schon immer schwach gewesen. War ohne meine Eltern und meine Freunde aufgeschmissen. Bloß hatte ich das nie wahrhaben wollen. Doch jetzt war niemand da, der mir helfen konnte. Niemand, der helfen wollte. Ich war auf mich allein gestellt. Niemandem hier würde es wirklich etwas ausmachen, wenn ich einfach verschwände. Wer weiß, ob es sogar jemand merken würde?! Aber das würde mich nicht aufhalten. Wenn ich ihnen egal war, dann würde ich mein Leben eben selbst in die Hand nehmen. So schnell durfte ich einfach nicht aufgeben! Es war MEIN Leben und ich hatte da auch noch ein Wörtchen mitzureden! Ich wusste in diesem Moment, dass selbst, wenn ich mich aufgegeben hätte, meine Familie und meine Freunde es noch lange nicht getan hatten. Und ich war es ihnen schuldig, wenigstens zu versuchen aus der ganzen Sache wieder herauszukommen. Wieder zurück zu kommen …   Nachdem ich in mein Zimmer zurückgegangen war und die inzwischen eiskalte Suppe mit dem Brot gegessen hatte, war ich in das Bett gekrochen und hatte mich unter der Decke vergraben. Gefühlte wenige Minuten später hatte plötzlich Aurelia in dem Zimmer gestanden und mich ohne große Erklärungen hierher gebracht. Sie war verschwunden und ich musste den verachtenden Blicken weiter standhalten.   Jede Minute kämpfte ich gegen die Müdigkeit an. So ganz, ohne etwas zu tun, war das alles hier richtig langweilig. Immer wieder verschwamm meine Sicht und die Schwerkraft zog penetrant an meinen Augenlidern. Mich fragte sowieso niemand nach meiner Meinung, warum war ich also hier? Mit einer Mischung aus Langeweile und Wut im Bauch beugte ich mich etwas in meinem Sitz vor und griff nach einem der mit Käse belegten Brote, die seit meiner Ankunft unberührt in der Mitte des Tisches standen, und begann darauf herum zu kauen.   „Wir müssen eben noch besser aufpassen und viel mehr zwischen den Zeilen lesen“, kommentierte McSullen Jadens Ausruf und nickte entschlossen. „Dass sie ihre Taktik nach so langer Zeit geändert haben, deutet für mich darauf hin, dass unsere Bemühungen tatsächlich Wirkung zeigen. Wir dürfen uns jetzt nicht abhängen lassen!“ „Das haben wir auch nicht vor, Keith. Genau deshalb sind wir ja hier.“ Ich verschluckte mich beinahe an dem Stück Brot, das ich gerade in Mund hatte, als die Rothaarige sich in das Gespräch einschaltete. Ihre Stimme war dunkler, rauer, als ich es vermutet hatte. Sie richtete ihren Blick auf mich und ich sah direkt in ihre hellgrünen Augen. „Vielleicht sollten wir einfach zur Sache kommen und unseren netten Gast auch einmal zu Wort kommen lassen. Sonst hätten wir sie nach dem anstrengenden Tag gestern nicht so früh aus dem Bett zerren müssen.“ Ich zuckte zusammen und spürte, wie das Blut in meine Wangen floss. Natürlich hatte ich die Anspielung auf meinen müden Zustand verstanden. „Du hast recht, Scarlett. Einen Versuch ist es Wert.“ Ich bemerkte den leicht resignierten Unterton in McSullens Worten. Beinahe so, als wäre er zu alldem hier überredet worden, ohne wirklich davon überzeugt gewesen zu sein. Eine Tatsache, die mich nicht sonderlich beruhigte.   „Also, Amelina …“ Plötzlich war ich schlagartig wach. „Hast du eine Ahnung, warum diese Männer gerade auf dich aufmerksam geworden sind?“ Die Stimme der Frau zog mich in ihren Bann. In meinem Kopf rauschte das Blut nur so durch. Nervös spielte ich mit meinen nun wieder brotfreien Fingern. Ein kurzer Blick auf Jadens genervtes Gesicht und meine Nervosität war beinahe verschwunden und purem Trotz gewichen. „Nein, ich habe keine Ahnung. Ich trage zwar meinen Anhänger viel in der Öffentlichkeit, aber meistens unter meiner Kleidung versteckt. Schon, um nicht immer darauf angesprochen zu werden.“ Ein Nicken der Frau. Ich konzentrierte mich voll auf sie und blendete die Männer so gut es ging aus. „Verstehe. Aber gerade jetzt, wo es so wahnsinnig heiß draußen ist, passiert es doch sicherlich, dass der Anhänger sichtbar ist, hab ich recht?“ Ich zuckte erneut zusammen. „Ja, gut möglich“, gab ich zurück. Wieder nickte sie. Ein kleines Lächeln im Gesicht. „Ist dir irgendetwas aufgefallen? Hast du bemerkt, dass du beobachtet wirst?“ Ich überlegte kurz. Der Busunfall, das herrenlose Auto, die Waffe in dem Seitenfenster … „Ich … Nein, ich hatte nichts bemerkt. So viele Dinge sind geschehen, aber ich habe sie alle als Zufall abgetan. Bis ich dann in meine Wohnung ging und dieses merkwürdige Gefühl hatte …“ Nun horchte sie auf. Ich bemerkte, wie sich ihre Augen nur um Millimeter weiten. „Merkwürdiges Gefühl? Wie genau darf ich das verstehen?“ Ich erschauderte, als ich daran dachte. „Ich kam von der Schule nach Hause und habe meine Wohnung betreten. Doch noch ehe ich einen Schritt gemacht hatte, überkam mich ein ganz komisches Gefühl und ich bildete mir ein, dass mein Flur anders aussah, als ich ihn hinterlassen hatte. Doch ich dachte, ich hätte mich geirrt. Aber ich … Ich konnte einfach nicht reingehen. Irgendwas hat mich davon abgehalten. Also habe ich meinen Regenschirm genommen und bin sofort wieder gegangen.“   Als ich geendet hatte, lagen alle Blicke auf mir. Doch die Verachtung darin war verschwunden und einer Mischung aus Neugier und Erstaunen gewichen. Zu meiner eigenen Verwunderung fühlte sich das noch unbehaglicher an. Verstohlen sah ich zu Jaden hinüber und war mehr als überrascht zu sehen, dass der harte und strenge Ausdruck in seinen Augen verschwunden war und er mich beinahe … mitleidig betrachtete. Doch so schnell wie er gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Also hatte ich mir das nur eingebildet?   „Ich verstehe. Amelina, du hast ein gutes Gespür für so etwas. Die schwarzen Männer hatten sich höchstwahrscheinlich in deiner Wohnung verschanzt. Sei froh, dass du auf dein Gefühl gehört hast, sonst wärst du mit Sicherheit jetzt tot.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)