Wishmaster von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Erinnerungen ----------------------- Kapitel 1 Erinnerungen "Ich, Megumi Hiro, die 7. Seherin..." ihre Stimme versagte ihr den Dienst und sie senkte den Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen. Mit einigem Schrecken bemerkte sie, daß ihr das Blut in die Wangen schoß und ihre Haut zum glühen brachte. Ihre Knie zitterten vor Angst und in ihrem Schädel pochte ein beißender Schmerz... Die Gedanken der Alten drangen in sie... Sie kannte das und haßte es, ihr Sein vor diesen greisen Geistern ausbreiten zu müssen. Fremde Stimmen und Gedanken erfüllten sie, machten sie zu einem Gefäß... Ihre Knie zitterten und die Welt begann unter ihr zu wanken. "Ich bin Setsuna Hiro, der 7. Hüter der Vergangenheit, die 109. Generation des Hiro- Clans." Setsunas Stimme klang so ruhig und selbstsicher, daß Megumis Angst nachließ. Sie wußte, daß Setsuna nie Angst hatte, nie zeigen würde. Einer mußte ja da sein, um sie zu beschützen. Sie schloß die Augen und ließ sich fallen, ihren Geist frei treiben... Tatsächlich hörte dieser pochende Schmerz in ihren Schläfen auf. Dennoch war es unangenehm 2000 Jahre alte Geister in ihre Seele blicken zu lassen. Plötzlich fühlte sie Setsunas Hand auf ihrer Schulter, die ungewöhnlich schwer und fest zudrückte... Als sie die Lider öffnete und sich umsah, war Setsunas Gesicht von Scherzen verzerrt. Zitternd stand Megumis Zwilling hinter ihr. Schweiß perlte auf der hohen Stirn und in den hell blauen Augen lag so viel Schmerz und Lied und Qual. Dennoch kam kein Laut über Setsunas Lippen. Aber das Hüftlange, dichte, schwarze Haar hatte jede Farbe verloren. Die Geister bestraften Setsuna. Megumi versiegelte ihren Geist und umarmte ihren Zwilling fest, hielt Setsuna. "Verschließe deinen Geist!" flüsterte sie. "Ich... kann nicht." Setsunas Stimme klang leise, gepreßt. Megumi schloß die Augen und legte den Kopf in den Nacken. "Hört auf!" ihre Stimme hallte von den Wänden des Schreins wieder und brach sich in der Kuppel, hoch über ihren Köpfen. "Hört auf!!!!" Megumi fuhr aus ihren Kissen hoch, weinend... Dunkelheit umgab sie, erdrückende Stille, und diese unangenehm feuchte Wärme... Einzig Setsunas unruhiges, leises Atmen konnte sie hören. Und, in einiger Entfernung das vereinzelte, leise Rauschen, wenn ein Auto über die Autobahn rollte. Sie drehte sich halb in dem engen Bett um und sah zu dem Radiowecker, der auf ihrem Schreibtisch stand. Die roten Leuchtziffern sagten ihr, daß es definitiv zu früh zum aufwachen war und dieser Alptraum an sich bereits an vorsätzliche Körperverletzung grenzte. Viertel nach drei in der Nacht! Sie schob behutsam die Decke von sich und sah an sich herab. Ihr Nachthemd klebte an ihrem Körper. Sehr lang schon hatte sie keinen Alptraum mehr gehabt, der ihr solch einen Schrecken eingejagt hatte, so daß sie Schweiß naß erwachte. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Neben ihr lag Setsuna, zusammen gekrümmt wie ein Fötus, die Decke halb über sich gezogen. Langsam erinnerte sie sich wieder. Sie hatte schon am Abend große Angst gehabt, ohne einen besonderen Grund dafür erkennen zu können, also war sie von Anfang an zu Setsuna ins Bett gekrochen. In Setsunas Nähe nur war Megumi wirklich glücklich und sicher. Wahrscheinlich der Grund, aus dem sie in diesem Kinderheim ein Zimmer teilten und beide nicht vermittelt werden konnten. Aber sie liebte Setsuna, mehr als alles auf der Welt und außerdem waren sie ja auch Zwillinge! Megumi stand auf und ging zu dem Waschbecken in ihrer beider Zimmer, um sich den Schweiß abzuwaschen. Der PVC unter ihren Füßen war kalt, im Gegensatz zu der verbrauchten, feucht- warmen Luft in dem Zimmer. Auf Zehenspitzen hüpfte sie zum Waschbecken und zog sich das feuchte Nachthemd über den Kopf. Nun fror sie. Sie drehte den Wasserhahn auf und wartete, bis das Wasser nicht mehr kalt war. Gründlich wusch sie sich Erst danach nahm sie sich ein sauberes T- Shirt und kroch zurück unter die warme Decke zu Setsuna. Was Megumi ein wenig wunderte, daß Setsuna noch nicht aufgewacht war. Sonst war der Schlaf ihres Zwillings nicht besonders fest oder gar wirklich tief. Aber Setsuna lag noch immer da, unter der Decke versteckt und in unruhigem Schlaf. Megumi schob die Decke etwas herab. Setsuna stöhnte leise und regte sich in ihrer unbequemen Position. Das schwarze Haar, stellte Megumi erschrocken fest, war weiß, genau wie in ihrem Traum. Setsunas langen, schwarzen Haaren fehlte jede Farbe. Sie waren weiß geworden. Weiß, wie frisch gefallener Schnee. Außerdem war Setsunas Gesicht Tränen naß. Noch nie zuvor hatte Megumi Setsuna in solch einem Zustand gesehen. Setsuna, der Starke, der Unerschütterliche... Dann öffneten sich Setsunas Augen. "Megumi..." wisperte Setsuna und wischte sich mit dem Handrücken über die Augenlider. "Es tut weh... was ist das?!" Wortlos starrte Megumi in Setsunas rot geränderte Augen. "Megumi..." Setsuna stemmte sich auf die Hände hoch. Das lange Haar fiel ihm über die Schultern, doch scheinbar bemerkte er nicht, daß es weiß war. Wie konnte das sein?! Megumi richtete sich auf und zog die Beine an den Leib. Setsuna, der auf dem Bauch lag, stemmte sich ganz hoch. "Megumi, was ist? War das ein Traum?" Für eine Sekunde wußte Megumi nicht, was sie antworten sollte. Setsuna konnte doch nicht den gleichen Traum gehabt haben? Aber, warum hatte er plötzlich weißes Haar, wie auch Der Setsuna in ihrem Traum... "Hüter der Vergangenheit," flüsterte sie und streckte gleichzeitig ihre Finger nach seinem Haar aus, führte die Bewegung aber nicht zu ende, als sie merkte, wie er zusammenzuckte. Ganz automatisch sah er an sich herab... und bemerkte die weißen Strähnen, die wie Silberfäden über seinem schwarzen T- Shirt hingen. Sein Blick blieb einen endlosen, schrecklichen Moment an seinem Haar hängen, bevor sein Blick sich in Megumis bohrte. Wortlos stand er auf und ging zum Schreibtisch, nahm seine Papierschere aus seinem Leder- Mäppchen und ging zum Spiegel. "Was machst du?" fragte Megumi alarmiert. Setsuna antwortete ihr nicht. Entschlossen schnitt er sich die erste Strähne ab. Megumi fuhr aus den Kissen und war bei ihm, bevor er noch eine weitere Strähne abschneiden konnte, fiel ihm in den Arm. "Nicht Setsuna!" Er ignorierte sie und schnitt eine weitere Strähne ab. Für einen Moment kam sich Megumi verloren vor, verraten, als wolle sich Setsuna nun mit aller Gewalt von ihr unterscheiden, mehr denn je zuvor ein Individuum sein, mehr, als nur ihr Clon. Mit einigem Schrecken realisierte sie, in welcher Richtung sich dieser Gedankengang entwickelte. Sie spürte, wie Besitzergreifend das war... Instinktiv machte sie einen Schritt zurück und wendete sich ab. Sie hatte nicht das Recht, sich so an Setsuna zu klammern... Betroffen ging sie zu ihrem Bett und setzte mit untergeschlagenen Beinen auf die Decke und starrte vor sich hin. Zwischen Gedanken, Gefühlen und Fetzen ihres Traumes begann ihr Geist umherzuirren, auf der Suche nach einem Punkt, an dem er sich ausruhen, halt finden konnte... Sie wußte nicht, wie lange sie so dagesessen hatte, aber irgendwann fühlte sie Setsunas Hand auf ihrer Schulter. Er hatte sich hinter sie auf das Bett gesetzt und zog sie mit sanfter Gewalt in seine Arme. "Was fürchtest du, Megumi?" "Was war das für ein Traum?" fragte sie, als habe sie seine Frage nicht gehört. "War es ein Traum? Versucht sich in uns etwas zu erinnern, was vor der Zeit hier im Heim war?" Setsuna schlang beide Arme um seine Schwester und drücke sie fest an sich. "Das ist elf Jahre her. Wir waren Kleinkinder, als wir herkamen. Ich glaube nicht, daß es viel Erinnernswertes gibt, wenn man vier ist." "Aber dein Haar...!" Sie entwand sich Setsunas Umarmung und drehte sich zu ihm um... Er sah so anders aus, dachte sie beiläufig, so fremd, aber auch zugleich noch zerbrechlicher als je zuvor. "Wie kann das passieren? Du siehst aus, wie in meinem Traum!" Setsuna antwortete nicht gleich. Er strich sich eine der kurz geschnittenen Strähnen aus der Stirn und schüttelte den Kopf. "Laß uns morgen, in Ruhe eine Lösung für das Problem finden, okay?" Megumi warf ihm einen Blick zu, der die Hölle hätte gefrieren lassen können. "Du willst mir jetzt nicht erzählen, daß du wieder schlafen gehen möchtest?!" Er nickte ernsthaft. "Logisch. Morgen Früh sieht alles sicher etwas weniger schlimm aus. Vielleicht hat ja der Traum eine Lösung, oder eine Fortsetzung. Vielleicht finden wir auf dem Weg eine Lösung..." Er lächelte, stand auf und zog sie vom Bett hoch. "Komm schon. Ich habe ehrlich keine Lust jetzt die Nacht über einem Problem zu brüten, für das ich echt zu müde bin." "Setsuna, wie willst du morgen deine Haare erklären?" Sie streckte ihre Hand nach seinem kurzen, ins Gesicht gekämmten Haaren aus und fuhr vorsichtig hindurch, als könne sie sich a daran verbrennen. Er ergriff ihr Handgelenk und zog sie wieder zu sich. "Hübsch, nicht?" fragte er spöttisch in ihr Ohr. "Idiot!" sagte sie leise. Zugleich spürte sie, wie seine Finger ihre Haare durchkämmten. "Ich muß mich doch auch erst daran gewöhnen. Aber, kannst du dir vorstellen, wie das aussähe, immer mit diesen weißen, langen Haaren rumzulaufen?" "Wir hätten sie färben können." Er schob Megumi auf Armeslänge von sich und zog eine Grimasse. Willst du jetzt die restliche Nacht mit mir darüber diskutieren?" Niedergeschlagen sah Megumi zu Boden. "Nein, aber..." Setsuna schob seine Schwester zu seinem Bett hinüber und schubste sie wieder in die Kissen. Mit Schwung sprang er über sie hinweg und ließ sich neben ihr fallen. Bevor Megumi sich wieder aufsetzen konnte, Umklammerte er sie und schmiegte sich vertraut an ihre Schulter. Megumi seufzte und schüttelte den Kopf. "Du bist echt mies!" Setsuna richtete sich wortlos auf und zog seine Decke über seine Schwester und sich. In den Armen ihres Bruders fühlte sie sich sicher. Nach einer Weile schlief sie wieder ein. Diesmal tief und Traumlos. Kapitel 2: Giovanna ------------------- Ursprünglich sollte ein grooßer Teil fiktiv bleiben... aber ab hier... Giovanna gibt es. und ich war Behindertenfahrer, genauso gibt es dieses Kinderheim und naja... Irgendwie ist mir die Story wegen meiner armen kleinen Giovanna sehr ans Herz gewachsen. Aber bildet Euch eine eigene Meinung dazu... Kapitel 2 Giovanna Der Sonntag Morgen begann für Setsuna mit dem Problem, daß er wirklich keine Ahnung hatte, seinen Freunden zu erklären, wo seine langen Haare hingekommen waren und warum sie plötzlich weiß waren. Markus meinte sogar, er würde jetzt noch mehr aussehen wie ein Mädchen... So zerbrechlich und blaß und zart. Nach einer Weile stimmten auch die meisten anderen Heimkinder zu. Dennoch ließ er die Fragen wegen seiner jetzt weißen Haare unbeantwortet. Nur leider konnte er die Heimleitung nicht so einfach ignorieren, die durchaus bei dem ewig schwarz gekleideten Jungen mit den silbernen Ohrringen und dem silbernen Pentagramm um den Hals, ihre eigenen Schlüsse zogen. Nicht daß er deshalb wirklichen Ärger bekommen hätte. Nein, das war nicht Die Art von Lea und Marion. Sie beiden Frauen regten sich selten auf. Dafür gaben ihnen die Kinder auch nie einen wirklichen Grund. Aber Lea gehörte zu der Sorte extrem Vernunft gesteuerter Frauen, die in allem die Vorzüge und Nachteile automatisch abwägten. Sie fand einfach nur, es wäre unklug, sich die Haare so zu bleichen. Außerdem bedauerte sie, daß er dieses wundervolle, Hüftlange Haar so radikal abgeschnitten hatte. Marion hingegen, die etwas älter war, fand es gut, daß das lange Haar ab war, aber dafür störte sie das weiße... Sie zitierte Setsuna irgendwann ins Bad und schnitt ihm sie Haare nach. Sehr wortreich erklärte sie ihm, was passierte, wenn er öfter die Haare bleichte, woraufhin er nicht viel sagte, sie aber auch nicht wirklich eine Antwort zu erwarten schien. Sie mochte ihn, sehr sogar, aber er war schließlich auch immer ein wenig der Sonderling, der Junge, der Rollenspiele machte, Heavy Metall hörte, las, dichtete, eigentlich weniger Freunde hatte und auch sehr oft nur mit seiner Schwester allein blieb. Aber er war ein sanfter, freundlicher, hilfsbereiter Junge. Und Marion wurde es irgendwie nie leid, ihm das auch immer wieder zu beteuern. Megumi schien den Tag hindurch eher bedrückt, still. Ihr war das Erlebnis der vergangenen Nacht nur zu deutlich anzumerken, Aber weder Lea noch Marion sprachen sie darauf an. Erst gegen Abend schien sie wieder ein wenig aus ihrer Starre zu erwachen, die sie den Tag hindurch gefangen gehalten hatte. Megumi konnte ihre Gedanken nicht von dem Traum lösen, hatte er doch etwas in ihr geweckt, angeregt. Nein, angeregt stimmte nicht. Das war einfach die falsche Bezeichnung. Megumi hatte den Eindruck, daß es da etwas geben mußte, an das sie sich erinnern sollte, ausgelöst durch ihren Traum, aber etwas blockierte die Erinnerung daran. Und sie war sich sicher, daß es wichtig war, ebenso wie sie zu wissen glaubte, daß Setsuna ähnliche Gedanken plagten. Es wurde bereits dunkel, und sie saß in ihrem Bürostuhl, die Beine an den Leib gezogen und die Arme darum geschlungen. Ihr Kinn ruhte auf ihren Knien. Vor ihr lagen aufgeschlagen das Mathe- und Englischbuch, ihr Ordner und der Taschenrechner auf der Schreibtischplatte. Sie hatte überhaupt keinen Sinn ihre Hausaufgaben zu machen. Irgendwie erschien ihr alles vergleichsweise unwichtig... Ein nasses Handtuch traf sie in den Nacken. "Setsuna!" Sie fuhr herum, das Handtuch zusammengeknüllt in ihren Händen... Setsuna stand lächelnd unter der Türe, machte ein paar Schritte auf sie zu und verblaßte, wie eine Geistererscheinung. Megumi erstarrte, blickte lange, reglos zu der Stelle, an der Setsuna verschwunden war... dann auf ihre Hände, in denen sie krampfhaft das feuchte Badetuch hielt. Aber auch ihre Hände waren leer. Sie spürte plötzlich eisige Kälte in sich, eine unmenschliche Kälte... Als wäre der Nebel, der draußen herrschte hier herein gekommen, unter ihre Haut gekrochen und würde sie nun erfüllen, ihre Seele ergreifen und sich darum schließen, wie eine eisige Hand... Etwas feuchtes, weiches traf ihren Nacken. "Setsuna!" Sie verlor den Gedanken für einen Sekundenbruchteil, während sie instinktiv zur Türe herumfuhr, Setsunas Handtuch in ihren Händen. Dann erstarrte sie, als sie das gleiche Bild sah, wie vor zwei Sekunden. Die Kälte in ihr schien ihr nun die Luft abzuwürgen. Während Setsuna lächelnd auf sie zu schlenderte, das nasse weiße Haar in der Stirn klebend und noch schöner und zerbrechlicher als sonst, bahnten sich bei Megumi Tränen absoluter Hilflosigkeit und Angst ihren Weg. Als Setsuna die großen, schimmernden Bernsteinaugen seiner Schwester sah, erschrak er zutiefst und nahm sie fest in die Arme. Megumi erwiderte die Umarmung nicht, sondern blieb reglos, wie eine Marionette stehen, die er fast mit seiner Kraft umzuwerfen drohte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er sich selbst unter der Türe stehen, ein paar Schritte in das Zimmer machen und verschwinden... Und er sah es aus den Augen Megumis. Es war nur ein flüchtiger Eindruck für den Bruchteil einer Sekunde, eines Lidschlages, aber zugleich wußte er, daß das keine Einbildung war. Er wagte nicht, Megumi zu fragen, was geschehen war, vielleicht, weil er die Antwort kannte und fürchtete. Nach einer Weile, die er Megumi einfach nur an sich drückte, spürte er ihre Hände, die sich in seinen Pulli krallten und mit welcher unbarmherzigen Kraft sie ihn nun festhielt. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor er behutsam ihren Griff löste und sie von sich schob. "Geh duschen," sagte er leise und strich ihr über das schwarze, zu einem dicken, Hüftlangen Zopf zusammengebundene Haar. "Du bist eiskalt. Das heiße Wasser wird dir gut tun. Ich gehe dann mal runter und frage mal bei Lea an, ob sie uns eine Kanne Tee macht." Megumi schüttelte impulsiv den Kopf. "Nein, ich will nicht! Ich habe angst!" Setsuna verdrehte die Augen. "Ich kann doch nicht mit in die Dusche kommen, nur weil Du angst hast. Marion ist schon mißtrauisch. Weil wir immer noch in einem Zimmer sind und wenn sie wüßte, daß wir oft genug in einem Bett schlafen, würden sie uns sicher trennen..." "Bitte, ich habe Angst," drängte Megumi. "Ich rede mal mit Giovanna, vielleicht bleibt sie solange bei dir." Er lächelte aufmunternd. "Sie ist doch deine beste Freundin." Megumi wiegte den Kopf und nickte schließlich. Giovanna war selbst ein wenig verrückt, so daß sie ihr sicher davon erzählen konnte, ohne ausgelacht zu werden. Und der beste Platz, wo sie der hübschen Sinthi immer alles unbelauscht erzählen konnte, war im Badezimmer, wenn sie duschte und Giovanna in der Badewanne lag. Die Zigeunerin war fünf, sechs Jahre älter als die Zwillinge und noch nicht so lange in dem kleinen Kinderheim, aber sie war, wie Megumi und Setsuna eine Außenseiterin und hatte vieles unglaubliche und schlimme erlebt und konnte davon nur gegenüber der Zwillinge offen reden. Außerdem hatte sie, genau wie Megumi oft Alpträume und mit ihr konnte Megumi Dinge teilen, die Setsuna nicht ganz verstand, da er kein Mädchen war. Im Gegensatz zu Megumi und Setsuna aber besuchte Giovanna eine Sonderschule und war in den zwei, drei Jahren, die sie nun hier lebte, eigentlich viel zu oft im Krankenhaus. Im Gegensatz zu den Zwillingen hatte sie auch noch eine Mutter, aber die lebte mit einem Mann zusammen, der Giovanna bereits mehrfach Gewalt angetan hatte. So hatte das Jugendamt, da Giovannas Mutter gegen ihren Lebensgefährten keine Anzeige erstatten wollte, das Mädchen in ein Heim gesteckt, und sie unter staatliche Aufsicht gestellt. Giovanna reagierte mit plötzlicher Magersucht und starken Lernschwächen, so daß sie aus einer normalen Schule auf eine Sonderschule geschickt wurde. Giovanna wanderte von Heim zu Heim und blieb nirgends lange. Erst Marion und Lea gaben dem Mädchen ein dauerhafteres Zuhause, was wohl auch daran lag, daß sie sich sofort mit Megumi anfreundete und schließlich, nach einigen Anfangsschwierigkeiten, auch mit Setsuna. Setsuna ging auf den Flur hinaus und klopfte an Giovannas Türe. Das Mädchen antwortete erst nicht. Nach einigen Sekunden versuchte er es wieder, legte dann aber nur die flache Hand gegen die Türe. Über das Bild der dunkelbraunen Holztüre mit ihrem bunten Namensschild daran, legte sich plötzlich ein anderes. Es war dieselbe Türe, nur nicht ganz geschlossen, sondern einen Spalt breit offen... etwas war auch anders. Setsuna sah sich flüchtig um. Durch das Flurfenster fiel Tageslicht. Die Bäume im Vorgarten verschwanden fast im Nebel... Aber, es war heller Tag, nicht Abend... Verwirrt legte er die Stirn in Falten und schob die Türe auf... wenigstens wollte er es, aber seine Hand glitt durch das Holz hindurch...Erschrocken zog er die Finger zurück und sah sich nochmals um. Bis er einen leisen, halb erstickten Schrei hörte. Ohne nachzudenken machte er einen Schritt voran und stand in Giovannas Zimmer. Das Mädchen saß zusammengekauert auf den goldbraunen Platten vor ihrem Bett, das Gesicht in der Armbeuge verborgen, ihren Plüschbären halb an sich gedrückt und eine Hand zwischen ihren Beinen. Sie weinte tonlos. Setsuna viel der bemitleidenswerte Zustand ihrer Kleider auf. Ihre Bluse war zerrissen und an den Ärmeln Blutig, Ihr langer Rock hatte überall risse und ihre dicke Jacke, die auf dem Boden lag, war ebenfalls voller Blut. Dann sah Setsuna den großen, feuchten Flecken auf ihrem schwarz bunten Rock. Blut. Giovanna hob den Kopf, als habe sie ihn bemerkt... Setsuna erschrak. Ihr rechtes Auge war zugeschwollen, die Unterlippe aufgeplatzt und dick. Einer ihrer Schneidezähne war abgesplittert und ihr Ohrläppchen auf der rechten Seite war zerfetzt, wo zuvor ihr goldener Ohrring war. Ihre langen, braunen Haare waren zerzaust und verknotet. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie stand unbeholfen auf und sank auf ihre Knie zurück, weil ihr Körper einfach ihr Gewicht nicht zu tragen vermochte. Nach dem dritten Anlauf gelang es ihr endlich. Unsicher stand sie da, unschlüssig, ängstlich... Dann begann sie sich auszuziehen. Instinktiv spürte Setsuna, wie ihm das Blut in die Wangen und Lenden schoß, er wollte sich sogar abwenden, konnte es aber nicht. Spätestens, als er Giovannas blutigen Unterleib sah, wußte er, was geschehen war. Er hatte solches Mitleid mit ihr... Hatte sie denn nicht schon genug durchgemacht? Sie reinigte sich schnell, zog sich frische Unterwäsche an, Jeans, einen dicken, weiten Pulli, unter dem zwei Mädchen von ihren zierlichen Ausmaßen Platz gehabt hätten und Turnschuhe. Dann nahm sie ihre große Sporttasche und warf eilig einige Kleider hinein. Scheinbar achtete sie nicht mal drauf, was es war. Nur auf zwei Sachen schien sie besonderen Wert zu legen. Der Teddy, den sie zu ihrem letzten Geburtstag von Megumi bekommen hatte und der scheußliche Anhänger mit dem Kunststoff gefaßten Augapfel, den ihr ihre Schulbusfahrerin geschenkt hatte. Schließlich sah sie sich noch mal um... Wieder hatte er für einen schrecklichen Moment den Eindruck, daß sie ihn sehen konnte, denn sie blickte Sekunden lang wortlos, fast vorwurfsvoll in seine Augen, bevor sie sich herumdrehte und das Zimmer verließ... Er sah ihr nach, starrte auch noch die Türe an, nachdem sie sie hinter sich geschlossen hatte. Es dauerte lang, bis er realisierte, daß Giovanna weggelaufen war. Und, als der Gedanke endlich in sein Bewußtsein gesickert war, stand er wieder vor ihrer Tore, die flache Hand gegen das hölzerne Türblatt gelehnt. Eilig stieß er die Türe auf. Einzig das Flurlicht warf einen Lichtkegel in den engen Raum mit dem Bett auf der Gegenüberliegenden Wandseite und dem Schreibtisch unter dem Fenster. Trotz des wenigen lichtes sah er den blutigen Fleck auf dem Fußboden, vor dem Bett, wo sie gesessen hatte. Ihre Kleider, der Rock, die Jacke, ihre Bluse, lagen verstreut, wo sie sie fallen gelassen hatte. "Lea..." Setsunas Stimme gehorchte ihm nicht. Sie war nur ein Flüstern... Plötzlich ergriff ihn Angst. Er fuhr herum. "Marion! Lea!!!" An Ruhe und Schlaf war nicht mehr zu denken. Während Lea mit einigen der Jungen und Megumi auf die Suche nach Giovanna gingen, alarmierte Marion die Polizei. Eine junge Polizistin sagte ihr, daß man erst nah 24 Stunden eine Vermißtenanzeige stellen könne, schickte aber sofort einen Wagen vorbei, als Marion ihr von den blutigen Sachen erzählte, und daß Giovanna ihre Mutter besucht hatte und sie dort, möglicherweise wieder ihrem Stiefvater begegnet war, der sie vermutlich vergewaltigt hatte... Gegen 23 Uhr Kamen Setsuna, Megumi, Lea und Markus von ihrer erfolglosen Suche als letztes Team zurück. Die Stadt war nun wirklich nicht gerade groß, aber wenn gerade mal ein Dutzend Leute nach einem einzelnen Mädchen suchten, und das im dichten Nebel, waren die Chancen gleich Null. Lea fuhr jede Straße des Neubauviertels mindestens zehn mal ab, aber das einzige, was sie fand, waren Leute, die ihre Hunde noch ausführten und ansonsten wohlig beleuchtete Wohnzimmer und Leute die vor ihren Fernsehern hockten. Dann fuhr sie zum Bahnhof, der verhältnismäßig nah war, aber ohne recht Hoffnung zu haben, Giovanna zu finden. Zwei der älteren Jungen, Benni und Frank, durchkämmten das Gewerbegebiet, bis zum Rheinufer, zur Fähre hinab, mit ihren Fahrrädern, Während sich Drei der Jüngeren und drei ältere Jungen suchten die Altstadt nach Giovanna ab, ohne Erfolg. Das Gebiet, was sie vor sich hatten, war viel zu groß und weitläufig. Als sie zurückkamen, saß Marion mit einigen uniformierten Polizisten zusammen im Wohnzimmer und diskutierte mit ihnen über Verdacht und Verleumdung. Sie schien sich bereits an den Rand völliger Heiserkeit geredet zu haben. Während Lea und die Kinder ihre dicken Winterjacken ablegten, kam ihnen Natalie entgegen, ein Mädchen, etwa in Megumi und Setsunas Alter. Alle anderen, die hier geblieben waren saßen auf der Treppe und warteten neugierig, aber auch ein wenig ängstlich. "Habt ihr sie?" Lea schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Dann sah sie zu den Jüngeren hinüber und die strenge Heimleiterin kam wieder zum Vorschein. "Was macht ihr denn noch alle hier?!" fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten. "Ins Bett! Alle!" Einige maulten leise, wagte aber nicht laut Widerspruch zu erheben. Lea konnte von einer hübschen, intelligenten Mittdreßigerin zu einem Hausdrachen mutieren, wenn sie der Meinung war, es sei angebracht. Während sich ein paar von den kleinen trollten, blieben Natalie und Rieke trotzig stehen. "Lea, wir können doch nicht nur abwarten, was passiert...!" Lea hängte ihren Schal an die überfüllte Garderobe und sagte, ohne die Mädchen anzusehen: "Euer Mitgefühl hätte euch vielleicht einfallen sollen, bevor Giovanna weggelaufen ist. Vielleicht hätte sie dann was davon gesagt?!" Ihre Stimme klang ruhig, aber schneidend kalt. Rieke, die schwächere der beiden Mädchen zuckte unter den Worten wie unter einem Hieb zusammen, aber Natalie blieb reglos stehen. In ihrem Gesicht arbeitete es. Trotz und Wut, aber auch ein wenig Angst vor einem Fehler, den sie mit verschuldete... Lea drehte sich zu den Mädchen um und sah zu ihnen herab. "hört mal, das ist kein Vorwurf..." Es war einer, das wußten alle, sofort. "... aber ein Mädchen wie Giovanna ist schwierig und sie hätte mehr als nur zwei gute freunde gebraucht, die sie auffangen. Wir sollen hier eine Familie bilden, bis ihr in einem Alter seid, von dem aus ihr euer eigenes Leben führen und bestimmen könnt." Ihre Stimme war immer noch von dieser kalten Wut erfüllt. Setsuna nahm Megumi fast automatisch, schützend in die Arme, obwohl er wußte, daß dieser Tadel nicht ihnen galt. "Ihr wißt. Wenn sie zurückkommt, kann es sein, daß sie in ein geschlossenes, sichereres Heim kommt, und unter psychologische Betreuung. Darauf, Mädchen, könnt ihr euch jetzt echt was einbilden." Sie drehte sich um und ging wortlos ins Wohnzimmer zu Marion. Rieke standen Tränen in den Augen. Sie hielt den Kopf gesenkt und wirkte neben ihrer Freundin einsam und verloren. Natalie sah Lea wütend nach... aber in ihren Augen schimmerten ebenfalls Tränen. Scheinbar hatte die Worte der jungen Heimleiterin schwerer getroffen, als Natalie es zugeben wollte. Setsuna ließ Megumi los. "Natalie, erinnerst du dich, als Giovanna erzählte, daß sie noch einen Bruder hat, der sie vielleicht aufnehmen würde?" Das rothaarige Mädchen sah ihn aufmerksam an. Sie schien eine Weile nachzudenken, nickte aber nach einer Weile. "meinst du, sie ist bei ihrem Bruder?" "Wahrscheinlich nur auf dem Weg dahin..." murmelte Setsuna. "Oder sie will zu ihrer anderen Freundin, der Busfahrerin." warf Megumi ein. "Hat einer von euch eine Idee, wie wir die beiden erreichen können?" "Wenn du eine Ahnung hast, wie die Beiden heißen?" antwortete Natalie und strich sich eine lange rote Haarsträhne aus dem Gesicht. "Wie ihr Bruder heißt... keine Ahnung, ich weiß es nicht. Aber ihre Fahrerin... Sie heißt Anjuli. Anjuli Killraven." Natalie seufzte erleichtert. Und ich hatte schon befürchtet du würdest mir einen Allerweltsnamen liefern. Eine Anjuli Killraven hier in Deutschland zu finden sollte nicht so schwierig werden. Vielleicht weiß die ja, wie ihr Bruder heißt..." Megumi winkte Natalie, mit ihr zu kommen. Setsuna folgte ihr und nach einer Sekunde auch Rieke. "Sie hat Tagebuch geführt," erklärte Megumi, während sie die niedrige Holztreppe zum ersten Stockwerk hochstieg. "Das ist ein Vertrauensmißbrauch Megumi," machte Setsuna sie aufmerksam. "Vielleicht aber die einzige Möglichkeit, sie zu finden." "Hey, Meg, wenn es in ihrem Zimmer war, dann haben es sicher die Polizisten da unten jetzt. Die haben ihr Zimmer vorhin auf den Kopf gestellt. Die haben alle Kleider von ihr, die sie heute anhatte und haben auch einige andere Sachen mitgeschleppt," sagte Rieke plötzlich wieder voll bei der Sache. Megumi schüttelte den Kopf. "Wenn sie das gefunden haben, dann wäre es wirklich ein Wunder." Setsuna sah sie fragend an. Megumi erreichte die erste Etage und kam so noch einmal um eine Antwort herum. Sie ging mit weit ausgreifenden Schritten über den Flur, steuerte aber nicht Giovannas Zimmer an, sondern ihres und Setsunas. "Sie gab es mir," sagte sie, als sie die Türe öffnete und eintrat. "Sie wollte, daß ich es lese. Bisher habe ich es nicht gelesen, aber ich glaube, es wird langsam Zeit dafür, oder?" Setsuna fuhr sich durch sein kurzes, weißes Haar und überlegte für eine Sekunde, ob das, was vor Stunden schon einmal passiert war, noch einmal funktionierte... Der Hüter der Vergangenheit... Megumi lief durch ihr Zimmer, zog dabei ihren dicken Pulli über den Kopf und warf ihn auf ihr Bett. Setsuna folgte ihr, streifte ebenfalls seine Jacke ab und ließ sich auf sein Bett fallen. Natalie blieb unter der Türe stehen, zögernd, bevor sie dann ebenfalls das Doppelzimmer betrat. Nur Rieke wagte nicht, ebenfalls in das Zimmer einzufallen. Sie wartete an der Türe. Setsuna wendete sich ihr zu. "Stehst du gut?" Sie sah ihn verwirrt an, strich sich die blonden Locken aus den Augen und schluckte nervös. Ihr Blick drückte eine gewisse Scheu vor ihm und Megumi aus. "Du kannst ruhig rein kommen, auch wenn wir uns dann in einer Sardinen- Büchse befinden." Sie reagierte nur soweit, daß sie seinem Blick auswich. "Himmel," stöhnte Setsuna. "Komm rein oder geh raus, aber mach die verdammte Türe zu, klar, Rieke?! Es ist mir hier zu kalt!" Rieke verdrehte den Blick und zog eine Schnute, trat aber ein und schloß die Türe hinter sich. Dennoch blieb sie immer in der Nähe des Ausgangs, was Setsuna zwar registrierte, sich diesmal aber jeden Kommentars enthielt. Rieke war ihm schon immer etwas zu "Mausgrau" gewesen, und sie war genauso lang wie die Zwillinge da. Natalie setzte sich auf Megumis Bettkante und stützte erwartungsvoll die Ellenbogen auf die Knie. Ihr gelang es hervorragen, Setsuna, der sich auf seinem Bett ausgestreckt hatte, und die Decke über sich anstarrte, zu ignorieren. Megumi setzte sich in den Bürostuhl, hob ihre Schultasche auf und zog nach einigen Sekunden ein rot golden gebundenes, mit chinesischen Seiden- Motiven versehenes Tagebuch heraus. "Davon hast du mir nichts erzählt, Megumi," knurrte Setsuna ein wenig beleidigt und setzte sich auf. "Ich mußte es Giovanna versprechen." Sei sah betroffen zu ihrem Bruder rüber. "Aber, ich glaube jetzt ist der Moment, wo das Versprechen hinfällig wird." Natalie stand auf und ging zu ihr. "Mach schon und quatsch keine Romane. Mir ist doch egal, was ihr euch untereinander versprochen habt!" Sie griff nach dem Tagebuch und zog es Megumi aus den Fingern. Das Mädchen fuhr verärgert herum, stemmte sich halb aus ihrem Stuhl hoch, ließ sich aber zurücksinken, als Setsuna plötzlich neben Natalie auftauchte und ihr einfach das Tagebuch aus den Fingern nahm und Megumi zuwarf. Natalies grüne Augen bohrten sich in Setsunas Blick, aber dieser hielt ihr gelassen stand. "Megumi, schau nach, ob was über ihren Bruder drin steht." Seine Stimme hatte für einen Moment etwas von seiner Festigkeit verloren, doch das viel einzig Megumi auf. Die beiden anderen Mädchen konnten es nicht spüren. Megumi sah ihren Bruder an und registrierte, wie er ihrem Blick auswich. Sie begann in den Seiten zu blättern. Giovannas Schrift war eine ausgewachsene Katastrophe. Davon abgesehen, daß ihre Grammatik schrecklich und die Rechtschreibung nicht existent war, konnte sie kaum zwischen den Tintenklecksen und dem krakeligen Geschmier etwas erkennen. Aber, wie so oft, stellte sie sich recht schnell darauf ein, und bald ergaben die Schriftzeichen einen Sinn für sie. Sie begann die Zeilen zu überfliegen. Oft erwähnte Giovanna ihre Mutter, ihre jüngeren Geschwister, Megumi, Setsuna und Anjuli, aber über ihren älteren Bruder schien nichts drin zu stehen. Megumi ließ das Buch sinken und schüttelte den Kopf. "Nichts," murmelte sie. "Dann versuchen wir es mit dieser Fahrerin von dem Behinderten- Bus," sagte Natalie und ging zur Türe. "Mußt du jetzt auch noch darauf herumreiten?!" Setsuna setzte sich zu Megumi auf die Lehne und legte ihr die Hand auf die Schulter. "Laß sie." Natalie drehte sich unter der Türe noch einmal um. "Was ist?!" Wollt ihr hier Wurzeln schlagen, oder interessiert es euch nicht, was mit Giovanna ist?!" Megumi sprang so unvermittelt aus ihrem Stuhl, daß Setsuna einfach nur von der Stuhllehne kippte und sich fluchend, in aller letzter Sekunde wieder abfing. Rieke unterdrückte ein Kichern, sah aber schnell in eine andere Richtung, als Setsuna sie mit Blicken aufspießte. Megumi hielt mitten im Schritt an und drehte sich zu ihrem Bruder um, schuldbewußt, erschrocken. "Kommt ihr beiden endlich mal in die Gänge?!" Natalie schüttelte ungeduldig den Kopf. "Und du Rieke, hör auf so dämlich albern rum zu kichern! Wir sollten uns vielleicht ein bißchen beeilen, bevor Lea und Marion hoch kommen!" "Was hast du vor?" fragte Rieke nervös. "Ich gehe mit Leas Computer ins Netz, blöde frage, oder?" Natalie verzog die Lippen und wiegte den Kopf. "Manchmal bist du so hohl wie du lang bist, echt!" Wie unter einem Hieb zuckte Rieke zusammen, wurde sogar einen Hauch blasser, sagte aber nichts mehr. Setsuna legte die Stirn in Falten. "Du willst es über die Teleauskunft versuchen? Warum nicht erst mal mit dem Telefonbuch?" "Weil der Hilfsdienst aus Mainz ist, nicht aus der Pampa. Wahrscheinlich wohnt sie dann auch eher da, oder im näheren Umland, und unser Telefonbuch ist nur für Rheinhessen, okay?" Sie klang genervt, aber irgendwie, mußten Setsuna und Megumi zugeben, daß Natalie nicht unrecht hatte. "Okay, dann los!" sagte Megumi leise. "Das sage ich doch schon die ganze Zeit," knurrte Natalie. Natalie saß auf der Kante von Leas Bürostuhl und konzentrierte sich völlig auf das Start- Menü, während der Rechner bootete. Sie saß im Dunkeln, schien aber genau zu wissen was sie tat. Setsuna stand neben ihr und beobachtete genau, was sie tat, während Megumi am Fenster stand und durch einen Spalt im Vorhang die Polizeifahrzeuge im Blick behielt, und was draußen vor sich ging. Natürlich hatten sich reichlich Schaulustiger am Haus versammelt, die allerdings von Uniformierten immer wieder verscheucht wurden. Rieke stand vor der Türe schmiere. Irgendwie kam es Setsuna albern vor, wie Einbrecher, Verschwörer, hier zu viert aufzutauchen, in Leas Büro, ihren Computer, im Dunkel und der Kälte... Und dennoch war es irgendwie spannend und aufregend. Vielleicht einfach nur, weil Lea ihnen vermutlich sonst den Hals umdrehen würde, wüßte sie davon, oder, weil alles, mit dem was er nun über sich heraus fand, so fremd und neu und erschreckend war, aber auch ein gewisses Gefühl von Macht mit sich brachte. Rieke hatte Angst, das wußte er. Ihr Gesichtsausdruck verriet, daß sie eigentlich viel lieber nichts mit alle dem zu tun haben wollte. Natalie schien Übung darin zu haben, Leas Computer zu knacken, denn, kaum erschien das Abfragefenster, huschten ihre Finger in Windeseile über die Tasten und einen Moment später erklang leise der Windows Startsound. Dennoch dauerte es einige Sekunden, bevor der Bootvorgang abgeschlossen war. Draußen regte sich etwas. Die drei konnten hören, wie unten die Türe aufging und mehrere Leute über den Flur gingen. "Verdammt, beeilt euch!" rief Rieke durch den Türspalt. Natalie hatte gerade das Comundo- Start- Fenster geöffnet und tippte gerade das Paßwort ein. Megumi drehte sich kurz zu Natalie und ihrem Bruder um, sah dann aber wieder nach draußen. "Hier tut sich wirklich was," flüsterte sie. "Die Grünen verlassen gerade das Haus." Natalie fluchte leise, als die Internet- Verbindung wieder zusammenbrach und rief noch mal das Eingabefenster auf. Diesmal vertippte sie sich ein, zweimal, bevor es endlich klappte... "Warte!" rief Setsuna plötzlich. "Da... unsere Personalakten!" Er deutete auf ein Icon. "Vielleicht steht da etwas über Giovanna und ihre Familie drin." Natalie zog souverän eine Diskette aus ihrer Hosentasche und schob sie in das Laufwerk. "Erst mal schnell die Adresse... Dann kann ich auch mal in die Akten einsehen." Während die Comundo- Starseite öffnete, tippte sie bereits in die Befehlsleiste die Adresse der Teleauskunft ein. Dann minimierte sie das Internetfenster und klickte das Icon auf dem Desktop an. "Hey, Marion und Lea schmeißen gerade die Bullen raus! Seht zu, daß ihr das schnell hinkriegt!" murmelte Megumi. Das Mädchen sah sich schnell um. Natalie hatte gerade eine Art Unterverzeichnis in einer Tabelle geöffnet und suchte gerade Giovannas Akte heraus, um sie zu kopieren... Das Laufwerk begann leise zu rattern. Mit der Rechten schob sich Natalie das Haar hinter die Ohren und öffnete das Internetfenster. Die Headlines der Gelben Seiten, des Telefonbuches und des Örtlichen erschienen auf einem grau weißen Hintergrund. "Schnell, das Telefonbuch," murmelte sie, während sie mit der Maus einen Doppelklick auf die entsprechende Headline machte. Sie wartete ungeduldig, bis das Fenster aufbaute und tippte dann schnell den Namen Killraven ein und klickte auf suchen. "Mach schon!" Nervös wippte sie mit dem Fuß, nagte an ihrer Unterlippe und strich sich immer wieder die haare zurück, obwohl die keine Chance hatten, ihr überhaupt in die Augen zu fallen. "Verdammt! Sie sind wieder im Haus!" zischte Rieke zeitgleich mit dem Zuschlagen der Haustüre.. "Macht schon!" Das Ergebnisfenster baute auf. Zwei Einträge unter dem Namen Killraven. Christina Killraven, Wohnhaft in Wiesbaden und Anjuli Killraven, Wohnhaft in Mainz... "Verdammte Scheiße, welche von den Beiden ist die Richtige?!" zischte Natalie, während sie sich die Telefonnummern in die Handfläche kritzelte und machte den Rechner aus, ohne ihn herunterzufahren, holte gerade noch die Diskette aus dem Laufwerk und steckte sie in ihre Hosentasche. Keine Sekunde zu spät. Sie hörten bereits die Frauen die Treppen hochsteigen. Natalie zog wieder die Diskette hervor und drückte sie Megumi in die Hand. "Haut ab auf den Dachboden!" Setsuna sah sie verwirrt an, wurde dann von Natalie zusammen mit seiner Schwester vor die Türe geschoben. Sie schloß die Türe hinter sich und sah zu Rieke, die bereits am anderen Ende des Flures auf der Treppe, im Schatten verborgen stand. Die Kinder huschten hinter Rieke her, die Stufen in die zweite Etage hoch, wobei sie sich Mühe gaben, leise die Holztreppe zu nehmen. Unter sich hörten sie Lea und Marion, wie sie sich unterhielten, leise, wütend. Sie diskutierten miteinander, waren sich, wie so oft, uneins. Sie gingen die Treppen hoch, blieben immer wieder stehen und zischten sich unterdrückt gegenseitig an. Beide waren viel zu sehr miteinander beschäftigt, um die Kinder zu hören. Dann betraten sie das Arbeitszimmer. Als sie die Türe geschlossen hatten, hörten sie auf miteinander im Flüsterton zu reden und schrien sich offen an. Setsuna blieb reglos auf der Treppe stehen und lauschte. Rieke, die als erste, vor allen anderen die Speichertüre erreicht hatte drehte sich um und zischte wütend in seine Richtung. Megumi war dicht hinter Rieke und sah sich nun auch zu ihrem Bruder um. Natalie rammte ihm die Faust in die Seite. "Beweg dich, Idiot!" zischte sie ihm von hinten ins Ohr. Für weitere, endlose Sekunden regte sich Setsuna keinen Schritt weit. Megumi kam die drei, vier Stufen herab und nahm seine Hand... Doch bevor sie ihn richtig ergreifen konnte spürte sie wie jemand nach ihrer Hand griff, sie drückte und dabei ihren Namen rief... Giovannas Stimme...Megumi fuhr herum und sah Giovannas schmales, hübsches Gesicht in der Dunkelheit auftauchen. Ihre braunen Augen schimmerten feucht. Ihre vollen Lippen zitterten und Spinnweben hingen in ihren langen braunen Haaren wie ein zerrissener Schleier. Sie kniete neben Megumi und klammerte sich mit beiden Händen an sie, zog an ihrem Pulliärmel und versuchte, sie zu sich herab zu ziehen. Ihre Augen waren so weit aufgerissen, flehten so sehr, riefen um Hilfe... In der ersten Sekunde wollte sie ihre Hände losreißen, bis ihr bewußt wurde, daß sie ihrer besten Freundin ihre Hilfe verwehren wollte. Hilflos irrte ihr Blick von Giovannas Gesicht fort durch die Dunkelheit um sie, durch eine Finsternis, die nur von einem dünnen, schwachen Schein um Giovanna, der nur sie als Ursprung zu haben schien, eher flackernd wie Fackellicht, erhellt wurde. Dennoch erkannte sie groben Stein, Quader, so gewaltig und alt und Staub- und Spinnweben verkrustet... dann viel ihr auf, daß ihr Atem vor ihrem Gesicht kondensierte. Giovannas Atem nicht. Staub tanzte wie kleine Irrlichter um sie und verlieh ihr einen seltsamen, irrealen Anblick. Sie schien nicht mehr dasselbe Mädchen zu sein, wie vor ein paar Stunden noch. Giovannas Hände zerrten weiter an Megumis Ärmel, bis sich das Mädchen zu ihr, in den Staub setzte und sie umarmte. Plötzlich konnte Megumi die Kälte des Bodens fühlen, den Geruch nach Staub und Alter, und ihr wurde bewußt, wie dicht die Decke über ihr war, die Enge des Ganges, des Stollens, in dem sie sich befanden, zugleich spürte sie die Masse der Erde über sich, um sich. Wo immer sie sich befanden, es war ein endloses Labyrinth an uralten Gängen, irgendwo unter der Erde. Und dort waren sie einsam, allein und verlassen, vergessen von jedem. "Giovanna..." "Megumi, ich kann jetzt alles was ich will..." "Giovanna, wo bist du?..." "In Sicherheit," antwortete sie lächelnd und umarmte Megumi, klammerte sich an sie und schmiegte ihre kalte Stirn an ihren Hals. Megumi spürte eisigen Schweiß und fühlte die gewaltige Kraft, die sich in ihren dünnen Armen verbarg. Tränen liefen über Giovannas Wangen und durchweichten in kurzer Zeit Megumis Pulli. Feucht warmer Atem streifte sie immer wieder. Giovanna zog die Nase hoch. Aber irgendwie schien das doch recht erfolglos... Megumi mußte, trotz der eigentlich hoffnungslosen, einsamen und hilflosen Situation lächeln. Ihr war nur zu genau bewußt, daß das alles nicht real sein konnte, denn sie stand gerade eben vor ihrem Bruder, auf der Speichertreppe, in Ingelheim, in Leas und Marions Haus. Der Gedanke holte sie wohl zurück. Was auch immer an Zeit für sie dort vergangen war, hier konnten es nur wenige Augenblicke gewesen sein. Natalie versetzte Setsuna wieder einen Rippenstoß, der ihn zwei Schritte weit auf Megumi zu taumeln ließ. Sie hielt noch immer die Diskette in der Hand, die Giovanna gerade noch gedrückt hatte. Es war ein seltsames Gefühl, als Setsunas warme, lange Finger ihren Arm berührten und sich an ihr fest hielten, bevor er der Länge nach hinfiel. Es war die selbe hilflose Situation, Setsuna fand Halt an ihr, Giovanna nicht. "Bewegt euch!" drängte Natalie und schob beide vor sich her, durch die niedrige Türe auf den staubigen Boden. Rieke schloß die Türe hinter ihnen und schob den Riegel von innen vor. Weder Setsuna noch Megumi waren je zuvor hier gewesen. Als sie noch jünger waren, weit bevor Giovanna hier her kam, hatten sie oft nachts Geräusche hier oben gehört. Schleifen, ein lautes herumgewühle in, was auch immer hier war... und Schritte, langsam und gemächlich. Damals hatte es ihnen Angst gemacht, ihnen Bilder von Monster und Dämonen gemalt. Oft konnten sie nicht schlafen davon. Oder es verfolgte sie als Alptraum. Darin stiegen sie hier herauf, öffneten die schmale, niedrige Türe und sie betraten eine Welt aus Stau, Dunkelheit, Spinnweben, alter und Angst. In den Schatten verbargen sich unaussprechliche Kreaturen, Monster, jenseits des Verstandes, Kreaturen, manche Tieren ähnlich... schwarze, wilde Panther, aus deren Rücken vier Tentakel kamen, und die nie da waren, wo man sie sah, die einen aus dem Nichts angriffen, Monster, die aussahen wie gewaltige Rochen, am Land, mit stacheligen Schwänzen und einem Maul, auf der Innenseite, gefüllt mit nadelspitzen Zähnen. Manchmal waren es auch Kreaturen mit tausend gequälten Gesichtern, die aus grauen, nebeligen Bäumen zu kommen schienen... Manchmal aber sahen sie auch inmitten der Monster einen Mann. Einen überirdisch schönen Mann mit langen, nachtschwarzen Haaren und schimmernden, freundlichen, grünen Augen. Er hatte schwarze Haut und ein paar überdimensionaler Schwingen aus schwarzem Gefieder. Wenn er da war, behütete er die beiden Kinder vor den Monstern. Aber hier, jetzt, waren weder Monster, noch der engelhafte Mann. Hier gab es nur alte Möbel, Spielzeug von Kindern die hier vorher gelebt hatten, Regale voller verstaubter Ordner, kaputte Elektrogeräte und Tonnen von Zeitschriften. Durch vier winzige, Staub verkrustete Dachluken fiel ein wenig Licht von der Straße, den Laternen... Setsuna schloß für einen Moment die Augen und lehnte sich gegen die Wand neben der Türe. Vor ihm stand der schwarze Engel mit den schimmernden, leuchtend grünen Augen und hielt seine Flügel schützend über ihn. Die Monster seiner Alpträume konnten ihn nicht erreichen. Nicht solange dieser Engel hier, bei ihm war. Natalie seufzte tief neben ihm und setzte sich mit dem Rücken gegen die Türe. "Wir müssen warten bis es da unten ein wenig ruhiger wird." Megumi drehte sich einmal im Kreis und sah sich neugierig um. "Warum verstecken wir uns hier?" "Verstecken?" wiederholte Rieke, die sich irgendwie immer noch ängstlich und verkrampft an einem der Regale festhielt. "Mein Zimmer und das von Natalie liegen direkt neben dem Büro. Hier oben steht ein Rechner, den wir benutzen können." Sie lächelte unsicher. "Und außerdem Können wir uns hier auch unterhalten, ohne daß die beiden was davon mitbekommen." Setsuna warf Natalie einen Blick zu, der zwischen Unglaube und Ärger schwankte. "Ach ne," sagte er leise. "Laß mich raten, das Ding ist der Rechner, den dir Lea vor einigen Monaten weggenommen hatte, richtig?" "Schnellmerker," murmelte Natalie unfreundlich und ließ sich nach vorne fallen auf Hände und Knie, um sich umständlich aufzurichten. Rieke schlängelte sich durch die eng gestellten Regale und verschwand nach einigen Sekunden ganz. Irgendwie wirkte das sonst so unbeholfene, scheue Mädchen hier geschmeidig, elegant und irgendwie nicht so verstockt wie sonst. Als wäre sie hier viel mehr in ihrem eigenen Reich als irgendwo sonst. Megumi folgte ihr, wurde aber von hinten von Natalie zur Seite geschoben. "Schauen wir mal, was in Giovannas Akte steht..." Sie drehte sich zu Megumi, die ich böse Blicke zuwarf, um und winkte ihr zu. "Komm mit. Du auch, Setsuna." Die Zwillinge tauschten einen unsicheren Blick miteinander. Beiden gefiel der Verlauf des Abends, eigentlich der letzten 24 Stunden, nicht wirklich. Nach einigen Sekunden löste sich Setsuna von seinem Platz an der Türe und folgte Natalie. Rechts und links von ihm standen schmale, beige lackierte Metallregale, in denen grau- schwarze Pappordner standen, mit bunten, handbeschrifteten Rückenschildern. Setsuna achtete nicht bewußt darauf. Dennoch nahm er wahr, daß sich der größte Teil mit nichts anderem beschäftigte als Rechnungen, Steuer, Finanzamt, Quittungen und Geräteinformationen. Einige der Ordner waren zurückdatiert auf das Jahr 1979... Aber seltsame Weise waren die Bretter nicht besonders verstaubt, im Gegensatz zu vielem Anderen hier, wie zum Beispiel die Spielsachen und die alten Elektrogeräte. In dem Regal auf der anderen Seite lagen unzählige Zeitschriften. Aber es waren nicht die üblichen, ordinären Illustrierten, sondern Fachzeitschriften, die sich mit Architektur befaßten, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Ausnahmslos waren alle sehr alt und staubig. Spinnen huschten über die Regale und in kleinen Staubnestern bewegten sich Körper... winzig und ungelenk. Setsuna schauderte. Plötzlich fühlte er Megumis Hand, die nach seiner tastete und sich um seine Finger schloß. Er drückte sie kurz und fest. Sie ekelte sich vor diesen Krabbelviechern sosehr wie er. Aber sie schien sich recht gut zu beherrschen. Sonst stieß sie immer kleine, spitze Schreie aus, wenn sie eine Spinne, eine Assel oder Ameise sah. Natalie stieg über einen Stoß alter Tageszeitungen, die ihr den Weg versperrten und schlängelte sich an dem, fast an die Wand gerückten Regal vorbei. Das Geräusch eines bootenden Rechners war zu hören. "Hier oben gibt es Steckdosen?" fragte Megumi leise. "Warum nicht?" fragte Natalie scharf. "Hier gibt es normaler Weise auch Licht." Sie schob sich neben Rieke, die auf dem Boden saß, an dem Rechner, vorbei und setzte sich auf einen Stoß Zeitungen. Setsuna sah, nachdem er sich ebenfalls durch den schmalen Spalt geschoben hatte, wie gut dieser Platz vor zufälligen Blicken geschützt lag, verborgen hinter Aktenschränken, Regalen, und Gerümpel, daß sich bis unter die Dachsparren stapelte. Hier würde so einfach niemand die vier entdecken. Darin war sich Setsuna sicher. Megumi setzte sich hinter Natalie und sah ihr über die Schulter. Vermutlich rückte sie dem Mädchen etwas zu nah, denn Natalie drehte sich um und schob sie mit angewidertem Gesicht von sich. "Willst du mich heiraten?!" fragte sie patzig. Megumi schrak zurück und setzte sich ein Stück weiter nach hinten, bis sie gegen Setsuna stieß und er sie in die Arme nahm und zärtlich auf die Wange küßte. Der blaue Windows Bildschirm erschien und einige Sekunden später wurde alles schwarz, um einen Moment später den Desktop zu zeigen. Sie schob die Diskette in das Laufwerk und öffnete den Acrobat- Reader. Rieke rutschte näher an Natalie heran, kassierte einen bösen Blick und ignorierte es. Sie war viel zu neugierig, etwas über Giovanna zu erfahren, was sie noch nicht wußte. Nun rutschte auch Megumi näher und Setsuna setzte sich etwas auf um zwischen den Mädchen hindurch einen Blick auf den Monitor zu erhaschen. Das alles erwies sich als schwerer als er gedacht hatte, denn die drei steckten ihre Köpfe zusammen und verdeckten den Monitor komplett. Nach einer Weile stand er einfach auf und sah von oben her zu. Er konnte zwar immer noch nicht so wirklich viel lesen, aber wenigstens etwas erkennen. Nachdem Natalie die eingescannte Akte geöffnet hatte, erschien auf dem Monitor ein Formular mit den persönlichen Daten Giovannas. Name, Geburtsdatum und Ort, Größe, ungefähres Gewicht, Haar- und Augenfarbe, medizinische Daten und Daten über ihre Familie... Eigentlich ihre komplette Lebensgeschichte, alle Heime, in denen sie gelebt hatte, und welche Schulen sie besucht hatte. Abgeschlossen wurde die Akte mit einer Unzahl von Photos und Bildern, Schriftstücken in Giovannas unleserlichem Gekrakel und Zeichnungen. Da Natalie sehr schnell scrollte, Konnte niemand einen genaueren Blick darauf werfen. Setsuna verdrehte die Augen und langte zwischen Natalie und Megumi hindurch und hielt die Hand Natalies fest. "Geht das auch in Langsam?" fragte er leise und lächelte sie boshaft an. Natalie sah über die Schulte zu ihm und fand sich seinem Gesicht so nah, daß sie seine Nase fast streifte. Sie zuckte kurz zusammen, blinzelte und verzog die Lippen. Aber der scharfe Kommentar, den scheinbar Megumi und Rieke erwarteten, blieb aus. Sie zog sogar die Hand zurück und überließ ihm die Mouse. Er ging zum Anfang zurück, blieb aber sehr schnell an einer kurzen Randnotiz hängen. Es war nur ein Kommentar betreffs ihrer Familie... Ihres Bruders, von dem sie so oft sprach. Es gab ihn nicht... Wenigstens keinen älteren Bruder. Dafür schien sie die Älteste von sieben Kindern zu sein. Was ihn aber viel mehr erschreckte, war der beigefügte medizinische Befund und zwei Geburtsurkunden. Daraus ging hervor, daß ihre zwei jüngsten Geschwister ihre Kinder waren. Als Vater der Beiden Kleinen war niemand eingetragen. Aber es gab auch etliche Kopien von Anzeigen wegen Körperverletzung und Vergewaltigung durch den Vater, die scheinbar alle wieder zurückgezogen wurden. Auch medizinische Untersuchungen, die die Vergewaltigungen und die Mißhandlungen belegten waren dabei. "Oh Gott," keuchte Rieke. "Das arme Mädchen!" Natalie senkte den Kopf. "Hör doch auf!" sagte sie leise. "Die Wahrheit ist, daß du sie nicht leiden kannst, genauso wenig wie ich. Und es macht verdammt keinen Unterschied, was war! Mitleid hilft ihr jetzt nicht! Und ich bin mir sicher, sie will auch kein Mitleid von uns." "Du bist Herzlos!" "Nein, Rieke," sagte Natalie leise. "Ich bin nur ehrlich." Rieke wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Betroffen starrte sie wieder auf den Monitor. Setsuna mußte zugeben, daß Natalie wirklich kalt klang, aber auch recht hatte. Ärgerlich sah Megumi Natalie an, schüttelte den Kopf und erhob sich. Mit einer eleganten, beiläufigen Bewegung schleuderte sie ihren Zopf zurück und zog den dicken Strickpulli zurecht. "Du bist herzlos," sagte sie leise. "Ich kenne kein Mädchen, daß nur an sich denkt und völlig ignoriert, was andere denken und fühlen, und wen du vielleicht verletzen könntest." Natalie rollte die Augen. "Von meinem Mitleid kann sich Giovanna nichts kaufen. Es hilft ihr nicht ihre Vergangenheit zu vergessen... und, das solltest gerade du wissen, es gibt mehr, als nur sie, die eine böse Vergangenheit haben, oder die einsam und verlassen waren. Sie sollte lieber froh sein, in diesem Heim zu leben. Hast du den Absatz über die Heime mitbekommen, in denen sie schon war?! Mehr als die Hälfte davon kenne ich selbst und einige davon sind wie Jugendknast. Heime für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche!" Sie schnickte eine Strähne aus den Augen und schüttelte den Kopf. "Hier ist sie so sicher und geborgen, wie nirgends sonst." Megumis Blick wurde eine Spur kälter. "Hast du eine Ahnung, was sie durchgemacht hat?!" "Hast du eine Ahnung?" konterte Natalie kühl. Eben, dachte Megumi ärgerlich, hatte sie sich mit ihrem eigenen hitzigen Temperament in eine Sackgasse manövriert, ohne daß Natalie etwas dazu getan hatte. Ihr blieb leider kein Ausweg mehr. Niedergeschlagen nickte sie. "Du hast recht, ich habe auch keine Ahnung. Und ich habe ihr nie gut genug zugehört, um das zu erkennen." "Oh bitte!" stöhnte Natalie. "Noch mehr Klischee und ich kotze!" Sie stand ebenfalls auf und schüttelte ihre schlagsigen Gelenke. "Wenn du ihr helfen willst," sagte Natalie leise und eindringlich. "Dann ließ diese Akte sehr genau, damit du dich vielleicht etwas genauer auf ihre Sorgen und Probleme einstellen kannst, die sie hat. Denk genau nach, was sie gemacht haben kann, und ob sie sich vielleicht etwas antun würde. Aber sei dir darüber im Klaren, daß dir das deinen Seelenfrieden nicht wiedergeben wird. Du hast nicht all ihr Vertrauen gehabt, sonst wäre sie zu dir gekommen, nicht weggelaufen..." "Natalie!" Rieke stand umständlich auf und sah sie wütend an... aber irgendwie wirkte es falsch und aufgesetzt, so, als sähe sie sich gezwungen so zu reagieren. Deshalb vielleicht ignorierte Natalie sie völlig. "Ich werde mal die beiden Nummern ausprobieren." Natalie schob sich an Rieke vorbei und verließ die Ecke. "Jetzt noch?" fragte Setsuna und sah von dem Bildschirm auf. "Warum nicht? Ich bin ein unsoziales Arschloch, Hast du das noch nicht geschnallt?!" entgegnete sie. "Meinst du, sie würde sich umbringen?" fragte Rieke leise. Megumi zuckte die Schultern. "Sie ist labil, aber wenn sie das alles wirklich schon hinter sich hat, wird sie sich nicht versuchen zu..." "Sie hat bereits etliche Versuche hinter sich, Megumi." Setsuna scrollte ein Stück weiter herunter. "Hier steht es." Megumi und Rieke drehten sich beide zu ihm und setzten sich, so daß beide Mädchen etwas sehen konnten. Es waren Photos, medizinische Berichte, Berichte der Heime an das Jugendamt und an das Gericht, Berichte von Psychologen. Giovanna galt als hochgradig labil und Suizid gefährdet. Sie mußte schon als Kind den ersten Versuch gemacht haben. Immer wieder hatte sie sich die Pulsadern aufgeschnitten, Tabletten geschluckt, und einmal hatte sie versucht, sich zu ertränken. Schließlich hatte sie aufgehört zu essen. Fast vier Wochen hatte sie nichts mehr gegessen, bevor sie in eine Spezialklinik kam, entkräftet, nicht mehr bei Bewußtsein... "Das waren die zwei Jahre Klinikaufenthalt, richtig?" "Ja, Rieke." Megumi senkte die Lider benommen. "Ich vermute es." "Dann wird sie es wieder versuchen?" "Ich... weiß nicht." Traurig sah sie auf und versuchte sich an jede Einzelheit ihrer Vision zu erinnern, das, was sein wird. "Sie ist unter der Erde, allein. Sie ist... am Leben." "Woher weißt du das?" Rieke stand auf und wich einen Schritt vor Megumi zurück. "Meg, was sagst du da? Wo ist sie?!" Das Mädchen schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung. Ich habe nur einen groben, gemauerten Gang gesehen, in dem sie war, in völliger Dunkelheit." "Was bist du...was...?" Rieke schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hände, als Megumi nach ihrer greifen wollte. "Nein, nicht." Nach einer Sekunde schüttelte sie den Kopf. Willst du mir erzählen, daß du weißt, was geschieht?.. Oder was geschehen ist?" Megumi schüttelte erschrocken den Kopf. Dann hob sie den Blick und sah Rieke in die Augen. "Ich bin Megumi Hiro, die siebte Seherin, in der 109. Generation des Hiro- Clans, der Berater des Kaisers..." Was sie sagte kam ohne ihr Zutun, ohne daß sie es merkte oder wollte. Und für einen Herzschlag saß dort, auf dem Staubigen Dachboden nicht mehr das Mädchen in den langen Jeans und dem grau- grünen Pulli., sondern eine, in antike, japanische Gewänder gehüllte Priesterin, eine Shuggenia. Es waren teure, edle, reich bestickte Seidenstoffe, in Rot und Gold. Jemand hatte ihr Haar kunstvoll aufgesteckt und mit langen Haarnadeln aus roter Jade fixiert. Stärke und unglaubliche Macht, Wissen und Weisheit strahlte sie aus... und, als sie Riekes Blick begegnete, konnte das blonde Mädchen das wahre Alter dieses Geschöpfes spüren. Benommen taumelte Rieke zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Regalwand. Sie schlug die Hände vor das Gesicht, konnte den Blick aber nicht von Megumi nehmen. Obgleich sie nur für den Bruchteil einer Sekunde zu einem Teil ihrer Vergangenheit wurde, wußte Rieke plötzlich, daß das weit über alles hinausging, was sie je in ihren wildesten Träumen gesehen hatte. Auch Setsuna war diese Veränderung nicht entgangen. Für eine Sekunde wurde ihm bewußt, daß dies die Zeit der Veränderung und des Umbruchs war. Für sie, ihn, viele, aber nicht genug, als daß diese Welt es bemerken würde. Doch bevor er den Gedanken fassen und weiterverfolgen konnte, war er wieder fort. Der magische Moment kam und ging. Einzig Riekes hektischer, schneller Atem, ihre Angst, die in ihren Augen schimmerte, hielt diesen Moment noch für einige Augenblicke fest. Aber sie schien schnell ihre Scheu zu verlieren. "Wenn das, was ich eben gesehen habe, wahr ist, Meg, dann... dann ist das voll genial!" "Was..." "Laß gut sein Megumi," unterbrach Setsuna sie. "Vielleicht hat Natalie ja Erfolg gehabt." "Und was, wenn nicht? Was, wenn Giovanna stirbt? Was, wenn sie erfriert in dieser Nacht? Oder wenn sie den falsche in die Hände fällt?" "Was sollen wir denn machen? Megumi?!" "Setsuna hat recht," warf Rieke ein, kniete sich vor Megumi und nahm sie an den Schultern. "Wir können sie jetzt, in der Nacht, suchen, hier, im Ort, überall, aber das wird nicht viel helfen. Wir bringen Lea und Marion damit verdammt großen Ärger." "Aber was passiert mit ihr?!" Megumi schüttelte Riekes Hände ab und stand ärgerlich auf. "Macht, was ihr wollt, aber ich höre nicht auf! Ich habe Angst um sie!" Setsuna griff nach ihrer Hand und schüttelte den Kopf. "Ich lasse dich nicht allein gehen, klar?!" Rieke sah kurz, mit leuchtenden Augen auf und senkte wieder, mutlos den Kopf. "Ich lasse euch rein. Mehr kann ich nicht machen. Okay?" Setsuna nickte nur stumm. "Ich bin nicht so wie ihr. Ich habe weder den Mut von Natalie, noch eure Kraft und jemanden, der mir so viel bedeutet, daß ich alles für denjenigen tun würde." "Du mußt dich nicht rechtfertigen, Rieke." Das Mädchen lächelte nur traurig. "Viel Glück." Kapitel 3: Unerwartete Hilfe ---------------------------- Kapitel 3 Unerwartet Hilfe Das Haus zu verlassen gestaltete sich einfacher, als es sich die Zwillinge es zu träumen erhofft hatten, auch wenn Lea noch wach zu sein schien. Natalie sahen sie nicht mehr. Wo immer sie war... Nachdem sich die Türe hinter ihnen geschlossen hatte, wurde Megumi sehr schnell klar, daß sie keine Ahnung hatte, wohin sie sich wenden sollte. Mehr noch. Ihre Freunde hatten schon einen großen Teil von Ingelheim abgesucht. Und, was, wenn sie sich wirklich in den Zug nach Mainz gesetzt hatte? Was, wenn sie per Anhalter gefahren, und gekidnappt worden war...? Fast befürchtete Megumi schon die Frage des Wohin, aber Setsuna schwieg. Er sah sich kurz um und wendete sich zur Hauptstraße, aus der Siedlung heraus. Megumi folgte ihm, ein wenig erleichtert. So blieben ihr noch einige Minuten für eine Entscheidung. Minuten unangenehmen Schweigens. Sie hakte sich bei Setsuna unter und drückte sich enger an ihn. Nach einigen Sekunden befreite er sich von ihren Händen und legte seinen Arm um ihre Schultern. "So besser, Megumi?" Sie nickte und kuschelt sich an ihn. "Wenn ihr es miteinander treiben würdet, wäre das auch kein Wunder mehr..." Die Zwillinge erkannten zwar sofort Natalies Stimme, sahen sie aber zuerst nicht. Verwirrt sah sich Megumi um. "Wo bist du?" Natalies Schatten löste sich von dem halb von verfilzten Büschen überwucherten Starkstromkasten an der Straßenecke und kam ihnen ein paar Schritte entgegen. Sie warf einen Zigarettenstummel zu Boden und trat ihn aus, nur um gleich wieder ein Päckchen Malboro aus der Manteltasche zu ziehen und eine neue Zigarette herauszuschnicken. Sie nahm die Zigarette zwischen die Lippen, nahm sie aber gleich wieder in die Hand und sah wieder auf. Zugleich steckte sie das Päckchen wieder ein. Sie grinste schief. "Wie ist es? Wollt ihr Giovanna retten gehen?" Sie kassierte einen bösen Blick von Megumi, was Natalie nicht sonderlich störte. Gähnend reckte sie sich und strich sich eine Haarsträhne aus den Augen, bevor sie wieder die Zigarette zwischen ihre Lippen nahm und ein Feuerzeug aus ihrer Hosentasche zauberte. Erwartungsvoll sahen sie die Zwillinge an. Es mußte schließlich einen Grund geben, weshalb sie sich hier draußen herumtrieb und den Starkstromkasten warm hielt. In aller Ruhe, provokativ gelassen, zündete sie sich die Zigarette an. "Dabei wollte ich mal ein paar Lorbeeren einfahren," sagte sie beiläufig Megumi zog die Brauen zusammen. "Wovon redest du?" "Anjuli Killraven," antwortet Natalie zwischen zwei Zügen. Sie blies den blauen Rauch in die eisige, feuchte Nachtluft. "Ich habe beide Nummer ausprobiert. Anjuli Killraven ist die Fahrerin... Na ja, das war sie, vor vier Jahren. Versteht ihr, was ich meine?" Megumi schüttelte verwirrt den Kopf. "Laß sie reden," bat Setsuna. Natalie nickte ihm gespielt freundlich zu. "Sie erinnerte sich noch sehr gut an Giovanna." "Du hast sie mitten in der Nacht hier her gescheucht?" rief Setsuna, sah sich dann, bei dem Gedanken, daß seine Stimme bei der nächtlichen Stille weit hin zu hören war, nervös um. "Hab ich davon was gesagt?!" Knurrte Natalie zwischen zwei Zügen. "Nein, ich hatte nicht sie, sondern ihren Bruder dran. Aber er wußte sofort, von wem ich gesprochen hatte. Scheinbar kennt er Giovanna auch." Sie zuckte die Schultern. "Klingt süß, der Kleine..." "Und was weiter, Natalie?!" drängte Setsuna. "Können die beiden uns helfen? Ist Giovanna bei ihnen?" Natalie sah auf und schnippte die Asche in den Wind. "Nein. Giovanna ist nicht bei ihnen. Außerdem arbeitet Anjuli wohl immer schon sehr früh und dann auch noch in einer anderen Stadt. Frankfurt oder so. Sie kann uns nicht helfen. Aber er kommt wohl her." Überrascht hob Megumi die Brauen. "Sie helfen uns, einfach so?" "Meg, das machen die nicht wegen uns. Bilde dir da nichts ein. Hier geht es einzig und allein um Giovanna." "Ach ne, hätte ich jetzt gar nicht gedacht, Natalie!" Setsuna schüttelte den Kopf. "Was wollen wir machen? Noch mal alles hier absuchen? Das halte ich für Schwachsinn. Sie ist in Mainz. Da bin ich mir sicher." Natalie schnippte ihre angerauchte Zigarette fort und schüttelte abschätzend den Kopf. "Und hast du auch eine Ahnung wo? Ich meine, die Stadt ist vielleicht ne Lachnummer gegen Frankfurt aber viel größer als Ingelheim. Und von daher würde ich mal sagen, solltest du schon nen Geistesblitz haben. Sonst schippern wir sinnlos durch die Gegend." Sie lächelte böse. "Aber ihr beiden wißt doch sicher den einen oder anderen Anhaltspunkt?" Megumi blinzelte... In welcher Sekunde hatte Natalie bemerkt, was sie wirklich konnten? Wußte sie es denn? Die Zwillinge kannten ja ihre eigenen Kräfte noch nicht...Oder verarschte sie Megumi und Setsuna nur wieder? "Also habe ich wohl recht," sagte Natalie leise und senkte den Blick. So ernst kannten die Zwillinge sie gar nicht. Und es schien kein Spott oder eine Herausforderung in ihren Worten verborgen zu sein. Im Gegenteil. Es war einfach nur eine Feststellung. Beide erwarteten mehr, irgendwelche schlauen Worte, einen Spruch, Zynismus... Aber von alledem hörten sie nichts. Natalie nahm nur wieder ihre Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine weitere an. Sie nahm ein tiefen Zug und blies den Rauch in kleinen Ringen in die eisige Nachtluft. "Wann kommt dieser Mann?" Setsuna fühlte sich unwohl, ertappt von Natalie, und ihr Schweigen machte ihn nervös. "Ich weiß nicht. Kann nicht mehr lange dauern. Hab ihn vor ner Halben Stunde erreicht." "Ah," murmelte Setsuna. Natalie zog eine Grimasse und verdrehte die Augen. "Was für ein intelligenter Kommentar!" Megumis Aufmerksamkeit wurde von zwei kleinen Lichtpunkten in Anspruch genommen, die gerade von der Hauptstraße in die Siedlung schwenkten und langsam näher kamen. "Habt ihr einen festen Treffpunkt ausgemacht?" fragte sie leise. "Ja..." murmelte Natalie und schnippte die Asche fort. "Hier." Sie nahm noch einen tiefen Zu, der die Spitze der Zigarette orange rot aufglühen ließ, bevor sie sie zu Boden warf und austrat. "Anjuli Killraven ist sehr nett und geduldig. Außerdem muß sie ähnlich freundschaftliche Gefühle für Giovanna hegen, wie ihr beiden." "Ich dachte, du hättest mit ihrem Bruder gesprochen?" "Hab ich. Und ich sagte auch, daß er echt nett ist, oder?" Sie grinste unverschämt anzüglich. "Der Kerl hat ne tolle Stimme. Wenn er nun auch noch so aussieht, dann freß' ich ihn auf, ehrlich!" "Und wo wollen wir dann noch suchen?" lenkte Megumi das Thema auf Giovanna zurück. "Wo wolltest du hin, du Dummkopf?" entgegnete Natalie ungerührt. "Sie ist mit ziemlicher Sicherheit nicht hier. Vielleicht in irgendeinem Keller eines Altbaus, vielleicht in einem öffentlichen Gebäude, aber mal ehrlich, das hier ist totale Provinz!" Diese Worte lösten in Setsuna etwas aus... und er begann durch Giovannas Augen zu sehen. In Sekundenbruchteilen sah er Dinge, die ihr auf ihrem Weg aufgefallen waren... Aber alles ging so schnell, daß er nicht de Hälfte der prägnanten Wegpunkte erfaßte, oder umzusetzen im Stande war. Schlimmer noch. Alles begann sich zu drehen. Ein Reigen von Bilden, von Plätzen und Orten, mal ein Haus, ein Turm, Autos, Schneeflocken, Gesichter... Angst, Schmerz. Er fühlte sich zu tief in sie! Das Kaleidoskop war so verwirrend schnell und hektisch und bunt... so... so... Neben ihnen hielt ein kleiner schmutzig roter Wagen an... "Ist was?" Natalie kam mit ausgreifenden Schritten auf ihn zu und ergriff seinen Arm, als er kurz taumelte und sich an Megumi festklammerte. Irgendwie klang das Mädchen besorgt... Auch Megumi versuchte ihn zu halten, aber seine Hand entglitt ihrer. Aber beide Mädchen gelang es nicht, ihn aufzufangen... Noch im Fallen merkte er, daß ihm schwindelig war und schlecht... Dann fühlte er Arme, die sich um ihn schlangen, und mit ihnen wurde die Verbindung zu Giovanna gekappt. Plötzliche Wärme und Geborgenheit erfüllten ihn, aber auch eine gewisse Desorientierung. "Setsuna!" Megumis Stimme drang durch die Nebel und begann sie zu klären. Aber es waren nicht ihre Arme, die ihn noch immer hielten. Mühsam blinzelte er die Nebelschleier und schwarzen, zuckenden Blitze fort. Ein heller Fleck, umrahmt von tiefer Finsternis neigte sich über ihn. Weiches, langes, duftendes Haar strich über sein Gesicht. Es kitzelte. "Wie geht es dir," fragte eine dunkle, ruhige Stimme. Eine warme, sanfte Stimme... Irgendwie schien sie in Setsuna nachzuschwingen und berührte etwas in ihm. Langsam nahm der helle Fleck Gestalt an. Das Gesicht, was sich aus den Nebeln Schälte war unbeschreiblich schön und rein und zart. Und es lag eine unglaubliche Ruhe darin, Frieden und Geduld, Sanftmut und Sorge. Zwei schimmernde, grüne Augen sahen zu ihm herab, Halb geschlossen, umrahmt von dichten, schwarzen Wimpern. Das Gesicht war so zerbrechlich wie das eines Elfen-Mädchens und so ebenmäßig wie eine perfekte Büste. Langes, glattes schwarzes Haar fiel offen über die Schultern dieses Mannes und umhüllten ihn wie ein Mantel. Setsuna spürte sofort, wie sehr er sich zu ihm hingezogen fühlte... Und es erschreckte ihn im selben Maße, und ebenso heftig, wie er sich in ihn, diesen jungen Mann, verliebte. Und jung war sein Gegenüber... obgleich diese Augen... sie waren lt. Hatten alles gesehen und Frieden geschlossen mit allem. Zugleich war da etwas, ein Erkennen, als habe er ihn schon einmal gesehn. Vor langer Zeit... Vor endlos langer Zeit. "Alles in Ordnung?" fragte der junge Mann leise. Setsuna spürte, wie ihm diese Stimme durch Mark und Bein ging und seine Hände feucht wurden, aufgeregt zitterten. "Ja," murmelte er. Über das Gesicht seines Gegenübers huschte ein Lächeln. "Soll ich dich ins Haus zurückbringen?" fragte der junge Mann. "Du machst nicht den Eindruck, dich noch lange auf den Beinen halten zu können." "Nein," widersprach Setsuna. "Nein, nein. Ich hatte nur..." "Du mußt dich nicht rechtfertigen," unterbrach ihn der Junge, bevor Setsuna sich um Kopf und Kragen reden konnte. Er ergriff mit einer Hand Setsunas und zog ihn auf die Füße. Vermutlich war dieser Junge nicht viel älter als Setsuna, nur ein paar... zwei, drei? Doch war er unwahrscheinlich groß und feingliedrig. Schmal... Seine schlanken, langen Hände erinnerten an die eines Pianisten. Vermutlich spielte dieser Junge Klavier... Seine Beine waren so lang, und trotz des Mantels, den er trug, konnte man sehen, wie zart er doch war. Setsunas nie wurden wieder weich. Aber diesmal wegen diesem Jungen. Er hielt eine ganze Weile den Blick Setsunas gefangen, bevor er sich zu Megumi Natalie umdrehte. Die Mädchen stand ebenfalls wie vom Donner gerührt da und starrten den Jungen an. "Mit welcher von euch beiden hatte ich vorhin gesprochen?" Natalie regte sich. "Das war ich..." Sie klang unsicher, nervös. "Ich bin Gabriel..." "Anjuli Killravens Bruder?" fragte Megumi leise nach. "So kann man das auch nennen," antwortete er lächelnd. "Ja. Übrigens hat es sich Anji nicht nehmen lassen, mich zu fahren." Er verzog verächtlich die Lippen." "Schwatz keine Opern, steig ein!" Gabriel drehte sich zu dem Wagen um. Setsuna folgte seinem Blick. In dem kleinen Ford saß eine junge Frau. Wie Gabriels Haar war auch das ihre schwarz, aber nicht lang, sondern Kinnlang. Auch sie hatte diese unmenschlich blasse Haut und ein ähnlich androgynes Gesicht. Auch ihre Stimme war etwas tiefer. Aber irgendwie fand sich in ihr Härte und weibliche Weiche zusammen. Gemeinsam verlieh es ihrem Gesicht etwas ungewöhnliches, reizvolles. Zudem schien sie ebenfalls schlank zu sein und ziemlich viel Jünger, als Setsuna angenommen Hätte. Er schätzte Anjuli auf höchstens Mitte zwanzig. Ein unverschämtes Grinsen huschte über ihre Lippen und sie blinzelte, als habe sie seine Gedanken gelesen. Unsicher blickte Setsuna zu seiner Schwester und Natalie. Aber die Beiden Mädchen sahen auch nur still in das Wageninnere. Also hatte er seine Gedanken nicht laut ausgesprochen "Hey, wo habe ich Giovanna zu suchen?!" Anjuli wurde bei diesen Worten augenblicklich wieder ernst. "Kommt, steigt ein! Ich friere mir hier was wichtiges ab!" "Sie war am Bahnhof, aber auch an der Burgkirche... Einige Sachen habe ich nicht erkannt... Sie war an so vielen Orten... Sie ist in einem anderen Bahnhof gewesen, und an lauter Orten, die ich nicht kenne!" Setsuna saß hinter Anjuli, weil er etwas größer war als Natalie und Megumi. Hier, im Wagen war es schön warm und die Musik, die lief gefiel ihm sehr gut. Die Geschwister Gabriel und Anjuli schienen Beide Goth zu sein. "Du bist schon ne seltsame Type. Was kannst du denn sonst noch? Wächst dir Gras aus der Hose?!" Natalie versuchte verächtlich zu klingen, aber sie spürte zu deutlich, daß e einfach nur lächerlich klang, flach. Setsuna antwortete nicht. Er beobachtete Gabriel, der neben seiner Schwester saß und wortlos nach draußen sah. Schnee trieb im Wind, als sie über die Autobahn nach Mainz fuhren. Anjuli war eine wilde, schnelle Fahrerin. Geschwindigkeitsbegrenzungen schien sie rigoros zu ignorieren, und die Tatsache, daß weder Sicht noch Straßenverhältnisse dieses Tempo zuließen, störte sie nicht im Mindesten. Aber keines der Kinder sagte ein Wort dazu. "Warum redet Giovanna noch immer von dir, als wärest du noch ihre Fahrerin?" Megumi setze sich etwas auf und sah zwischen den Vordersitzen hindurch, um einen Blick auf Anjulis Gesicht zu werfen. "Ich weiß nicht," antwortete die junge Frau. "Vielleicht, weil sie es sich wünscht. Als wir uns zuletzt sahen, habe ich versprochen, sie immer mal wieder zu besuchen. Aber es kam immer mehr dazwischen, und so gab ich auf, auch, weil ich sie aus den Augen verlor. Ihre Adresse war nicht mehr beschaffbar... Naja." Anjuli sah kürz über die Schulter zu Megumi und lächelte flüchtig. "Wahrscheinlich wollte sie es nicht wahrhaben. Giovanna hat unheimlich viel Phantasie und sie rückt sich ihr Leben, wie sie es braucht. Schließlich hat die Wirklichkeit ihr zu schlimm mitgespielt. Aber das tut wohl jeder in Maßen. Anders erträgt man das Leben kaum." Sie lächelte schief. "Jeder hat seine Wünsche, Hoffnungen, Träume, und jeder baut sie auf seine Art in seine perfekte, nicht perfekte kleine Welt." Ihre Worte waren seltsam. Sie sprach aus, was Megumi dachte...! Sie sah kurz über die Schulter zu Megumi zurück. "Im Grunde versuche ich so nur meine Schuld ihr gegenüber zu verbergen. Ich möchte gutmachen, daß ich nicht für sie da war, als sie mich gebraucht hat." Sie lächelte. "Weißt du, Megumi, ich bin wie alle anderen. Wenn man jemand nicht mehr sieht, oder ihm nah ist, vergißt man gerne." "Ich will sie nie allein lassen," murmelte Megumi in plötzlich aufkeimendem Trotz. "Mach dich nicht lächerlich, Meg," knurrte Natalie. "Wäre Giovanna weggelaufen, wenn sie dir mehr vertraut hätte?" Bevor Megumi ein Wort sagen konnte, antwortete Anjuli. "Sie wäre weggelaufen. Ich weiß wie sie ist. In ihr ist etwas unglaublich Selbstzerstörerisches." Anjuli trat etwas auf die Bremse und fuhr die Kurve in der Spurverengung ein wenig langsamer. "Ich habe sie in einer kalten Höhle gesehen," murmelte Megumi. "Höhle?" Setsuna sah zu ihr. "Davon hattest du mir nichts gesagt." "Es war wahrscheinlich nur Einbildung." Das Mädchen ließ den Kopf hängen. Verächtlich schnaubte Natalie und sah aus dem Fenster. "Mainz hat vielleicht viele Höhlen und alte Keller und Stollen, aber um die alle zu finden, werden wir kaum die Zeit haben, mal davon abgesehen, daß viele zu sind, Vermauert, ausbetoniert... such dir war aus..." Anjuli stockte und blinzelte plötzlich. Auch Gabriel schien ein Gedanke zu kommen. Er drehte sich im Sitz zu Megumi um. "Kann es auch ein alter Wehrgang gewesen sein? Oder ein alter Luftschutzbunker?" Megumi lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie versuchte sich das Bild zurück in ihre Erinnerung zu rufen... Schemenhafte schälte sich das Bild aus der Dunkelheit hinter ihren Lidern. Giovanna, allein in dieser Kälte, dem Gang... Plötzlich stand sie wieder dort... In einem niedrigen Tonnengewölbe, einem flachen, ausgemauerten endlosen Gang. Staub und Schimmel und Spinnweben verhüllten den Blick auf gewaltige Quader. Rostige Metallstangen Bohrten sich durch die Wände und Decken und Böden. Das alles wurde gestützt. "Wehrgang," flüsterte sie. "Ich glaube, das ist ein alter Wehrgang aus der Antike!" "Willst du wissen wie viele hunderte es davon gibt?" Natalie drehte sich zu Megumi um und verschränkte die Arme vor der Brust. "Giovanna war damals auf der Schule am Hartenbergpark," sagte Gabriel leise und sah dabei Natalie an, als müsse sie jetzt verstehen, wovon er redete. "Und?" fragte sie etwas freundlicher. Dann schien ihr klar zu werden, worauf Gabriel hinaus wollte. "Du meinst die alten Wehrgänge aus der Römerzeit? Sind die nicht alle zu?" Anjuli setzte den Blinker rechts und fuhr Richtung Stadtmitte von der A60. Draußen flog die nächtlich daliegende Landschaft in schwarzen Schemen vorbei. Ihnen kamen zeitweise Autos auf der Gegenspur entgegen, aber nennenswert viel Verkehr gab es nicht. Es war definitiv Sonntag. "Die Wehrgänge sind zu. Wenigstens glaube ich das. Aber sicher bin ich mir nicht." Anjuli sah nach hinten. "Der Park ist weitläufig und es gibt sicher in den Wäldern und an den Böschungen etliche Zugänge die aufgebrochen und benutzbar sind. Darin findet sich schnell ziemlich übles Gesindel, oder Obdachlose, die sich vor der Kälte zu schützen versuchen..." "Woher weißt du soviel über den Park und die Wehrgänge?" fragte Setsuna. "Ich war dort oben auf der Berufsschule. Zudem habe ich Bauzeichner gelernt. Wenn es um alte Architektur hier geht, bin ich wenigstens halbwegs auf zuverlässigem Wissensstand. Mal davon abgesehen, weiß Giovanna von mir, daß es dort die Wehrgänge gibt." Sie drosselte das Tempo und fuhr in den Europa- Kreisel. Die Fahnen hingen schmutzig an den Fahnenstangen. Der Pflanzenbewuchs in dem Kreisel verschwand bereits unter einer dünnen Schneeschicht. Der Wagen rutschte zwar ein wenig, blieb aber, dank Anjulis Fahrkünsten in der Spur. Megumi seufzte erleichtert. "Bist du immer so schnell?" "Bin halt ex- Profi," grinste die junge Frau. "Ich hab drei Jahre Fahrer- dasein hinter mir. Ich hab mein Auto schon im Griff Megumi. Mach dir keine Sorgen." "Das sagt sie immer," murrte Gabriel. "Deshalb hat sie mich auch nicht allein fahren lassen." Er lächelte versonnen und sah zu Anjuli hinüber. "Zugegeben, sie fährt zehn mal sicherer und besser. Ich bin ganz froh bei dem Wetter nur Beifahrer zu sein." "Ich hätte dir auch den Hals umgedreht, wenn du versucht hättest mein Auto zu Schrotten, oder deine Krücke von Auto..." Sie gab hinter dem Kreisel wieder Vollgas und fuhr die Schnellstraße nach Mainz hinein. Rechter Hand flog das Universitätsgelände an ihnen vorüber. Setsuna seufzte leise. Noch immer hoffte er, eines Tages dort studieren zu dürfen. Aber wenn er sich nicht etwas mehr Mühe in einigen seiner Fächer gab, würde er wohl seinem Traum Geschichte zu studieren nicht sehr nahe kommen... Natalie sah ihn argwöhnisch an, verkniff sich aber jeden Kommentar. Das Mädchen schien sich gerade bei Setsuna immer ein wenig seltsam zu verhalten. Manchmal ging sie ihn härter an, als notwendig, manchmal schwieg sie, wenn jeder einen Kommentar erwartete. Setsuna zog Megumi in seine Arme und legte den Kopf in die Polster. Sein Schädel brummte und rumorte. Das alles war zuviel für ihn. Und er war sich nicht sicher, wie lang er noch dem Druck seiner Gedanken und der Erlebnisse der letzten 24 Stunden standhalten konnte. Auch Megumi schien es nicht sonderlich gut zu gehen, denn sie zitterte leicht. Aber sie war hellwach. Sonst, um die zeit schlief sie schon hab. Aufregung, Adrenalin, Angst, Schrecken... all das, was auch ihn zur Zeit auf voller Energie laufen ließ. Aber wie lang reichte diese Kraft? Wie lange würde das die beiden noch aufrecht halten? Natalie, im Gegensatz zu ihm, war es gewohnt bis in den frühen Morgen auf den Beinen zu sein, einen Teil der Schulzeit zu verschlafen. Natalie war ihm ein bißchen zu gut drauf und zu wach... Anjuli bog gerade auf Höhe des Unicampuses in den Martin- Luther- King- Weg ein. Die Eissporthalle lag in der Finsternis wie ein gewaltiger, schlafender Drache da, dachte Setsuna. Es war nicht seine Erinnerung, sondern die Giovannas... Sie hatte wohl Angst gehabt, als sie das Bild gesehn hatte, die flache, weitläufige Kuppel, die Leere umher... "Ah... Oratio und Manuel," murmelte Anjuli und riß ihn damit in die Wirklichkeit zurück. Er sah sich hastig um... "Wer? Wo?" Anjuli grinste breit. "Als ich Giovannas Fahrerin war, hatte ich zwei Jungen aus dem alten Ami- Viertel da drüben mit dabei. Manuel war ein Mulatte, ein lieber, knuddeliger Kerl... und Oratio so scheu und still wie ein kleiner Hase." Sie hob die Schultern. "Ich hab keinen Schimmer, was aus den beiden wurde..." "Du hast die Kinder alle sehr gerne, nicht wahr?" murmelte Setsuna. An der Ampelkreuzung blieb Anjuli stehen und nickte nachdenklich. "Irgendwie schon. Ich habe alle Kinder sehr gern gehabt. Giovanna war nur eine der wenigen in meinem Bus, die in der Lage war, logisch zu denken und zu reden. Vielleicht hatte ich sie deshalb so gerne. Sie war nicht hilflos, wenigstens nicht so..." Es wurde Grün und sie kuppelte um loszufahren. "... Ich habe dabei etwas übersehen. Ich habe nicht verstanden, wie viel Zuwendung und Hilfe sie wirklich brauchte." Der Wagen rollte die Straße zum Park hinaus, am SWR Gebäude vorüber, zu den Berufsschulen. Es war ein seltsamer Anblick, denn die großen, weitläufigen Parkplätze waren alle leer. Kein einziger Wagen fand sich dort. "Kennst du dich hier oben aus?" fragte Megumi. "Naja," lächelte Anjuli. "Es ist schon Jahre her, seit ich hier zuletzt war, aber ich hoffe es doch..." Sie wählte einen der am weitest entfernt liegenden Parkplätze der Berufsschule, dicht am Park und stellte sich quer darauf, sodass kein anderer Wagen mehr auf den Parkplatz kam oder ihn verlassen konnte. "Ab, raus mit euch!" Kapitel 4: Der Park ------------------- Kapitel 4 Der Park Setsuna konnte, wenn er ehrlich zu sich selbst war, nicht die Hand vor Augen sehen und irgendwie reizte ihn die Finsternis nicht, sonderlich mutig zu sein, zumal er Geräusche hörte, die er nicht kannte, die ihn aber durchaus sehr erschreckten. Manchmal waren es nur Laute von Tieren im Unterholz, oder das Wispern des Windes in den toten Baumwipfeln, aber dann wieder hörte er Geräusche, die genauso gut Schritte hätten sein können, oder Atemzüge... das Rascheln von Soffen, und, wenn er sich allzusehr darauf konzentrierte, hörte er sogar manchmal leise Musik... Aber das konnte nicht sein! Er spürte, daß etwas seinen Mantel festhielt und fuhr zusammen, keuchend riß er sich los und stolperte zwei, drei Schritte nach vorne, in einen Busch. Äste kackten unter seinen schweren Stiefeln. Dünnes Holz, trocken und ausgelaugt, ragte in den Weg hineinen und griff nach seinem weiten, langen Mantelschößen... Er beruhigte sich ein wenig. Plötzlich spürte er eine kühle, vertraute Hand, die seine ergriff. "Bleib bei mir," sagte Gabriels Stimme leise, dicht an seinem Ohr. "Halte dich einfach an mir fest. Ich finde den Weg schon." Setsuna schauderte leicht, aber nicht vor Angst. Im Gegenteil. Er begann wieder Kraft zu schöpfen, durch die Berührung, die leise, sanfte Stimme... "Ich habe keine Angst," antwortete er dennoch, leicht trotzig. Gabriel zog ihn zu sich, auf den Pfad zurück. "Mag sein, aber du siehst auch nichts," entgegnete er lächelnd, leicht spöttisch fügte er hinzu. "Bis jetzt hast Du dir Mühe gegeben, über jede Wurzel zu stolpern und mit traumwandlerischer Sicherheit gegen jeden Baum zu rennen. Wenn du dir unbedingt dein hübsches Gesicht verbeulen möchtest, mach das, wenn ich nicht dabei bin, okay?" Setsuna spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß und lächelte verlegen. Nun schloß er seine Finger um Gabriels und ließ es zu, daß er von dem etwas älteren Jungen geführt wurde. Gabriel mußte Augen wie ein Falke haben, denn er sah jede Wurzel, die über den Weg lief, jeden Busch oder tiefhängenden Ast. Manchmal warnte er Setsuna nur, dann wieder fühlte der Junge, wie er von Gabriel vorsichtig gehalten oder an einem Engpaß vorbei geschoben wurde. Setsuna ließ all das freiwillig zu. Auch wenn es ihm nicht wirklich gefiel, abseits der Asphaltwege zu gehen, unterhalb des eigentlichen Parks. Ihm war die aber alleinige Anwesenheit Gabriels sehr recht. Und zugleich machte es ihn nervös, mit dem Jungen allein zu sein. Sein Herz schlug jedes Mal heftiger und schneller, wenn Gabriel seine Hand hielt oder ihn anderweitig berührte. Im Moment war Setsuna völlig gleichgültig, was mit Giovanna war. Nur Gabriel war für ihn wichtig, und daß er in seiner Nähe sein durfte... Aber Gabriel schien die Suche sehr ernst zu sein. Manchmal blieb er für eine Weile stehen, orientierte sich, oder ließ Setsuna einige Sekunden allein, um die Hänge abzusuchen. Aber zumeist kam er kopfschüttelnd zurück. Setsuna fror. Die ganze Zeit über schneite es und die Temperaturen sanken immer weiter. Er konnte die Atemwolken vor seinen Lippen sehen... Eigentlich, so dachte er, hätte es eigentlich durch den vielen Schnee selbst hier hell sein müssen. Aber es war dunkel... Zu dunkel, auch wenn die Baumkronen manchmal dicht verfilzt schienen... "Setsuna!" Gabriels Stimme kam irgendwo her von links. Er wendete sich um. Sehen konnte er nur dichtes, verschneites Gestrüpp. "Wo bist du?" fragte er etwas lauter. In seiner Nähe, vor ihm, raschelten die Büsche und er sah Gabriels Gestalt. "Runter!" schrie Gabriel plötzlich. Instinktiv folgte Setsuna dem Befehl... Ein brennender Schmerz explodierte in seinem Rücken, als habe etwas seinen Mantel durchdrungen und die Oberhaut seines Rückens aufgerissen... Im Gleichen Moment schoß etwas über ihm hinweg... Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Gestalt, groß, Katzenartig, , überdimensioniert... Dann legte sich ein zweites Bild darüber und... ... der Schmerz war der Gleiche. Etwas hatte seinen Kimono zerfetzt. Vier brennende Linien zogen sich über die volle Länge seines Rückens. Hätte Lysander ihm nicht die Warnung zugeschrien wäre er jetzt tot, dessen war sich Setsuna ganz sicher. Bis zu diesem Augenblick war sich Setsuna der Loyalität des Magiers nicht sicher gewesen, aber nun... Er sprang auf die Füße und zog seine Katana im gleichen Moment. Vor ihm stand der Feline, aber er hatte sich von ihm abgewendet, sein Rückenfell schwelte an fünf stellen. Etwas hatte sich tief in die feine Haut des Katzenmannes gebrannt. Lysander befand sich etliche Meter entfernt, beide Hände leicht rauchend... Der Zauber hatte Setsuna gerettet. Der weißhaarige Seher setzte zu einem Schlag an. Die Waffe beschrieb einen eleganten Aufwärtsbogen und riß durch Fell und Haut und Knochen. Der Feline brüllte vor Schmerzen auf und wirbelte herum. Setsuna gelang es gerade noch den Klauen auszuweichen. Im Gleichen Moment raste über ihm, auf Höhe des Kopfes des Felinen einen gewaltige elektrische Entladung hinweg, die den Lycantropen tot zu Boden stürzen ließen. Dann, als nächstes, sah er Lysander, diesen so wunderschönen, unheimlichen Magier aus Valvermont, der sich über ihn neigte und ihn behutsam hochhob. Zum ersten Mal berührte Lysander ihn... und Setsuna fühlte sich sicher und geborgen in seinen Armen... mehr noch. Der Schmerz der Wunden ließ nach... Er konnte regelrecht fühlen, wie sich die Wunden Schlossen, während der Magier darüber strich. Die ganze Zeit starrte er in diese sanften, lächelnden Augen Lysanders. "Wie kann ein schwarzer Engel nur so rein sein," flüsterte er. Lysander antwortete ihm nicht. Nach einer Weile ließ ihn der Magier wieder auf die Füße hinab. "Meine Aufgabe, Setsuna- sama, ist es zu Schützen, nicht zu zerstören."... ... "Lysander," keuchte Setsuna... Gabriels Hände strichen behutsam über Setsunas Rücken, verharrten einen Moment. Setsuna spürte die kurze, ruckhafte Bewegung, mit der sich sein Körper versteifte eher, als daß er es sah. Lysander... Er sah diesem Mann aus seiner Vision so unglaublich Ähnlich... Nur jünger. Außerdem strichen auch jetzt seine Finger behutsam über die Wunden und wieder glaubte er, eine leichte Heilung zu fühlen. Das Brennen der Kratzwunden war fort. "Was war das?" fragte Setsuna verunsichert. Immer noch versuchte sich das Bild des riesig großen, schwarzhaarigen Mannes mit den schimmernden, sanften, gütigen Augen über das des Jungen zu schieben. "Eine verwilderte Katze nehme ich an," sagte er leise. Er half Setsuna auf die Füße. Irgendwas zog furchtbar an seinem Rücken. Kälte kroch unter seine Kleider und ließ ihn schaudern. Zitternd zog er seinen Mantel enger um sich. Ihm war schwindelig und eine leichte Übelkeit ließ Setsuna wanken. Wortlos hob Gabriel ihn auf seine Arme. Setsuna wollte Einspruch erheben, sich wehren, aber der Druck in seinem Kopf wurde deutlich stärker und betäubender. Außerdem war es ein gutes Gefühl, mußte Setsuna zugeben. Gabriels Nähe löste wieder dieses prickelnde, unsichere Glücksgefühl in ihm aus. Zudem spürte er Gabriels Körperwärme. Schnell wurde ihm wieder etwas wärmer und zudem vertraute er diesem fremden Jungen, als sei er sein ältester und engster Freund. Es war verrückt. Er glaubte sicher zu wissen, daß er Gabriel kannte. Das Gesicht, das Gefühl für ihn, der Duft, den sein Körper und sein Haar verströmte. All das war ihm so bekannt. Sogar das Wissen um die gewaltige Stärke, die in Gabriels zerbrechlich schmalem Körper schlief, war da. Aber von all dem sagte Setsuna nichts. Er sah aus den Augenwinkeln zu Gabriel und betete, daß dieser Moment nicht enden wollte. Nach einigen Minuten hatten sie eine Lichtung auf dem schmalen Trampelpfad erreicht, eine Grillhütte, Bänke. Es war plötzlich unnatürlich hell hier. Gabriel stellte Setsuna wieder auf die Füße hielt ihn aber in einem Arm, während er mit der Hand des anderen den Schnee von der Bank fegte. "Setz dich, ich sehe mir deine Verletzung mal an." Setsuna sah fragend zu ihm. "Sind doch nur Kratzer." "Ja, tief genug, daß sie deinen Wintermantel zerfetzt haben und durch deinen Pulli gingen," sagte er nüchtern. "Gott weiß, wo sich die Katze herumgetrieben hat. Außerdem war das schon eher ein Lux von der Größe als eine simple verwilderte Katze." Setsuna blinzelte. "Gibt es die denn überhaupt noch hier?" "Nein," antwortete Gabriel und zog Setsuna den Mantel von den Schultern. Setsuna sah ihn an, begann aber in der gleichen Sekunde auch ganz erbärmlich zu frieren. Ihm wurde wieder bewußt, wie kalt es wirklich war. Noch schlimmer wurde es, als Gabriel Setsunas Pulli hochzog und mit seinen eisigen Fingern über die nackte Haut von Setsunas Rücken zu streichen begann. Der Junge zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und verschränkte beide Arme vor der Brust. Gabriels Finger berührten die Kratzer. In der Sekunde hätte Setsuna am liebsten laut geschrien. Selten hatte etwas so weh getan. "Bevor wir euch ins Heim bringen, werde ich deine Wunden bei Anjuli versorgen müssen," murmelte Gabriel besorgt. "Das alles sieht ungesund aus..." Setsuna krümmte sich zusammen. "Wenn wir nicht bald zurück sind, wird Lea echt ärger kriegen und den dann an uns auslassen, murmelte er. Außerdem tut es nicht weh." "Du lügst," entgegnete Gabriel ungerührt. "Mir ist ziemlich egal was mit deiner Heimleitung ist. Du, deine Schwester, Giovanna und Natalie sind wichtig. Und du kannst mir erzählen, was du willst, aber du bist völlig fertig und die Klauenspuren sind tief und werden sich entzünden." Setsuna sah ihn über seine Schulter hinweg verwirrt an. In Gabriels Stimme lag plötzlich Anspannung und Ärger. "Ich wollte dich nicht verärgern..." murmelte Setsuna betroffen. Gabriel stand auf und zog seinen Mantel aus. "Du hast mich nicht verärgert," sagte er leise, in seinem sanften, viel versöhnlicheren Tonfall. "Nur macht es mich einfach wütend, wie wenig frei ihr seid." Er legte Setsuna seinen Mantel über die Schultern. "Wärest du nicht viel lieber frei, oder bei einer Familie, die dich liebt?" Er zog fröstelnd die Schultern hoch und umfaßte sie mit beiden Händen. Nun trug er nur seinen dicken schwarzen Wollpulli. So, wie er neben Setsuna saß, erschien er noch schmaler und feingliedriger als Setsuna es zuvor angenommen hatte. Er sah zu Boden. "Eine Familie. Ja, die hätten wir gerne," sagte er leise. Er konnte spüren, daß Gabriel ihn ansah, wollte ihm aber nicht in die Augen sehen. Plötzlich spürte er, wie Gabriel ihn wortlos in die Arme nahm. Setsuna seufzte tief und gab sich der Umarmung hin. In Gabriels Armen fühlte er sich unendlich wohl und geborgen. Nach Sekunden erwiderte er die Umarmung zaghaft. Familie...? Ihm würde schon jemand reichen, bei dem er sich so sicher fühlen konnte, so geborgen, und dem er diese Gefühle entgegenbrachte. Ja, er war nicht mehr allein... Megumi und Natalie folgten Anjuli über die asphaltierten Wege des Parks, vorbei an verschneiten Trainingsgeräten und Bänken... Rechts neben ihnen tauchte eine verschneite Ebene zwischen den Bäumen auf, einem eingezäumten bereich... "Was ist das?" fragte Natalie leise und zündete sich eine Zigarette an. "Eine alte Rollschuhbahn," entgegnete Anjuli leise. "Heute wird sie im Sommer eher von Skatern genutzt. Rollschuhe waren schon nicht mehr richtig "In", als ich ein Kind war." Sie lächelte. "Jaja, alte Frau... ich weiß." Die junge Frau schien sich wirklich recht gut hier auszukennen. Sie ging schnell, zielstrebig und sie mied die gut beleuchteten Ecken. Manchmal wurde es schwierig, ihr zu folgen, denn mit ihren schwarzen Kleidern und Haaren verschmolz sie manchmal mit den Schatten der zur Gänze und die beiden Mädchen stolperten eher etwas hilflos hinter ihr her. Seltsam, denn es schneite ohne Pause, und eigentlich sollte sie auf dem Weißen verdammt gut zu sehn sein. Aber Megumi war sich nicht sicher, ob ihre Augen ihr keinen Streich spielten. Schließlich war sie müde, erschöpft und ängstlich... In einiger Entfernung hörten sie immer wieder leise Stimmen, das Klirren von Flaschen und eine einzelne, grölende, lärmende Stimme. Sollte der Schnee nicht alle Geräusche dämpfen? "Anjuli?" flüsterte Megumi unsicher. Ihr war nicht ganz klar, ob der nächtliche Ausflug nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen sein konnte. Die junge Frau blieb stehen. "Leise ihr beiden. Ich hab keine Laune, mich mit den örtlichen Obdachlosen in die Wolle zu kriegen oder ein paar Punks, die meinen, daß wir zu viel Kohle haben." Sie sah zu Natalie. "Und du, mach die Kippe aus. Die Glut kann man gut sehen." "Ich wußte nicht, daß das ein Versteckspiel wird...?" konterte Natalie. Sie verfluchte sich insgeheim dafür, dass ihre Stimme zitterte... Fahrig warf sie die Zigarette in den Schnee und trat sie aus. Anjuli antwortete ihr nicht. Dafür wartet sie, bis beide Mädchen neben ihr standen... "Was ist?" fragte Megumi leise und zuckte heftig zusammen. Etwas gewaltig großes, dickes, auf breiten, schweren Beinen stand reglos vor den Schatten des Waldes. Lange Dornen und Grannen wuchsen aus seinem Rücken. Dazu hatte es einen lächerlich kleinen, schmalen Schädel. Ein Drache, dachte sie entsetzt. Das konnte nicht sein! Es gab keine Drachen, aber der hier war keine Einbildung... und er war so groß wie ein Bus. Natalies leises Lachen wirkte unpassend in der Situation... Das war ein Drache...! "Nee," grinste Natalie böse. "Das Ding ist aus Stein, oder?" Anjuli nickte lächelnd. "Ja. Da hocken im Sommer immer die Kinder drauf." Sie deutete in die andere Richtung der Kreuzung, dorthin, wo der Weg in den umlaufenden Wald führte. "Hier oben kommen die Leute zum Grillen hin, und die Kinder haben hier einen Abenteuerpark mit Klettergerüsten in Form von Flugzeugen, Riesenrutsche, Halfpipes für die Skateboard- Fahrer, Hangelgerüsten, einer Abenteuerbahn und so weiter..." Sie unterbrach sich plötzlich. "Seht mal..." Anjuli ging ein paar Schritte zu dem Holzgerüst Richtung Wald, was ein Stahlseil gespannt hielt und kniete sich am Wegesrand in den Schnee. Sie strich mit einer Hand eine kleine Erhebung die nicht auf die Rasenfläche zu gehören schien, frei. Ein kleiner, schmuddeliger, durchgeweichter Teddy kam zum Vorschein. Einen Sekundenbruchteil vor Megumis entsetztem keuchen nickte Anjuli und steckte den Bären unter ihre Jacke. "Giovannas..." "Äh, hab ich da was verpaßt?" fragte Natalie nüchtern. "Den hat ihr Meg erst letztes Jahr geschenkt." Anjuli sah sie flüchtig an und stand auf. "Beruhige dich Megumi, den kann sie durch Gott- weiß- was verloren haben." Sie lächelte. "Na ja, sie ist wenigstens hier." Sagte sie. Vermutlich wollte sie enthusiastisch klingen, aber das ging ziemlich schief. "Und was, wenn sie tot ist?" fragte Megumi. "Was, wenn sie jemandem in die Hände gefallen ist, der sie..." Sie stockte. "Was, wen sie erfroren ist?" "Das ist wahrscheinlicher," murmelte Natalie. Unschlüssig drehte Anjuli den Teddy in den Fingern. Dann, nach einigen Sekunden schloss sie die Augen und senkte den Kopf. Irgendetwas ging in ihrem Gesicht vor sich. Megumi sah tiefe Konzentration darin, aber auch Scheu, Angst, vor was auch immer, während sie den Teddy in Händen hielt. Sekunden lang stand sie reglos da... "Was macht sie da...?" flüsterte Natalie, zu Megumi geneigt. Das Mädchen sah sie böse an. Anjuli taumelte, fiel auf die Knie und griff mit einer Hand nach ihrer Stirn, drückte sie dagegen, die andere erst gegen die Brust, dann in den Unterleib... Der Bär fiel ihr aus den Fingern. Anjuli fuhr hoch, hob den Kopf, streckte sich durch, versteifte sich kurz... Dann kam sie wieder zu sich. "Sie hatte furchtbare Schmerzen, als sie ihn verloren hatte, und Angst," murmelte Anjuli. "Sie wurde von irgendwas verfolgt..." Anjuli öffnete die Augen und sah sich kurz um. Mit spitzen Fingern hob sie den Bären wieder auf und erhob sich. "Da lang." Sie deutete auf den Weg, links von ihnen, um den Abenteuerpark herum zum Wald hin. "Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, sie lief hier herab." "Sag mal, siehst du das auch, was war?" Megumi sah sie aus brennenden Augen an. "Kann es sein, dass du das auch kannst?" Anjuli schüttelte kurz den Kopf. "Nein, ich kann Gefühle anderer wahrnehmen. Besonders dann, wenn sie extrem sind." Sie sah den Teddy an und schob ihn in eine Tasche. "Diese Eindrücke waren die stärksten." Sie zuckte die Schultern. "Sonst nehme ich die Gefühle nicht so stark wahr, sondern eher wie eine Erinnerung an ein Gefühl. Das war..." Sie sah die Mädchen entschuldigend an. "Creepy, hm?" Megumi nickte. "Gehen wir da lang." Knurrte Natalie trocken. Megumi ging neben Anjuli, Natalie ein Stück weit hinter ihnen. Sie hatte sich wieder eine Zigarette angezündet. Sie entfernten sich immerhin von dem Lärm. Also bestand auch keine sonderliche Gefahr mehr für sie. Die Ecke war nicht so wirklich toll, fand sie. Unheimlich, still, dunkel, und die Nähe des Waldes machte sie nicht sicherer. Darin bewegte sich etwas. Da war sie sich sehr sicher. Etwas zuckte dort... etwas, dass immer dann in den Büschen verschwand, wenn sie dort hinsah. Creepy? Ja, das hier war unheimlich für sie. Definitiv zu unheimlich! Links, neben des Weges, wo bisher die Bäume sie begleiteten, lag unter dichtem Schnee ein kleines Atrium. Es schien in einem Dreiviertelkreis angelegt worden zu sein, zwei Stufen hoch nur, und mit drei unterschiedlich hohen, runden Erhebungen versehn, die aus der Mitte des Atriums, des Schnees hervortraten. Anjuli wich vom Weg ab. "Bleibt hier, okay?" Natalie schüttelte den Kopf. "Nein, hier ist was... Ich bleibe hier nicht allein mit Megumi." Das Mädchen nickte zustimmend. "Wir kommen mit dir." "Ihr seid verrückt," murmelte Anjuli und machte einen Schritt auf die erste Stufe des Atriums... Der Wind frischte auf und trieb eisigen Schnee vom Boden hoch... Verwirbelte ihn und nahm den drei Frauen die Sicht. "Was zum Teufel..." begann Anjuli, doch dann legte der Wind sich. Sie erstarrte. Beide Mädchen drängten sich an sie heran. Das war nicht das selbe Atrium! Durchaus, es war ein Atrium, eine Art römischer Circus... und Anjuli war es so, als wäre sie schon einmal hier gewesen, aber sie erinnerte sich nicht mehr so wirklich wann und wo. Nur, dass es irgendwann hier war, in dieser Stadt. Die Ränge waren recht hoch, nicht einfach zu begehen und vor allem völlig Schneefrei. Dennoch war es bitter kalt. Anjuli blickte nach oben und blinzelte, als ihr Schneeflocken in die Augen fielen. Megumi hielt sich dicht an sie gedrückt und hatte sich unter ihren Arm gehakt. "Was ist das?" Natalie schnickte ihre Zigarette von sich und sah sich fragend um. "Das kann es nicht geben." Anjuli sah kurz zu ihr hinüber und nickte. "Fällt euch hier nichts auf?" Beide Mädchen blickten sie an, als sei Anjuli nicht mehr ganz bei Verstand. "Sag mal, andere Sorgen hast du nicht?" fragte Natalie leicht befremdet und verzog das Gesicht. "Wir sind von A nach B gekommen, ohne zu wissen wie. Wir sind in einem verdammten Horrorfilm gefangen, und du fragst uns nach so einem Quatsch. Willst Du einen Wettbewerb im Dummschwätzen gewinnen?!" Megumi trat hinter Anjuli nach Natalies Schienbein. "Aua, lass das! Ich hab doch recht!" Anjuli ignorierte Natalies Worte. Die junge Frau löste Megumis Hand von ihrem Arm und sprang eine Stufe hinab. Sie sah sich aufmerksam um. "Wo sind wir nur...!" Nachdenklich stieg sie noch eine weitere Stufe hinab und noch eine und noch eine. Megumi eilte sich, hinter Anjuli her zu kommen. Sie fühlte sich am sichersten, wenn sie in der Nähe der jungen Frau war. Ein wenig unwillig folgte auch Natalie Anjuli. "Sag mal, das ist doch unlogisch, sich mitten in die Höhle des Löwen zu begeben." Anjuli hob beide Arme und drehte sich einmal im Kreis. "Kein Schnee. Alles liegt völlig frei. Es ist scheiß-kalt, es schneit, aber hier ist kein bißchen Schnee auf dem Boden und den Steinen. Die Luft ist auch wärmer, je weiter man in das Zentrum dort unten kommt." Jetzt, wo sie es erwähnte fiel es auch Megumi und Natalie auf. Das rothaarige Mädchen folgte ihr nun schneller, mitten in das Zentrum des Atriums. Dort war es so warm, dass das Mädchen die Jacke am liebsten ausgezogen hätte. Feucht warm, und es roch furchtbar. "Sag mal, ist es nicht verdammt gefährlich, was wir hier tun?" Anjuli nickte. "Das ist Verwesungsgeruch," murmelte sie. "Komisch." Sie kniete sich hin und legte die Hände auf den Boden. "Fühlt sich an, als wäre er sonnengewärmt, der Boden. Trocken und warm..." Megumi schenkte ihr nur einen kurzen Blick. Ihr Geist beschäftigte sich bereits mit etwas anderem. Etwas wisperte von Gefahren. In ihrem Kopf drängten Bilder herauf, die ihr Angst machten, Bilder von schattenhaften Gestalten, zerlumpten Wesen, mit glühenden Augen... Alarmiert sah sie auf und suchte die Ränge ab... Ja, sie waren nicht mehr allein! Auch Anjuli fuhr herum. "Verdammt!" Sie sah sich rasch um und nickte. "Okay, jetzt haben wir Spaß, Leute..." Natalie fand, daß sich das allerdings nicht sonderlich humorig anhörte. Als sie sich vom Boden erhob, blinzelte sie unsicher. "War das der Grund, warum wir uns ruhig verhalten sollten?" fragte sie überflüssiger Weise. Anjuli deutete ein Nicken an, hob die Schultern und schüttelte schließlich den Kopf. "Nicht wegen denen," sagte sie leise. "Die sollten nicht mehr in der Lage zu sein zu hören." Die einzelnen Ränge des Atriums füllten sich mit seltsamen, zerlumpten Männern und Frauen... Keines der Mädchen konnte sagen, was an ihnen wirklich seltsam war, aber etwas schien nicht zu stimmen. Und Anjuli schien zu wissen, was ihnen entging. Sie waren so viele und so lautlos... Dann erkannte Megumi, was sie daran störte. Ihre Augen glühten wie Tieraugen in der Nacht. Und mehr noch... was sie trugen waren keine Winterkleider... Es waren Nachthemden und Schlafanzüge, Fetzen davon. Unter diesen Männern und Frauen waren auch Kinder verschiedener Größen. Und einige der Männer trugen die Überreste von Uniformen. Alte Uniformen... Megumi erkannte die Abzeichen weit vor Natalie... "Nazis...!" keuchte sie. Natalie machte einen Schritt zu ihr hin. "Das kann nur ein Alptraum sein, oder?" flüsterte sie. Anjuli schüttelte langsam de Kopf. "Seht sie euch an. Das sind keine lebenden Menschen. Das sind Untote." Anjuli sollte recht behalten. Natalie konnte die verwesende Haut sehen und riechen. "Das ist nicht möglich!" keuchte Natalie. "Ich bringe euch hier raus, keine Sorge," murmelte Anjuli. Natalie starrte sie ungläubig an. "Klar, und ich bin Superman." In der selben Sekunde legte einer der Uniformierten sein Gewehr auf sie an und zog den Abzug durch. Ein dumpfes Grollen, wie von einem weit entfernten Gewitter zerriss die Stille. Gabriel fuhr entsetzt zusammen und ließ Setsuna los. "Anjuli!" Er sprang auf die Füße und sah Setsuna an, der ebenfalls aufgestanden war. "Ich komme mit!" Diesmal sagte Gabriel nichts dazu. Wortlos nickte er und nahm Setsunas Hand. Ohne noch weiter zu zögern rannten sie los. Was den Jungen ein wenig verwunderte, war die Tatsache, dass Gabriel den Park verließ und zurück zu Anjulis Auto eilte. "Was... was machst Du?!" "Setsuna, sie sind nicht mehr hier. Sie sind an einem anderen Ort. Und sie sind kurz davor zu sterben." Setsuna blinzelte verwirrt, als Gabriel einen Zweitschlüssel für den Wagen aus der Hosentasche zog. "Woher willst du das wissen? Da war nur ein Donnern..." Gabriel sah ihn verzweifelt an. "Bitte frag mich nicht nach einem Warum. Ich kann es dir nicht sagen. Nicht jetzt und nicht so einfach." Nervös schob er den Schlüssel in das Wagenschloss und drehte ihn um. Hektisch riss er die Türe auf, schob sich hinter das Steuer und reckte sich zu der Beifahrertüre. Er löste die Verriegelung, und während sich Setsuna in den Beifahrersitz fallen ließ, stellte Gabriel seinen Sitz auf seine Größe ein. Der Motor sprang an und die Scheinwerfer flammten auf. "Erklär mir, woher du weißt, was..." "Kann ich nicht!" sagte Gabriel gepresst. Der Fiesta rollte vom Parkplatz und auf die Straße hinaus. "Bitte, ich weiß einfach, dass sie nicht mehr hier sind." "Wo?" fragte Setsuna leise. Gabriel trat das Gaspedal durch. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, schlingerte kurz, bevor der Junge ihn wieder ganz im Griff hatte. Setsuna drückte sich tiefer in das raue Polster und klammerte sich an der Armlehne fest. "Du weißt, was du tust?" Gabriel ignorierte den Kommentar. Er hatte genug damit zu tun, den Fiesta in der Spur zu halten, und trotzdem schnell zu fahren. "Ich habe eine ganz besondere Beziehung zu Anji. Wir sind auf eine... eigenwillige Art und Weise miteinander verbunden. Ich weiß, wenn sie in Gefahr ist, und ich spüre..." Diesmal zögerte er eine Weile. "Ich kann veränderungen in der Wirklichkeit wahrnehmen, wenn sie passieren. Und eben hat etwas, jemand, die Realität verändert. Mehr kann ich dir nicht sagen." Er lenkte den Wagen über die verschneite Kreuzung. Setsuna nickte nach einigen Sekunden nur und entspannte sich ein wenig neben Gabriel. Obwohl der Junge noch nicht sehr lange den Führerschein haben konnte, hatte er die Situation recht gut im Griff. "Wohin fahren wir?" "Willst du das wirklich wissen?" fragte Gabriel. Nachdenklich senkte Setsuna den Kopf. Nein, eigentlich wollte er nicht, denn er spürte plötzlich selbst eine unglaubliche, böse Gefahr. Anjuli hatte sich nach hinten abgerollt und war der Maschinengewehrsalve um Haaresbreite entgangen, die neben der jungen Frau eine gerade, tödliche Spur in die Erde gerissen hatte. Natalie sprang ebenfalls zur Seite und Megumi, umgestoßen von Anjuli, lag weit außerhalb des Gefahrenbereichs. Die junge Frau federte auf die Füße und sah nach oben. "Verdammter Nazi- Sack!" schrie sie. Nun legten andere an... "Zu den Bäumen!" schrie sie den Mädchen zu. Natalie fuhr herum und rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf eine einsame Fichtengruppe, die in dem Atrium wucherten, zu. Megumi rappelte sich ebenfalls auf, sah sich aber zu Anjuli um. Die junge Frau rannte in entgegengesetzter Richtung los, in wirrem Zickzack ihren Angreifern entgegen. Schüsse peitschten, trafen sie aber nicht. Was hatte sie nur vor? "Meg!" Megumi fuhr herum und folgte Natalie... ... sie schrie vor Schmerz auf, als der Bolzen sich in ihren Bauch bohrte... Wortlos hatte sie sich vor Megumi gestellt und ihrem bewaffneten Gegenüber ins Gesicht gelacht. Diese Frau war seltsam. Sie wußte, daß sie sterben würde, wenn sie ihn nicht durch ihre Verwegenheit beeindruckte. Aber dennoch tat sie es. Sie stand da, ungepanzert, nur in den langen, schwarzen Gewändern, die sie immer trug. Er hatte sie erschossen... sie schien ihn nicht genügend beeindruckt, oder zu sehr verhöhnt zu haben... Aber was war das?! Obgleich der Bolzen in ihr steckte, so weit, daß er ihre Wirbelsäule durchschlagen hatte und aus ihren Rücken herauskam, stand sie noch immer da, lachend! "Kleiner, ich bin besser als du!" Megumi stolperte einen Schritt zurück und fing sich, bevor sie sich in ihrem Kimono verheddern und fallen konnte. Anjulis Kopf ruckte hoch. Sie sah zu Megumi. "Flieh..." Im gleichen Moment schoß der Ronin noch einmal auf sie... und durchbohrte ihr Herz. "Flieh...!" es war nicht mehr länger Anjulis Stimme, die Megumi hörte. Es war nicht einmal mehr menschlich. Sie hörte das Wort in ihrem Kopf und verstand die Warnung, die darin enthalten war. Eilig raffte sie ihre Gewänder und fuhr herum. Sie eilte den endlosen Flur ihres Palastes hinab... schließlich aber drehte sie sich doch zu Anjuli um. Dort, wo sie eben noch gestanden hatte, stand nun ein Geschöpf, ein Oni... Ein Dämon mit schimmernder schwarzer Haut, glühendem, lebendigem Haar, Arm lange Klingen aus geschärftem Horn an ihren Unterarmen und Klauen wie ein Feline... Sie hörte, wie das Holz der Bolzen an der Haut des Onis brachen und Dann machte sich die Kreatur über den herrenlosen Samurai her. Haut und Fleisch riß unter seinen Klauen und die Klingen brachen ihm alle Knochen. Das Mädchen fuhr herum. Panische Angst, Entsetzen und Ekel trieben sie tiefer in Die Säle ihres Palastes... Blut... Der Oni... "Anjuli!" Megumi blieb wieder stehen und wendete sich um. Die junge Frau war sie selbst und unverletzt, aber schlimmer als das, Megumi sah, wie die Untoten nun über sie herfielen... "Anjuli...?!" Der völlig abstruse Gedanke manifestierte sich in ihr, daß, gleich, was diese Wesen ihr antaten, schließlich der Oni in ihr hervorbrach und die Untoten vernichtete. Sie wurde ruhig bei dem Gedanken... Sie wusste ganz einfach, dass das Wesen da war und erwachen würde. Sie wendete sich ab. Natalies entsetzte Schreie verblassten immer weiter hinter ihr. Zugleich wirkte sich die Wärme auf sie aus... Es war tatsächlich sommerlich... Eine wunderschöne Sommernacht. Megumi roch die warme Erde, das Gras und die Blumen, den Geruch von Vieh und Holz... Ja, hier war sie sicher. "Komm Natalie. Wir müssen gehen." Setsuna hatte schon nach wenigen Sekunden jedwede Orientierung verloren, als Gabriel vor ihm her durch die weitläufige, prachtvoll angelegte Wohnanlage rannte, enge Passagen nahm, kleine Plätze, Säulenterrassen und schließlich eine kleine Seitengasse kreuzte, die auf einen Platz zwischen den Häusern traf. "Wohin..." "Spar dir deinen Atem," rief er und lief noch ein wenig schneller. Setsuna war nicht klar, wie er auf dem unsicheren Untergrund eine solche Geschwindigkeit entwickeln konnte. Ihm fiel es immer schwerer, Gabriel zu folgen. Die Distanz zwischen ihnen wurde größer... Schnee trieb immer wieder in Setsunas Augen und stach wie Nadeln hinein. Seine Lungen pfiffen bei der Kälte, schmerzten höllisch. Als ihm das bewusst wurde explodierte regelrecht der Schmerz in seiner Seite. Seine Kräfte ließen schnell nach und seine Muskeln begannen zu schmerzen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich sein Körper weigern würde, noch einen Schritt weiterzugehen. Er war das nicht gewohnt... Renn ohne mich weiter, dachte er. Finde sie. Sein Blick trübte sich weiter. Schmerzhaft füllten sich seine Augen mit tränen und ließen das Bild verschwimmen. Er rutschte, schlidderte und fiel auf die Knie. Kälte und Feuchtigkeit kroch durch seine Hosenbeine. Ihm wurde plötzlich kalt und schwindelig. "Setsuna..." Der Junge fühlte Gabriels Nähe, seinen Atem, der hektisch und schnell ging. "I... ich kann nicht... mehr." Hinter ihnen raschelte etwas. "Doch, du kannst," rief Gabriel. "Du musst es nur wollen." Setsuna sah ihn hilflos an. "Du bist in Gefahr, Setsuna," flüsterte Gabriel. "Und du wirst mich brauchen. Ich bin dein Beschützer." Der Junge nickte matt. Langsam richtete er sich auf und sackte wieder in die Knie. Bevor er aber etwas sagen konnte, ergriff Gabriel ihn und zog ihn hoch. Nie zuvor hätte Setsuna geglaubt, dass Stehen so verdammt weh tun konnte. Er rang nach Luft und glaubte sich allein daran, und dem grauenhaften Stechen im Hals zu verschlucken. "Komm weiter." Sie mussten nicht mehr sehr weit laufen. An die Wohnanlage schloss sich nach einigen Metern schon eine weitere Parkanlage an... und eine Art eines römische Circusses. Gabriel kniete völlig reglos auf der ersten Stufe des Atriums. Der Schnee wirbelte um ihn und schien ihn doch nicht zu berühren. Seine gesamte Gestalt wirkte nicht länger wie die eines Jungen. Er war dafür viel zu sicher, zu gefasst, angesichts dessen, was sich ihnen dort unten bot... und die Macht, die er ausstrahlte war die eines uralten Wesens. Die Luft um ihn flirrte leicht, wie die Hitze über heißem Asphalt im Sommer zu flirren begann. Dann sammelte sich spürbare Energie um ihn und manifestierte sich in leichtem Glühen, daß an Kraft gewann um seine Gestalt. Lebenskraft, dachte Setsuna und schalt sich in der gleichen Sekunde einen Idioten. Das konnte es nicht geben... Aber das, was er sah auch nicht. Als sie angekommen waren, saß Natalie auf der ersten Stufe, still weinend, teilnahmslos, zitternd, Anjulis leblosen, zerfetzten Körper in den Armen... Natalie hatte ihr ihren Mantel umgelegt, denn die Junge Frau trug nur noch die Überreste von Kleidern. Sie war tot. Ganz sicher. Die Verletzungen konnte niemand überleben. Unzählige Wunden bedeckten ihre Körper. Aber schlimmer als das war die Gewißheit, daß sie am Ende der Schuss mitten in ihren Kopf sie getötet hatte. Ihr halbes Gesicht war weggerissen und ihre Schädeldecke nicht mehr vorhanden. Setsuna selbst konnte nicht glauben, was er da sah... Das war absolut nicht der Verlauf dieser Nacht, wie er ihn sich gedacht hatte. Ganz und gar nicht! Eigentlich hatte er eher erwartet, daß sie Giovanna fanden oder nicht fanden, zurück kamen und allenfalls furchtbaren Ärger mit Lea oder Marion oder beiden bekamen.... Aber daß Anjuli sterben würde... Der Gedanke hielt ihn gefangen. Scham, Angst, Schmerz, Mitleid und unsäglicher Zorn kämpften in ihm und verhinderten einen Schockzustand, wie der in dem sich Natalie befand. Außerdem wußte er nicht, wo Megumi war... Sie hatte er nun auch noch aus den Augen verloren. Hilflose Tränen Rannen heiß über seine Wangen. Er setzte sich neben Natalie in den Schnee und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter, auch wenn sie keine Sekunde reagierte. Er war sich sicher, daß sie sogar wußte, was er gerade tat, aber sie schien von ihren eigenen Gedanken und Erinnerungen viel zu sehr gelähmt zu sein. Minuten lang saß er da, an sie gelehnt... Dann ließ ihn ein heiseres Husten zusammenzucken. Anjuli richtete sich gerade auf, hustend... Keuchend... sie sah zwar krank aus, lebte aber! Unmöglich! Absolut unmöglich! War sie nicht eben noch tot gewesen? Tränkte nicht immer noch ihr Blut Natalies Kleider? Ein unglaublich machtvolles Glücksgefühl ließ ihn aufspringen und seinen zweiten Leibwächter mit ungestümer Gewalt umarmen. Erst als ihm bewußt wurde, daß er ihr wohl weh tat, ließ er sie wieder los. Zweiter Leibwächter...? echote eine Stimme in seinem Kopf. Aber er hatte ein ganz ähnliches Gefühl bei Anjuli, ein Gefühl von Freundschaft und Zuneigung und Vertrauen in sie. Zudem kam noch ein gewisses Wiedererkennen hinzu. Er glaubte sie schon gesehen zu haben, auch ihren Körper so gehalten zu haben, wie sie nun war, ziemlich dünn bekleidet... Erschrocken ließ er sie los und stand auf. Gabriel saß neben Anjuli und stützte sie etwas. Er schien erschöpft zu sein. Seine Augen hatten allen Ganz verloren. Auch sein Atem ging schwer und unregelmäßig. "Anji," flüsterte er matt und umarmte sie behutsam. Sein Gesicht drückte, trotz aller Erschöpfung eine so tief empfundene Erleichterung und Freude aus, daß es Setsuna fast schmerzte zu sehn, wie unendlich tief die Liebe der Geschwister zueinander war. "Was ist mit Natalie," fragte sie plötzlich und wand sich aus seinem Arm. Ihre Stimme war noch immer brüchig und unsicher. "Ich bin in Ordnung..." flüsterte das Mädchen unvermittelt. Nur, wie kann das sein? Ich habe gesehn, wie dieser Arsch dir mitten ins Gesicht geschossen hat! Und Megumi... Sie sagte mir, ich solle mitgehen, und dann, dann war sie weg." Anjuli richtete sich zitternd und mit den Zähnen klappernd auf und sah an sich herab, bedauernd, bei dem Anblick dessen, was von ihrem Pulli und den Hosen noch da war. "Würdest du mir glauben, daß du dir das alles nur eingebildet hast?" Natalie sah sie ernst an und schüttelte den Kopf. "Nein. Ich habe diese Zombies mit eigenen Augen gesehen. Ich habe gesehen, wie sich ein Mensch in Luft auflöst und aus dir etwas wurde, daß ich beim besten Willen nicht beschreiben könnte, selbst wenn ich es wollte..." Anjuli sah über die Schulter und nickte. "Kann ich verstehen." Sie klaubte ihre Jacke auf und sah erst in allen Taschen nach. Nach einigen Sekunden atmete sie deutlich erleichtert auf. "Was ein Glück. Nichts ist verloren oder kaputt." "Passiert dir das öfters?" fragte Natalie argwöhnisch. Anjuli schüttelte den Kopf. Antwortete aber vorsichtshalber nicht. "Ich hasse es, das kostet immer Klamotten. Wenigstens sind die Lederhosen noch an einem Stück. Nur der Pulli..." Sie sah unglücklich auf das herab, was von dem dicken Rollkragenpulli noch übrig war. "Verdammte Unterarmklingen!" knurrte sie. "Der Pulli war neu. Und nun ist er eine Ansammlung von Baumwollfäden..." Sie zog den Rest des Pullis über den Kopf und knüllte ihn zusammen. Setsuna sah ihr ungeniert dabei zu, staunend, wie offen sie sprach. Aber es hatte auch keinen Sinn zu leugnen. Aber, was ihm am meisten Angst machte, war Megumis verschwinden. "Was ist mit Megumi?" fragte er leise. "Ich kann nicht ohne sie zurück, auch wenn ich mir sicher bin, daß es ihr nicht wirklich schlecht geht..." Anjuli hob den Blick und sah erst ihn, dann Natalie und schließlich ihren jüngeren Bruder an. Sie sog schwer die Luft ein. "Ich weiß nicht... Du bist erschöpft, Natalie auch und Gabriel ist fast am Ende seiner Kraft in dieser Gestalt." Sie kassierte einen einzigen wortlosen, bösen Blick von Gabriel... "Und ich bin gerade erst wieder von den Toten aufgestanden... Ich bin mir nicht sicher, ob wir derart geschwächt in eine uns unbekannte, völlig fremde Welt bewegen sollten. Denn dort ist deine Schwester." Kapitel 5: Midnight Carnival ---------------------------- Kapitel 5 Midnight Carnival Megumi machte einen Schritt von der einen Welt in die andere hinein. Und es erschreckte sie nicht im Mindesten. Nein. Hier war es warm und sicher. Sie hörte fröhliche Musik. Irgendwo, hinter ihr hörte sie Gelächter, das Knarren von altem Holz. Eine Frauenstimme, die Laut schrie und jemanden anfeuerte... Tiere, Pferde, die Wieherten, Gesang, Leierkastenmusik... eine Geige... Der Duft gebrannter Mandeln und Zuckerwatte wehte zu ihr. Megumi drehte sich um und blinzelte verwirrt. Wo sie eben noch ihre dicke Jacke getragen hatte und Jeans und Pulli, trug sie nun ein weißes Spitzenkleid. Es war weit, und reichte bis zum Boden. Das Mieder war aus Seide und das Oberteil voller Rüschen und Spitzen und Bänder. Ihr Haar lag offen über ihren Schultern, in langen Locken. Sie hob das Kleid etwas an und betrachtete ihre Füße. Sie steckten in weißen, seidenen, bestickten Schuhen. Weiches Gras und Blumen umspielten ihre Beine... Lächelnd hob sie den Kopf und sah sich um. Unter ihr erstreckte sich ein kleines Tal, umfriedet von einer Kniehohen Mauer. Im Inneren stand ein Jahrmarkt, der das Tal zur Gänze füllte. Kleine, bunte Karren und hölzerne Stände mit farbigen Planen, Fackellicht und Karusselle, die sich drehten. Sogar ein Riesenrad stand dort, ein Kettenkarusell und ein Platz, auf dem sich viele Leute versammelt hatten. Sie trugen bunte Gewänder, im Feuerschein glänzenden Schmuck... Frauen tanzten, sangen, zu der Musik eines einzelnen Geigers. In einem dichten Ring standen die Zuschauer umher, in weißen und gelben Kleider die Frauen, in grauen und schwarzen Gehröcken und Anzügen die Männer... Irgendwie glaubte Megumi die wenigen Männer zu kennen und einige der Frauen kamen ihr auch wage bekannt vor, aber ihr wollte einfach nicht einfallen, woher. Ein winzig kleiner, verwachsener Mann lief mit einem speckigen, abgetragenen Hut im Kreis und lachte, riß Possen, während ihm die Leute Geld zuwarfen. Dann erschien ein Mann auf den Trittstufen eines Wagens. Megumi war zu weit weg, um zu sagen, wer hinter der Maske steckte. Aber, was sie sah, war ein weißer Clown. Die Musik verstummte, als er beide Arme in einer majestätischen Geste hob und mit ruhiger, tiefer Stimme Stille gebot. Nun raffte Megumi ihre Röcke und rannte, so schnell sie konnte, den Hügel hinab. Sie wollte doch sehen, was dort vor sich ging. Es schien, als habe sie Flügel, als könne sie nicht ermüden, so einfach und schön ging es...Ihre Füße berührten kaum den Boden... Sie sprang über Steine und Äste... In Sekunden erreichte sie die Mauer und setzte hinüber, als wäre sie gar nicht da. Erst auf dem Festplatz hielt Megumi an, zwischen den Marktständen und Karussellen. Kinder liefen um sie herum, kleine Mädchen in hellen Spitzenkleidern und kleine Jungen. Keines der Kinder war so alt wie Megumi. Dort, wo sie das Mädchen aber bemerkten, blieben sie stehen und betrachteten sie neugierig, ein wenig Argwöhnisch. Einige tuschelten miteinander, sahen sie dann an. Megumi blieb stehen. Sie hatte ein ungutes Gefühl, beklemmend. Unsicher drehte sie sich einmal um sich selbst. Es schien ein wenig dunkler geworden zu sein. Und die Gesichter der Kinder... der Ausdruck darin war plötzlich hämisch, gehässig. Ihre Augen starrten aus unsäglich tiefen Schatten zu ihr hinauf. Böse, gierig... Raubtieraugen, skrupellos, wild! Panische Angst erwachte in Megumi! Sie fuhr herum und rannte, rannte um ihr Leben! Anjuli wendete sich an Gabriel. "Fahrt zu mir, ruht euch aus. Ich gehe allein." Gabriel stand auf. Es bereitete ihm sichtlich Mühe, die Stufen hinab zu gehen. "Ich lasse dich nicht allein, Anji," sagte er entschlossen. Der Tonfall ließ keinen Einspruch zu. "Und was ist mit Natalie und Setsuna?" fragte sie mit einem Blick zu den beiden. "Sie sind ziemlich fertig, und ich lasse sie nicht allein hier zurück. Du mußt sie in Sicherheit bringen. Gabriel packte sie an den Schultern. "Du gehst nicht ohne mich," wiederholte er eindringlich. Setsuna stand auf. "Ich will Megumi wieder haben. Ich komme auch mit." Natalie zuckte mit den Schultern. "Was soll's... Schlimmer kann's nicht werden." Sie kramte ihre Zigaretten aus der Manteltasche und zündete sich eine an. "Was ist? Sollen wir hier Schimmel ansetzen?" Die Stände flogen an ihr vorüber. Die Kinder folgten ihr nicht, aber auf unheimliche Weise stellten sich ihr immer mehr dieser seltsamen unheimlichen Kinder in den Weg und ihre kleinen Hände griffen nach ihr, krallen in ihr Kleid und rissen die Spitzenrüschen kaputt. Nach Sekunden schon wußte sie schon nicht mehr, wo sie sich befand. Sie verlor jede Orientierung. Manchmal kamen ihr einige der bunten Planen bekannt vor, der eine oder andere Stand oder Karussell... Aber sie war sich nicht sicher! Die Kinder trieben sie. Megumi konnte sich nicht die Zeit nehmen, sich zu orientieren. Ihre Hände und Arme hatten bereits tiefe und blutende Kratzer und die schmalen Gassen spien immer mehr Kinder aus. Letzten Endes kam sie auf die Idee einzige, letzte, verzweifelte Idee, die ihr den Hals retten konnte. Als sie auf der Höhe eines prunkvollen, alten zweistöckigen Karussells war, stieß sie sich kraftvoll ab und sprang auf das Monstrum aus Holz, Glas und Farbe auf. Sie verfehlte die oberste Stufe der ersten Plattform, rutschte ab und griff verzweifelt nach oben. Mehr durch Glück fand sie Halt an dem gerissenen, alten Geländer.. Mit der Kraft, die aus ihrer Angst kam, zog sie sich hoch. Ein ekelhaft stechender Schmerz explodierte, raubte ihr fast die Sinne. Ihr Fußgelenk knickte unter ihrem vollen Gewicht ein. "Verdammt!" Sie sah über die Schulter. Die Kinder hatten es aufgegeben, nur ein Hindernis zu sein. Ihre Augen schimmerten wie... Tieraugen in der Nacht...?! Jetzt wußte sie, woher sie einige von ihnen kannte! Es waren die lebenden Leichen, die sie auf den Rängen des Atriums eingekreist hatten. Megumi Biß die Zähne zusammen. Nicht gerade behutsam riß sie ihre Schuhe von den Füßen und warf sie den Kindern, die gerade ebenfalls zu dem Sprung auf das Karussell ansetzten, entgegen. Zwei von den Kleinen strauchelten und fielen hinten über, einer verfehlte das Geländer und stürzte. Bald war von ihm nichts mehr zu sehen, denn eine Masse anderer, kleiner Körper begruben ihn unter sich. Entsetzt schloß Megumi die Augen und versuchte mit weiterzukommen. Die Schmerzen waren fast unerträglich, betäubend, aber allein der Gedanke an das Kind, das unter den Anderen verschwand, spornte sie an, ihre Schmerzen zu vergessen. Sie humpelte mit zusammengebissenen Zähnen weiter, stolperte um die Pferde und Schlitten, die Kutschen aus Holz, die sich gegen ihre Richtung bewegten. Das Mädchen eilte auf der anderen seite hinab, Sprang, strauchelte und fing sich rechtzeitig. Hinter ihr stürmen die Kinder heran. So konnte sie nicht gewinnen, das war Megumi klar. Dennoch versuchte sie es. Sie spornte sich zu neuer Kraft an. Sie mußte hier heraus, an den Ort zurück, von dem sie kam... Keuchend stolperte sie eine Gasse entlang, eine Gasse, in der noch keine Kinder waren. Irgendwie schien das Karussell sie ein wenig zu beschäftigen. Als sie sich umsah, stürzten zwei, drei von ihnen in die Gasse, wurden aber von der nachströmenden Menge nach unten gerissen. Megumi wendete sich um und rannte. Aber in jede Gasse, in die Sie bog, fand sie keinen Weg hinaus. Noch hatte sie einigen Vorsprung, aber der würde bald schmelzen, denn Ihr Fuß schmerzte höllisch und sie spürte, wie mit jedem Schritt ihre Kräfte schmolzen. Dann sah sie eine Möglichkeit sich für einen Moment zu verbergen... Hinter einer Biegung stand eines dieser alten Geisterhäuser, durch die man durchlaufen konnte. Sie hetzte an dem leeren Kassenhäuschen vorbei in das Innere, das Glaslabyinth. Nervös sah sie nach unten, zu den Umfassungen der Glasplatten und orientierte sich. Sie wagte gar nicht, hinauszusehen. Was, wenn eines der Kinder sie hier sah? Wenn es schrie, oder... Sie wollte sich nicht ausmalen, was sie alles verraten konnte. Sie hörte sogar die Horde von Kindern vorbei rennen... Aber ihr schien das Glück beizustehen, denn sie erreichte den Ausgang des Labyrinthes schnell und ungesehen... Fast ungesehen, denn eines der Kinder kam wohl zurück. "Hier, ich sehe ihr Kleid!" Megumi verfluchte alle Götter des Glücks und sah sich nervös um. Der Raum war stockdunkel! Sie spürte rissiges Holz unter ihren Füßen. Vorsichtig, beide Hände vorgestreckt tastete sie sich nach vorne. Nach zwei kleinen Schritten stießen ihre nackten Zehen gegen das, was sie als Treppenstufe identifizierte. Sie hob einen Fuß und setzte ihn nieder, dann den anderen und so weiter. Neben ihr, in einem Glaskasten erscholl helles, meckerndes Gelächter und Licht ging an... Ihre Überreizten Nerven ließen sie zusammenzucken, leise aufschreien. Nun, wo sie ungefähr sehen konnte, wo sie war, eilte sie mit ausgreifenden Schritten eine enge, steile Holztreppe hinauf. Hinter ihr horte sie die Kinder, die sich durch das Glas schlugen. Megumi rannte nun. Als sie den obersten Podest erreichte, ging das Licht wieder aus. Welch eine Horrorvision! Dachte sie nur. An die Treppe schloß sich ein beklemmend enger Gang an in dem irgendwas glitschig ekelhaftes von der Decke hing. Dann erinnerte sie sich. Es waren irgendwelche Gartenschläuche, die in einem Rahmen hingen... danach kamen Gitter, die sich verschieben ließen. Alles beide überwand sie. Hinter ihr rannten die ersten der Kinder die Stufen hinauf. Sie schob sich durch die Gitter auf einen breiten Balkon hinaus und sah den Hügel, von dem sie gekommen war. Das Mädchen neigte sich über die Brüstung. Unter ihr lag die Mauer... Aber warum? Diese Balkone gingen doch nie nach hinten raus, sondern nur immer nach vorne! Aber Megumi nahm diese Tatsache dankbar hin. Auch wenn ein Sprung aus drei Metern Höhe danebengehen konnte, so war es doch ihre bisher beste Chance. Sie kletterte über die Brüstung und blieb einen Herzschlag lang noch sitzen, bevor sie sich, hinabstürzte... Der Schmerz in ihrem Fuß explodierte, als sie unten aufkam und raubte ihr fast die Sinne... Aber zugleich spürte sie auch Kälte und hörte Stimmen... vertraute Stimmen. Kapitel 6: Ruhe --------------- Kapitel 6 Ruhe Als Megumi zu sich kam, empfing sie angenehme Wärme und ein lautes, durchdringendes Quieken. War sie noch immer da? Nein. Das war unmöglich. Sie wußte einfach, daß sie in einem geschlossenen Raum war. Zudem hörte sie das Geräusch eines vorbeifahrenden Räumfahrzeugs. "Sie ist wach!" Die Stimme gehörte Natalie, dachte Megumi fast ein wenig enttäuscht. Aber, sie mußte auch feststellen, daß es hier nach Kaffee roch, und nach Tieren. Das quiekende Geräusch... Sie öffnete mühsam die Augen und fand sich in einer fremden Wohnung, genauer gesagt auf dem Wohnzimmersofa. Ihr Kopf ruhte auf einem weichen Daunenkissen und jemand hatte sie in dicke Wolldecken eingewickelt. Natalie saß direkt bei ihr und strich ihr die Haare aus der Stirn. "Man, du kannst einem echt Angst machen." Aber sie lächelte dabei. Megumi richtete sich auf und sog scharf die Luft ein. Ihr Bein schmerzte höllisch und ihre Arme... Sie waren bis zu den Schultern bandagiert. Neugierig sah sich Megumi um. An den Wänden neben ihr und neben den Fenstern hingen Bilder. Gemälde, Zeichnungen, Tuscheskizzen. Alles Originale. Links neben ihr stand ein großer Doppelkäfig und ein kleiner Käfig darüber. In dem unteren saß ein dickes, beige- braunes Meerschweinchen und schnupperte neugierig in ihre Richtung. In dem Käfig darüber huschte ein zweites, schwarzes in seine Hütte und in dem scheußlichen, rostroten Käfig lag in einer Weidenkugel eine weiße Ratte mit schwarzen Flecken. Gerumpel drang aus dem Nebenraum... als würde etwas durch die Küche toben... "Ist das Anjulis Wohnung?" Natalie nickte. "Totales Rauchverbot," stöhnte sie. "Aber süße Tiere hat sie." Sie grinste. "Hast du schon mal junge Hasen gesehen?" Megumi deutete ein Kopfschütteln an. "Natalie hat recht," lächelte Setsuna. Seine Stimme kam von irgendwo hinter ihr. Sie hatte ihn gar nicht gehört. Megumi drehte sich mühsam um. Ihre Augen schimmerten, füllten sich mit Tränen. "Setsuna!" rief sie. Natalie stand auf und machte Setsuna Platz. Lächelnd zog sie sich zurück. "Da möchte ich ja nicht stören," sagte sie spitz... aber es klang einfach nur gutmütig. "Aber der Platz neben deiner Schwester heute naht ist mir!" "Wir bleiben hier?" fragte Megumi unsicher. Setsuna nickte. "Es bringt nichts, zurückzukehren. Ärger gibt es so oder so. Aber schließlich kannst du so nicht ins Heim." "Machen wir Anjuli so nicht totale Probleme?" "Ich glaube," murmelte Setsuna, wenn wir Giovanna nicht finden, werden wir wirklich Probleme bekommen. Ganz große Probleme." Das Mädchen senkte den Kopf. "Und was ist mit Rieke?" "Sie weiß nur, daß Natalie Anjuli anrufen wollte, nichts sonst." "Wir müssen uns verstecken..." "Abwarten," murmelte Setsuna und schloß Megumi in seine Arme. "Das müssen wir jetzt durchstehen." Megumi war immer noch nicht wohl dabei, aber irgendwie war es auch aufregend und es gefiel ihr, etwas verbotenes zu tun. So ließ sie das Thema ruhen. Aber sie war auch noch nicht bereit, ihr Abenteuer zu erzählen. Der Schrecken, die Angst, die sie hatte, all das war noch viel zu real und präsent um es verarbeiten zu können. Sie hatte noch immer offene, furchtbare Angst. Aber auch davon sagte sie nichts. "Darf... darf ich bei Anjuli schlafen?" "Ich glaube, sie und ihr Bruder brauchen heute Nacht noch Ruhe..." Megumi senkte den Kopf und nickte. "Soviel Angst?" fragte Setsuna. Megumi reagierte nicht. "Okay, ich frage sie." Er stand auf und verschwand irgendwo hinter ihr, im Flur. Sie konnte eine Türe Hören und die Stimmen von Natalie, Setsuna und Anjuli. Was sie sagten verstand sie nicht. Nach ein paar Minuten kam ihr Gabriel entgegen, sein Bettzeug im Arm. Wortlos lud er es neben ihr ab und schlug sie in ihre Decken ein, um sie auf die Arme zu nehmen und durch den schmalen, ebenfalls mit Bildern vollgestopften Flur in das Schlafzimmer zu tragen. "Was ist mit dir," fragte sie leise. "Du bist so blaß und erschöpft. Ich spüre Dein Herz so hart schlagen." Gabriel schenkte ihr ein sanftes Lächeln. "Ich bin einfach nur erledigt, nichts weiter." Megumi spürte, daß das nicht die Wahrheit war. Aber um tiefgreifender zu bohren hätte sie mehr Energie gebraucht, und die war ihr Körper einfach nicht bereit zu geben. Das Schlafzimmer war ein großer, kalter Raum, vollgestopft mit Büchern und Comics, Zeichenmaterial und Plüschtieren. Auch hier hingen unglaublich viele Zeichnungen, die allesamt sehr gut aussahen... Viele davon hatten Ähnlichkeit mit Gabriel... Vielleicht war es auch einfach nur, weil sie Geschwister waren... Dann rückten die Bilder aus ihrem Blickfeld und Gabriel legte sie in ein riesig großes Bett. Megumi rollte sich, soweit ihr Fuß das zuließ, zur Wand und kuschelte sich in die Kissen, die noch nach Weichspüler dufteten. Anjuli lächelte nur und nickte, als sich Setsuna und Gabriel entfernten. "Schlaf gut," murmelte Gabriel, küßte seine Schwester zärtlich, und irgendwie sehr intensiv... zu intensiv für reine Geschwister, dachte Setsuna. "Träume süß, okay?" "Süße Träume," lächelte sie. "Ruht euch gut aus, okay?" Draußen war es laut. Der Verkehr, der über die Hauptstraße rollte, war durchaus in der Lage, Anjuli zu wecken. Beinah automatisch erwachte sie immer wieder aus solchen Gründen, oder, weil der Glockenschlag des Kirchturms sie weckte... Anjuli verließ ihr Schlafzimmer so leise es ging und schlich sich in den Flur zu ihrem Telefon. Sie nahm den Hörer ab und begann eine Nummer einzutippen... bevor sie aber das Freizeichen hörte, überlegte sie es sich anders und legte auf. "Was ist denn?" murmelte Gabriel leise und hob den Kopf von seinem Kissen. Setsuna hatte sich im Schlaf fest an ihn geschmiegt und sein Kopf ruhte auf Gabriels Brust. "Du bist schon wach?" fragte sie leise und ging um das offene Holzregal, was in dem offenen Übergang zwischen Wohnzimmer und Flur stand. Lächelnd setzte sie sich auf die Armlehne des Sofas und schaute auf die beiden Jungen herab. Ihre Hände ruhten zwischen ihren Knien. "Wen wolltest du anrufen?" Gabriel ließ seinen Kopf wieder in die Kissen sinken und sah lächelnd zu Setsuna, der immer noch schlief und nur ein wenig schwerer atmete. "Wegen ihnen?" Anjuli schüttelte den Kopf. "Nein. Ich hatte nur in dem ganzen Chaos vergessen, daß ich heute frei hab." Gabriel rollte gespielt theatralisch mit den Augen. "Halbhirn," sagte er leise. "Wird nicht frech, Kleiner, klar?!" entgegnete Anjuli freundlich. "Sag mal, was soll ich eigentlich in der Schule sagen, warum ich an diesem zauberhaften, kalten, verschneiten Montag nicht da bin? Zumal es direkt nach den Weihnachtsferien ist?" Nachdenklich wiegte Anjuli den Kopf, hob die Hand und strich Gabriel ein paar Haare aus der Stirn. "Was hältst Du von einer Grippe?" Gabriel zuckte die Schultern und verharrte dann reglos, als er spürte, wie Setsuna sich regte, wie seine Lider flatterten. "Masern?" fragte Anjuli leise. "Oder willst du lieber du lieber Windpocken, oder Mumps?" "Von letzterem kann man recht schnell impotent werden," lächelte er. "Nee, is nich mein Ding. Laß mal, eine einfache Übelkeit tut es auch." Sie verzog abfällig die Lippen. "Ich hätte dir doch mehr Phantasie zugetraut." "Willst du, daß ich dem alten Leistenring klarmache, daß ich wegen Menstruationsschmerzen ausfalle? Der lacht sich doch schief und schleift mich im Anschluß zum Schulleiter." "Haben auch schon ein paar Typen gebracht," erklärte sie. "Klar, aber die waren sicher nicht im letzten Abi- Jahr." Setsuna zuckte zweimal kurz mit den Füßen, bevor er langsam aus seinen Träumen in die Wirklichkeit dämmerte und die Lider hob. Anjuli langte über Gabriel hinweg und strich Setsuna zärtlich über die Haare. "Morgen Kleiner." Der Junge blinzelte müde, sah Anjuli, und dann spürte er Gabriel, seinen warmen Atem und seine Nähe. Sofort war er wach und rückte etwas von Gabriel herunter, bis er gegen die Rückenlehne des Sofas Stieß. Genaugenommen war er keine zwei Zentimeter weit gekommen. Gabriel wendete seiner Schwester den Kopf zu. Sekunden lang sahen sich die Geschwister nur an. Dann begannen sie beide zu lachen. Gabriel befreite seinen linken Arm unter der Decke und schubste sie. Erschrocken setzte sich Setsuna auf und wollte nach Anjulis Arm greifen, damit sie nicht von der Armlehne abrutschte. Aber Anjuli hielt sich problemlos auch so. Scheinbar war sie das von ihrem jüngeren Bruder gewohnt. Dennoch begriff Setsuna nicht ganz die Art von Humor... Er verstand nicht recht, warum sie beide nun über ihn lachten. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er nackt war bis auf seinen Slip... wie auch Gabriel, der nur eines seiner Hemden trug... nichts weiter... Aber warum lachte dann auch Gabriel? Hielten sie ihn nun für schwul? Setsuna spürte wieder, wie ihm das Blut in die Wangen schoß. Und mit der Angst um die Peinlichkeit stieg auch aggressive Wut in ihm hoch. Er haßte es, verarscht zu werden...! Anjuli grinste, während sie ihn ansah. "Hör mal, du bist nicht das erste männliche Wesen, was ich nackt sehe. Und du bist auch nicht der erste Junge, der sich mit meinem Bruder das Bett teilen muß. Hat dich das Gerippe denn wenigstens in ruhe schlafen lassen?" Wenn es eine Möglichkeit gab, daß die Nuance von rot noch etwas tiefer werden konnte, dann tat sie das gerade eben. "Gerippe?!" zischte Gabriel und setzte sich gerade neben Setsuna auf. "Meinst du damit zufällig deinen einzigen Lieblingsbruder...?" Setsuna bemerkte, wie Gabriel von Anjuli unbemerkt beide Hände auf ihre Taille zubewegte... "Wahlweise..." antwortete sie trocken und schrie in der gleichen Sekunde auf, als er ihr in die Seiten kniff. Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie auf und wollte ein wenig Sicherheitsabstand zwischen sich und ihn bringen, aber Gabriel schien viel mehr Kraft zu haben, als Setsuna schon in der vergangenen Nacht hatte feststellen können. Er hielt sie ungerührt fest, zog sie über die Lehne auf seinen Schoß und kitzelte sie dabei noch immer... Mit einem selten bösen, siegessicheren Lächeln auf den Lippen. Sie wehrte sich zwar, aber scheinbar kam sie gegen ihn nur schwer an. Und ja, sie war kitzlig... und wie. Setsuna fiel es verdammt schwer, den fliegenden Ellenbogen auszuweichen, die sich urplötzlich überall in seiner Nähe bewegten. Ohne drüber nachzudenken begann er einfach mitzumachen... Er spürte plötzlich Hände, die seine nackte Haut berührten, ihn Kitzelten, manchmal leicht kratzten, manchmal mehr streichelten. Auch er zuckte immer wieder zusammen, mußte lachen, war fast benommen von dem Gefühl. Irgendwann wußte er nicht mehr, wo oben und unten war, er spürte nur noch das wohlige, prickelnde Gefühl, die Hände, die Körper, die dicht aneinander lagen und einen angenehmen Schauer, der ihn wieder erröten ließ. Nach einer Weile arbeitete sich Anjuli zwischen den beiden Jungen hervor. "Genug jetzt," bat sie keuchend. Ihr Gesicht war flammend rot und ihr Atem ging stoßweise. Mit der einen Hand strich sie ihre Haare zurück und zog sich mit der anderen ihren Pulli wieder dahin, wo ein Pulli zu sitzen hatte. Gabriel verzog die Lippen, setzte sich dann aber auch auf und strich sich seinen langen Zopf zurück. Setsuna blieb liegen und beobachtete die Geschwister aufmerksam. Schon lange hatte er nicht mehr so frei gelacht. Und außerdem hatte er einen schöne Perspektive zu Gabriel. Der Junge kniete vor Setsuna auf dem Schlafsofa inmitten ihrer zerwühlten Decken. Sein Blick glitt über die ebenmäßige Gestalt des Jungen, über die schlanken, muskulösen, endlos langen Beine, bis hinauf, wo schließlich das weiße, zerknitterte Leinenhemd begann und seinen Schoß diskret bedeckte. Dennoch sah Setsuna, daß Gabriel erregt sein mußte... Er spürte, daß er schon wieder rot wurde, aber es gelang ihm nicht seinen Blick von Gabriels Schoß zu nehmen. Bis sich Gabriel nach hinten sinken ließ und ein leichter, dumpfer Schlag erklang, den Gabriel mit einem nicht ernst gemeinten Aua kommentierte. Setsuna richtete sich erschrocken auf und sah Gabriel an. Anjuli ging gerade in die Küche hinüber. "Selbst dran schuld," sagte sie grinsend, ohne sich umzudrehen. "Hab kein Mitleid mit ihm, Setsuna. Geschieht ihm ganz recht, wenn er sich die Birne anhaut. Er weiß doch wo die Rückenlehne ist. Das Sofa habe ich nicht erst seit gestern..."Gabriel verdrehte lächelnd die Augen und schüttelte den Kopf. "Lach dir nie so eine mitleidlose ältere Schwester an, Setsuna. Das bringt nur Ärger mit sich." Setsuna nickte aus einem Impuls heraus und schüttelte einen Herzschlag später den Kopf. "Wie ist es, wollt ihr noch ein wenig schlafen oder hab ich euch soweit mir beim Füttern meiner Tiere zu helfen und den Kaffee zu kochen?" "Klasse," knurrte Gabriel. "Es sind unsere Tiere!" setzte er etwas lauter hinzu. Wie als hätten die zwei Meerschweinchen in dem Doppelkäfig im Wohnzimmer verstanden, um was es ging, quiekten beide gleichzeitig durchdringend los. Setsuna zuckte vor Schreck zusammen. Er hatte diese Tiere schon oft in den Schaufenstern von Tierhandlungen gesehen, aber nie gehört. "Sind die immer so laut?" Gabriel nickte. Währendes gesellte sich auch eine weiß schwarze Ratte hinzu, die aus ihrer Weidenkugel auf einen im Käfig schräg hängenden Ast kletterte und sich an den Gittern aufrichtete. Die kleine helle Nase in dem Fell bewegte sich neugierig schnuppernd auf und ab. Barthaare zuckten aufgeregt. Dann plötzlich nieste die Ratte und begann eifrig ihr Schnäuzchen und ihren kleinen Kopf zu putzen. In dem Käfig darunter streckte ein kleines schwarzes Meerschweinchen seine Schnauze aus der Holzhütte in der er saß und schnupperte vorsichtig. Das andere Meerschweinchen lief aufregt vor seiner Hütte umher, drehte sich einmal im Kreis, um seine eigene beachtliche Achse und zog sich mit den Vorderpfoten am Gitter hoch. Aus seinem halboffenen Mäulchen kamen jämmerliche Quieklaute, als würde der kleine, beige braune Kurzhaarball anmelden, daß man ihn hier auf das grausamste mißhandelte und ihn einfach verhungern ließ. Auch aus der Küche drangen Laute von aufgeregtem gehoppel... "Ist das hier normal?" Gabriel nickte. "Was erwartet du bei neun Tieren?" "Sie machen Lärm, sie machen Dreck und kosten Geld," entgegnete Setsuna, sah dann aber wieder zu den beiden Meerschweinchen hinüber. Der kleine Braune sah einfach nur unheimlich lieb aus, dick und unheimlich niedlich. Er bereute den Kommentar sofort. "Wie heißt der da?" Gabriel wendete den Kopf. "da, ganz unten in dem Käfig, das ist Ichirou. Der Dunkle Quieker ist Paul, der gehörte einer Freundin von Anjuli, bis die ihn loswerden wollte. Ganz oben, das ist Nico. Anjuli sagt immer er wäre der schlauste... manchmal hab ich den bösen Eindruck, sie meint dabei nicht nur die anderen Tiere..." Er warf einen Blick über die Schulter zur Küche. "Erfaßt," entgegnete sie, während sie irgend etwas seltsames, für Setsuna furchtbar lautes tat. "Der Meinung sind wenigstens Marlene und ich..." "Marlene?" Gabriel nickte und stand auf. "Die Häsin, die wir hier haben. Außer Anji das einzige weibliche Geschöpf hier... Im Normalfall." Er schlenderte in die Küche hinüber. Scheinbar erwartete er, daß Setsuna ihm folgte. Unsicher sah sich der Junge um und glaubte seine Hosen vom Fußboden auf. Eilig streifte er sie über und schloß Knopf und Reisverschluß. "Setsuna?" Der Junge treckte sich, gähnte und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Es war immer noch ein abartiges Gefühl, fand er. Sein ganzes Leben lang hatte er langes Haar gehabt, und nun... es fühlte sich grausam an! "Setsuna?" Anjuli schaute um die Ecke des offenen, türlosen Eingangs. "Willst Du Kaffee, Tee, Kakao, Milch, Cola oder Saft?" So, wie sie dastand, locker an die Trennwand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und so zierlich und Klein, rief sie in ihm ein Gefühl von freundschaftlicher Wärme wach. Noch als er aufwachte, war er sich sicher, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben, aber allein ihre offene, freundliche Art und die Tatsache, daß sie ihn hier einfach wie ein Familienmitglied akzeptierte, gab ihm ein ungewöhnliches Gefühl von Geborgenheit. "Kaffee... bitte, wenn es dir nichts ausmacht." Lächelnd winkte sie ab. "Hier vor dir stehen die zwei schlimmsten Kaffee- Junkies, die du dir vorstellen kannst. Wenn Du hier was bekommen kannst, dann Kaffee." Er lächelte scheu. "Soll ich Natalie und Megumi wecken?" Anjuli wiegte den Kopf. "Laß sie einfach weiterschlafen. Beide haben Dinge gesehen und gehört, die sie vielleicht nur so ertragen können." Er sah sie fragend an. "Hast du sowas schon erlebt?" Sie zuckte die Schultern und winkte ihm, mit in die Küche zu kommen. Diesmal folgte er ihr. Der Raum war erheblich größer als das Wohnzimmer, und hier sah man genau, daß die Trennwand nicht zum Originalschnitt der Wohnung gehörte. An der Trennwand standen drei gleich große Käfige auf einem niedrigen Podest, die schon nah an Badewannen heranreichten. Gabriel kniete vor der Käfigburg. Er hatte das Türchen des untersten Käfigs aufgemacht. Ein unglaublich dicker, großer, weißer Hase mit schwarzen Flecken, saß mitten im Käfig und ließ sich von ihm streicheln, während zwei schwarze Jungtiere und ein kleineres, gestromtes, braunes sich fast durch das Türchen drücken wollten. In dem Käfig darüber lag ausgestreckt ein dunkelbraun gestromter Hase, kleiner als der weiße Hase unten, aber kein Jungtier mehr. Im Obersten Käfig, direkt vor seiner Türe, saß ein seltsam niedlicher, kleiner Hase mit trüben Augen, den Blick irgendwo nach oben gerichtet. Er hatte dicke Pausbacken und ein völlig verklebtes Näschen. "Was hat der Kleine da?" Gabriel sah nach Oben. "U-chan ist Blind," sagte er schlicht. Anjuli nickte traurig und ging um die Jungen herum zur Anrichte. "Usagi ist blind zur Welt gekommen. Hornhautablösung oder so was." Sie hob die Schultern. Die Tierärztin hat versucht, was sie konnte, aber U-chan ist blind und daran läßt sich nichts ändern. Nur hat sich die Tränenflüssigkeit in seinen Nebenhöhlen angesammelt und seither niest er und ist ständig krank." Sie füllte den Kaffee von er elektrischen Kaffee- Mühle in den Filter. "Er ist mein kleiner Liebling." Setsuna trat näher an die Käfige heran und sah durch das oberste Gitter. Der kleine Hase nieste leise. Sein Köpfchen zuckte kurz und seine Augen preßten sich zusammen. Dann starrte er wieder ins leere. "Er tut mir leid," sagte Setsuna spontan. Es war so ehrlich gemeint... Gabriel richtete sich auf. "Hilf mir doch, die kleinen Monster zu füttern," lächelte er. Setsuna nickte. Ihm war immer noch völlig schleierhaft, wie diese kleine, perfekte Familie mit dem harmonierte was er gestern Nacht gesehn hatte. Ihren Tot, ihre Wiederauferstehung, Megumis Verschwinden und Wiederkehr... Die Untoten... Hatte er nicht vielleicht alles nur geträumt? Nicht nach dem, was sie ihm gerade erst gesagt hatte... "Hey, Kleiner," Anjuli schlug Gabriel mit der flachen Hand auf den nackten Hintern. "Zieh dich endlich mal an." Setsuna errötete wieder, zumal sie sein Hemd hinten so hoch zog, daß Setsuna Gabriels Po sehen konnte... Ein, wie der Junge erschrocken feststellte, sehr fester, wohl gerundeter Po..., genauso glatt und Makellos, wie seine gesamte Haut. Gabriel lächelte. "Warte nur, daß gibt Rache bei der nächsten Gelegenheit." Sie hob grinsend die Schultern. Verschwinde, mein Süßer." Das Lächeln auf Gabriels Zügen wurde sanft und liebevoll. "Bis gleich ihr beiden." Das Frühstück verlief relativ still. Setsuna vermied es, viel zu sprechen. Ihn quälten die Fragen nach dem, was Gestern geschehen war, mehr noch. Die Dinge, die er geträumt hatte, die Schmerzen in seinen Träumen, sein völlig aus dem Gleichgewicht geratenes Weltbild beschäftigten ihn. Er hatte so viele Fragen, in der Hoffnung, daß Anjuli sie ihm beantworten konnte, oder wenigstens Gabriel, aber er wagte nicht, sie zu stellen. Wenn er zu fragen begann, würde vielleicht auch einer der beiden Geschwister auf die Idee kommen ihm fragen zu stellen. Und eigentlich wollte er vermeiden Fragen zu beantworten, oder etwas von dem zu erzählen, was er geträumt hatte, oder dachte. Die Situation würde ihn erwarten, spätestens, sobald Megumi erwachte und Anjuli sie fragen würde, was sie gesehn hatte, was ihr widerfahren war. Er scheute vor dem Moment zurück, denn er wußte, wenn er aussprach, was er gesehn hatte, würde das Bild des einfachen Alptraums zur Wirklichkeit werden. "Möchtest du noch was?" fragte Anjuli. Setsunas Blick ruckte von dem halben Brötchen auf seinem Teller hoch. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er die ganze Zeit nur auf seinen Teller gestarrt hatte. Er fürchtete schon fast, daß sie ihn gleich fragen würde, ob er etwas habe. Aber die frage blieb aus. Entweder war sie zu umsichtig, ihn direkt darauf anzusprechen, oder sie dachte einfach an ganz andere Dinge. "Kaffee?" fragte sie freundlich lächelnd. Wenn Setsuna ehrlich war, so schmeckte der Kaffee grauenhaft zu bitter. So bitter, daß er sogar freiwillig um Milch und Zucker bat. Er wußte, daß Anjuli die erste Kanne gekocht hatte, aber, als er duschen ging, hatten die beiden die erste Kanne bereits gelehrt und es lief neuer Kaffee durch. Er wußte nicht, wer das Zeug zusammengebraut hatte, aber es war nicht nur Galle bitter, sondern auch irgendwie atzend scharf. Setsuna schüttelte den Kopf. "Lieber nicht," sagte er zaghaft. Über Anjulis Züge huschte wieder dieses bösartige Grinsen. "Siehst du, Gabriel, Doch wieder Dünnsäure!" Der Junge verzog die Lippen. "Da will man mal helfen und kriegt voll eine vor den Latz!" Andere, dachte Setsuna wären jetzt vermutlich schon sauer geworden, aber in Gabriels Augen blitzte es belustigt auf. Scheinbar machte er sich schon wieder für ein kleines Wortgefecht bereit. Setsuna hatte sehr schnell bemerkt, daß die Hälfte aller unfreundlichen Worte nicht böse gemeint waren. Die Geschwister kabbelten sich nur ständig. Und scheinbar machte es ihnen Spaß, aufeinander herumzuhacken. "Soll ich dann auch nicht spülen?" fragte er leise, lächelnd. Sie goß sich Kaffee nach, halb aufgefüllt mit Milch. "Willst du auf das Urbild des Mannes raus?" fragte sie nüchtern. "Hübsch sein und nix tun?" Gabriel schenkte ihr ein zahniges Lachen. "Sieh's mal so, wenn dem so wäre, hätte ich mein Leben lang nichts gemacht." Setsuna schluckte hart. Anjuli grinste genauso breit. "Einbildung is' auch ne Bildung, Kleiner." Gabriel schob demonstrativ den Unterkiefer vor. "Keinen Streit!" rief Setsuna plötzlich laut. Er merkte, daß er schlagartig die ungeteilte Aufmerksamkeit beider hatte. "Streit?" echote Gabriel. "Wir streiten nicht..." Dann wurde ihm bewußt, wie das alles auf Setsuna wirken mußte. Über seine Lippen huschte ein entschuldigendes Lächeln. "Der Tonfall ist normal zwischen uns. Aber wir meinen das nicht böse." "Das weiß ich ja, aber..." Setsuna verstummte erschrocken. "Ich wollte... ich bin nur..." Schließlich verstummte er verlegen und griff nach seiner Tasse. Gabriel und Anjuli tauschten einen Blick. "Ich glaube, wir sollten uns ml ein wenig zusammenreißen," sagte sie schließlich lächelnd und stand auf. Gabriel senkte den Blick und nickte. Auch er stand auf und begann den Tisch abzuräumen und die in Tupper- Dosen gepackten Käse und Wurstpäckchen in den Kühlschrank zu stellen. Schließlich stand auch Setsuna auf und beteiligte sich an der Hausarbeit. Obwohl, viel zu tun ließen ihm Anjuli und Gabriel nicht. Irgendwann entschied sich der Junge dazu, sich still auf einen der zwei schwarz ledernen Küchenstühle zu setzen und einfach zu warten, bis die Geschwister mit der Hausarbeit fertig waren. Plötzlich stand Gabriel neben ihm. "Du bist so bedrückt," sagte er leise und ging neben ihm in Hocke. Vertraut legte er seine Hände auf Setsunas Knie. In der Geste lag viel mehr Vertrauen und Wärme, als er es sich eingestehen wollte. "Haben wir dich so sehr eingeschüchtert?" "Nein," murmelte Setsuna. Wieder schoß ihm das Blut in die Wangen. "Ich... ich bin mir nur nicht sicher..." Gabriel strich mit seinen Fingerspitzen über Setsunas Wangen, ernst, still. Setsunas Körper elektrisierte. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten, seine Knie weich wurden und er zu zittern begann. Seine Hände wurden Feucht und zugleich begannen seine Lenden leicht zu pochen. "Ich... mache mir Sorgen wegen Lea und Marion," stammelte er. "Ich meine... was sollen wir machen? Wir sind nicht nach Hause gekommen, wir sind nicht in der Schule und keiner weiß, wo wir sind. Lea und Marion werden sich sonst was denken, sie verlieren vielleicht ihre Lizenz..." Gabriel nahm Setsunas Hände in die seinen. Der Blick der großen, grünen Augen des Jungen hielten Setsunas gefangen. "Glaub mir, in einigen Tagen wird das niemanden mehr interessieren, wenn wir Giovanna nicht finden," seine Stimme klang dunkel, ernst, ruhig und sanft. Als er weiter sprach, hatte sich bereits tiefe Angst in Setsuna manifestiert. "Dann wird etwas passieren, was schlimmer ist, als du es dir vorzustellen in der Lage bist." "Ich würde sagen, die beiden Heimleiterinnen sind nur ein sekundäres Problem," murmelte Anjuli und setzte sich in den zweiten, freien Stuhl. Sie zog die Knie an den Leib und umfing sie mit den Armen. "Setsuna ist eine verdammt enge Freundin von mir. Ich habe sie gerne gehabt, aber das, was hier geschieht, könnte..." "Anjuli!" Gabriel sah hoch, sah ihr in die Augen. Es klang nach einer Warnung, einem Verweiß. Verwirrt sah Setsuna Gabriel, dann Anjuli an. Im Moment schien er nicht der kleinere Bruder zu sein. Im Gegenteil... "...könnte böse ins Auge gehen!" sagte sie. Ihre Stimme erhob sich etwas. Sie schien recht wenig auf Gabriels Verweis zu geben. Giovanna besteht dummer weise nur aus Gefühl und Herz, aber wenig aus klarem, logischem Menschenverstand. Sie ist verdammt einfach zu beeinflussen, und jeder kann sie lenken, wie eine Puppe, wenn derjenige nur ein wenig ihren Wünschen schmeichelt." In ihrer Stimme lag einige Wut, eine gewisse Aggression, die ihre gesamte Person zu durchweben schien. Gabriel sah sie nur still an, traurig, als hätte er einen Kampf gegen sie verloren, und sie einen Fehler begangen. "Wovon redet ihr..." Setsuna biß sich auf die Unterlippe. Ihm war die Frage einfach so herausgerutscht. Nun hatte er doch das Thema berührt. Ihm blieb nun kein Rückzug mehr. "Davon," begann Gabriel leise. "... daß Giovanna vermutlich einem Geschöpf jenseits deiner Vorst... unserer Vorstellung begegnet ist. Sie ist zu labil, um dessen Einfluß zu entgehen..." "Wem!" rief Setsuna plötzlich. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund erwachte in ihm eine unglaubliche, starke Wut. "Verdammt halt mich nicht zum Narren! Ich bin kein Kind mehr! Du bist mir verpflichtet! Du bist mein..." Gerade wußte er noch, was er in seiner Wut sagen wollte, aber, bevor es ihm über die Lippen kam, verlor sich der Gedanke in Nichtwissen und Nebeln. Für einen winzigen Moment war er nicht mehr der Weisenjunge, sondern... So schnell wie die Wut kam, ging sie auch, mit seiner Erinnerung. Er schloß die Augen und schüttelte den Kopf. "Was war das eben...?" Gabriel schüttelte den Kopf und legte ihm sanft den Zeigefinger über die Lippen. "Du hast dich für einen winzigen Augenblick an etwas erinnert, etwas, daß lang zurückliegt." Setsuna sah ihn aus großen Augen an. "Morgen Leute!" Natalie sah um die Ecke, gähnend, mit tiefen, dunklen Ringen unter den Augen. Sie trug nur ein Unterhemd und einen dünnen, knappen Tanga- Slip. Aber das schien ihr recht gleichgültig zu sein. "Morgen Süße," lächelte Anjuli. "Frühstück schon vorbei, oder krieg' ich noch nen Kaffee?" Gabriel wendete ihr den Kopf zu. "Dich wirft wohl auch gar nichts aus der Bahn." Natalie wiegte den Kopf. "Wenn du den Irrsinn gestern Nacht meinst... Doch, aber ich memm' hier nicht rum, im Gegensatz zu einigen anderen Pflänzchen." Setsuna warf ihre einen bösen Blick zu, den sie ignorierte. "Anwesende natürlich ausgenommen," sagte sie spitz. Mit zwei schnellen Schritten war sie bei Anjuli. "Sag mal, Anji, kann ich duschen? Und... hast du ein paar frische Klamotten für mich?" Die junge Frau nickte. "Klar, kein Problem." "Ach ja," murmelte Natalie. "Suchen wir heute weiter nach Giovanna?" Setsuna und Gabriel sahen sie beide mißtrauisch an. "Hey, was denn?! Nach dem Scheiß Gestern sollten wir uns besser aus dem Land verziehen, denn, wenn wir ohne Giovanna zurückkommen, Ist Deutschland zu klein, Kannst du dir vorstellen, wie Lea durchknackt? Die rastet so heftig aus, die würde uns sogar in verschiedene Erziehungsheime schicken." Setsuna nickte mit gesenktem Kopf. "Ob sie noch immer da ist, in dem Park, allein?" Natalie zuckte die Schultern. "Ich geh dann mal duschen." Da Megumi noch immer schlief, entschied sich Anjuli dazu, einkaufen zu fahren, zusammen mit Natalie. Setsuna und Gabriel blieben zurück, damit jemand da war, wenn Megumi erwachte. Gabriel stand noch eine ganze Weile reglos am Wohnzimmerfenster, bis Anjulis kleiner, roter Fiesta aus der Parklücke, auf die Straße fuhr und den Wagen dann auf die Kreuzung hinaus lenkte. "Du bist unruhig," bemerkte Setsuna und rollte sich halb auf dem Sofa zusammen. Gabriel sah über die Schulter und nickte. "Ich mache mir Sorgen um Anjuli," sagte er schlicht, gab aber Setsuna keine genaue Begründung. Setsuna hatte das Bettzeug ordentlich zusammen geräumt. Aber irgendwie war ihm kalt. Er zog die Beine an den Leib und schlang die Arme um den Oberkörper. "Ist dir kalt?" Gabriel wendete sich vom Fenster ab und drehte die Heizung hinter dem Fernseher an. Das kleine, braune Meerschweinchen kam aus seiner Hütte, huschte einmal im Kreis durch seinen Käfig und schnupperte in Gabriels Richtung. Leise quietschte es vor sich hin, aber eher, als habe es etwas wichtiges zu erzählen. Sein dunkler Artgenosse antwortete ihm. Gabriel entfaltete eine der Wolldecken und legte sie ihm behutsam über. Aber die Kälte blieb. "Soll ich dir einen heißen Tee machen?" "Wenn dein Tee so eine Katastrophe ist, wie dein Kaffee, verzichte ich lieber," sagte er leise und versuchte zu lächeln, aber es mißlang kläglich. Er fühlte sich einfach nur elend und müde. Sein Schädel pochte seit einigen Minuten, seit der letzten Rückerinnerung, Wortlos ging Gabriel in die Küche hinüber. Setsuna hörte ihn darin herum hantieren, Wasser aufdrehen, das Geräusch des Wasserkochers und eine Schranktüre... Ein paar Sekunden später kam er zurück und stellte eine Tasse mit heißem Wasser und einem Teebeutel darin ab. "Dabei kann ich nicht viel falsch machen." Setsuna sah ihn dankbar an und nickte freundlich. Gabriel schob sich an ihm vorbei und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf das kleine Eck- Schlafsofa. "Das Geschöpf, was sich Giovannas Bewußtsein bemächtigt hat, was sie ausnutzt, ist ein freier Geist..." Gabriel zögerte kurz. "Der Wishmaster." Setsuna wendete ihm den Kopf zu. "Klingt das nicht ein wenig pathetisch?" Irgendwie klang seine Stimme nicht annähernd so fest und spöttisch, wie er es wollte. Im Gegenteil, sie schwang unsicher. Er ahnte nicht einmal die Ausmaße des Begriffes, fühlte aber die Bedrohung. "Was ist das für ein Geschöpf...?" Gabriel entfaltete seine langen Beine und streckte sich auf der langen Seite des Sofas aus, auf dem Bauch liegend, so daß er zu Setsuna hochsah. "Der Wishmaster..." Er wendete den Blick ab und starrte eine Weile unentschlossen auf seine Hände. "Ein freier Geist, etwas normal gestaltloses, das einen Wirtskörper zum Leben braucht. Er spiegelt dir vor, deine Wünsche zu erfüllen, deine Hoffnungen, und, genaugenommen tut er es auch. Aber letzten Endes nur bis zu einem gewissen Grad, nämlich dort, wo Traum und Alptraum sich voneinander trennen. Er verwebt sich mit deinem Geist, erschafft Dinge, in einer zweiten, parallele Welt, seiner Heimatebene. Manchmal plaziert er auch seine Kreationen in den Träumen anderer, oder, wenn seine Macht weit genug vorangeschritten ist, beginnt er sich in dieser Welt zu manifestieren. Aber, wenn es so weit ist, kann ihn so einfach nichts mehr aufhalten." "Setsuna schauderte bei dem Gedanken an das, was Gabriel sagte. Aber da war etwas, Gabriel hatte ihm etwas verschwiegen... viel, wenn er sich auf sein Gefühl verließ. "Aber solche Geschöpfe kann es hier nicht geben. Nur in verdammten Romanen oder Filmen!" hörte sich Setsuna sagen. Er wußte, daß das hier unmöglich war. Aber zugleich sagte ihm auch eine Stimme in seiner Erinnerung, daß es vielleicht eines der Geschöpfe war, die beim Weltenwechsel die Grenzen passiert hatten. Wessen Weltenwechsel? Warum? Was dachte er da überhaupt? Dennoch... der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Gabriel wiegte den Kopf und sah zu Setsuna hoch. "Das mußt du für dich entscheiden, Setsuna." Anjuli fuhr, Natalies Meinung nach definitiv zu schnell über die verschneiten Landstraßen. Dennoch fand sie, war es recht sinnlos, Anjuli darauf anzusprechen. Es war etwas in Anjulis Art. Etwas, daß sie dazu brachte unvorsichtige, selbstzerstörerische Sachen zu machen... "Wohin fahren wir?" Die junge Frau wiegte den Kopf. "Einkaufen. Ich rechne normal nicht mit soviel Leuten bei mir." "Und wo?" Natalie sah demonstrativ aus dem Seitenfenster. An ihr zogen verschneite Felder vorbei. "Mainz liegt glaube ich, in der anderen Richtung, oder?" Anjuli deutete ein nicken an und schaltete einen Gang nach unten, als sie in das nächste Dorf einfuhren. "Ich fahre nach Ingelheim zum Walmart..." Natalie erschrak sichtlich. "Bist du total bekloppt?!" Wenn Lea mich sieht, killt sie mich!" "Ich will wissen, was bei euch los ist, Natalie. Wenn ein Haufen Bullen vor der Türe stehen, gut, wenn nicht, geht da was vor, daß ich nicht mag... Verstehst du, was ich meine?" "Willst du damit sagen, daß Lea und Marion... Nie, nicht die Beiden! Das sind die nettesten Frauen die ich kenne!" "Dann erklär' mir mal, warum ein Mädchen wie Giovanna in eine Art größerer Familie integriert wird, nachdem jedes andere Heim, in dem sie bis heute war, eine Nummer übler war als der Vorgänger?!" Anjuli sah kurz zu Natalie hinüber. "Ich kenne Giovanna schon ein wenig länger als du. Sie ist nicht die Sorte Mädchen, die man in ein normales Kinderheim steckt. Nicht nachdem, was sie bis heute miterlebt hat." "Du weißt davon?" keuchte Natalie. "Sie hat es mir vor Jahren schon erzählt. Außerdem ist sie viel älter als ihr anderen. Rein theoretisch müßte sie in so ein heim, in dem man auch lehrt und ausbildet. Aber sie ist leider ein wenig zurückgeblieben durch das, was sie bis heute durchgemacht hat. Also müssen eure Heimleiterinnen schon ein besonderer Schlag Mensch sein." Sie sah vermied es, Natalie anzusehen. "Du fällst doch vermutlich unter schwer erziehbar, oder?" Natalies Kopf flog herum und sie starrte Anjuli erschrocken an. Anjuli nickte nur. "So ungefähr habe ich mir das gedacht. Auch Setsuna und Megumi sind nicht Grundlos in dem Heim, wie vermutlich jedes der Kinder." "Aber..." Natalie empfand tiefe Wut, aber auch Schrecken. Woher konnte Anjuli das wissen? "Hör mal, Natalie, ich war eine ganze Zeit mit Verhaltens gestörten oder behinderten Kindern zusammen. Ich erkenne eins, wenn ich es sehe. Und du gehörst sicher dazu." Natalie wollte aufbrausen, etwas sagen, aber Anjuli winkte ab. "Nein nein, das war kein Angriff gegen dich, keine Sorge. Ich gehörte als Kind auch zu der Sorte. Deshalb. Ich erkenne mich in dir. Auch wenn meine Ausdrucksform eher die war, daß ich jedem die Zähne nach innen gedreht habe, anstatt gegen jeden und alles meinen Haß zu schüren. Nur, nennenswert besser hat es das nicht gemacht. Ich hatte nur Zoff mit meinen Lehrern und der Schuldirektion." Sie zuckte lächelnd mit den Schultern, als Natalie verblüfft zu ihr hinüber sah. "Du bist die Sorte Mädchen, die anführt, die stark ist, und sich von nichts so leicht aus der Bahn werfen läßt." "Ich habe die Diskette mit Giovannas Daten. Wir haben sie gestern im Rechner von Lea gefunden." Natalie sah auf ihre geballten Fauste herab. "Sie haben von uns allen solche Files angelegt. Und ich glaube, da steht mehr drin, als wir gestern Nacht auf die schnelle herausgelesen haben." Sie biß sich auf die Unterlippe. "Wenn ich nicht die Starke, Toughe bin, fange ich an, mich zu erinnern, was vor dem Heim war. Und das will ich nicht." Anjuli lenkte den Wagen auf die Landstraße hinaus und wurde langsamer, um in die Baustelleneinfahrt zu kommen, ohne die Begrenzungspfosten mitzunehmen. "Was war damals?" fragte sie ungerührt. Natalie schloß die Augen. Sekunden verstrichen, bevor sie antwortete. "Meine Mutter wurde vergewaltigt und ermordet von ihrem eigenen Bruder. Er war damals auf Bewährung draußen... Ich war dabei und habe alles gesehen. Als mein Vater kam, und sah, was vorgefallen war, ist er zu diesem Ungeheuer gefahren... Mein Vater starb in dieser Nacht. Mein Onkel bekam Lebenslänglich. Ich war damals 4..." Sie konnte nicht verstehen, warum sie Anjuli davon erzählt hatte. Es war einfach so... Natalies Hände waren eisig kalt und zitterten. Sie weinte nicht. Es gab kein Gefühl mehr, über das sie weinen konnte. Anjulis Hand legte sich beruhigend über ihre. "Ich habe meine Eltern danach noch so oft gesehen," sagte sie leise. "Und es war nicht in meinen Träumen. Sie waren da. So, wie sie im Moment ihres Todes aussahen..." Anjuli zuckte zusammen. "Ich sehe sie nicht mehr. Ich weiß nicht, ob ich dankbar sein soll, oder mich von ihnen verlassen fühlen möchte..." Anjuli sagte nichts mehr. Aber in ihrem Gesicht war ein sonderbar alarmierter Ausdruck. Natalie erwies sich als keine große Hilfe beim Einkaufen. Sie war zu nervös und ängstlich. Überall vermutete sie, auf Lea und Marion zu treffen. Aber weder die eine, noch die andere der beiden Frauen waren zu sehen. Mehr noch. Als Anjuli an deren Haus vorüberfuhr, kroch Natalie halb unter den Sitz. "Siehst du was? Sind die Bullen da? Rennen die beiden draußen rum?" Anjuli rollte mit den Augen. "Klar, das GSG9, die Kripo und die Arme sind hier." Sie verzog die Lippen. Hör mal, hier ist tote Hose. Niemand ist draußen, nichts besonderes geht da draußen von statten. Okay?" Natalie entspannte sich etwas. "Hä? Jetzt fehlen ihr drei weitere Kids, und sie unternimmt nichts?" Natalie richtete sich etwas auf, um aus dem Seitenfenster zu schielen. "Sonst rastet Lea aus, wenn wir nur eine halbe Stunde zu spät von der Schule kommen. So wie gestern Nacht. Und nun?" Anjuli zuckte die Schultern. "Vielleicht ist sie zur Polizei gegangen...?" "Mal doch den Teufel an die Wand," knurrte das Mädchen. "Was denn nu?" Anjuli steuerte den Wagen aus dem Viertel heraus. "Sag mal, wollen wir auf eigene Faust nach Giovanna suchen?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)