An die Zurückgebliebenen von Felicity (One-Shot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 9: Mikasa ----------------- Mikasa mochte die herrschende Stimmung nicht. Die Atmosphäre war düster, gedrückt und beschwert von Trübsinn und Hoffnungslosigkeit. Egal, wohin sie lief, überall sahen ihr die gleichen, bedrückten Gesichter entgegen, überall kamen ihr Menschen entgegen, deren Augen rot und geschwollen waren und in deren Gesichtern Schmerz und Trauer zu lesen war. Es erinnerte sie viel zu sehr an die Zeit vor drei Jahren. Es fühlte sich an wie damals nach dem Fall von Maria, als sie in Notunterkünften gelebt hatten. Es war das gleiche erdrückende Gefühl in der Luft, das sich breit zu machen und sich um sie zu legen schien, als wollte es sie mit hinunterziehen. Es ließ sie frösteln und den Schal um ihren Hals enger ziehen, während sie die Nase darin vergrub und tief durchatmete. Sie durfte sich nicht davon anstecken lassen, nicht so kurz, ehe sie hoffentlich Eren aus dem Gewahrsam holen würden. Das war der falsche Zeitpunkt für Trauer über gefallene Kameraden. Es waren Menschen gestorben, die sie gekannt hatte, mit denen sie sich am Abend vorher noch unterhalten hatte. Es versetzte ihr einen Stich, es ließ sie nicht los, aber sie verdrängte das ganze bisher noch halbwegs erfolgreich. Dafür würde später Zeit sein, nur nicht jetzt. Eine Frau kam ihr entgegen, die einen Brief in Händen wog und offenbar zögerte ihn zu öffnen. Auch das war keine Seltenheit in den letzten Tagen. Mikasa seufzte im Stillen und durch den Stoff ihres warmen Schals gedämpft leise und lief schnell weiter. Nach draußen, ins Freie, wo Armin und Jean bereits auf sie warteten. Während sie sich auf den Weg machten, fragte Mikasa sich einmal mehr, ob ihr wohl auch jemand einen solchen Abschiedsbrief schreiben würde. Die wahrscheinlichsten Kandidaten dafür waren die beiden Jungen neben ihr und Eren, aber irgendwie war sie gar nicht sicher, ob sie wirklich wissen wollte, ob oder was in einem solchen Brief stehen würde. Es war nicht verboten darüber zu sprechen, aber irgendwie tat es nie jemand. Man fragte nicht, ob ein anderer einem eine Nachricht hinterließ, es fühlte sich falsch und komisch an und sie wäre auch nicht auf die Idee gekommen es überhaupt zu versuchen. Im Falle, dass einer ihrer Freunde wirklich sterben sollte … nein, sie wollte gar nicht genauer darüber nachdenken, solange das nicht der Fall war. Es war damals schlimm genug gewesen wenn auch nur für kurze Zeit zu glauben, dass Eren tot war. Bei der Vorstellung, dass sie zu diesem Zeitpunkt einen Brief von ihm erhalten hätte, wurde ihr kalt und sie schauderte. Ein paar Mal hatte sie gesehen, wie es Leuten danach wirklich besser ging, wie sie traurig lächelten oder etwas darüber sagten, dass sie froh wären, dass sie diesen Abschied hätten. Mikasa konnte es nicht wirklich nachvollziehen. Wie konnte man froh sein, wenn ein wichtiger Mensch nicht nur gestorben war, sondern auch noch eine Nachricht hinterlassen hatte, die eigentlich nur aussagte, dass er davon ausgegangen war, dass er sterben würde? Bedeutete das nicht im Umkehrschluss, dass man im Prinzip wissentlich in den Tod lief und aufgegeben hatte lebend zurückzukommen? Waren es nicht genau die Menschen, die aufgaben, die ihr Leben verloren? Die nicht mehr darum kämpften, dass es weiterging? Sie hatte sich geschworen niemals mehr dort zu landen. Wenn sie alle aufgeben würden, dann hatten sie wirklich verloren, dann würden sie alle sterben und das konnte und wollte sie nicht zulassen. Ehe sie zur Expedition ausgeritten waren, hatte ihr Vorgesetzter auch sie gefragt, ob sie einen Brief schreiben wollte, aber Mikasa hatte nur den Kopf geschüttelt und niemand hatte weiter nachgefragt. Für sie kam so ein Brief einer Resignation gleich und wenn sie wirklich sterben sollte, wollte sie nicht, dass der letzte Eindruck von ihr der war, dass sie es nicht einmal mehr versucht hatte. Ganz abgesehen davon, dass sie auch nicht gewusst hätte, was sie darin hätte sagen sollen. Was waren passende Abschiedsworte? Was hinterließ man anderen, wenn man ihnen nicht noch mehr Trauer und Schmerz auferlegen wollte? Nein, sie war sicher, dass es besser war, wenn sie nichts schrieb und einfach annahm, dass die anderen wussten, was sie ihnen sagen würde, wenn sie wirklich sterben sollte. Und im Stillen betete sie auch, dass sie niemals einen Brief erhalten würde, es würde nur einen weiteren, schmerzhaften Verlust in ihrem Leben symbolisieren und sie wusste nicht, ob sie stark genug sein würde, um ihn wirklich zu lesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)