Lust'n'Needs von Anemia ================================================================================ Kapitel 79: Gasping For More ---------------------------- Gasping For More     Die Zeit vermag nicht alle Geheimnisse zu lüften, die sich in dem Herz einer Person verbergen. Die Zeit macht nicht durchschaubar. Irgendein Seeleneck bleibt immer unergründet, auf ewig, oder zumindest für eine sehr lange Dauer. Die Zeit vermag Barrieren einzureißen und somit hin und wieder den Glauben zu erwecken, dass man ausreichend viele Stunden, Tage, Wochen mit einem Menschen verbracht hat, um sich ein Bild von der Struktur des Seelenlebens seines Gegenübers machen zu können. Doch das alles ist ein Irrtum. Die Augen, in welche du blickst, und von denen du glaubst, dass du aus ihnen lesen kannst wie aus einem offenem Buch, erzählen doch so wenig von dem, was hinter ihnen liegt. Und die Worte, die an dein Ohr dringen, versuchen etwas zu kaschieren. Etwas zu verbergen, ganz tief in das Herz zu verbannen, das schon zu lange für etwas Falsches schlägt. Etwas so grundlegend Falsches, dass man sich selbst wünscht, die Zeit würde die klaffende Wunde mit Schorf versehen. Irgendwann. Aber Zeit ist auch nur ein Wort. Heilen kannst du dich nur selbst. Falls denn dein Wille ausreicht.   Es war einer der wenigen Tage, an welchen Cari und Jamie zu zweit in einer dieser recht öde anmutenden Kneipen hockten und den Abend ausklingen ließen, welcher allerdings bis tief in die Nacht hineinfloss. Meist leisteten ihnen ihre Bandkollegen Gesellschaft, wenn es darum ging, einen über den Durst zu trinken und sich in alten Geschichten von damals zu verlieren. Ja, sie alle liebten es, die alten Zeiten Revue passieren zu lassen, denn das vermittelte einem nur zu häufig das Bild einer heilen Welt; früher war alles schlechter, die damaligen Sorgen hatten sich längst aufgelöst, genau, wie es die derzeitigen irgendwann ebenfalls tun würden. Im Nachhinein betrachteten sich alte Fehler mit solch einer Leichtigkeit, aber dafür verflüssigten sich die positiven Erinnerungen schon bald in einem Pfuhl aus Gleichgültigkeit. Gefühle halten nicht ewig. Der Tag, an dem sie ihren ersten Plattenvertrag unterschrieben hatten, löste kaum noch Emotionen in Cari aus. Selbst der Gedanke an ihren ersten Gig stimmte ihn längst nicht mehr euphorisch. Und doch rollten sie ihre komplette Bandgeschichte an diesem Abend auf, Jamie und er. Denn nur Jamie war von Anfang an dabei gewesen. Jamie wusste Dinge, von denen Rikki und Tim nichts ahnten. Belanglosigkeiten zwar, nichts Wichtiges, aber dennoch von nicht abzustreitender Bedeutung. Genau wie dieser Abend. Manchmal kam es nicht darauf an, was man sagte. Manchmal zählte es nur, dass man beisammen saß und etwas mit dem Gegenüber teilte, das einen noch stärker miteinander verband. Wenn sie schwiegen und sich nur in die Augen sahen, bis sie begannen zu grinsen, genügte das. Und wenn sie an ihrem Bier nippten und den vorbeihuschenden Menschen halbherzig zuschauten, dabei in ihre Gedanken versunken, dann war ebenfalls alles in Ordnung. Cari kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass dieser im Grunde seines Herzens wesentlich nachdenklicher war als er es vorgab zu sein. Der Sänger wusste nur zu gut, wie man alles, was einen angreifbar machen könnte, hinter einer wilden, kompromisslosen Attitüde zu verbergen mochte. Nie hatte er etwas anderes getan. Es war, als schützte er seinen seelischen Intimbereich vor einem schmerzhaften Schlag. Vor Cari allerdings fiel diese Maske hin und wieder. Das konnte der Schlagzeuger spüren. Nein, nicht nur spüren - er sah es auch in den grünen Augen des Sängers, welche in einer völlig versunkenen Ernsthaftigkeit einen unbestimmten Punkt im Gewimmel musterten. Jamie schien regelrecht von seinem Kopfkino verschluckt worden zu sein, denn er bemerkte noch nicht einmal, dass Cari auch nun die Gelegenheit nutzte, um ihn zu betrachten wie ein schönes Gemälde. Einmal mehr staunte er darüber, dass er immer wieder neue Punkte entdeckte, die ihn an seinem Freund faszinierten, so wie seine Blicke mit nicht sonderlicher Scheu über die leicht nach unten geschwungene Mundpartie huschten, welche dem Gesicht des Sängers einen noch ernsthafteren Touch verliehen. Von dort aus wanderten seine Augen dann die ausgeprägte Kieferpartie entlang, suchten das Ohr Jamies, das Ohr mit dem kleinen, silbernen Ring im Läppchen. Rieseln im Bauch. Wie zarte Schneeflocken. Leise Unruhe. Ja, das war es, was ihn an diesem Abend gefangen nahm, vollkommen in seinen Bann zog. Es sind die kleinen Dinge. Es sind immer die kleinen Dinge, die dem Großen, Ganzen ihre Perfektion verleihen. Und es sind immer wieder andere. Ein Mensch ist zu komplex, um sich immer nur in seinen Augen zu verlieren. Ein wirklich wundervoller Mensch hat so viel mehr zu bieten. Und Jamie war ein wundervoller Mensch. Ein wundervoller Mensch, den erst seine Abgründe komplettierten und anziehend machten. Zumindest Cari empfand das so. Eine weiße Weste hat noch niemanden verführt. Ein Krieger des Lichts schafft es nicht, einen zur Sünde zu bewegen. Erst, wenn das Kostüm Flecken bekommt, kann man geliebt werden. Genauso stark geliebt wie auch gehasst. Denn erst die Flecken machen menschlich. Die inneren, wie die äußeren Makel. Und Jamies Makel waren vornehmlich innerer Natur. Das wusste Cari. Und doch wusste er so wenig.   Naked I stand naked before you Don't believe what you see   "Hab ich was im Gesicht?" Jamie schien doch mehr mitbekommen zu haben, als Cari vermutet hätte. Ehe er es sich versehen konnte, sah er ihn direkt an, fragend, aber nicht ganz ohne Amüsiertheit im Blick. "Ja, eine Nase, einen Mund", zählte der Schlagzeuger auf und stützte sein Kinn auf seine Hand, während er Jamie extra verklärt musterte. "Augen. Helle, eiskalte Augen." Lachend hob Jamie die Hand und drehte sein Gesicht weg. "Du spinnst, Kunde." "Ja, vielleicht", erwiderte Cari und nach und nach flaute sein Lächeln ab, so wie er über seine Worte nachdachte. Aber spinnt man denn, wenn man etwas Ungewöhnliches tut, etwas Ungewöhnliches empfindet? Ab wann ist etwas nicht mehr in das Lager der Normalität einzuordnen? Wer konnte einem diese Frage beantworten? Cari jedenfalls hatte keine Ahnung. Er hatte noch nicht mal eine Ahnung, wann er seinen Blicken erlaubt hatte, sich nun an Jamies Profil festzubeißen. Es war einfach geschehen. Da war irgendetwas in seinem Unterbewusstsein. Etwas... "Mann, hab ich Titten auf der Stirn?" Jamie reagierte langsam entnervter. Auch wenn seine Augen manchmal so abwesend blickten, so schien er dennoch alles zu bemerken, was sich um ihn herum abspielte. Doch das zeigte er nur selten. Äußerst selten. Deswegen wusste Cari es auch nicht. Wie wenig er doch wusste...wie wenige der kleinen Dinge, die dem Großen, Ganzen Perfektion verleihen. Was war es eigentlich, was einen anzog, wenn es weder die großen, noch die kleinen Dinge waren?   "Sorry, aber du bist einfach schön", platzte es nun aus Cari heraus; der Alkohol hatte seine Zunge längst gelockert. Jamie starrte ihn unverwandt an. Damit hätte er wahrscheinlich nicht gerechnet. Ebenso wenig wie Cari. Wie wenig er sich doch selbst kannte. Wenn man sich nicht einmal selbst kennt, wie soll man da erst jemand anderen kennen? "Schön?" Der Sänger klang skeptisch. Aber warum? Warum schaute er Cari an, als würde er an seinen Worten zweifeln? "Ja, schön", wiederholte dieser bestimmt, auch wenn etwas in seinem Inneren erkaltet war, wie zu Eis erstarrt. Warum fühlen sich all die richtigen Dinge manchmal so falsch an? Warum tut es nur so weh, aus seiner Komfortzone zu treten und der Wahrheit ins Angesicht zu sehen? Jamies Hand schob sich auf seine ziemlich voll wirkende Hosentasche. Es war, als versuchte er mit dieser Geste etwas von ihrem Inhalt zu beschützen. Seine Zigarettenschachtel? Der Typ spann doch genauso wie er. "Würdest du mich immer noch schön finden, wenn ich ein Schwerverbrecher, ein Mörder wäre?" Der Sänger wartete gar nicht erst auf eine Antwort seitens Cari. Wahrscheinlich ahnte er, dass der andere die Bedeutung verstand, die dahinter lag. Doch Cari begann ernsthaft, darüber nachzudenken, so wie Jamie sich von der Bank schob, wahrscheinlich, um eine rauchen zu gehen. Es war schlimm, dass einem die Sucht überall verboten wurde. Es war aber noch schlimmer, dass die Menschen dieses Verbot eher achteten als jenes, einem anderen ein Leid zuzufügen. Ein Raucher konnte durchaus schön sein. Sehr schön sogar. Aber ein Mörder? Ja, durchaus. Doch nie auf eine Art und Weise, die einem das Herz erwärmen konnte. Niemals durch und durch. Immer nur oberflächlich. Ein schönes Gesicht, aber ein kaltes Herz. Lieber Augen aus Eis, die die innere Wärme zu schützen versuchen als eine erfrorene Seele. Lieber viele kleine Makel als einen großen, schwarzen Fleck auf der Karte des Lebens. Wieso fragte Jamie solche Dinge? Noch nie hatte er einem Menschen wehgetan. Gab es da etwa eine Sache, von der Cari nichts ahnte? Etwas, das sein komplettes Bild von seinem besten Freund umzuwerfen vermochte? Er wusste so wenig. Und dabei strebte er danach, alles zu wissen.   Erst das klappernde Geräusch von etwas, das mit dem Boden in Berührung gekommen war, ließ ihn aus seinen seltsamen Gedanken hochschrecken. Seine Augen suchten den Sänger, doch dieser war längst verschwunden, irgendwo im Getümmel, irgendwo da draußen in der Kälte. Also beschloss er, sich nach dem undefinierbaren Gegenstand zu bücken, den die Menschen bereits mit Füßen zu treten begannen. Als er ihn in der Hand hielt und ihn von allen Seiten begutachtete, wollte sich ihm zunächst nicht erschließen, um was es sich bei diesem Ding handelte. Doch aus den Augenwinkeln hatte er gesehen, wie es aus der Tasche seines Freundes gefallen war, als er achtlos seine Schachtel Zigaretten hervorgezogen hatte. Es gehörte also Jamie. Jamie, dem Kerl, den er seit fast zehn Jahren kannte. Und doch nicht kannte. Mehr denn je verspürte er das untrügliche Gefühl im Bauch, dass der Sänger etwas vor ihm, vor der ganzen Welt zu verbergen suchte. Nun brach sie endgültig aus, die Gewissheit, dass irgendetwas mit seinem besten Freund nicht stimmte. Nun wusste er auch, dass er dies bereits schon sehr lang wusste. Manche Dinge weiß man erst, wenn man sie wissen will.   Der Gegenstand erinnerte an eine Art Türstopper, wie Cari schließlich befand, als er ihn noch etwas länger in Augenschein genommen hatte. Diese Dinger, die in den Boden eingelassen wurden, um die Tür davon abzuhalten, zu weit aufzuschwingen, besaßen eine ganz ähnliche Form. Ein schwarzer Zylinder, doch wozu benötigte Jamie einen solchen? Brachte er damit seine eventuellen Opfer um? Nein. Jamie war kein Mörder. So ein Schwachsinn. Und mit einem zylinderförmigen Gegenstand konnte man niemandem den Garaus machen. Oder vielleicht doch. Denn plötzlich bemerkte Cari, dass man das Gerät ausziehen konnte, auf eine recht beachtliche Länge von womöglich fünfzehn, vielleicht auch zwanzig Zentimeter. Wie ein Teleskop-Zeigestock. Aber mit einem solchen war es lediglich bedingt zu vergleichen, war er doch fast gleichmäßig dick, im Durchmesser ungefähr so breit wie ein Schnapsglas. Und die Spitze...na ja, diese war es schließlich, die Cari verriet, um was für einen Gegenstand es sich bei diesem mysteriösen Teleskopstab tatsächlich handelte. Cari hielt einen Dildo in der Hand. Einen verdammten Dildo. Eine Welt brach für ihn zusammen. Und zugleich baute sich eine ganz neue auf. Eine, die seinen Blick entschlossen machte. Entschlossen und viel, viel dunkler. Es sind die Details, die dem Großen, Ganzen Perfektion verleihen. Es sind die Dinge, die wir geheim halten wollen, die schließlich über Liebe oder Hass entscheiden. Die Seele schützt sich selbst. Vor Verachtung. Aber auch vor Zuneigung.   Naked I stand naked before you Don't believe what you see Deranged and insightful Would you kill just to see   Jamie bemerkte nicht sofort, dass etwas fehlte. Denn er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, seine Hosentaschen stets bis Anschlag vollzustopfen. Zigaretten und Feuerzeug, das waren bereits seit vielen, vielen Jahren seine treuen Freunde, und wahrscheinlich wäre es ihm nicht entgangen, hätte er diese beiden Utensilien ausversehen in irgendeiner Ecke liegengelassen. Bei seinem neuen Spielzeug hingegen sah die Sache anders aus. Erst letzte Woche hatte er es sich zugelegt, nachdem er lang genug mit sich selbst gerungen hatte. Nun besaß er es zwar, aber meist besah er es mit einer großen Abscheu. Nur wenn er bereits erregt war, dann verschwammen seine Skrupel und er erlaubte sich all die Dinge, die sein Verstand ihm verbot. Nun aber war es nicht mehr da. Vielleicht ist das auch ganz gut so, überlegte Jamie, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass dies eine mittelschwere Katastrophe darstellte. Heilen kannst du dich nur selbst. Falls denn dein Wille ausreicht. Nein, Jamie wollte sich nicht heilen. Das, was er nur wollte, war ein klein wenig von dem Glück zu erfahren, das ihm bisher verwehrt worden war. Das ihm wohl auf ewig verwehrt bleiben würde. Weil er es so wollte. Nein, weil er es für das Vernünftigste hielt. Er sträubte sich vehement dagegen, zu erkennen, dass sein Leben in anderen Bahnen zu verlaufen begann, als er es für sich vorgesehen hatte. Er erkannte, dass sein eigener Körper mehr und mehr die Oberhand über seinen Geist gewann. Dass da etwas in ihm wohnte, das ihn Stück für Stück zerfraß. Und er warf sich diesem Etwas auch noch freiwillig vor. Freiwillig, unter großem Widerstreben. Keine Gegensätze. Sondern das Relikt einer unerfüllten Sehnsucht.   Nein, er war nicht schwul, hätte sich nie vorstellen können, sich in einen Mann zu verlieben. Er stand lediglich auf die Stimulation, auf das Gefühl, etwas eingeführt zu bekommen, auf die Fantasie, dominiert und benutzt zu werden. Von einem gesichtslosen Menschen, dessen Stimme in seinem Kopf mit dem Klang seiner eigenen sprach und somit nicht identifiziert werden konnte. An den Haaren gepackt wollte er werden, das schon. Grob behandelt, angedroht bekommen, hart gefickt zu werden. Seine Hände wurden schwitzig, wenn er nur daran dachte, an seine eigene Stimme, die in sein Ohr knurrte und ihn in seine Rolle wies für eine ganze Nacht. Auf seinen Beinen konnte er sich kaum mehr halten. Es strengte ihn an, durch den Schleier zu blicken, der sich auf seine Augen gelegt hatte. Er fragte sich, ob man es sehen konnte, in seinem Blick. Was er gerade dachte, was er fühlte. Konnte man es denn jemals sehen? Oder entblößte man sich immer nur vor sich selbst, weil niemand sonst so sehr auf einen achtete wie man es auf seinen eigenen Körper tat? Doch das alles spielte nun keine Rolle mehr. Die ohnehin undeutlichen Filme liefen ins Leere. Die Stimme schwieg. Jamie hatte zwar seine Finger, aber das war nicht dasselbe. Nein, das war nicht dasselbe. Weil er es nicht von sich selbst wollte. Weil er nicht immer das Gefühl der Macht über sich selbst genießen wollte, das ihm bei der Selbstbefriedigung zuteilwurde. Er wollte sich in fremde Hände begeben. Er wollte seine pulsierende, devote Ader ausleben. Doch mehr als ein neuer Traum würde nicht aus seiner Sehnsucht erwachsen. Schon deshalb, weil es niemand wissen durfte. Für eine lange Zeit hatte er es ja noch nicht einmal selbst gewusst. Aber irgendwann prasseln die unerfüllten Wünsche auf einen hernieder, und wenn es einmal zu spät ist, ist es sehr schwer, noch Herr über sie zu werden. Das Schlimme ist, das Wünsche sich nie an Regeln halten. Dass es einer Seele egal ist, ob man gewisse Dinge darf oder nicht darf. Und dass man viel zu oft den Verstand in seiner Euphorie verliert und dann sein egoistisches Herz gewähren lässt. Es wäre alles gut gewesen. Nein, vielleicht nicht gut, aber zumindest tragbar. Aber irgendwann will man immer mehr. Irgendwann genügt es nicht mehr, sich mit Ausreden vollzustopfen, von denen man genau weiß, dass sie nur dazu dienen, sich selbst zu belügen, zum Wohle anderer. Hätte Jamie keine Freundin gehabt, er hätte sich fallen gelassen. Doch in welchen Abgrund? Hatte er denn nicht auch Angst vor dem Abgrund, in welchen er sich sehnte, hineinzustürzen? Die Seele schützt sich selbst. Vor Schädigung. Aber auch vor Heilung.   Ja, vielleicht war es gut so. Vielleicht war es gut, dass der heutige Abend geruhsam ausklingen würde und dass Jamie sich nicht in seiner Verzweiflung aufs Klo verziehen musste, um sich dort sein kleines, armseliges Glück zu verschaffen, für das er sich abgrundtief hasste. Nein, ein Mörder war er nicht. Aber diese schwarzen Flecken auf seiner weißen Weste machten ihn doch genauso hässlich. Diese schwarzen Flecken auf der Landkarte seines Lebens. Auch mit kleinen Taten konnte man Leben zerstören. Herzen, Seelen. Und wenn der Geschädigte nur man selbst war. Ein schönes Gesicht und ein fiebriges Herz vermögen ebenso präzise zu töten wie eine erfrorene, zu Eis erstarrte Seele. Nur unterscheiden sich ihre Waffen.   Es hatte ja doch keinen Zweck, wenn er noch länger hier draußen stand und versuchte, das Glimmen in seinem Inneren erfrieren zu lassen. Es würde nichts nützen. Die dritte Zigarette war längst niedergebrannt, und Jamies Füße begannen allmählich auszukühlen. Aber da drinnen loderte das Feuer im Kamin; Cari und er hatten heute ausgerechnet diesen heißbegehrten Platz ergattert. Cari. Bestimmt wartete er bereits auf ihn. Wartete darauf, ihn weiterhin so seltsam anstarren zu können. Er war angetrunken, klar, da tat man hin und wieder merkwürdige Dinge. Schlimm wird es erst, wenn diese merkwürdigen Dinge im nüchternen Zustand passieren.   Das erste, das Jamie auffiel, als er in die gute Stube zurückkehrte war die Tatsache, dass der Schlagzeuger einen randvollen Bierkrug vor seiner Nase stehen hatte. Das zweite, dass er einen schwarzen Gegenstand nachdenklich in seinen Händen hin- und her drehte. Jamie war, als würde er fallen. Dabei wollte er gar nicht fallen. Er wollte aufrecht stehen bleiben, mit erhobenem Kinn, und dieses dumme Geheimnis totschweigen. Für immer und ewig. Aber dieser Wunsch starb gerade vor seinen Augen. Cari war kein dummer Mann, überhaupt nicht. Dieser Gegenstand würde ihm in einer Sekunde mehr verraten haben als all ihre gemeinsame Zeit, welche die vielen Jahre gefüllt hatte. Er wusste nun alles. Oder zumindest würde er glauben, alles zu wissen. Dabei wusste er gar nichts.   Jamie blieb nichts anderes übrig, als sich zu seinem Freund zu gesellen. Alle möglichen Szenarien bezüglich der eventuell folgenden Begebenheiten rasten durch seinen Kopf und bescherten ihm einen trockenen Mund. Er wollte das alles gar nicht. Und er wollte es gleichzeitig zu sehr. Cari hob den Blick, als Jamie an den Tisch herantrat. Seine Augen wirkten unergründlich. Zu viel stand in ihnen geschrieben. Zu viel, um Einzelheiten entziffern zu können. Doch Jamie glaubte, tatsächlich so etwas wie Entsetzen zu erkennen. Schieres, grausames Entsetzen, das helle Augen ganz dunkel färbt. Man weiß immer das, was man wissen will. Man weiß hingegen nie, dass man das, was man manchmal weiß, manchmal eben doch nicht weiß. Weiß, weiß...wieso strebt eigentlich jeder heimlich oder auch unheimlich nach dieser verdammten Farbe?   Man fühlt sich immer in jenen Momenten wie ein Fremder, wenn das Bild, das man jemandem zu vermitteln versucht hatte - bewusst oder unbewusst - zu bröckeln beginnt. Wenn der andere sein Geheimnis gesehen hat. So wie Cari Jamies Geheimnis gesehen hatte. Wie paralysiert starrte der Sänger auf die Finger seines Freundes, verfolgte jede ihrer Bewegungen aufs Genaueste. Es sah so falsch aus. Sein Spielzeug in Händen, die es hätten niemals auch nur berühren dürfen. Und nun behandelten sie es wie einen ganz gewöhnlichen Gegenstand. Obwohl er für Jamie so viel mehr darstellte. So viel mehr. Viel zu viel. Armselig. Traurig. Eine Schande. Blicke, die sich trafen. Ein Wunder, dass Jamie Caris standhalten konnte. Wahrscheinlich machte dies der Alkohol. Ja, so musste es sein. "Wieso hast du mich das vorhin gefragt?" Jamie beobachtete nur die Bewegungen von Caris Lippen. Augen, Augen - wieso muss man sich immer in die Augen schauen? Wenn man verstehen will, muss man nur hören. Hören, sehen, egal, denn alles kann Lüge sein. Oder Wahrheit. Lüge oder Wahrheit. Oder beides zusammen. "Was gefragt?" Jamie konnte nicht mehr nachdenken. Zumindest nicht über gewisse Dinge. "Ob auch ein Mörder schön sein kann", half Cari ihm emotionslos auf die Sprünge. Nun wendete Jamie seinen Blick endgültig ab. Es wurde ihm zu viel. Augen, Augen, die zu viel sagen, und doch immer schweigen. "Weil Mörder ein Synonym für das Böse sind." Obwohl Jamie nicht hinschaute, meinte er Caris eindringlichen Blick auf sich zu spüren. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. Man weiß immer das, was man wissen will. "Und du meinst, du bist böse?" Kurzer Blickwechsel. Klick. Zu viel. Caris Gesicht, das sich auf Jamies Netzhaut gebrannt hat. Herausfordernd. Schockiert. Ja, schockiert. Es musste so sein. "Nur, weil du...so was hast?" Aus den Augenwinkeln sah Jamie, wie Cari sein Spielzeug in die Höhe hielt. Er fühlte sich wie zugeschnürt. "Böse sind die, die jemandem weh tun", erklärte der Sänger langsam und leise. Sehr, sehr leise. "Und ich möchte Dinge, die jemandem sehr weh tun würden." "Jamie." Mit einer zu großen Heftigkeit, die Jamie aufschrecken ließ, landete Caris Hand auf der Schulter seines Freundes. Wieder folgte der herausfordernde Blick, den nur der Schlagzeuger so perfekt draufhatte. Jamie wehrte sich vehement dagegen, ihn zu erwidern, aber da war etwas in den Augen seines Freundes, das ihn anzog wie das Licht die Motte. Etwas, das er nicht benennen und schon gar nicht erklären konnte. "Du machst dir so einen Kopf, nur weil du es schön findest, dich-" Ja, ja. Sprich es nur aus, das böse Wort. Denn das würde alles nur schlimmer machen. Denn Worte sind mächtiger als Gefühle aufgrund ihrer Rationalität. Manchmal. Jamie schnaubte. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. In ihm schwelten Worte, die an die Oberfläche zu dringen versuchten. Die aber nicht entkommen durften. Nicht aus seinem Mund. Nicht aus seinem Herzen. "Du weißt gar nichts. Nichts weißt du." Das war alles, was er herausbekam. Alles, was er sich erlaubte. Und Cari wich zurück. Mit solch einer Distanzierung hätte er nicht gerechnet. Einfach, weil er nichts wusste. Nicht den geringsten Schimmer hatte er von dem, wie es in Jamie gerade aussah. Überhaupt aussah. An jedem stinknormalen Tag. "Es wäre schön, wenn es nur das wäre." Jamie hatte sich wieder etwas gefangen. Einen kühlen Kopf zu bewahren brachte oft mehr, als seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Seine Blicke suchten zaghaft nach dem Schlagzeuger, huschten hastig über ihn hinweg, denn jegliches Mehr an Kontakt wäre zu viel gewesen. Zum Glück blieb auch Cari ganz ruhig. Ganz ruhig und besonnen. Er mochte nichts wissen, aber er mochte alles fühlen. Wahrscheinlich. Vielleicht. "Was ist es denn noch?", hakte er also einfühlsam nach. "Du benutzt ein Spielzeug, na und? Es erregt dich, nicht wahr? Diese Sache..." Wieder einmal stellte Jamie sich den Blick seines Freundes vor. Das, was er meinte, in ihm lesen zu können, in diesem verflixten Augenblick. Er sah ihn stets an, als würde er bis auf den Grund seiner Seele dringen können. Und dann glaubte Jamie, dass er es tatsächlich schaffte. Aber dem war nie so gewesen. Dem würde auch nie so sein... "Ja, verdammt", sprudelte das aus Jamie heraus, was wie ein Dämon auf seiner Leber gehockt hatte, bis zu diesem Tage. "Ich mag es. Ich mag es viel zu sehr...und es ist nie genug…" Zack. Und da verstand sein Freund es. Da wusste Jamie, dass Cari es auch wusste. Denn dieser hatte es ja bereits geahnt... "Okay." Cari nickte besonnen, wirkte, als würde er angestrengt einen Plan schmieden, mit seinem gesenkten Haupt und den auf die Tischplatte gerichteten Augen, die sich aber schon bald wieder auf Jamie heften sollten. "Soll ich dir was verraten?" Der Sänger zuckte die Schultern. Was blieb ihm auch noch anderes übrig? Jetzt würde nur noch alles an ihm vorbeiziehen, und er würde nicht mehr die Hauptrolle in seinem eigenen Film spielen. Denn das Drehbuch war umgeschrieben worden. Gerade eben, direkt vor seinen Augen. "Das Herz ist ein komischer Geselle", begann Cari zu sprechen, ganz in der überdreht tiefgründigen, melodramatischen Manier, die sich für einen Betrunkenen gehörte. "Denn das Herz ist ein fieses Egoschwein, ich weiß, ich weiß." Er nippte an seinem Bier, stellte danach den Krug entschlossen zurück auf den Tisch und musterte Jamie in aller Eindringlichkeit. "Aber das Herz", fuhr er betont weise klingend fort und machte große Augen, "das Herz ist immer nur bestrebt, das Beste für einen herauszupicken. Und manchmal, Jamie, manchmal ist es wichtig, ihm zuzuhören. Ihm zu folgen. Die Augen zu schließen und ihm zu folgen. Genau so." Jamie kamen diese Worte abstrus vor. Wenn er allerdings etwas länger über sie nachgedacht hätte, hätte er womöglich ein Körnchen Wahrheit in ihnen entdecken können. Wie man es in allen Worten tat, wenn man sie auseinander nahm. Besonders dann, wenn man ein paar Schnäpse intus hatte. Ein paar Schnäpse und ein Bier. Denn im Alkohol lag sie verborgen, die ganze, große Wahrheit.   "Schließ deine Augen, na los", forderte der Schlagzeuger plötzlich in unerwartet harschem Ton. Warum Jamie dieser Bitte auch noch nachkam, wusste er selbst nicht. Aber sein freier Wille zerstörte sich ohnehin zusehends. Er sah, wie er sich nach und nach verflüchtigte, auflöste in der Hitze dieser besonderen, merkwürdigen Nacht. In der Hitze, die von ihm selbst ausging. Von seinem heißen Herzen. Ein schönes Gesicht und ein fiebriges Herz...ein Herz, das lichterloh zu brennen begann, so wie es allmählich seinen Weg fand. So wie sich zwei Puzzleteile ineinander fügten. Heißer Atem und entflammte Seele. Geschlossene Augen und geöffnetes Herz. Herzen können nicht sehen, aber sie können hören. Sie verstehen eine Sprache, deren Klang zwischen den Worten mitschwingt. "Du willst Ernst machen, das ist es, wonach du dich sehnst." Caris Flüstern kroch feucht in Jamies Gehörgang, brachte einen hellen Ton im Bauch des Sängers zum Klingen. "Dein Spielzeug ist nur ein billiger Platzhalter für das Echte, das Richtige, das Schöne...du brauchst einen Mann, Jamie. So ist es doch. Oder? Einen Mann, der sich nimmt, was ihm zusteht, einen Mann, der die Hölle in deinem Körper explodieren lässt. Keine Frau könnte das so gut wie ein Kerl. Und deshalb geiferst du so verzweifelt danach. Hoffst, der Sünde nicht zu erliegen. Doch sie pocht längst im Takt deines Herzens. Seit dem Tag, an dem du es wolltest, pocht sie in seinem Takt. Und Jamie, es ist viel zu schön, um ihm entrinnen zu wollen. Vertrau mir..." Er wusste alles. Nun wusste er alles. Manchmal genügte das Anstoßen des ersten Dominosteines, um eine Kettenreaktion in Gang zu setzen. Alles wusste er, mehr noch, als es überhaupt zu wissen gab. Mehr als Jamie sich selbst je einzugestehen gewagt hatte. Ganz tief und zerrend machte sich nun die Erregung in seinem wehrlosen Körper breit. Caris Stimme schien ihn komplett auszufüllen, das Loch in seinem sehnsüchtig lechzenden Herzen zu stopfen. Ja, er war es. Er war der Richtige. Das hatte ihm sein Herz verraten. Es gab kein Zurück mehr. Jetzt nicht mehr. "Es erregt dich, wenn du dich selbst nimmst", folgerte der Schlagzeuger auf erstaunliche Weise vollkommen korrekt, so sehr, dass sich einmal mehr etwas in Jamies Seele auftat. "Und es erregt mich auch. Der Gedanke daran...der Gedanke daran, dass da etwas ist, um das du mich im Kopf regelrecht anflehst...etwas, von dem du weißt, dass ich es dir geben könnte..." Jegliche Objektivität existierte schon längst nicht mehr. Es ging nur noch um sie beide. Um Jamie und Cari. Und um das, was sie nicht mehr trennte. Was sie zusammenschweißte. Was sie vereinte. "Ich will dich, Jamie." Cari hatte dem eine Stimme gegeben, was Jamie bisher nicht einmal still zu formulieren gewagt hatte. Der Sänger hörte das Flehen, das sein Eigenes war, erkannte sich darin wieder. Es war das Spiegelbild, nach dem er sich viel zu lange verzehrt hatte. Badend in seinen überschwappenden Empfindungen wandte er sich seinem Freund zu, blinzelte ihn durch seine halb geschlossenen Lider an. "Ich bin ein Mörder", flüsterte er lieblich und packte dann Caris Hand.   Naked I stand naked before you Close your eyes and you'll see Exposed and delightful Take your best part of me   *   Die Weihnachtszeit war längst eingekehrt auf dem Stockholmer Bahnhof, wie man unschwer an der prächtigen Festdekoration und den prall gefüllten Regalen in den Läden erkennen konnte. Selbst um diese späte Uhrzeit herrschte noch Betrieb in den Gängen; Leute stürmten mit vollgepackten Einkaufstüten in die Geschäfte, die noch immer ihre Pforten für den Ansturm an Gästen geöffnet hielten. Züge verfrachteten im Minutentakt neue Menschen auf schwedischen Boden, die die Bahnsteige überfluteten und sich scheinbar allesamt unter die Shoppenden mischten. Lediglich Cari und Jamie waren ihrem Beispiel nicht gefolgt. Sie hatten andere Pläne, Pläne, die sie in die dritte Etage zu den Bahnsteigen führten, wo sich die Toilette befand, die man für einen kleinen Obolus nutzen konnte. Zu ihnen gehörten allerdings auch ein paar Duschkabinen, die dazu dienten, sich eine kleine Erfrischung nach einem anstrengenden Tag zu gönnen. Doch man konnte sie auch zweckentfremden. Ja, sie sollten den beiden Männern als armseliger Hotelersatz dienen, denn hundert Kronen für von der Außenwelt abgeschottete Wände zu bezahlten kam ihnen deutlich gelegener als ein halbes Vermögen für eine Nacht in einem Hotelzimmer auf den Tisch zu legen. Es war Caris Idee entsprungen, auf diese Alternative zurückzukommen. Und Jamie, der sich ohnehin längst in etwas fallen gelassen hatte, was ihn mit offenen Armen empfangen hatte, konnte nur noch daran denken, endlich das zu tun, was er hatte niemals tun wollen. Berauschte Sinne vermischten sich zunächst mit den grellen Lichtern, die den Einkäufern den Weg ebneten, bis sie schließlich in den Fluten zu ertrinken drohten, die über ihre Körper rannen. Seltsam war es, vor allen Dingen das. Aber es war das einzig Richtige, was Jamie tun konnte. Es war eines der vielen falschen Dinge, zu denen ein Mensch fähig war. Er konnte seiner Sünde nicht mehr widerstehen. Denn sie stand längst vor ihm, splitterfasernackt und genauso bereit wie er, das Vorhaben durchzuziehen. Den Mord an einem Herzen... Wieso dem Verstand noch länger zuhören, wenn er doch bereits im Sterben lag? Was interessieren uns die Toten? Sind die, die sich blühender Vitalität erfreuen, nicht viel bedeutender? Die, die mit der lautesten Stimme sprechen, werden beachtet. Nur die. Und mit jeder Berührung, die der Sänger erfuhr, mit jedem kleinen Wort, das gegen seine Haut gehaucht wurde und dort verkochte, sprach sie ein wenig lauter, seiner unüberhörbare Stimme. Drang schrill durch seine Knochen und riss an seinen Eingeweiden. Nur noch einen Wimpernschlag war er davon entfernt, sich dem Verderben in den Rachen zu werfen. Freiwillig. Weil das Verderben solch eine süße Stimme besaß. So süß und betörend. Zum Vergehen schön.   Nein, Jamie war nicht schwul, hätte sich nie vorstellen können, sich in einen Mann zu verlieben. Und diese Gewissheit verband ihn mit seinem Freund. Nein, Liebe würde auch dieser nie für einen Mann empfinden. Denn Liebe war rein und unschuldig, und das, was er gerade empfand, kam diesen lichten, lieblichen Gefühlen kein bisschen gleich. Wie auch, wenn auch Jamie so schön war wie die Sünde und sich gegen ihn drängte, hilflos in seiner Lust, angewiesen auf seine Führung? Was für eine Medizin sollte gegen das unstillbare Verlangen helfen, wenn sie doch niemand einnehmen würde? Cari zumindest wollte nicht geheilt werden. Nicht davon. Nicht von seiner Fähigkeit, all die kleinen Dinge zu schätzen, die dem Großen, Ganzen Perfektion verliehen. Jeder Seufzer, der über Jamies Lippen rollte, jeder Kuss und jedes krampfhafte Winden kam für ihn einer Aufforderung gleich, ihm mehr zu geben. Ihm alles zu geben, nach was er sich sehnte. Jetzt, wo er wusste, was es war.   "Jamie..." Seine Stimme war geschmeidig wie Seide, drang schmeichelnd in den Gehörgang seines Freundes ein, während er ihn umfangen hielt. "Jamie, was ist das?" Er sah, wie der Sänger langsam seine Augen öffnete und mit verklärtem Blicken seiner Hand folgte, die sich behutsam zwischen seine Beine schlich und dort sein bestes Stück packte. "Was ist das?", hakte er noch einmal nach. "Dein Glücklichmacher, mh? Willst du spüren, wie er dich in den Wahnsinn treibt?" Jamies entrückter, ja leicht benommener Ausdruck in den Augen war Antwort genug. Seine Stimme versagte ihm längst jeglichen Dienst, es ging nicht mehr länger. Bereitwillig ließ er zu, dass sein Freund ihm zwei, drei Finger in den Mund steckte, die er großzügig einzuspeicheln hatte, bis sie trieften und bereit waren, sein Innerstes zu durchbrechen. Als Vorgeschmack auf das, was kommen sollte. Was tief, tief in ihm kommen sollte. Er nahm war, wie er brutal herumgerissen wurde, wie seine Brust hart auf die kalten Wandfliesen traf und er um Atem rang, verzweifelt keuchte und noch ungestümer Luft holte, so wie eine kräftige Hand seinen Haarschopf packte und seinen Kopf nach hinten zog. Das alles, das war viel zu perfekt, um richtig zu sein. Das alles war viel zu abgründig, um gutgeheißen werden zu können. Jeder einzelne Klaps auf seinen Arsch hatte ein Brennen zur Folge, ein Brennen, das ihn allerdings auch nicht mehr aus seiner Ekstase zu wecken vermochte. Erst als er es spüren konnte, wie es sich gnadenlos in ihn drängte und freudig in ihm zu zucken begann, riss er die Augen auf und besann sich auf das, was gerade mit ihm geschah. Dass es sein bester Freund war, der drauf und dran war, sich an ihm zu vergehen, an seinem erbärmlichen Körper, genau so, wie er es gewollt hatte. Nicht gewollt, aber gemusst hatte. Immer wieder prallte er gegen die Wand, schlug sich den Kiefer ein, aber keine dieser Widrigkeiten konnte ihn noch bremsen. Schmerzen, Scham, Schande, das ging unter in der diabolisch schönen Euphorie, der er sich nicht mehr entziehen konnte. "Schwuchtel", schimpfte Cari ihn, während er ihn ritt, während er ihn zwang, sich zu bücken, ihm seine harte Hand ins Kreuz presste und dafür sorgte, dass Jamie die Position einnahm, die er für ihn vorgesehen hatte. Im Moment war es nicht mehr sein bester Freund, der da japste und winselte wie ein getretener Hund. Im Moment war er nicht mehr als sein Objekt der Lust, der Arsch, an dem er sich abreagieren konnte. Der Arsch, der danach lechzte, dass sich an ihm abreagiert wurde. Schon bald legten sich die Finger, die Jamie zuvor gezüchtigt hatten, auf seinen Mund, erschwerten ihm das Atmen, doch das trieb seine Lust nur in noch höhere Sphären. Stoß um Stoß folgte, sein Körper bewegte sich unwillkürlich vor und zurück, sein nasses Haar klebte an seinen Wangen, seiner Stirn, seiner Nase. Doch das alles zählte nicht. Nicht jetzt. Der Dämon tobte in ihm, der Dämon feierte seinen Triumph. Er hatte seine Seele, er hatte seinen Körper. Schreien ließ er ihn, erstickt schreien gegen diese grausame Hand, die ihn davon abhielt, den ganzen Bahnhof rebellisch zu machen. Und schließlich befreite er ihn von den eisernen Ketten, die er ihm angelegt hatte. Irgendwann wurde alles ganz leicht. Irgendwann verlor er sich im Delirium. Irgendwann war alles vorbei. Irgendwann wusch das Wasser die Spuren seiner Lust von den Fliesen, bis es so schien, als wäre das alles nie vorgefallen. Als wäre das nicht real, sondern nur ein weiterer Traum. Aber in seinen Träumen sprachen alle handelnden Charaktere mit seiner eigenen Stimme. Und nur man selbst besitzt die Macht über das Geschehen. In der Wirklichkeit aber konnte man sich verlieren. Verlieren in etwas, das einen bisher unerforschten Fleck auf der Landkarte seines Lebens darstellte. Einen großen, schwarzen Fleck, der einen verschlingt, wenn man sich weigert, sich selbst zu heilen.   Es war vorbei. Und doch war es das nicht. Hunderte von Bild- und Gefühlsfetzen rasten durch Jamies Gedanken, alle auf einmal, alle zur gleichen Zeit, nahmen ihn so von sich ein, dass er nur wie durch einen dunstigen Schleier hörte, dass ein Donnern den Raum erfüllte. Nein, keines im Raum. Eines an der Tür. "Polizei hier, ist alles in Ordnung?", rief eine ebenso kräftige Männerstimme, die Jamie endgültig aus seiner Trance riss. Schnell tauschte er Blicke mit seinem Freund, der sich ein breites Grinsen nicht verkneifen konnte. "Wir Verbrecher", wisperte dieser voll Ironie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)