Crystal Riders II von Rainblue (Reminiscence) ================================================================================ Kapitel 9: Herz aus Gold ------------------------ Jet – Herz aus Gold Two Steps from Hell – Color the Sky Der Geruch des Reisweins hatte sich wie ein schweres, vollgesogenes Tuch über die Atmosphäre gelegt und die Gesichter der Schüler, die an den Tischen ringsum saßen, sprachen Bände. Prozentual gesehen, waren vielleicht gerade mal zwei bis drei der Anwesenden stocknüchtern geblieben und davon war einer – aus Sicherheitsgründen – schon mal Granite. Und wer nicht noch immer dabei war, den Suff auszuschlafen, hatte sich für Nahrungszufuhr entschieden. Als ich den Saal durchschritt, kam wieder eine ungeahnte Flut von Leben in die Massen, beziehungsweise in den Teil, der nicht mit halb geschlossenen Augen auf der Tischplatte hing und das rief mir wieder ins Gedächtnis, dass ich noch immer ein weißes T-Shirt trug. Kein Wunder, dass ich mich immer mit schwarz begnügt hatte – damit fiel man nämlich weit weniger auf. Ich erspähte Moon, die mit angezogenen Knien auf zwei zusammengerückten Stühlen saß und Mandarinen schälte. Vor ihr hatte sich schon ein kleines Gebirge aus oranger Schale gebildet, trotzdem machte sie hartnäckig weiter und investierte scheinbar all ihre Konzentration dafür. Der Grund war ebenso offensichtlich – Amber saß ihr gegenüber und warf immer wieder verstohlene Blicke in ihre Richtung. Aber eine Unterhaltung war nicht im Gange. Ich lenkte meine Schritte gerade in ihre Richtung, als mir jemand von rechts vor die Füße stolperte, erschrocken aufschrie und einen Satz zurückmachte. „Entschuldigung!“, haspelte das Mädchen und dann gleißte ein polarblaues Augenpaar mit jenem unverkennbaren Perlmuttschimmer vor mir auf. Allerdings kam mir ihr Gesicht nicht ansatzweise bekannt vor – und was das anging, hatte ich ein mehr als zuverlässiges Gedächtnis. „Bist du neu?“, fragte ich, während sie sich hektisch umsah, als hielte sie nach etwas Ausschau. „Öhm, ja“, erwiderte sie mit einem zerstreuten Lächeln. „Ich bin… äh… Maia! Das war’s, genau. Maia ‚Pearl‘. Und du?“ „Jetstone. Aber nenn mich ruhig Jet… kann ich dir vielleicht helfen?“, fügte ich hinzu, als sie sich erneut um die eigene Achse drehte und dabei nervös auf der Unterlippe herumkaute. Sie wirbelte herum und strahlte auf einmal übers ganze Gesicht, als hätte ich ihr eine Offenbarung verkündet. „Halt mal, du bist Jetstone?“, fuhr sie eindringlich fort und ich nickte etwas irritiert. „Die Direktorin hat zu uns gesagt, dass wir uns an dich wenden sollen, wenn es Probleme gibt und ehrlich gesagt… gibt es gerade ein ziemlich großes.“ „Das da wäre?“ Sie warf sich das lange rote Haar über die Schultern und atmete tief durch, bevor sie anfing. „Ich und meine Freundin Na… äh, ich meine, Opal, wurden erst kürzlich zu Crystal Ridern und darum ist es noch schwer für uns, unsere Gaben zu kontrollieren. Und jetzt hab ich sie aus den Augen verloren!“ Damit raufte sie sich die Haare, vollführte eine weitere Drehung, um den Saal abzusuchen und schniefte leicht. „Und dabei hab ich ihr gesagt, sie soll aufpassen!“ „Was für eine Gabe hat sie denn?“, hakte ich, die Stirn krausend, nach, denn es machte den Eindruck, dass das die Wurzel allen Übels darstellte. „Sie kann sich unsichtbar machen“, seufzte Maia. „Und hat sich derzeitig wahrscheinlich verlaufen. Wer soll sich in so einem Monstrum von Gebäude auch zurechtfinden?!“ „Beruhige dich“, meinte ich sanft. „Ich werde nach ihr suchen und sie hierher zurückbringen.“ „Das würdest du tun?“, fragte sie hoffnungsvoll, doch ihre Brauen verzogen sich skeptisch. „Aber wie willst du jemanden finden, der gar nicht sichtbar ist?“ „Überlass das nur mir.“ Was blinde Orientierung anging, stand mir hier eigentlich niemand nach. Sie schien nicht ganz überzeugt, nickte aber und ich beugte mich ein wenig zu ihr, dann wies ich auf den Tisch, wo Moon und Amber noch immer in trautem Schweigen saßen. Eureka seven OST 1 // Forbidden Fruit „Siehst du das Mädchen mit den blonden Haaren und den Jungen ihr gegenüber?“ „Der, der so bedeppert dreinschaut?“, hakte sie nach und ich musste grinsen. „Ganz genau der. Geh bitte zu ihnen und setz sie ins Bild, weil sie eigentlich auf mich warten. Ich komme dann zusammen mit deiner Freundin dorthin.“ „Wer sind die beiden? Nur dass ich nicht aus Versehen was Falsches sage.“ Ich schürzte die Lippen und bedachte sie mit einem ernsten Blick, damit sie das Folgende auch wirklich verstand. „Mit dem Mädchen, Moon, wirst du gut auskommen, aber bei Amber solltest du darauf achten, keine Sprichwörter in den Mund zu nehmen.“ „Wieso das denn?“ „Seine Gabe setzt sie in die Tat um.“ „Oh.“ „Ich werde nicht lange brauchen, das verspreche ich dir.“ „Danke, Jet!“ Damit wollte sie sich abwenden und auf Moon und Amber zulaufen, aber ich hielt sie noch einmal am Arm zurück, weil mir eben etwas an ihr aufgefallen war. „Würdest du mir noch eine Sache verraten, bevor ich gehe?“ „Aber natürlich doch!“, lächelte sie und schon war ich mir sicher, richtig gesehen zu haben. „Was hast du für eine Gabe?“ Baten Kaitos OST – Bellflower Als ich nacheinander die Korridore ablief und dabei hin und wieder stockbesoffenen Schülern ausweichen musste, hüllte mich ein eigenartig vertrautes Gefühl ein. Es war diese Art von Déjà-vu, von der man genau wusste, dass sie tatsächlich stattgefunden hatte, aber die Erinnerungen waren so tief ins Vergessen gefallen, dass sie auch etwas Neues, Ungekanntes hatte. Diese Situation hatte ich im entferntesten Sinne ähnlich schon einmal erlebt. Es mochte jetzt knapp drei Jahre her sein, damals trug ich noch kein Entschärfungssymbol und hatte gerade erst angefangen, als Nachtwächter tätig zu sein. Und wenige Monate später, mit dem Entschärfungssymbol, dann auch als Aushilfslehrer. Die Schüler hatten zu Beginn dagegen protestiert, sich von mir unterrichten zu lassen – verständlicherweise – aber Jade hatte hartnäckig darauf gepocht und ihnen sogar mehrere Vorträge gehalten. Alledem zum Trotz, war ich stets mit einer Augenbinde zu den Kursen erschienen, wenn ich nicht gerade nur daneben gestanden und den Schülern ihre Anweisungen gegeben hatte. Es kam bis heute nur selten vor, dass ich mich persönlich auf einen Direktkampf einließ und wenn doch, dann eben nur mit verbundenen Augen. Jener Tag, der mir jetzt durch den Kopf ging, war im Sommer gewesen. Es war ebenfalls ein Feiertag gewesen, die Flure voll von herumalbernen Schülern und der Geruch von Alkohol in der Luft – die 4095. Sonnenwende. Und an diesem Tag, war ich einer bestimmten Person zum ersten Mal begegnet… „Heute ist ein Feiertag, Jet“, sagt Jade kopfschüttelnd und lächelt, „anders als in den Ferien findet heute wirklich überhaupt kein Unterricht statt. Wann geht dir das endlich in den Kopf?“ „Gibt es keine Aufgabe, die ich erledigen kann?“, halte ich stur dagegen und verlagere das Gewicht. Es ist brütend heiß und ich fühle mich in den legeren Klamotten unwohl, die Uniform wäre mir lieber. „Irgendwas…“ „Nun…“ Sie zieht nachdenklich die Stirn in Falten, während ihre Augen den Raum absuchen, als läge die Antwort irgendwo herum. Es ist mir selbst unangenehm, ihr so oft auf der Tasche zu liegen und darauf zu bestehen, dauerhaft beschäftigt gehalten zu werden. Schließlich seufzt sie. „Möchtest du dich nicht einfach mal einen Tag lang erholen und Spaß haben? Es würde dir guttun.“ Ich senke den Blick, lege eine Hand in den Nacken und fühle, wie die roten Spitzen über meine Haut kitzeln. „Es tut mir leid“, fällt Jade sofort ein. Sie geht um den Tisch herum und drückt meine Schulter. „Ich habe nicht nachgedacht, bevor ich gesprochen habe.“ „Schon okay“, erwidere ich kurz angebunden. Sie streichelt tröstend über meinen Rücken, als ihr plötzlich ein Gedanke zu kommen scheint. „Es gibt vielleicht doch etwas, das du für mich tun könntest.“ Langsam schaue ich wieder zu ihr auf. „Fayalite hat mir zwar versichert, dass sie zurechtkommen, aber wenn es ums Essen geht, kann eigentlich jede Hand gebraucht werden – dort wirst du bestimmt aushelfen können.“ Sie lächelt mir ermunternd zu und ich nicke, versuche ebenfalls ein Lächeln, doch es missglückt reichlich. Ich wünschte, es wäre anders, wünschte, ich könnte es Jade und allgemein jedem leichter machen, mit mir umzugehen. Aber ich weiß nicht, wie. „In Ordnung.“ Linkin Park – Lost in the Echo Auf dem Weg zur Mensa, kommen mir nur wenige Schüler entgegen. Die meisten sind noch draußen im Park und feiern die Sonnenwende, die zweimal im Jahr stattfindet. Diese Feiertage sind vor einigen Jahren sozusagen wieder „in Mode gekommen“ – ebenso wie die altertümliche Ansprache, mit der ich aufgewachsen bin. Wenn es nach der Gesellschaft ginge, wäre die Tagundnachtgleiche sicherlich auch schon zum Feiertag erklärt worden, aber bislang ist es bei den Sonnenwenden geblieben. Mir ist das gleich. Ich war noch nie ein Fan von Festen. Meinetwegen hätte das ganze Jahr über niemals Anlass zum Feiern bestehen müssen. Während mir das durch den Kopf geht, erreiche ich die Tür zur Mensa, aus der Stimmgewirr, Geschirrklappern und Gelächter dringt. Es dauert noch gut eine halbe Stunde bis zum Mittagessen, aber die ersten scheinen schon zu lauern. „Kannst du nicht aufpassen?!“, höre ich jemanden unvermittelt brüllen und schiebe mich durch die halb offen stehende Tür in den Saal. Verwirrt lasse ich den Blick umherwandern, bis ich eine Gruppe von Schülern entdecke, die sich um einen blonden Jungen geschart hat. Das an sich mag kein ungewöhnliches Bild sein – was auffällig ist, sind die vielen Hühner, die aufgeregt um die Traube herumspringen und Körner aufpicken. „Das war nicht meine Schuld“, verteidigt sich der Junge mit erhobenen Händen und weicht einen Schritt zurück. „Also komm runter.“ Kaum hat er das gesagt, fällt der Rider vor ihm auf die Knie und blickt irritiert drein. „Huch! Ähm, das war keine Absicht, ehrlich…“ Aber ein anderer aus der Gruppe hat ihn bereits am Kragen gepackt und schubst ihn grob gegen einen der Tische. „Wie kann man seine Gabe nur so schlecht unter Kontrolle haben?“, herrscht der, der eben zu Boden ging, ihn an und erhebt sich stockend, als klebe er noch halb fest. „Kommt schon, das war ein Unfall“, versucht der Junge zu widersprechen, reibt sich die schmerzende Seite, die gegen die Tischkante geknallt ist und reckt das Kinn. Er hat Angst. Panische Angst. Als ich das erkenne, setze ich mich ohne Umschweife in Bewegung. „Ich versuche wirklich alles, um still zu sein, aber wenn ihr etwas sagt, das die Gabe aktiviert, dann kann ich nichts dafür…“ „Von wegen“, schnaubt ein anderer und verpasst dem Jungen noch einen Stoß, der ihn zu Boden wirft. „Wenn du dich besser zusammenreißen könntest, dann würden diese ganzen Sachen gar nicht erst passieren!“ „Bitte, es tut mir Leid…“, setzt er an und schützt sein Gesicht, denn der Kerl holt zum Tritt aus. Bevor er ihn jedoch treffen kann, greife ich nach seinem Arm und ziehe ihn ihm unsanft auf den Rücken. Er schreit auf und winselt, aber bevor ich ihn wieder loslasse, verpasse ich ihm einen leichten Stoß in die Kniekehlen, wodurch er das Gleichgewicht verliert. „Wer zum Teufel…!“, fängt er an, aber als er sich auf dem Boden herumgekämpft hat und mich sieht, verstummt es. Seine Augen werden rund und glasig, dann kommt er ungelenk auf die Beine und weicht zurück. „Weg hier!“, zischt einer der anderen. Sie nicken hastig und räumen wie eine Herde von Fluchttieren das Feld. Wie so oft. Niemand würde lange fackeln, wenn er dem Tod gegenübersteht. „Alter“, kommt es erstaunt von hinten, aber ich drehe mich nicht um. „Denen hast du aber gezeigt, wo der Hammer hängt.“ Da die Gruppe noch in Sichtweite ist, kann ich beobachten, wie sie noch einmal kurz stehen bleiben und einen Punkt an der Wand anstarren. Und obwohl ich mir sicher bin, dass das vorher noch nicht der Fall war, hängt dort ein Hammer. Ich runzele die Stirn, aber die Jungs wirbeln nur noch einmal kurz herum, um den Blonden hinter mir mit bösen Blicken zu strafen, dann nehmen sie die Beine in die Hand und verschwinden durch eine der Türen. Der Junge lacht und ich werfe ihm einen Blick über die Schulter zu, wobei ich ganz kurz seine Augen streife. Sie sind auffällig farbintensiv. Ein rötliches Braun mit einem durchsichtigen Schimmer so wie bei Jade. Was für ein Edelstein könnte das sein? „Danke vielmals“, meint er, kommt auf die Beine und reicht mir die Hand. „Ich bin Le… äh, Amber, mein ich. Und du?“ Amber… der Bernstein. Etwas in mir zuckt auf. Richtig, Jade hat mir mal erzählt, dass Gagat früher irrtümlich als schwarzer Bernstein bezeichnet wurde, weil davon ausgegangen worden war, dass er auf eine ähnliche Weise entsteht. Final Fantasy XIII OST – Sazh’s Theme „Jetstone“, murmele ich, wende mich ab und will davongehen, aber Amber kommt um mich herumgelaufen und hält mich auf. „Hey, warte mal… Jet…stone… kann ich auch einfach nur Jet sagen?“ Ich verziehe nur leicht die Brauen und das bringt ihn merkwürdigerweise zum Lachen. „Ich meine, das hat doch schon was Skurriles, jemanden pausenlos mit ‚Stein‘ anzusprechen, oder?“ „Ähm…“, mache ich nur, ohne es gewollt zu haben. Amber versucht, meinen Blick aufzufangen, so energisch, dass ich mich zur Seite drehen muss. „Du musst ganz schön was auf dem Kasten haben, wenn die so vor dir buckeln, oder?“ Irritiert zucke ich zurück, als in meiner Hand wie aus dem Nichts ein Holzkästchen erscheint, in das eine Liste eingeritzt ist – ich erkenne Wörter wie „schwarzer Gürtel“ oder „Fortgeschrittener Stabkämpfer“. Aber es vergeht kaum ein Herzschlag, da löst es sich schon wieder auf. „Oh, sorry“, kichert Amber, kratzt sich verlegen am Kopf und deutet auf seine Brust. „Das ist gar nicht so einfach. Einem fällt erst auf, wie viele Sprichwörter man so nebenbei benutzt, wenn sie urplötzlich alle Realität werden.“ „Sprichwörter…?“, wiederhole ich argwöhnisch und schließe langsam die Finger der Hand, in der eben noch das Kästchen lag. „Das ist meine Gabe.“ Er schiebt die Unterlippe vor und schaut sich um. „Wenn ich etwas sage… das ein Bild hervorruft – ich glaube, so hat die Direktorin mir das erklärt – dann wird das auf kurz oder lang Wirklichkeit.“ Da scheint ihm etwas einzufallen und er kommt noch einen Schritt auf mich zu; ich gehe in Wechselwirkung einen zurück. „Hey, ob du mir vielleicht bei etwas helfen könntest, Jet?“ Ich muss mich ungewollt räuspern. „Hör zu, du solltest dich wirklich nicht mit mir abgeben“, sage ich leise und mache auf dem Absatz Kehrt, aber ohne die Rechnung mit Ambers Hartnäckigkeit gemacht zu haben. „Keine Bewegung!“, ruft er und imitiert dabei so gut er kann die befehlshaberische Stimme eines Polizisten aus irgendeinem Agentenfilm. Und dann spüre ich, wie mein ganzer Körper steif wird, kein Muskel gehorcht mehr und ich unterdrücke mit größter Mühe ein Stöhnen. „Wuah! Es hat funktioniert“, jubelt Amber und kommt um mich herumgesprungen. Ich atme tief durch und lege so viel Eindringlichkeit, wie ich aufbringen kann in meinen Ton. „Ich meine es ernst. Wenn dir dein Leben lieb ist, dann halt dich von mir fern.“ Die Wirkung seines Sprichwortes lässt nach, aber ich mache denselben Fehler nicht nochmal, sondern bleibe vorerst stehen. Amber stemmt grinsend die Hände in die Hüften. „Ach, komm, so bedrohlich siehst du nun auch wieder nicht aus. Aber jetzt mal Spaß beiseite…“ Er hält inne, als etwas, das entfernt an einen Fußball erinnert, zwischen uns hindurchrollt und wir synchron dabei zusehen, wie es in der Ferne verschwindet. Wenn mich nicht alles täuscht, stand „Spaß“ darauf geschrieben. Ich hebe impulsiv eine Braue und Amber zuckt kurzum die Schultern. „Jedenfalls… ich bin heute erst hier angekommen und hab was erfahren. Ich muss wirklich, wirklich ganz dringend das Internat verlassen – aber sie lassen mich nicht!“ John Dreamer – True Strength „Da kann ich nichts machen“, entgegne ich knapp. Allmählich wird mir das hier zu bunt. Noch nie hat sich jemand so furchtlos und entspannt mit mir unterhalten, Jade einmal außer Acht gelassen. Entweder fehlen diesem Amber ein paar wichtige Gehirnwindungen oder er ist noch nicht mit den übrigen Schülern ins Gespräch gekommen. Die Neulinge vor mir zu warnen ist nämlich offen gestanden eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. „Bitte, kannst du nicht versuchen, mich irgendwie rauszuschleusen? Es geht hier um… eine mir sehr wichtige Person…“ Bei den letzten Worten wird sein Tonfall unerwartet verletzlich und ich muss schlucken, denn da ist etwas an ihm, das ich von mir selbst kenne. Auch wenn ich bis zu diesem Zeitpunkt nichts davon wusste. „Es tut mir leid, aber ich kann dir wirklich nicht helfen.“ Ich bin seit kurzem Nachtwache, wenn das rauskäme, bin ich das Abzeichen schneller wieder los, als es gekommen ist. „Aber“, fährt er dennoch fort, „ich glaube, sie ist in Gefahr. Ich muss etwas unternehmen, verstehst du das nicht?“ Seine Iris lodert auf. „Hast du nicht auch jemanden, den du um alles in Welt beschützen willst?!“ Es fühlt sich an, als würde ich das Gleichgewicht verlieren, obwohl meine Beine nicht einknicken und der Boden sich nicht bewegt. Es ist innerlich – ich breche im Innern in mich zusammen wie ein Kartenhaus. Und weiß daher selbst nicht, wie es mir gelingt, ihm zu antworten. „…nein. So jemanden habe ich nicht.“ Das scheint ihn zu verdutzen, aber anstatt eine Mitleidsmiene aufzusetzen und mich von hier auf jetzt wie Porzellan zu behandeln, so wie alle, die etwas mehr über mich wissen, es tun, schlägt er mir beschwingt auf die Schulter. „Das sollten wir aber ändern, Kleiner.“ „Ich bin größer als du“, versetze ich auf dem Fuß und sein Grinsen weitet sich wieder aus. Allmählich fange ich an zu glauben, er wäre schon damit geboren worden. „So leise wie du gehst, ist das aber schwer zu glauben. Man könnte dich mit einem Schatten verwechseln!“ Ich schiebe eine Braue hoch. „…danke?“ „Also, hilfst du mir jetzt oder nicht?“, kommt er aufs eigentliche Gesprächsthema zurück und verschränkt auf eine recht eigenwillige Art die Arme vor der Brust. Ich hole Luft und will ihn gerade erneut abwimmeln, als mir auffällt, dass seine Knie zittern. Er kämpft es gut zurück, sodass es jemandem mit weniger aufmerksamen Augen womöglich nicht aufgefallen wäre, aber mich kann er nicht täuschen. „Ich muss den Verstand verloren haben…“, nuschele ich unter zusammengepressten Zähnen hervor. „Also gut, ich tu, was ich kann“, wende ich mich laut wieder an Amber. Sein ganzes Gesicht scheint aufzublühen, die Augen glänzen grell über und dann breitet er überschwänglich die Arme aus. „Oh mein Gott, danke! Danke, Jet! Ich könnte dich knutschen!“ Ich reagiere verzögert, weil sich das Wirken seiner Gabe noch nicht zu hundert Prozent in meinem Gedächtnis festgesetzt hat, aber als er meinen persönlichen Schutzring durchbricht, schlage ich reflexartig zu. Smash Mouth - All Star „Autsch!“, grummelt Amber und reibt sich die gerötete Wange. „Heiliger Strohsack, du machst wohl keine halbe Sachen, was?“ Erschrocken fahre ich zusammen, als neben mir wie aus dem Nichts ein Sack erscheint, aus dem einzelne Strohhalme hervorragen. Darüber hinaus leuchtet er und ich bilde mir sogar ein, in der Ferne Sakralgesänge zu vernehmen. Aber im nächsten Atemzug ist er schon wieder verschwunden. „Ich werde mich dafür jetzt nicht entschuldigen“, meine ich knapp. Amber kichert nur, verzieht aber erneut das Gesicht, als die Bewegung sich bemerkbar macht. Wie auf die Sekunde genau, ertönt die Glocke, die das Mittagessen ankündigt und die ersten Schüler erscheinen an den Türen und strömen in die Mensa. „Jetzt ist deine Gelegenheit“, erkläre ich, während ich voraus zu einem der Hintereingänge gehe. „Wenn alle in der Mensa sind, hast du gute Chancen, ungesehen rauszukommen. Hier lang.“ Ich führe ihn durch eine Zahl von Korridoren, bis ich bei jener Abzweigung angelange, die mir derzeitig am passabelsten als Fluchtweg erscheint. „Wo sind wir hier?“, murmelt Amber hinter mir und stößt sich prompt den Kopf an einer der filigran verzierten Laternen, die in gleichmäßigen Abständen von den Wänden baumeln. „Ästhetik“, nicke ich auf das Schild, das auf der Tür in einigen Metern Entfernung prangt. „Sowie das Hauptklassenzimmer der Perlen.“ „Perlen?“, fragt Amber nervös nach, schüttelt sich und verzieht den Mund. „Eine von denen hat mir ihren Kaffee ins Gesicht geschüttet, weil meine Gabe sie in einen Hasen verwandelt hat. Warum musste sie auch sagen: ‚Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts‘?“ Ich werfe ihm einen zweifelhaften Schulterblick zu. „Was denn?“ „Auf jeden Fall“, räume ich schleunigst ein und weise mit dem Finger auf eine Tür neben dem Ästhetik-Raum, „dort befindet sich ein kleiner Lagerraum für die Bastelsachen. Wenn du das Regel mit den Pinseln erreicht hast, verschiebe das links daneben liegende ein Stück – dahinter findest du eine Tür, die dich in einen Geheimgang schickt, der früher oder später in die Kanalisation mündet. Geh immer weiter, du wirst irgendwann in einem Waldstück herauskommen, das unweit der Flatbush Avenue liegt. Von dort aus müsstest du dich orientieren können. Oh und…“ Ich greife in die Tasche und hole eins der flachen Päckchen heraus, Amber nimmt es ratlos entgegen. „Setz sie ein“, ordne ich leise an. Er schaut mit großen Augen von den Kontaktlinsen zu mir und wieder zurück. „Jetzt.“ Da gehorcht er und seine Augen werden infolge des Schilds leicht gräulich. Die Linsen drängen den Kristallglanz so stark zurück, dass sie manchmal gerade durch die enorme Abblendung unnatürlich wirken. Dennoch ist es deutlich unauffälliger als das Leuchten. „Und lass dich bloß nicht erwischen, verstanden?“ „Aye, Sir!“, lacht er und salutiert sogar, doch dann bröckelt ihm das Lächeln unvermittelt von den Lippen. „Sekunde… Du willst, dass ich mich DA vorbeischleiche?! Das kann nicht dein Ernst sein! Dafür müsste ich mich in Luft auflösen!“ Und schon ist Amber restlos verschwunden. „Wah! Jet, Hilfe, wo bin ich?! Ich kann mich nicht sehen – jetzt tu doch was! Aua!“ Es scheppert und ich verziehe unwillkürlich das Gesicht, denn es klingt schmervoll. Eine der Laternen löst sich und will auf dem Boden zerspringen, aber ich kann sie in letzter Sekunde auffangen. „Oh nein, das darf doch nicht…! Ich glaub, ich spür meine Beine nicht mehr! Jet, ich spür meine verfluchten Beine nicht!!!“ „Beruhige dich.“ Kopfschüttelnd hänge ich die Laterne an ihren angestammten Platz zurück, als Amber wieder sichtbar wird und so durchdringend aufatmet, dass sein Brustkorb den Eindruck erweckt, gleich zu platzen. „Alter, das Sprichwort werde ich aber so was von von meiner Liste streichen!“ „Bist du dann soweit?“ „Ich war niemals bereiter!“, zischt er kämpferisch. „Gut, ich kann dir zehn Minuten lang den Rücken freihalten – kriegst du das hin?“ „Darauf kannst du Gif…“ Glücklicherweise sind meine Reflexe schnell genug, sodass ich ihm den Mund zuhalten kann, bevor er es ausspricht. „Ups, he, he…“ Auf einmal habe ich ein ganz mieses Gefühl bei der Sache – denn mit so einer Gabe wird es schwer werden, sich unbemerkt durch die Stadt zu schleichen. Ja. Ich muss komplett verrückt geworden sein… „Kann’s losgehen?“, grinst er. Ich seufze so tief, dass es als eigenständiges Wort durchgehen könnte, nicke aber trotzdem und gehe langsam voraus zum Ästhetik-Raum. Aquaria OST - The Light Die Erinnerungen hatten mich so gefangen genommen, dass ich einen Moment brauchte, um zu realisieren, wohin meine Schritte mich getragen hatten. Ich war wie üblich meinen Instinkten gefolgt und wurde ein weiteres Mal darin bestätigt, dass sie nicht fehlschlugen, denn die Laterne, die auf dem Boden stand, sprach eine deutliche Sprache. Das Teelicht in ihr war entzündend und wellte sich spielerisch im leichten Wind. „Opal…?“, sagte ich in die Stille und trat vorsichtigen Schrittes auf die Laterne zu. Es raschelte und ich spürte, wie ein Blick auf mich fiel, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. „Wer ist da?“, erklang eine zaghafte Stimme, dann musste sie aufgestanden sein, denn leise Absätze klirrten auf dem Marmor. „Ich heiße Jetstone. Deine Freundin Maia hat mich gebeten, nach dir zu suchen.“ Es kam keine Antwort und ich runzelte die Stirn. „Geht es dir nicht gut?“ „Ich… kann es nicht mehr abstellen“, flüsterte sie. Das Klappern ihrer Absätze kam zögerlich näher. „Ich kann nicht wieder sichtbar werden…“ Ganz kurz sah ich ihre Iris aufflackern, als die Wirkung der Gabe einen Millimeter von ihr abblätterte. Das Blau war irisierend und paillettenhaft, fast wie ein winziges Mosaik. „Wieso habe ich ausgerechnet so eine Gabe bekommen? Ich hab das Gefühl, nicht ich lenke sie, sondern sie lenkt mich!“ „Da hast du den Kern getroffen“, fiel ich ein und lehnte mich halb gegen die Wand, damit sie sich nicht gestellt vorkam. „Der Kristallvirus konfrontiert uns mit unseren Schwächen – und zeigt uns, dass sie das eigentlich nicht sind.“ „Das ergibt keinen Sinn“, murmelte sie und ich konnte mir ihren Gesichtsausdruck bildlich vorstellen, obwohl ich noch nicht mal wusste, wie ihr Gesicht eigentlich aussah. Ich stieß ein schnaubendes Lachen aus. „Das dachte ich auch lange Zeit, jeder tat es. Aber die Sache ist so; wahre Kraft liegt im Verborgenen. Die Stärke, der du dir nicht bewusst bist. Der Virus macht uns unsterblich, friert uns in der Zeit ein und schafft damit die Umstände, die es braucht, um bei Entfesselung am Leben zu bleiben.“ Plötzlich hatte ich Crystals Gesicht vor Augen, ihre so echten Tränen und die vielen verschiedenen Gefühle in ihrem Blick. Heulsuse hatte sie sich genannt, schwach und überempfindlich – so lange hatte man ihr eingeredet, dass es etwas Schlechtes war, bis sie es selbst geglaubt hatte. Dabei war das nicht mehr und nicht weniger als eine wundersame Fähigkeit. Das gleiche war es auch bei Amber gewesen. Bei jedem auf diesem Internat. Nur… bei mir… „Wenn du das so sagst, klingt es so logisch“, holte mich Opals Stimme wieder aus den Gedanken. „Aber was für eine Schwäche war es bei mir, dass ich mich damit jetzt unsichtbar machen kann?“ „Hast du dir schon mal gewünscht, dich einfach in Luft auflösen zu können?“, fragte ich ruhig und musste sie nicht sehen, um ihre Reaktion zu spüren. „Okay, ja“, erwiderte sie und lachte ein wenig. Pride & Prejudice - The secret life of daydreams Auf einmal schien die Atmosphäre zu flimmern wie bei einer Fata-Morgana. Es kam von dem Punkt, wo ich Opal erahnte. Und binnen Sekunden bauten sich dort Farben auf, bis sie wieder vollständig sichtbar war. Das lange Haar floss ihr offen über die schmalen Schultern und ihre Augen hatten eine derartige Leuchtkraft, dass sie an Nordlichter denken ließen. In gewisser Hinsicht erinnerte sie mich an Crystal. „Es hat funktioniert!“, lachte sie und drehte sich einmal um die eigene Achse, als wollte sie sichergehen, dass auch wirklich alles wieder zu sehen war. Dann fiel ihr Blick wieder auf mich. „Danke, Jetstone.“ „Keine Ursache.“ Ich stieß mich von der Wand ab und wies Richtung Korridor. „Die anderen warten sicher schon.“ Sie nickte und ging kurz in die Hocke, um das Teelicht auszupusten. „Hast du das entzündet?“, stutzte ich und konnte mir nicht erklären, warum es mir auffiel. Es hätte ja sein können, dass Opal ein Feuerzeug dabei hatte – aber wieder mal waren meine Sinne aufmerksamer gewesen. „Nein, das hat ein Mädchen gemacht, das kurz vor mir hier war.“ Sie drehte sich halb in Richtung Ästhetik-Raum. „Sie war aus der Perlenklasse, glaub ich, irgendwas mit Mi…“ „Mira?“ Opal nickte noch einmal. „Ich glaube, Maias Gabe hat sie etwas vor den Kopf gestoßen und dann saß sie hier eine Weile, aber ich hab mich nicht getraut, sie anzusprechen…“ Ich musste wieder an die Nacht vor dem Kirschblütenfest zurückdenken, als Mira mir auf dem Flur begegnet war. Ich hatte erst vorgehabt, Jade davon zu erzählen, aber etwas in ihren Worten, ihrem Tonfall, hatte es mich doch verwerfen lassen. Ich stieß die Luft aus und wandte mich langsam zum Korridor, Opal folgte mir. Pandora Hearts OST 4 – Garden „Warte mal kurz, Jet“, sagte Opal und hielt mich am Arm fest. Wir standen am Eingang der Mensa, die mittlerweile wieder belebter geworden war und hatten freie Sicht auf den Tisch, an dem Crystal, Moon, Amber und Maia saßen, aber sie würden uns in dem Gedränge nicht so schnell ausfindig machen können. Davon abgesehen, dass sie sowieso in ihrer eigenen Welt festzuhängen schienen. „Maias Gabe hat was mit Gefühlen zu tun, richtig?“, mutmaßte ich grinsend, als ich sah, wie Moon Amber ihren Ellbogen in die Rippen rammte und er sie daraufhin anfing zu kitzeln, genauso wie früher. Opals Lächeln war Antwort genug. „Sie ist so was wie ein weiblicher Amor, hat Ain gesagt.“ Mein Blick schweifte weiter zu Crystal, die lachend auf der Tischplatte hing, während Maia ebenfalls losprustete, als Reaktion auf etwas, das Moon Amber zugeschrien haben musste. „Was hattest du vor?“, wandte ich mich wieder an Opal und sie schmunzelte vielsagend. „Wirst du gleich sehen.“ Sie machte einen Schritt vorwärts und ich blinzelte zwangsläufig, als ihr Körper verschwamm und sich dann ganz auflöste. Ich begriff ihr Vorhaben und schob mich direkt seitlich in die Massen, um langsam ebenfalls auf den Tisch zuzukommen, ohne dass sie mich sahen. Crystal hatte sich gerade wieder aufgerichtet und Amber Moon losgelassen, da materialisierte sie sich wieder genau neben Maia und brüllte ihr sozusagen mitten ins Ohr: „Überraschung!“ Die Angesprochene kreischte auf, verkantete sich mit den Füßen am Tischbein und purzelte rücklings vom Stuhl, was dazu führte, dass Opal sich vor Lachen auf dem Tisch abstützen musste. „Alter!“, schnaubte Maia, als sie sich wieder auf ihren Platz gehievt hatte, eine Hand aufs Herz gepresst und verpasste ihrer Freundin einen raschen Seitenhieb in die Rippen. „Hab ich nicht gesagt, dass sie ‘nen Vollknall hat?“, meinte sie dann in die Runde, aber es konnte ihr kaum einer zuhören, in Anbetracht der Szene eben. Opal schwang sich nur grinsend auf den Tisch und ich löste mich aus dem Schülerstrom, um ebenfalls dazuzustoßen. The Last Story Music – Seiren’s Theme „Ach, dem da wird sie nicht das Wasser reichen können“, ließ Moon mit einem Fingerzeig auf Amber neben sich verlauten. Und derweil ich an den Tisch herantrat, starrte Opal mit großen Augen auf ihren Arm, der sich gerade selbstständig machte und nach der Wasserkaraffe griff. Sie versuchte, sie zu Amber hinüberzuheben, scheiterte aber und klatschte ihm den Inhalt kurzentschlossen ins Gesicht. „Okay, ich nehm‘ alles zurück!“, japste Moon auf. „Sie kann es doch, wenn auch auf ihre Weise! Ich mag die Frau!“ Opal errötete sichtlich, sah aber gleichzeitig erschrocken zu Amber hinüber, der triefnass auf seinem Stuhl saß und schmatzte. „Moon…?“, säuselte er unvermittelt und sie wich kichernd vor ihm zurück. „Wärst du so freundlich?“ „Als ob!“, höhnte sie und machte eine Handbewegung, auf die hin das Wasser aus Ambers Kleidung gesogen wurde. Nur dass sie es ihm gleich darauf nochmal ins Gesicht pfefferte, gerade als er schon hoffnungsvoll aufsah. Ich ließ mich unbemerkt auf den freien Platz hinter Crystal sinken. Sie fuhr zusammen, drehte sich herum und als sie mich sah, wurde ihr Lächeln noch breiter. Unwillkürlich beugte ich mich vor, um sie zu küssen. Wie schön sie war… Das war sie immer, aber jetzt fiel es mir irgendwie besonders auf. Lag das womöglich an…? „Ach, danke schön, Jet!“, rief Maia wie aufs Stichwort. „Du hast nicht zu viel versprochen.“ Auch Opal lächelte mir noch einmal dankend zu. „Jederzeit.“ „Moon, ich finde, du solltest das Handtuch werfen“, kam es da wieder von Amber. „Am besten in meine Richtung.“ Im Nu hatte Moon ein illusionistisches Handtuch in den Händen, pappte es Amber jedoch eher unsanft ins Gesicht, anstatt es zu werfen. „Würde mich nicht wundern, wenn ich mittlerweile eine minimale Resistenz gegen deine Gabe entwickelt hab“, feixte sie, während Amber sich den nassen Lappen vom Gesicht zog und anfing, sich abzutupfen. Crystal hatte sich unterdessen auf meinen Schoß gesetzt, damit Opal Platz hatte. Eine Hand hatte ich auf ihrem Bein abgelegt, mit der anderen hielt ich ihre Taille. Ich wusste nicht, ob Maia ihre Gabe extra ankurbelte oder ob es einfach nur ich war, aber es wurde zunehmend schwerer, sie auch nur eine Sekunde lang nicht zu küssen. Und wenn ich sah, wie sie auf meine Lippen schaute, schien es ihr ähnlich zu gehen. „Love is in the air…“, fing Opal da auf einmal an, zu singen und Moon fiel enthusiastisch ein, dann auch noch Maia. Anscheinend hatten sich da drei gefunden. Amber hingegen betrachtete das Schauspiel mit einer Mischung aus Skepsis und ernsthafter Verstörtheit. „Es wundert mich nicht“, sagte er dann jedoch und ließ die Augen in meine Richtung gleiten. „Ich mein, schaut euch das an – nach so langer Zeit, hab ich den Idioten endlich dazu bekommen, was anderes als schwarz zu tragen.“ Moon verrenkte neugierig den Hals. „Huch, du hast Recht! Mensch, damit siehst du so pseudounschuldig aus…“ „War das ein Kompliment oder eine Beleidigung?“, fragte ich lachend, aber Moon zuckte nur die Schultern, als wollte sie sagen: „Such’s dir aus“. „Ach, komm!“, hielt Amber stur dagegen und wedelte mit dem immer noch existenten Handtuch in der Luft herum. „Sieh ihn dir an – da geht einem doch der BH auf!“ Was dann geschah, würde keiner von uns je wieder vergessen. In der gesamten Mensa breitete sich zeitgleich ein kollektives Geräusch aus – der verdatterte Ausruf eines Mädchens, dem gerade wie von Zauberhand der BH aufgesprungen war. Moon schielte langsam an sich herab, als hätte sie es nicht ganz begriffen, dann sah sie zu Opal und Maia hinüber, die hastig die Arme verschränkten und rutschte im nächsten Moment vor Lachen am Tisch abwärts und auf den Boden. „Ähm…“, stammelte Amber nur. Seine Wangen waren feuerrot und wurden noch knalliger, als die anfängliche Irritation nachließ und die ersten „Amber!“s durch den Saal geflogen kamen, woraufhin er sich den Kragen über den Mund zog und in sich zusammensank, als wollte er sich verstecken. Und natürlich konnte ich es auch nicht verhindern, wieder zu Crystal zu schauen, allerdings… nicht in ihr Gesicht. „Jet, du Schwerenöter!“, juchzte Moon, kaum, dass sie sich mit einem Arm auf die Tischplatte gezogen hatte und über den Rand lugen konnte. Peinlich berührt drehte ich den Kopf zur Seite und räusperte mich. Crystal wickelte sich hastig in ihre offen stehende Jacke, schnaubte mir jedoch noch ein Lachen zu und stupste einen Kuss auf meine Schläfe. „Okay, ich glaub eh, es wird Zeit für einen Kleiderwechsel“, schloss Moon, sich wieder auf ihren Stuhl fallen lassend. „Das Feuerwerk beginnt bald. Unsere Plätze hab ich auch sicher, also… wollen wir?“ Widerwillig sprang Crystal von meinem Schoß, beugte sich aber noch einmal herunter, nahm mein Gesicht in die Hände und küsste mich so ungeahnt intensiv, dass ich kurzzeitig jegliches Gefühl für die Realität verlor. Das hatte außer ihr noch nie jemand geschafft. „Das ist doch garantiert auf deinem Mist gewachsen“, vernahm ich Opals Stimme hinter mir, wie ein entferntes Echo. Ebenso Maias darauffolgendes Kichern. „Ist nur der Dank für seine Hilfe.“ „Jetzt aber ab dafür!“, erklang erneut Moons Stimme und Crystal zog sich zögerlich zurück und schmunzelte an meinen Lippen, als ich halbherzig versuchte, sie festzuhalten. „Die Frühlingsrollen bleiben nicht ewig warm, ihr zwei Knutschkugeln.“ Noir OST – Snow Ich starre auf die Uhr und frage mich lediglich, wie lange es wohl noch dauert, bis ich das Abzeichen auf meiner Brust wieder abtreten darf. Trotz des Sommerabends ist es mittlerweile ziemlich dunkel und Amber ist noch nicht zurückgekehrt. Bei meinem Glück läuft er gerade irgendwo am Ende der Welt im Kreis. Denn wenn sie ihn schon geschnappt hätten, wäre er schon hier. Es ist mir nach wie vor ein Rätsel, wieso ich mich dazu entschieden habe, ihm zu helfen. Entgegen all meiner Prinzipien und Dogmen. „Hattest du die etwa früher?“, murmele ich mir selbst zu und drücke den Mund ratlos gegen das angezogene Knie. Das andere Bein lasse ich über das Rund des Pavillons baumeln. An die Vergangenheit zu denken, ist, wie so oft, nur eine Qual und daher ist es womöglich gar nicht mal schlecht, dass ich mich nur an so wenig erinnere. Im Gegensatz zu Amber oder den anderen bleibt mir damit wahrscheinlich einiges erspart. Seufzend lege ich die Stirn in Falten. Dieser Junge… er wurde erst heute früh aufs Internat gebracht, ist kaum einen vollständigen Tag verwandelt und hat trotzdem ein Dauergrinsen auf dem Gesicht. Das ist alles andere als der Normalfall. Aber insgeheim ahne ich, wieso er sich so unbesorgt gibt. Jeder entwickelt seine eigenen Strategien, um zu vergessen… Plötzlich höre das Herannahen von Schritten am Eingangstor und schwinge mich umgehend vom Steinrand. Aber als ich den Parkplatz erreiche, mache ich wie unter Zwang Halt und beobachte nur aus der Ferne, wie Jade aus ihrer Wohnung kommt. Sie steuert geradewegs auf Amber zu, der ein bisschen erschöpft aussieht, aber ansonsten unverändert. Keine Schusswunden, keine zerrissene Kleidung oder anderweitige Merkmale für einen Zusammenstoß. Aus irgendeinem diffusen Grund heraus erleichtert mich das. Da fällt mein Blick auf das Mädchen, das er an der Hand hinter sich herzieht. Sie wiederum ist ausgemergelt, trägt nur ein fransiges Top und eine dreckstarre, kurze Hose. Das lückenlos schwarze Haar ist zerzaust, die Wangen eingefallen, der Blick, selbst mit dem Kristallschimmer darin, leer und von erschreckend großer Angst entstellt. Was auch immer ihr widerfahren ist, Amber hatte voll und ganz Recht damit, so schnell wie möglich nach ihr zu suchen. Sie wimmert leise und klammert sich an ihm fest, während er mit Jade redet und schließlich von ihr zurück ins Büro geführt wird. Ich gehe ein paar Schritte rückwärts und lehne mich gegen die massive Säule an der Ecke. Mir geht einiges im Kopf herum, aber nichts davon ist klar genug, um es zu greifen und auszudiskutieren. Was daran liegen kann, dass ich solchen Gefühlen zum ersten Mal ausgesetzt bin. Oder? Ich kann es nicht sagen. Nach einer Weile greife ich in die Hosentasche und ziehe den Edelstein hervor, den ich seit meiner Ankunft hier niemals aus der Hand gegeben habe. Selbst, wenn man mir alles wegnimmt, diesen Stein nicht. „Hast du einen Ratschlag?“, flüstere ich ihm zu. Das unruhige Flimmern der Windlichter tanzt in seiner Oberfläche. „Also nicht.“ Behutsam löse ich mich wieder von der Säule, um meine Patrouille fortzusetzen. Immerhin lassen die Entwicklungen bisher glauben, dass ich das Abzeichen doch noch ein bissen behalten darf. Newton Faulkner – First Time Die Uhr über dem Haupteingang zeigt Viertel vor zwölf, heute scheint die Zeit überhaupt nicht zu vergehen. Anderseits bin ich dankbar für jede Sekunde, die noch verbleibt, bis der schwarze Wagen in die Internatseinfahrt einbiegt, um mich zurück in mein Apartment zu bringen. Die Entschärfungsprüfung steht bald an und wenn es mir gelingt, sie zu absolvieren, dann kann ich endlich selbst entschieden, wann ich komme und wann ich gehe. Es sollte mich freuen – und auf eine leise Art tut es das auch – aber das Einzige, was mich beim Gedanken daran erfüllt, ist die Frage: Und dann? Wohin führt ein Leben, das nicht endet? Was wird der Staat von mir verlangen, danach zu tun? Auch das ist eine Form von Zukunftsangst, auch wenn ich mich jedem möglichen Urteil gegenüber gleichgültig fühle. Ich lasse die Augen zufallen, da erklingt gut hundert Meter von mir entfernt ein dumpfes Schnauben. Dann bricht ein Ast und jemand kreischt verschreckt auf. Ist das etwa…? „Hey, hier hast du dich also versteckt!“, ächzt Amber. Seine Augen brodeln förmlich – würden sie noch einen Hauch heller leuchten, könnte man sie kurzerhand mit zwei Glühwürmchen verwechseln. „Jade hat gemeint, dass ich dich irgendwo hier draußen finde.“ Er atmet tief durch und lässt sich kraftlos auf eine der Bänke im Inneren des Pavillons fallen. „Wie geht es dem Mädchen?“, flüstere ich, dem Gebot, Abstand zu wahren, zum Trotz. „Den Umständen entsprechend“, meint er mit einem aufgezehrten Lachen. „Sie ist auch ein Crystal Rider geworden. Du kannst sie Moonstone nennen, wenn du sie demnächst kennen lernst.“ Ich nicke nur und das sieht er in der Dunkelheit wahrscheinlich nicht mal. Es brennt mir auf der Seele, ihm die eine Frage zu stellen, aber gleichzeitig ist es auch die letzte, die ich von ihm beantwortet haben will. Wieso eigentlich? Das ist absurd. „Oh, bevor ich es vergesse!“, sagt er auf einmal, springt auf und zieht ein kleines Packet aus seiner Jackentasche, was er mir hinhält. Ohne es entgegenzunehmen, lasse ich eine Hand in die Jackentasche gleiten. „Was ist das?“ „Wonach sieht es denn aus, du Blitzmerker?“ Er stockt, erstarrt und ich mache einen abrupten Satz nach rechts, als neben meinem Fuß wie aus heiterem Himmel ein Blitz einschlägt. „Verdammt, tut mir leid!“ „Schon okay…“, murmele ich gedehnt, mit einem langen Blick auf das verbrannte Gras auf der Stelle, auf der ich eben noch stand. „Bevor noch was passiert, nimm es endlich.“ Diesmal zögert er nicht, auf mich zuzugehen und mir das Päckchen gegen die Brust zu drücken, bis ich es festhalte. „In dem Sinne: Alles Gute zum Geburtstag, Kumpel.“ Nahezu benommen blicke ich von dem bunten Geschenkpapier auf zu Ambers breitem Grinsen und wieder zurück. „Woher weißt du…?“ „Jade hat es mir erzählt“, verrät er zwinkernd. „Sie meinte auch, dass du nicht gerade der Typ fürs Feiern bist und Kuchen nicht ausstehen kannst, aber… ich dachte, das da könnte dir vielleicht gefallen. Na los, mach es auf!“ Zögerlich komme ich seiner Aufforderung nach. Das Päckchen wiegt fast nichts und als die vielen Lagen Papier abgestreift sind, wird mir auch bewusst, wieso. Unter der Verpackung ist nicht mehr und nicht weniger als ein sandsteinfarbener Glückskeks. Wanderers Lullaby (Original Song) by Adriana Figueroa Mit einem neuen Blick gibt er mir zu verstehen, dass ich auch ihn öffnen soll. Knisternd bricht der Teig auseinander und ein dünner Zettel segelt auf meine Handfläche. Aber er ist etwas größer als die Gewöhnlichen und die Zeilen auf seiner Oberfläche sind handgeschrieben. Ich hab leider nur eine einzige Sache, die ich dir schenken kann. Darum hoffe ich, dass sie dir Freude genug ist. Meine Freundschaft. Langsam hebe ich die Augen wieder in seine Höhe. Sein Lächeln wird noch strahlender und dann hält er mir die Hand hin. „Was sagst du? Freunde?“ Es ist, als würde jemand einen Faden kappen. Einen einzigen, der jedoch dafür gesorgt hat, dass alle anderen straff bleiben. Jetzt ist er kaputt, das Konstrukt bricht nicht zusammen, aber es hat seine Stabilität verloren. „Du weißt nicht, was du da sagst…“, erwidere ich so rau, dass sich meine Stimme wie ein altes Radio anhört. Mit einem raschen Räuspern will ich mich umdrehen und verschwinden, aber Amber ist mir längst einen Schritt voraus. „Wegen deiner Gabe, nicht wahr?“ Meine Zähne schlagen aufeinander, um das Zittern in den Mundwinkeln abzuwürgen. Jetzt weiß er also auch davon. Komischerweise ertappe ich mich dabei, wie ich den Gedanken daran, was er jetzt wohl von mir denkt, zurückdränge. „Ich pfeif‘ drauf, was die über dich sagen.“ Im Nu pfeift Amber wirklich, was mich unerwartet zum Schmunzeln bringt, aber das kann er nicht sehen, da ich ihm immer noch den Rücken zugedreht habe. „Du bist ein guter Kerl, um das zu sehen, braucht man doch nun wirklich keinen sechsten Sinn oder so was.“ Mit einem Kopfschütteln wende ich mich ihm erneut zu. „Du bist dumm“, stoße ich hervor, klinge aber nur halb so ernsthaft, wie geplant, „und lebensmüde.“ Er hebt bloß die Schultern und hält mir ein weiteres Mal seine Hand hin. „Damit kann ich leben, Jet. Freunde?“ „Tu, was du nicht lassen kannst“, ist alles, was ich zur Antwort gebe. Anstatt ihm die Hand zu schütteln, lasse ich das zerfetzte Geschenkpapier hineinfallen. „Und… na ja… danke…“ Ich nicke auf den Glückskeks und Amber lacht schelmisch auf. „Keine Ursache“, knurrt er und es ist mehr als offensichtlich, dass er damit versucht, mich zu imitieren. Mein abgeklärter Blick darauf bringt ihn wieder zum Lachen. „Wir sehen uns dann morgen zum Mittagessen, nicht? Wehe, du kommst nicht! Ich muss dir unbedingt Vi… äh, Moon vorstellen.“ „Meinetwegen“, erwidere ich nüchtern, obschon mich die Vorstellung davon, zusammen mit ihnen Mittag zu essen, auf eine ungekannte und sogar fast verstörende Art glücklich stimmt. Dass mich jemand freiwillig um sich haben will, das… bin ich nicht gewohnt. „Dann eine gute Nacht!“, schließt Amber zufrieden und spaziert pfeifend zurück Richtung Hauptgebäude. Ich bleibe noch einen Moment stehen und drehe gedankenverloren den Zettel zwischen den Fingern. Warum hat er es mir in einem Glückskeks überreicht, anstatt es auszusprechen? Da erinnere ich mich an das, was Jade mir einmal über die Tradition der Glückskekse in ihrem Heimatland Japan erzählt hat. Sie enthalten von Zeit zu Zeit Sinnsprüche, aber im ursprünglichen Zweck sollten sie eine Zukunftsdeutung geben. Dinge, die noch geschehen werden… Freunde? Auf einmal fühle ich mich so unendlich müde und abgekämpft, dass ich rückwärts gegen die niedrige Mauer des Pavillons stolpere und mich darauf fallen lasse. Erst wenn dich jemand zur Ruhe anhält, wird dir auffallen, wie lange du schon läufst. „Dieser Kerl hat sie nicht alle…“ Achtsam hebe ich die Hand, auf der die zwei Kekshälften liegen und schiebe mir eine davon in den Mund. Und während sich das süße Aroma des Gebäcks auf meiner Zunge ausbreitet, schlägt die Turmuhr zur zwölften Stunde und läutet damit einen neuen Tag ein. Eine neue Jahreshälfte. Von jetzt an werden die Tage wieder kürzer und die Nächte länger. Es hat mich immer etwas angegriffen, dieser Gedanke, dass mein Geburtstag auf die Sommersonnenwende gefallen ist. Das Licht zieht sich langsam zurück, die Dunkelheit kehrt wieder. Aber heute, in dieser warmen Nacht, mit einer Zukunftsvorhersage und einer Süßigkeit in der Hand, kommt es mir zum ersten Mal so vor, als würde sich die Sonne tatsächlich wenden. Als würde etwas Neues beginnen, mit jeder Stunde etwas deutlicher werden. „Freunde?“, flüstere ich in das Grillenzirpen um mich herum hinein. „Gerne, Amber…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)