Weitermachen von konohayuki (Weihnachtswichtelei 2013) ================================================================================ Kapitel 1: Weitermachen ----------------------- Konzentrieren. Einatmen. Anspannen. Ortung des Feindes. Zielen. Ausatmen. Abdrücken. Treffer. Rascheln. Schnelle Drehung. Parieren. Wegducken. Ausweichen. Zuschlagen. Treffer. Zwei Schüsse. Zwei Treffer. Grinsen. Plötzlich Schmerzen. Unachtsamkeit. Blut. Schwärze.   „Rekrut siebenhundertfünfzehn: Tiefe Bauchwunde. Einstufung: Tödlich. Überlebenschance: Null Prozent. Ursache: Wird analysiert und den Daten hinzugefügt. Sie können Ihre Ergebnisse innerhalb von vierundzwanzig Stunden bei Ihrem Ausbilder einsehen. Überlebensdauer in Simulation: Fünfzehn Minuten.“   Gaelle seufzte, während sich die Sonden langsam von ihrem Körper lösten, durch die sie mit dem Trainingsprogramm verbunden gewesen war. Es war immer dasselbe. Sie war gut, konnte sich verteidigen und war in der Lage, präzise Angriffe auszuführen. Und dann? Dann machte ihr eine kleine Unachtsamkeit einen Strich durch die Rechnung.   Sie blinzelte, schaute im ‚Maschinenraum‘, wie ihre Freunde und sie diese Trainingskammer nannten, umher. Wie es aussah war sie die Erste, welche die Übung zwangsläufig beendet hatte. Felias neben ihr schien noch selig zu schlummern, Thais auf der anderen Seite des Raumes bewegte sich unruhig. Vielleicht würde sie auch bald aufwachen. Gaelles Blick wanderte weiter und blieb letztendlich an ihrer Ausbilderin hängen. Um die Frau, die gerade die dreißig Jahre überschritten haben musste, rankten sich so viele Gerüchte, dass Gaelle aufgehört hatte, sie zu zählen. Wenn man all die Ausschmückungen wegließ blieben jedoch ein einstimmiges Grundgerüst zurück: Mit zwanzig Jahren war Ausbilderin Elaina - genau wie Gaelle jetzt - in den Krieg geschickt worden. Ein Einsatz war schief gegangen, und dies hatte sie ihre Fähigkeit zu laufen gekostet. Seitdem saß sie in einem Rollstuhl und war hier im Trainingscenter B2 stationiert um neue Rekruten auszubilden. Gaelle wusste nicht wirklich, was sie von der Frau halten sollte. Obwohl Ausbilderin Elaina immer freundlich war, ihre Kampfsimulationen hatten es in sich und eigentlich jeder Rekrut in ihrer Gruppe hatte das Gefühl, dass sie sie alle auf Abstand hielt. Felias hatte einmal den Verdacht geäußert, dass sie vielleicht der Meinung war, sie wären alle Taugenichtse und nicht für das Schlachtfeld geeignet. Thais hatte das direkt verneint, wieso sollte schließlich Zeit in ihre Ausbildung investiert werden, wenn sie nicht ein gewisses Potential besaßen? Immerhin gab es doch genug Freiwillige, warum würde man sie denn sonst auswählen, wenn sie denn kein Talent hatten? Gaelle hatte nur schweigend neben ihnen gesessen und ihnen bei ihrer Fachsimpelei zugehört. Ihrer Ansicht nach war Ausbilderin Elaina verbittert, weil sie nicht mehr zurück in die Schlacht konnte. Vielleicht waren es auch Schuldgefühle, die an ihr nagten - immerhin erzählte man sich, dass sie die einzige Überlebende ihrer Gruppe gewesen war. Vielleicht dachte sie, dass sie es nicht verdient hatte, zurückzukehren. Am Ende gingen sie die Beweggründe ihrer Ausbilderin nichts an. Solange sie ihnen das Wissen, welches sie brauchten, ordentlich vermittelte, konnte es ihr auch vollkommen egal sein. Gaelle setzte sich auf und machte Anstalten, sich von der gepolsterten Pritsche zu erheben, auf welcher sie bis jetzt gelegen hatte. Ihr Blick huschte zurück zu Ausbilderin Elaina, die nur kurz zu ihr herübersah. Gaelle erwiderte den Blick während sie sich aufrichtete und die Falten in ihrer grauen Uniform glättete, welche sie als Rekruten identifizierte. Ausbilderin Elaina nickte nur kurz, bevor sie sich wieder abwendete. Wahrscheinlich hatte sie ihr mehr als unterdurchschnittliches Ergebnis der heutigen Simulation bereits erhalten. Mehr als ein müdes Schulterzucken konnte sich Gaelle nicht abringen. Dann würde sie eben noch ein paar Muskelaufbauübungen absolvieren. Die ließen sich schließlich nicht über Simulationen generieren. Ihre Schritte hallten durch den Raum und gerade als sie die Tür erreicht hatte und diese mit einem leisen Zischen aufglitt hörte sie, wie Ausbilderin Elaina das Wort erhob. „Sie sind zu selbstsicher“, sagte sie, ohne eine Wertung in ihrer Stimme. „Auch wenn Ihnen eingebläut wird, Sie sollen in Ihre Fähigkeiten vertrauen, denken Sie daran, dass auch der Feind in der Lage ist zu denken.“ Gaelle drehte sich, um ihrer Ausbilderin die Höflichkeit zu erweisen, sie anzuschauen, wenn sie mit ihr redete. „Vielen Dank für den Hinweis“, antwortete sie, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was genau sie damit anfangen sollte. Wie sollte sie denn bitte Vertrauen in sich haben, wenn sie ihre Fähigkeiten hinterfragen sollte? Aber sie würde jetzt nicht nachfragen. Vielleicht würde ihr noch die passende Eingebung kommen. Oder aber, sie konnte es mit Felias und Thais erörtern. Nun jedoch neigte sie nur ihren Kopf in Richtung der Ausbilderin, bevor sie den Maschinenraum verließ. Hinter ihr schloss sich die automatische Tür und ließ sie allein zurück.   „Das war unglaublich!“ Eine Stunde später hatte Gaelle sich pünktlich zum Mittagsmahl in der Kantine eingefunden, wo sie bereits von Felias und Thais erwartet wurde. Thais schien noch ganz außer sich zu sein vor Begeisterung. „Ich meine, diese Schlucht war doch echt gemeines Gelände. Haben wir da draußen so etwas tatsächlich? Wie man dann nicht einfach in seiner eigenen Stadt bleiben kann, das ist mir echt schleierhaft. Niemand quält sich da doch freiwillig durch, oder?“ „Augenscheinlich schon“, gab Felias trocken zurück. „Und denkst du wirklich, sie würden dieses Gelände einbauen, wenn wir etwas ähnlichem nicht begegnen könnten?“ Thais sah Felias missbilligend an. „Ich hab ja nur gefragt“, murmelte sie ein wenig eingeschnappt. „Und fragen wird jawohl noch erlaubt sein.“ Felias schnaubte und wandte sich Gaelle zu. „Du warst gar nicht mehr da, als wir zurückgekommen sind“, stellte er fest. „Ich vermute mal, du musstest wieder vorzeitig beenden?“ Gaelle zog eine Grimasse und nickte. „Ich hab’s gerade mal fünfzehn Minuten geschafft. Dann hat es mich mal wieder erwischt.“ Frustriert spießte sie einen undefinierbaren Gemüseteil mit ihrer Gabel auf und steckte es sich in den Mund. „Und dann bekomme ich noch so kryptische Hinweise von unserer Ausbilderin.“ „Was hat sie denn gesagt?“, wollte Thais wissen, die sich weniger ihrem Essen als ihrem geflochtenen Zopf widmete, der an den Enden ein wenig aufgedröselt war. „Und du weißt wie sie ist. Vielleicht will sie, dass du dich ein wenig anstrengst um die Lösung zu finden. Immerhin kennt sie sicher deine Ergebnisse in den Trockenübungen, und da bist du eigentlich immer im vorderen Feld dabei.“ „Und was nützt mir das, wenn ich im Feld in den ersten paar Minuten draufgehe?“, erwiderte Gaelle heftiger, als sie eigentlich beabsichtigt hatte. „Was bringt es mir, wenn ich weiß, wie ich mit Waffen umgehe, in feindlich gesinnter Umgebung überlebe oder mir eine sichere Stelle suche, wenn ich beim ersten Angriff nicht einmal in der Lage bin, mich länger als fünfzehn Minuten sinnvoll zu verteidigen?“ Thais und Felias starrten sie beide an. „Das hättest du auch freundlicher sagen können“, sagte Thais schließlich. „Glaub mir, ich will doch auch nicht, dass du als eine der ersten fällst, aber vielleicht müssen wir uns einfach nur genauer anschauen, was sie gesagt hat. Dann findet sich vielleicht eine Lösung.“ Felias nickte zustimmend. „Was hat sie denn nun zu dir gesagt?“, wollte er wissen. „Vielleicht findest ja nur du es kryptisch.“ „Ach, es ging so in die Richtung, dass ich nicht zu sehr in meine Fähigkeiten vertrauen soll“, erklärte sie.  „Obwohl das doch irgendwo absurd ist. Wenn ich nicht an das was ich kann glaube, an was soll ich denn dann glauben?“ Keiner ihrer beiden Mitstreiter konnte ihr eine Antwort darauf geben. „Das ist wirklich ein komischer Ratschlag“, war Felias einziger Kommentar. „Hast du dir schon überlegt, einfach mal nachzufragen, was sie dir damit sagen will?“ Gaelle nickte. „Selbstverständlich“, antwortete sie. „Aber wie sieht das denn dann aus? Erst versage ich in ihren Übungen und dann verstehe ich ihre Ratschläge nicht. Sie wird mich für total verblödet halten.“ Felias schüttelte den Kopf und sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, was er von diesem Gedankengang hielt. „Ich bin sicher, sie will, dass wir für das, was da draußen auf uns wartet gut vorbereitet sind. Geh zu ihr und frag sie.“ Gaelle beschloss, erst einmal zu nicken und zu versprechen, dass sie genau dies tun würde. Sie konnte es sich ja immer noch anders überlegen, wenn sie doch noch die passende Eingebung bekam.   Natürlich hatte die Eingebung nicht kommen wollen. Wie hätte es auch anders sein sollen; wenn es darauf ankam, kamen sie ja nie. Und so hatte Gaelle nach zwei Tagen des Grübelns aufgegeben und lief nun durch die Gänge des Trainingstrakts, um ihre Ausbilderin zu finden. Deren Büro hatte sie schon aufgesucht und verlassen vorgefunden, und so war sie nun auf dem Weg zum Maschinenraum um zu sehen, ob sie sich dort befand und an einer neuen Simulation arbeitete. Doch sie musste gar nicht so weit gehen, als sie die ihr wohlbekannte Stimme vernahm. „Sollten wir die Gruppen nicht bald zusammenführen?“, sagte Ausbilderin Elaina, die nun auch in ihr Sichtfeld kam, als Gaelle um eine Ecke bog. Dort konnte sie auch augenblicklich ihre Ausbilderin ausfindig machen. Diese hatte ihr den Rücken zugewandt und sprach mit Ausbilder Sabri, der für die zukünftigen Sanitäter zuständig war. Augenscheinlich ging es darum, bald Teams zu bilden, denn jedes Kampfteam würde mindestens einen der Heiler zur Seite gestellt bekommen, wenn es in den Außeneinsatz ging. Warum sonst sollte die Rede von einer Teamzusammenführung sein? Ausbilder Sabri bemerkte sie, wie sie sich zögerlich näherte und schenkte ihr ein Lächeln. „Ich denke, wir sollten das später in Ruhe besprechen“, sagte er zu Ausbilderin Elaina. „Einer deiner Schützlinge sucht augenscheinlich deinen Rat.“ Für einen kurzen Moment war Gaelle erstaunt, dass Ausbilder Sabri den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. War sie so einfach zu lesen? Aber was für einen anderen Grund konnte sie als Rekrut eigentlich haben, wenn sie nach einer Ausbilderin suchte? Ausbilderin Elaina drehte sich um und etwas an ihrem Gesichtsausdruck veränderte sich, als sie sah, wer sie war. „Nun gut“, sagte sie an Ausbilder Sabri gewandt. „Wir werden schon einen passenden Termin finden. Ich melde mich im Laufe des Tages noch einmal bei dir.“ Ausbilder Sabri nickte, dann ließ er Gaelle und Ausbilderin Elaina allein. „Wollen wir ein Stück gehen?“, brach schließlich Ausbilderin Elaina die unangenehme Stille, die sich über sie gelegt hatte. „Selbstverständlich“, erwiderte Gaelle beinahe automatisch, bevor sie sich neben ihrer Ausbilderin einordnete, während diese begann sich in ihrem elektrischen Rollstuhl vorwärtszubewegen. „Nun“, fragte Ausbilderin Elaina nach einigen Momenten des Schweigens. „Ich kann deine Gedanken nicht lesen, aber ich gehe doch stark davon aus, dass Sabri Recht hatte mit seiner Vermutung und du mit mir über etwas sprechen möchtest.“ Gaelle nickte, dann holte sie Luft, um zu beginnen. „Es geht um diesen Ratschlag, den Sie mir neulich gegeben haben“, sagte sie und betrachtete ihre Hände. „Ich zerbreche mir jetzt seit Tagen den Kopf, und ich weiß nicht, was Sie mir damit sagen wollen.“ Sie merkte, dass der Blick von Ausbilderin Elaina auf ihr ruhte, traute sich aber nicht wirklich, zu ihr herüberzuschauen. „Was genau verstehst du denn daran nicht?“, fragte Ausbilderin Elaina nach. Es war keine Abschätzigkeit in ihrer Stimme auszumachen, trotzdem fühlte Gaelle sich nicht sonderlich wohl bei dem Gespräch. „Eigentlich alles“, gab sie schließlich zu. „Worauf soll ich denn vertrauen, wenn ich nicht auf meine eigenen Fähigkeiten vertrauen kann? Und was meinten Sie damit, ich solle daran denken, dass der Feind auch denkt? Es macht für mich keinen Sinn.“ Gaelle hatte alles erwartet, einen abschätzigen Kommentar, ein spöttisches Lachen. Womit sie nicht gerechnet hatte, war das Seufzen, welches sie zu hören bekam. „Ich fürchte, du hast mich falsch verstanden“, sagte sie. „Natürlich sollst du in dich und deine Fähigkeiten vertrauen. Glaub mir, wenn du erst einmal da draußen bist, dann gibt es nicht viel anderes, auf das du dich verlassen kannst. Aber du darfst dich nicht überschätzen. Das ist es, was dir immer wieder passiert. Du wirst zu sicher. Du denkst, dass dir niemand etwas anhaben kann, dass du jedwedem Feind, der da noch kommen mag, überlegen bist. Das ist es, was du dir nicht leisten kannst.“ Gaelle nickte, auch wenn es sie Mühe kostete, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Immerhin war sie stolz auf ihre Fähigkeiten und dass gerade dieser Stolz durch die Aussagen, die ihre Ausbilderin gerade traf, deutlich angeknackst wurde, sorgte nicht unbedingt dafür, dass sie sich mit diesem Gespräch wohler fühlte. „Und... was hat das mit dem Feind zu tun?“, wollte sie wissen. Wenn sie nun schon einmal dabei war, konnte sie auch gleich weiterfragen. „Dir fehlt die Fähigkeit, dich in deinen Gegner hineinzuversetzen“, erklärte Ausbilderin Elaina. „Du bist in der Lage, dich zu verteidigen, und das gelingt dir ja auch in den Übungen. Es mangelt dir also nicht am Können oder am nötigen Geschick, sondern schlicht und ergreifend an der Möglichkeit, die Bewegungen deines Gegners vorherzusehen.“ Sie machte eine Pause und suchte den Blickkontakt mit Gaelle. „Versuche dir zu überlegen, wie du dich dir nähern würdest, wärest du beauftragt dich auszuschalten.“ „Ich soll also...“, setzte sie an, brach aber wieder ab. „In Ordnung. Ich muss also einen Weg finden so zu denken wie der Feind?“ Es war mehr eine Frage denn eine überzeugte Aussage, aber sie schien Ausbilderin Elaina zu gefallen. „Ja, das war es, was ich sagen wollte“, nickte sie. „Ich weiß, dass euch das Konzept nicht sonderlich lang nahegebracht wird, aber es ist durchaus nützlich. Wie du in deinem Fall ja siehst.“ Gaelle nickte, zumindest war ihr jetzt ein wenig klarer, was ihre Ausbilderin ihr hatte sagen wollen. „Ist deine Frage damit beantwortet?“, wollte diese wissen. „Wenn nicht, frag ruhig weiter. Dazu sind wir ja da.“ Doch Gaelle schüttelte den Kopf. „Ich habe einfach überhaupt nicht verstanden, was Sie mir sagen wollten,“ antwortete sie. „Aber jetzt verstehe ich. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“ Ausbilderin Elaina senkte den Kopf. „Keine Ursache. Dann wünsche ich dir noch viel Erfolg für den Rest des Tages. Wenn ich es richtig im Kopf habe, steht heute noch das Überlebenstraining an?“ Gaelle nickte. „Genau“, bestätigte sie die Aussage ihrer Ausbilderin. „Ich glaube, ich muss mich auch beeilen, um noch pünktlich dort zu erscheinen. Vielen Dank noch einmal.“ Hastig verabschiedete sie sich, um in die Richtung des Raumes zu hasten, in dem gleich ihre Trainingseinheit stattfinden würde. Auf dem Weg dorthin dachte sie trotzdem noch über das Gespräch nach. Wie versetzte sie sich den nun in ihren Gegner hinein? Wirklich gebracht hatte ihr das Gespräch für die Antwort auf diese Frage nun nichts. Aber zumindest würde sie über die Weihnachtstage, die in einer Woche anstanden, genug Zeit haben, sich ordentlich mit dieser Frage auseinanderzusetzen.   Am Weihnachtsmorgen wachte Gaelle mit leichten Kopfschmerzen auf. Missmutig rollte sie sich aus ihrem Bett um sich die Zähne zu putzen und sich anzukleiden. Dabei fiel ihr Blick auf ihren Tagesplaner, an dem ein rotes Licht blinkte. Es hatte also eine Veränderung in ihrem ursprünglichen Plan gegeben. Sie rief den Planer auf und konnte sich ein entnervtes Stöhnen nicht verkneifen. Wer kam denn auf die Idee, eine Trainingseinheit auf den Vormittag zu legen? Noch dazu eine der Simulationen, die sie so zu hassen gelernt hatte, immerhin hatte sie immer noch keine zufriedenstellende Lösung für ihr Problem gefunden. Selbst an Weihnachten schienen ihre Ausbilder kein Erbarmen zu kennen. Noch missmutiger als zuvor machte sie sich auf den Weg zum Frühstück, wo ihre Freunde sie mit ähnlicher Laune empfingen. „Sie hätten uns wenigstens heute freigeben können“, maulte Thais. Nach dem Frühstück ging es für sie direkt zu der Übung. Ausbilderin Elaina schien ungewöhnlich erfreut zu sein, als sie ihre Schützlinge den Raum betreten sah. „Auf, auf“, rief sie. „Je schneller ihr alle verbunden seid, desto schneller können wir beginnen.“ „Was auch immer daran so vielversprechend sein soll“, flüsterte Gaelle Felias zu, der sich nur mit Mühe ein Prusten verkneifen konnte. Trotzdem begaben sie sich alle brav zu ihren Liegen, wo sich die Sonden, die sie miteinander vernetzen würden, automatisch an die richtigen Stellen anbrachten. Gaelle hoffte, dass diese Übung schnell vorbei sein würde. Obwohl, wenn sie ehrlich war, viel Zeit gab sie sich sowieso nicht, bevor ihr wieder ein Fehler passierte. Das Narkosemittel begann allmählich zu wirken, und sie merkte, wie sich ihre Augen langsam schlossen.   Um sie herum war alles weiß. Nach und nach begannen sich einzelne Konturen hervorzuheben, die sich immer weiter verfestigten und schließlich ein fertiges Bild ergaben. Für einen Moment dachte Gaelle, sie würde halluzinieren. Statt sich - wie sie es eigentlich erwartet hatte - mit einer neuen Übung konfrontiert zu sehen, stand sie auf einem Platz, der von kleinen, hölzernen Hütten und Buden umgeben war. Sie wusste, was dies war, auch wenn es Jahre her war, dass sie einen gesehen hatte. Weihnachtsmärkte waren selten geworden, nach dem Ausbruch des Krieges, immerhin waren die Ressourcen knapp, da hatte niemand die Zeit, sich mit einer solchen Luxusbeschäftigung abzugeben. Abgesehen von den reichen Familien, natürlich. Gaelle konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sich neben ihr weitere ihrer Mitrekruten materialisierten. Nachdem auch diese erkannt hatten, wo sie sich befanden, wurden Überraschungsrufe laut. Plötzlich hörten sie die Stimme ihrer Ausbilderin. „Damit haben Sie nicht gerechnet, oder? Aber haben Sie ernsthaft geglaubt, ich würde Sie an Weihnachten durch ein Trainingsprogramm quälen? Amüsieren Sie sich ein wenig. Oh, und frohe Weihnachten.“ Als ihre Stimme zu verblassen begann, kam auf einmal Leben in den Weihnachtsmarkt, der bis dahin verschlossen gewesen war. Schlagartig war das gesamte Gelände beleuchtet und der Geruch nach gebrannten Mandeln und Glühwein erfüllte plötzlich die Luft. Felias und Thais gesellten sich zu ihr, das Lächeln auf ihren Gesichtern war vermutlich mit dem ihren vergleichbar. „Ich denke mal, wir sollten die Zeit nutzen“, sagte Gaelle, als sie sich bei den beiden unterhakte und sie in Richtung der Stände zog. „Wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt.“   Elaina lächelte, als sie sah, wie sich die Gesichter einzelner angeschlossener Rekruten zu einem Lächeln verzogen. Es war schön zu wissen, dass sie diesen jungen Menschen zumindest ein wenig Freude bereiten konnte. Schließlich wusste sie, was ihnen bevorstand. Der Krieg tobte vor den Pforten ihrer Festung, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Belagerung beginnen würde. Die Chance, dass diese hoffnungsvollen jungen Menschen noch ein Weihnachten erleben würden, war mehr als gering. „Sieben Prozent durchschnittliche Überlebenschance“, teilte ihr der Computer, an den sie gerade angeschlossen war, ungewollt mit. Manchmal wünschte sie sich, die künstliche Intelligenz würde in solchen Momenten einfach ihren Mund halten. Eigentlich war das, was sie hier taten, ein sinnloses Unterfangen. Sie verheizten ihre Jugend in einem Krieg, den sie längst verloren hatten, in der Hoffnung, dass es ihren Oberhäuptern noch gelang, die rettende Strategie oder Waffe zu finden. Jeder, der sich nicht von ihren Anführern täuschen ließ wusste jedoch, dass diese mit ihrem Latein am Ende waren und schon längst nicht mehr darauf aus waren, ihr Volk zu retten. Ihre eigene Haut vielleicht, ja. Aber nicht die der einfachen Bevölkerung. „Warum machst du dann weiter?“, war wieder die Computerstimme in ihrem Kopf. Elaina lächelte. Kein Trainingsprogramm konnte nachvollziehen, was es hieß, wirklich im Krieg zu sein. Kein Trainingsprogramm wusste, zu was Menschen fähig wurden, wenn sie sich in einer schier ausweglosen Situation befanden. Und sie hatte ein paar Individuen unter den neuen Rekruten ausmachen können, die vielleicht im richtigen Moment das Potential hatten, große Dinge zu vollbringen. Individuen, die vielleicht das Heldengen besaßen, welches sie nicht hatte...  „Weil es da vielleicht doch noch Hoffnung gibt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)