Schönheit und andere Laster von Juju (Tür Nummer 18 "Blutschnee") ================================================================================ Kapitel 1: Schönheit und andere Laster -------------------------------------- „Deine Haut ist so weiß wie Schnee. Deine Lippen sind so rot wie Blut. Und dein Haar ist so...“ „Ja ja, ich kann diesen Schneewittchen-Scheiß nicht mehr hören“, fauche ich und werfe diesem Prinzen einen giftigen Blick zu. „Aber... aber...“, stammelt er und sieht mich hilflos an. „Ich will das nicht mehr hören, okay? Ich weiß, wie ich aussehe, auch ohne dass mir das ständig einer erzählt“, sage ich genervt und drehe mich von ihm weg. „Schneewittchen!“, ruft Cinderella und sieht mich an, als wäre ich eine Krankheit. Die Art, wie sie meinen Namen immer ausspricht, unterstreicht diesen Eindruck noch. „Du könntest ruhig ein bisschen netter sein, findest du nicht?“ „Ach, lass sie doch“, sagt Dornröschen und wirft ihr langes, goldenes Haar mit einer eleganten Kopfbewegung nach hinten. „Wenn sie schon Schneewittchen heißt, muss sie ja auch kalt sein, oder nicht?“ Cinderella kichert. „Stimmt, da hast du natürlich Recht.“ Sie lachen beide und werfen mir abfällige Blicke zu, die ich erwidere. „Du bist von außen viel schöner als von innen“, seufzt der Prinz, dessen Namen ich nicht einmal kenne, theatralisch, dreht sich um und geht. Wütend starre ich ihm hinterher, aber er hat mein Problem ziemlich gut auf den Punkt gebracht. Mein größtes Problem ist nämlich, dass mich die Leute um mich herum auf mein Aussehen reduzieren. Meine Stiefmutter besitzt einen Zauberspiegel, der ihr zu ihrem Verdruss immer erzählt, ich sei die Schönste im Lande Fairytal. Meine Haut ist weiß wie Schnee. Andernorts würde man vielleicht sagen, ich sei blass, aber hier in Fairytal bin ich eben weiß wie Schnee. Klingt ja auch viel poetischer. Meine Lippen sind rot wie Blut und das war schon immer so. Ohne Lippenstift. Ich habe keine Ahnung, warum. Ich vermute ja, es ist ein genetischer Defekt, aber mein Vater ist der Meinung, das kommt, weil ich die Tochter eines Königs und einer Königin bin. Aber das sind auf meiner Schule fast alle und die haben ganz normale Lippen. Mein Haar ist schwarz wie Ebenholz und glänzt wie Seide. Diese drei Dinge machen mich aus und tragen dazu bei, dass man mich für das schönste Mädchen in Fairytal hält. Aber Schönheit ist eben nicht alles, denn sie bewirkt, dass ich keine Freunde habe. Die Mädchen aus meiner Schule sind allesamt neidisch auf mich. Und die, die es nicht sind, reden trotzdem nicht mit mir, weil sie Angst haben, dann von den beliebten Mädchen wie Dornröschen gehasst zu werden. Die Jungen versuchen ständig, mich auf einen Ball einzuladen oder fragen mich, ob sie mich auf einen Ausritt mitnehmen dürfen, aber das alles lehne ich meistens ab. Ich möchte nicht begehrt werden, weil ich schön bin, sondern weil ich ein guter Mensch bin, doch das interessiert hier niemanden. Man könnte Fairytal auch einfach Land der Oberflächlichkeit nennen. Der Name Schneewittchen trägt auch nicht unbedingt dazu bei, dass ich mehr Freunde bekomme. Ich habe zwar einen richtigen Namen, doch den kennt kaum jemand. Meine Eltern haben mich sofort nach meiner Geburt Schneewittchen getauft, weil ich so aussehe, wie ich eben aussehe. Die Mädchen aus der Schule ziehen mich mit diesem Namen immer auf. Eigentlich heiße ich nämlich Frieda. Ich bezweifle aber, dass man sich über diesen Namen weniger lustig machen würde. Die Mädchen aus der Schule haben aber auch immer gut reden. Dornröschen heißt immerhin eigentlich Aurora. Ein wirklich schöner Name, das muss ich zugeben. Aurora war für die alten Römer die Göttin der Morgenröte und Dornröschen sieht auch ein bisschen aus wie eine Göttin mit ihren langen, blonden Locken und ihrem hübschen Gesicht. Den Namen Dornröschen hat sie als Kind verpasst bekommen, weil sie sich ihr ganzes Zimmer immer mit Rosen geschmückt hat, an deren Dornen sie sich ständig kratzte. Als wir noch Kinder waren, waren wir nämlich befreundet, aber dann interessierten sich so viele Prinzen für mich und seitdem mag sie mich nicht mehr. Dann gibt es in meiner Klasse noch Cinderella, die von ihrer Stiefmutter und ihren Stiefschwestern liebevoll Aschenputtel genannt wird, weil sie immer so viel arbeiten musste, dass sie ganz grau vor Dreck war. Jedoch hat sie vor kurzem einen Prinzen aus unserer Schule, nämlich Prinz Charming, geheiratet und seitdem hat sie ein besseres Leben, aber einen schlechteren Charakter. Sie ist Dornröschens beste Freundin. Und der Typ heißt wirklich Charming. Da bin ich mit Schneewittchen doch noch ganz gut weggekommen. Belle ist ein weiteres Mädchen in meiner Schule. Wie ihr Name schon vermuten lässt, ist auch sie sehr schön, aber sie hat die Macke, sich immer in hässliche Typen zu verlieben, die obendrein auch noch gemein sind. Keiner versteht ihren seltsamen Geschmack. Zwei Mädchen, die ich eigentlich ziemlich nett finde, sind Pocahontas und Mulan. Sie kommen nicht aus Fairytal, sondern sind erst vor kurzem hierher gezogen. Sie sprechen unsere Sprache kaum und sehen auch komisch aus, aber irgendwie scheinen sie nett zu sein, wie sie immer so ein bisschen verloren herumstehen und nur für sich sind. Und sie haben schöne Namen! Dann ist da noch Rapunzel. Niemand weiß, was man von ihr halten soll. Sie wohnt bei ihrer Pflegemutter in einem Turm, aus dem sie nie heraus durfte, bis sie in die Schule kam. Und auch jetzt darf sie den Turm nur für die Schule verlassen. Sie ist total abgedreht, verhält sich wie ein kleines Kind, hat extreme Stimmungsschwankungen und ihre Haare sind so lang, dass jeder aus der Schule schon mindestens einmal draufgetreten ist, worüber sie sich auch noch beschwert. Den Namen Rapunzel hat sie bekommen, weil ihre Mutter in der Schwangerschaft angeblich nur Rapunzeln gegessen hat. Vielleicht ist sie deswegen so. Natürlich haben wir auch ein paar Jungen an der Schule, die meistens Prinzen sind. Prinz Philipp zum Beispiel, der schon ewig hinter Dornröschen her ist und sich deswegen ebenfalls einen Spaß daraus macht, gemein zu mir zu sein oder Prinz Eugene, der sich aus irgendeinem Grund für die verrückte Rapunzel interessiert und von dem ich glaube, dass er sich nur als Prinz ausgibt. Natürlich gibt es noch viel mehr Prinzen bei uns, aber deren Namen vergesse ich ständig, weil sie so kompliziert sind, dass sie kein Mensch aussprechen kann. Ich bekomme einen Schneeball gegen den Kopf und drehe mich um. Pocahontas hat ihn anscheinend geworfen. „Entschuldigung“, ruft sie gebrochen zu mir herüber. Alle kugeln sich vor lachen. „Jetzt ist ihr Haar auch noch weiß wie Schnee“, grölt Dornröschen und alle lachen noch lauter. Ich merke, wie sich Tränen den Weg in meine Augen bahnen, drehe mich um und renne los. Ich laufe in den Stall, in dem alle ihre Pferde abstellen, mit denen sie zur Schule geritten kommen und hole meinen Hengst Max aus seiner Box. Der ist übrigens auch weiß wie Schnee. Ich springe auf und reite in Windeseile nach Hause. Bloß weg von dieser blöden Schule. Im Schloss angekommen gehe ich sofort zu dem Turm, in dem mein Zimmer liegt und laufe geradewegs meiner Stiefmutter in die Arme. „Oh Schätzchen, was hast du denn?“, fragt sie übertrieben, sodass ich wieder einmal sofort merke, dass es sie eigentlich gar nicht interessiert. „Schule ist doof“, murre ich und will an ihr vorbeigehen, aber sie hält mich fest. „Tja, so geht es allen jungen Prinzessinnen in deinem Alter. Weißt du, als ich sechzehn war, da ging es mir genauso wie dir. Alle waren neidisch auf mich, weil ich so außerordentlich schön und talentiert war. Und du bist... naja, du bist ganz hübsch eigentlich.“ Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich so fest an sich, dass mir kurz die Luft wegbleibt. „Es ist schwer, begehrenswert zu sein.“ Als sie mich endlich loslässt, gehe ich weiter in mein Zimmer, wo ich mich erst einmal umziehe. Warme Sachen brauche ich, denn ich laufe weg, habe ich gerade beschlossen. Ich gehe irgendwohin, wo mich niemand kennt und wo ich vielleicht nicht mehr allein bin. Bestimmt sind die Menschen außerhalb von Fairytal nicht so oberflächlich und interessieren sich auch für das Innere eines Menschen. Mit Feder und Tinte kritzele ich eine Nachricht auf ein Stück Pergament für meinen Vater, damit er weiß, dass ich weg bin. Dann mache ich mich auf den Weg. Ich gehe zum Zimmer meiner Stiefmutter, um ihr zu sagen, ich gehe noch einmal raus, doch ich höre, wie sie sich mit jemandem unterhält. „... aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.“ Das war ihr Zauberspiegel. „Du irrst dich“, zischt sie. „Diese elende Schneewittchen! Was findest du so schön an ihr?“ „Ihre Haut ist so weiß wie...“ „Oh, bitte! Fang nicht wieder damit an!“ Anscheinend geht diese Beschreibung nicht nur mir auf die Nerven. „Ich kenne alle Frauen des Landes und Schneewittchen ist die Schönste weit und breit“, erklärt der Zauberspiegel, als wäre das völlig einleuchtend. „Diese Göre! Von innen ist sie hässlich, sage ich dir. Egoistisch. Verwöhnt. Hinterhältig. Einfältig.“ „Schafft sie doch aus dem Weg, wenn sie Euch so sehr stört“, schlägt der Zauberspiegel gelangweilt vor. „Aus dem Weg schaffen“, spottet meine Stiefmutter. „Das stellst du dir so leicht vor. Der König würde sie für immer suchen lassen. Er wird keine ruhige Minute mehr haben, bis er sie wieder hat.“ „Dann müsst Ihr eben dafür sorgen, dass man ihre Leiche findet“, meint der Spiegel. „Aber ich will mir nicht die Hände an ihr schmutzig machen“, jammert meine Stiefmutter und streicht ihr Gewand glatt. „Bittet doch einfach den Jäger, sie auf dem Schlossgelände zu erschießen und sorgt dafür, dass der König ihre Leiche findet“, sagt der Spiegel und klingt dabei so, als hätte er jetzt keine Lust mehr, über Schneewittchen zu reden. „Der Jäger kann behaupten, er hätte sie mit einem Reh verwechselt.“ Dann muss mein Vater davon ausgehen, dass der Jäger sehr schlechte Augen hat, wenn er mich mit einem Reh verwechselt, denke ich und drehe mich um. Ich habe genug gehört. Es überrascht mich nicht wirklich, dass meine Stiefmutter mich am liebsten tot sehen würde. Vielleicht sollte ich sie und Dornröschen mal miteinander bekannt machen, dann könnten sie gemeinsam neidisch sein. Jedenfalls hat meine Stiefmutter mich schon immer gehasst und auch meinen Vater liebt sie nicht wirklich. Sie ist hinter seinem Reichtum her und er merkt es nicht einmal, weil er nur mit mir beschäftigt ist. Ich renne aus dem Schloss, verlasse das Gelände und laufe direkt in den Wald. Sollen sie doch alle machen, was sie wollen. In Fairytal wird mich niemand vermissen, am allerwenigsten die Leute aus meiner Schule und meine Stiefmutter. Und ich werde hier auch nur unglücklich. Ich hätte so gern mal jemandem, mit dem ich reden kann, der mich mag, weil ich ich bin und nicht, weil ich so schön aussehe. Schon nach wenigen Minuten friere ich erbärmlich, während ich durch den verschneiten Wald stapfe. Meine Füße sind die reinsten Eisklumpen und zudem wird es auch noch langsam dunkel. Diesen Teil meines Plans habe ich nicht durchdacht. Wie soll ich die Nacht verbringen? Ich kann mich unmöglich in den Schnee legen und schlafen. Zu essen habe ich auch nichts dabei. Meine Zähne schlagen klappernd aufeinander, weil ich so sehr zittere. Ich beschließe, mich nach einer verlassenen Höhle umzusehen. Ich suche so lange, bis es völlig dunkel geworden ist und ich komplett die Orientierung verloren habe. Ich habe keine Ahnung, wo lang ich gehen müsste, wenn ich zum Schloss zurück wollte. Eine Höhle habe ich auch nicht gefunden. Was soll ich denn jetzt machen? Mich auf den Boden legen und mit Zweigen zudecken? Dann bin ich morgen Früh bestimmt schon erfroren. Versuchen, das Schloss zu finden? Aber dorthin will ich ja eigentlich nicht zurück, denn da würde ich vermutlich eh bald sterben, wenn meine Stiefmutter ihre Pläne in die Tat umsetzt. Als ich gerade anfangen will zu weinen, höre ich plötzlich ein Klicken. Wie vom Donner gerührt bleibe ich stehen. Das war eindeutig das Klicken einer Armbrust. Ich bin starr vor Angst. Sterbe ich jetzt schon eher, als ich dachte? Hat meine Stiefmutter den Jäger so schnell losgeschickt? Ich wimmere leise vor Angst. „Hallo?“, ruft da jemand, der eindeutig nicht unser Jäger ist. „Ist da jemand?“ Ich bleibe stehen und rühre mich nicht vom Fleck, sage auch kein Wort. Ein Licht flackert auf und jemand kommt auf mich zu. Mit großen Augen starre ich das Licht an, bis es direkt neben mir tänzelt und mich anstrahlt. „Himmel, ich hätte dich beinahe erschossen. Was machst du hier?“, fragt die Stimme. Sie gehört zu einem Mann. „Ich... suche Pilze?“, stammle ich. „Die berühmten Schneepilze, oder was?“ Er lacht. „Da musst du aber aufpassen. Die gelben würde ich lieber stehen lassen an deiner Stelle.“ „Danke für den Tipp“, antworte ich etwas verwirrt. „Jetzt mal im Ernst, hast du dich verlaufen?“, fragt er und lässt endlich die Hand mit der Laterne sinken. „Quatsch“, lüge ich. „Ich spaziere am liebsten im Dunkeln.“ „Wenn du meinst. Gehörst du zum Schloss? Wenn du willst, kann ich dich dorthin zurückbringen“, bietet er an. „Nicht, dass dich noch jemand wegfängt.“ „Nein, danke. Dorthin gehe ich bestimmt nicht zurück“, sage ich schnippisch. „Wie du willst. Dann mach's mal gut. Aber ich würde an deiner Stelle nicht zu lange im dunklen Wald spazieren.“ Er dreht sich um und geht los. Verblüfft bleibe ich zurück und starre ihm hinterher. Er kann mich doch jetzt nicht einfach mir selbst überlassen. „Warte mal“, rufe ich und er bleibt stehen. Das vermute ich zumindest, da der Lichtschein innehält und das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen verstummt. „Wo wohnst du eigentlich?“ Wenig später betrete ich eine kleine Holzhütte, die auf einer Lichtung mitten im Wald erbaut wurde. Dort drin ist es warm und es duftet nach verbranntem Holz und Tannengrün. Vor dem Kamin stehen zwei alte Sessel und ein Schemel aus Holz. In der gegenüberliegenden Ecke steht ein schmales Bett, das mit Tierfellen bedeckt ist. Auf der anderen Seite des Raumes befindet sich ein quadratischer Tisch mit zwei Stühlen. Ansonsten gibt es in dieser Hütte nicht viel zu sehen, was erwähnenswert wäre. Während ich mich umsehe, nehme ich das Tuch ab, das ich mir um den Kopf geschlungen habe, bevor ich aus dem Schloss gelaufen bin. Ich spüre, wie der Mann mich plötzlich anstarrt. „Mein Gott, du bist Schneewittchen, oder?“ Ich starre zurück und stelle fest, dass er für einen Mann recht klein ist. Er hat einen stämmigen Körperbau und schmutzig blondes Haar. Eine auffällige Narbe erstreckt sich von seiner Nase aus über seine rechte Wange. Seine Augen sind leuchtend grün. Ich schätze, dass er ein bisschen älter ist als ich. „Ja, und?“, antworte ich desinteressiert. „Ich habe keine Ahnung, wer du bist.“ Er hat sich offenbar von seiner Verblüffung wieder gefangen und geht hinüber zum Kamin. Er füllt einen Kessel mit Wasser aus einer Holzwanne und hängt ihn in eine Halterung über dem Feuer. „Ich bin niemand Besonderes“, sagt er und klingt dabei gleichgültig. „Aber wenn im Schloss jemand erfährt, dass Schneewittchen in meiner Hütte ist, kriege ich Ärger.“ Er grinst mich an und deutet auf einen der Sessel. Ich gehe hin und setze mich. Meine Füße tun weh vom Laufen und sofort entspannt sich mein ganzer Körper, obwohl der Sessel unbequem ist. Der Mann stellt einen Teller mit gegrillten Fleischstücken auf dem Schemel ab. „Bedien dich, wenn du willst.“ „Bist du Jäger?“, frage ich, während ich das Fleisch skeptisch mustere. „Ich jage nur für mich selbst“, antwortet er. Er steht neben dem Kamin und wartet, dass das Wasser heiß genug wird. „Hauptsächlich arbeite ich im Bergwerk und verkaufe dann die Edelsteine auf dem Markt. Aber jetzt erzähl mir mal, was eine Prinzessin im finsteren Wald verloren hat.“ Ich wundere mich kurz über die Art, wie er mit mir spricht. Normalerweise sprechen mich fremde Leute mit „Eure Hoheit“ an und duzen mich nicht. „Ich habe keine Lust mehr, Schneewittchen zu sein“, erkläre ich knapp. Er zieht eine Augenbraue hoch und lacht dann auf einmal. „Du hast keine Lust mehr, du zu sein? Was genau stört dich denn an deinem Luxusleben? Regelmäßiges Essen? Teure Kleidung? Ein warmes Bett? Von allen verehrt zu werden?“ Verärgert beiße ich mir auf die Unterlippe und verschränke die Arme vor der Brust. „Du hast ja keine Ahnung.“ Er sieht mich schief an. „Nein, von einem Leben im Luxus und unvergleichbarer Schönheit habe ich wirklich keine Ahnung“, gibt er zu. „Du bist übrigens gar nicht so schön, wie immer alle behaupten. Bist ganz schön dünn dafür, dass du immer genug zu essen hast. Und so kränklich blass.“ Mit großen Augen schaue ich ihn an. „Findest du wirklich?“ Er wirkt überrascht. „Du siehst aus, als würde dich das freuen.“ „Naja, irgendwie freut es mich auch“, sage ich unsicher. „Alle kennen mich, weil ich angeblich die Schönste im Land bin und wollen nur deshalb mit mir befreundet sein. Niemand interessiert sich für das, was dahinter steckt. Und wenn sie feststellen, dass ich nicht so bin, wie sie dachten, lassen sie mich auf einmal fallen.“ Ich seufze. „Verstehst du, was ich meine? Alle haben sofort bestimmte Erwartungen an mich, nur wegen meines Äußeren.“ „Das hast du noch nie jemandem erzählt, oder?“ Ist das das Einzige, was ihm dazu einfällt? „Nein, habe ich wirklich nicht.“ „Machst du denn etwas dafür, dass sich jemand für dein Inneres interessieren könnte?“, fragt er mich nun. Verständnislos sehe ich ihn an. „Wie meinst du das?“ „Ich meine, gehst du denn auch mal raus aus dem Schloss? Mischst dich unter die Leute? Tust etwas Gutes für die Armen? Versuchst, dir Freunde zu machen?“, fragt er. „Das ist nicht so leicht, wie du dir das vorstellst“, murmele ich verärgert, muss aber innerlich zugeben, dass ich seine Fragen nicht bejahen könnte. Eigentlich halte ich mich entweder im Schloss oder in der Schule auf. „Als Prinzessin wird man ständig überwacht und überall erkannt.“ „Du könntest dich verkleiden“, schlägt er leichthin vor. Mit einer Kelle schöpft er heißes Wasser aus dem Kessel in zwei Tassen und drückt mir eine davon in die Hand. „Außerdem gibt es immer eine Möglichkeit, wenn man nur will.“ „Du hast leicht reden“, spotte ich abwinkend. „Du führst hier ein Leben im Wald und kannst tun und lassen, was du willst.“ Er schnaubt verächtlich. „Das ist nicht so schön, wie du dir das vorstellst, Prinzesschen. Ich bin darauf angewiesen, jeden Tag im Bergwerk zu arbeiten und nebenbei noch sammeln und jagen zu gehen, damit ich nicht verhungere. Es gibt Tage im Bergwerk, da ist nichts zu finden und ich habe nichts, was ich verkaufen kann. Wo bekomme ich dann mein Brot her? Oder neue Kleidung? Und den ganzen Tag allein zu sein ist auch nicht gerade das, was ich mir unter einem leichten Leben vorstelle.“ Ich wende den Blick ab und starre in meine Tasse, in der ein paar Kräuter schwimmen. „Immerhin erwartet von dir niemand etwas, nur weil du hübsch aussiehst.“ „Wie gesagt, tust du denn etwas dafür, dass man dein Inneres beachtet?“, fragt er mich erneut. „Du kannst eben nicht erwarten, dass dir alles zugeflogen kommt, Kleine. Du bist es sicher gewöhnt, dass immer alles nach deinem Willen geht, aber das reale Leben ist anders. Man muss unter Umständen auch mal etwas für sein Glück tun.“ Er sieht mich durchdringend an. „Und außerdem habe ich in dein Inneres gesehen und mittlerweile festgestellt, dass du faul zu sein scheinst und an andere höhere Erwartungen stellst als an dich selbst.“ Empört sehe ich ihn an und springe auf. „So etwas muss ich mir nicht gefallen lassen!“ Mit einem Knall stelle ich die Tasse ab und eile zur Tür, will wieder raus in den Wald. Hauptsache weg von diesem neunmalklugen Bergwerktrottel. Doch er packt mein Handgelenk und hält mich fest, ehe ich eine Hand auf den Türknauf legen kann. „Wo willst du denn jetzt hin? Draußen im Schnee übernachten?“, fragt er und ein spöttisches Lächeln umspielt seine Lippen. „Da überlebst du keine zwei Stunden.“ Ich will mich losreißen, weiß aber, dass er Recht hat. Nach einigem Zögern gehe ich zurück zu dem abgewetzten Sessel und setze mich wieder. Auf einmal bin ich unglaublich müde und meine Augen brennen. „Ich denke, in jedem Menschen steckt etwas Gutes, Schneewittchen. Und jeder kann daran arbeiten, ein guter Mensch zu sein. Was du gibst, kommt irgendwann einmal zu dir zurück.“ „Frieda“, sage ich. Verwirrt sieht er mich an. „Frieda ist mein richtiger Name“, erkläre ich und mache mich darauf gefasst, dass er lacht, doch er nickt nur. „Der Name passt irgendwie viel besser zu dir.“ Der Bergarbeiter und ich haben an diesem Abend noch lange geredet. In der Nacht habe ich kaum geschlafen. Ich musste einfach zu viel über mich selbst und diesen Bergarbeiter nachdenken. Vielleicht hat er Recht und ich sollte wirklich versuchen, mehr von mir zu geben, auf andere zuzugehen und mich selbst kritischer betrachten. Ich bin bisher nie auf die Idee gekommen, selbst etwas dafür zu tun, gemocht zu werden, sondern habe lediglich von anderen erwartet, mich aufgrund meines Charakters zu mögen und nicht aufgrund meiner Schönheit. Dafür sollte ich zunächst aber einmal zeigen, was eigentlich in mir steckt. Bei Sonnenaufgang schwang ich mich aus dem unbequemen Bett und zog mich an. Der Bergarbeiter hatte mir sein Bett überlassen und selbst in einem der Sessel am Kamin geschlafen. Er war ebenfalls schon wach und kochte gerade Tee. „Haben Eure Majestät wohl genächtigt?“, fragt er und lächelt wieder spöttisch, sodass ich die Augen verdrehe. „Habe schon besser geschlafen“, murmele ich und nehme ihm eine Teetasse ab. „Wie heißt du eigentlich?“ „Friedrich“, antwortet er grinsend. Frieda und Friedrich. Wie witzig. „Was wirst du heute machen?“ „Ich denke, ich werde zum Schloss zurückgehen“, sage ich und schlürfe an meinem Tee. „Eine weise Entscheidung“, kommentiert Friedrich. „Soll ich dich begleiten oder findest du allein zurück?“ Mein Blick ist ihm Antwort genug und so machen wir uns nach einem Tee und ein paar Stücken kaltem Wildfleisch auf den Weg durch den Wald zum Schloss. Niemals hätte ich diesen Weg allein finden können. Wer weiß, wo ich am Ende gelandet wäre. Der Fußmarsch dauert nicht lange und so muss ich feststellen, dass ich mich nicht sonderlich weit vom Schloss entfernt hatte, und als es in Sichtweite kam, bleib Friedrich stehen. „Es sind nur noch ein paar Minuten zu Fuß“, sagt er. Ich sehe ihn an. „Werden wir uns irgendwann wiedersehen?“ „Bei deinem Orientierungssinn glaube ich das nicht“, antwortet er lachend, wird aber gleich wieder ernst. „Du kannst mich ja mal an meinem Marktstand besuchen.“ „Danke für deine Hilfe gestern Abend“, sage ich und verbeuge mich leicht. „Aber Prinzessin, ich bin es doch, der sich vor Euch verbeugen muss“, ruft er, kniet plötzlich vor mir nieder und nimmt meine Hand. „Es war mir eine Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen.“ Er küsst meine Hand und richtet sich wieder auf. Verblüfft sieht er mich an. „Wie kommt es, dass Eure Wangen auf einmal nicht mehr weiß wie Schnee sind, sondern viel mehr euren Lippen gleichen?“ Ich mache große Augen und drehe mich beschämt um. „Auf Wiedersehen, Friedrich.“ So schnell ich kann stapfe ich durch den Schnee auf das Schloss zu. Vor meinem inneren Auge sehe ich Friedrichs spöttisches Lächeln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)