Dann steig ich gewaffnet hervor aus dem Grab von Niekas ================================================================================ Kapitel 1: Dann steig ich gewaffnet hervor aus dem Grab ------------------------------------------------------- Zwischen den vielen Schallplatten, Beethoven, Wagner, Haydn, hatte er eine von Schumann gefunden. Besser als nichts, fand Francis. Wenn dieses lästige Hämmern nicht aufhören wollte, konnte er zumindest versuchen, es zu übertönen. Er stützte sich am Fensterrahmen ab und sah hinunter auf die Stadt. Das Weinglas lehnte kühl an seiner Wange. Draußen lag eine dünne Schicht Schnee, der Nachmittag dämmerte vor sich hin, vereinzelte Menschen hasteten über die Gehsteige. Ein Grüppchen junger Männer lungerte vor dem Eingang eines Cafés herum, die grellen Armbinden bissen sich mit den dunklen Wintermänteln. Zwei Frauen gingen vorbei, einander untergehakt. Francis folgte ihnen mit den Augen, bis sie die Männer mehrere Schritte hinter sich gelassen hatten. Erst dann atmete er auf und trank einen Schluck Wein. Die Schallplatte knisterte, ein dumpfes Klavier spielte, ein Bariton sang. Sie bemühten sich, Francis' angespannte Nerven zu beruhigen. Nach Frankreich zogen zwei Grenadier, Die waren in Rußland gefangen, Und als sie kamen ins deutsche Quartier, Sie ließen die Köpfe hangen. Da hörten sie beide die traurige Mär: Daß Frankreich verloren gegangen, Besiegt und geschlagen das tapfere Heer – Und der Kaiser, der Kaiser gefangen. Er hob den Blick in den dunkler werdenden Himmel und betrachtete sein blasses Spiegelbild in der Scheibe. Seine Haare mussten mal wieder geschnitten werden. Rasieren sollte er sich auch, aber Ludwig war schon lange nicht mehr leichtsinnig genug, ihm eine Klinge zu überlassen. Gedankenverloren fuhr er mit der Hand über seine aschblonden Bartstoppeln. In dem farblosen Spiegelbild hatten die Gelenke seiner Finger dunkelgraue Flecken. Er seufzte, drückte die geschundenen Knöchel an seine Lippen und sah wieder hinunter zu den Männern. Sie duckten sich in ihre Kragen, stampften mit den Füßen, redeten und rauchten. Rauchen war eine gute Idee. Francis trat an seinen Schreibtisch und zog die oberste Schublade auf. Aus Gewohnheit tastete er einige Sekunden darin herum, bevor er stirnrunzelnd bemerkte, dass Ludwig sein Büro vollständig umgeräumt haben musste. Seine Zigaretten waren weg. So eine Schande. Auch die Schallplatten waren ausgetauscht worden, aber der Plattenspieler stand noch an seinem Platz und spielte unverdrossen über das lärmende Hämmern hinweg. Der Wein war ebenfalls noch da. Francis leerte sein Glas in einem Zug, griff nach der angebrochenen Flasche auf dem Schreibtisch und füllte es erneut. Gar kein schlechter Jahrgang. Da weinten zusammen die Grenadier Wohl ob der kläglichen Kunde. Der eine sprach: Wie weh wird mir, Wie brennt meine alte Wunde! Der Lärm wurde immer penetranter, dumpfe Schläge auf Holz. Francis verdrehte die Augen, ging zum Plattenspieler und drehte ihn lauter. Der Sänger steigerte sich mit der Zeit in seinen Gesang hinein, der Lärm trat wieder in den Hintergrund. Wenn man etwas nicht beseitigen konnte, konnte man es zumindest mit etwas anderem überdecken. Bekämpfe es! Beseitige es! Töte es, bevor es dich tötet! Hör zu! Gib nach! Beuge dich, bevor es dich zerbricht! Er schüttelte wütend den Kopf, fuhr mit gespreizten Fingern in seine Haare und verharrte einen Augenblick so, den Blick ins Leere gerichtet. In letzter Zeit hatte er oft seltsame Gedanken in seinem Kopf. Er hatte schon viele Tiefpunkte in seinem Leben gehabt, viele Krisen erlebt, während der Revolution hatte er sich launischer benommen als eine schwangere Frau. Aber so widersprüchliche, fremd wirkende Gedanken wie jetzt hatte er noch nie gehabt. Ein Teil von ihm wollte mit Ludwig zusammenarbeiten, das Beste aus seiner Niederlage machen und nach vorn sehen. Der andere wollte Widerstand leisten, um jeden Preis frei sein, und spielte aus purem Trotz mit dem Gedanken, zu Arthur zu fliehen. Ausgerechnet zu Arthur! Einige Politiker hatten es vorgemacht, und was Politiker vormachten, war oft eine gute Idee. Francis seufzte erneut und küsste eine wunde Stelle an seinem Unterarm. Er war hier. Er konnte nicht zu Arthur, zumindest sah er dazu keine realistische Möglichkeit. Arthur würde ihn hassen, wenn er mit Ludwig gemeinsame Sachen machte, aber wäre er an Francis' Stelle, würde er doch dasselbe tun. Oder wenigstens dieselben komischen Gedanken haben. Der andre sprach: Das Lied ist aus, Auch ich möcht mit dir sterben, Doch hab ich Weib und Kind zu Haus, Die ohne mich verderben. Was schert mich Weib, was schert mich Kind, Ich trage weit beßres Verlangen; Laß sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind – Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen! Francis trank sein Glas leer und griff nach der Flasche, um nachzuschenken. Er sollte nicht so viel grübeln. In ein paar Tagen würde seine Meinung, auf wessen Seite er sich zu schlagen hatte, wieder feststehen. Er hoffte für sich, dass es die richtige Seite sein würde. Und wenn nicht – wieder einige Tage später würde er seine Meinung erneut geändert haben. So hielt er es schließlich seit Kriegsbeginn. Es war nicht zum Aushalten mit ihm, stellte Francis mit einem Lächeln fest. Er hätte nicht an Ludwigs Stelle sein wollen. Gewähr mir, Bruder, eine Bitt: Wenn ich jetzt sterben werde, So nimm meine Leiche nach Frankreich mit, Begrab mich in Frankreichs Erde. Das Ehrenkreuz am roten Band Sollst du aufs Herz mir legen; Die Flinte gib mir in die Hand, Und gürt mir um den Degen. Ein lautes Krachen übertönte den Sänger, der doch gerade mit so viel Gefühl bei der Sache war. Francis sah zur Tür hinüber. Sie war verbarrikadiert, er hatte den Aktenschrank halb davor geschoben. Es war harte Arbeit gewesen, und es amüsierte ihn, dass es so lange dauerte, die Anstrengungen eines einzelnen Mannes zunichte zu machen. Übermütig trank er seinen Wein in einem Zug, verschluckte sich und hustete. Ein noch lauteres Krachen erklang. Francis stellte sein Glas auf dem Schreibtisch ab und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er ließ die letzten Schlucke aus der Flasche in das bauchige Glas laufen und sah zu, wie die rote Flüssigkeit umher schwappte. Hinter ihm splitterte Holz, jemand brüllte, etwas Schweres wurde über den Boden geschoben. Er brauchte nur die Augen zu schließen, um die blanken Stiefel vor sich zu sehen, die Uniformen und Armbinden. Er brauchte nur Ludwigs aufgebrachte Stimme zu hören, um zu wissen, wie sein Gesicht gerade aussah. „Was zum Teufel soll das, Francis?“ Unbeirrt drehte Francis ihm weiter den Rücken zu. Er nahm einen Schluck Wein, schob ihn im Mund hin und her, schluckte. Die Schritte kamen näher. „Du hast gesagt, du würdest kooperieren. Hast du vergessen, was du mir versprochen hast?“ Ein Versprechen? Er konnte sich an keines erinnern. „Und kaum lasse ich zu, dass du dich frei im Haus bewegst, verschanzt du dich in meinem Büro.“ Wie albern von Ludwig, zu behaupten, es wäre sein Büro. „Du änderst deine Meinung sehr schnell, Francis.“ Ja, so war er eben. Francis lächelte, hob das Weinglas und betrachtete sein wund gescheuertes Handgelenk. Schnell entschlossen und schnell wieder umgestimmt. „Hast du unsere Unterhaltung vor einer Woche schon vergessen?“ Woher nahm Ludwig überhaupt die Unverschämtheit, zu reden? Der Sänger war noch längst nicht fertig. So will ich liegen und horchen still, Wie eine Schildwach im Grabe, Bis einst ich höre Kanonengebrüll Und wiehernder Rosse Getrabe. „Du musst dich entscheiden, auf welcher Seite du stehen willst, Francis. Willst du einer dieser Feiglinge sein, die sich in England verkriechen und aus dem sicheren Nest heraus große Reden schwingen – oder willst du an meiner Seite kämpfen? Entscheide dich, wie du willst, aber tu es endlich.“ Wortlos trat Francis zum Plattenspieler und drehte die Lautstärke bis an die Schmerzgrenze auf. Er wandte sich zu Ludwig um, ein Leuchten in den Augen und den pompösen Bass-Bariton in den Ohren. Ludwigs Gesicht war vor Wut verzerrt, er bewegte den Mund, aber Francis konnte ihn nicht hören. Spöttisch hob er das Glas, prostete Ludwig zu und intonierte die letzten Verse mit. Seine Zunge stieß die Wörter hierhin und dorthin, nicht gewöhnt an die fremde Sprache und unbeholfen wegen des Alkohols. Verstehen würde Ludwig ihn trotzdem. Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab, Viel Schwerter klirren und blitzen; Dann steig ich gewaffnet hervor aus dem Grab – Den Kaiser, den Kaiser zu schützen. Ludwig schlug ihn ins Gesicht, und Francis taumelte und stürzte. Der Form halber streckte er die Hände aus, um sich abzufangen, im Grunde war der Sturz ihm egal. Seine rechte Hand stieß gegen die Schallplatte und riss sie herunter, die Musik brach ab. Das Weinglas fiel zu Boden und zerbarst, als sein schwerer Körper darauf landete. „Du bist betrunken“, sagte Ludwig abfällig und gab seinen Männern einen Wink. „Schafft ihn wieder nach unten und lasst ihn seinen Rausch ausschlafen. Aber bilde dir nicht ein, die Sache wäre hiermit erledigt, Francis.“ Francis spürte die Hände der Männer an seinen Armen nicht, aber er spürte das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Die süße Angst in Ludwigs Stimme stieg ihm schneller zu Kopf, als der Wein es getan hatte. In seinen Ohren sang der Bariton weiter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)