Sommerregen von Lina_Kudo (Natsu Ame (Shinichi&Ran)) ================================================================================ Kapitel 1: »Bedeute ich dir denn überhaupt etwas?« -------------------------------------------------- KAPITEL 1 »Bedeute ich dir denn überhaupt etwas?« raurig sah Ran zum Nachmittagshimmel empor. Trübe Wolken waren inmitten des unendlichen Blaus zu sehen. Wolken, die allmählich auch die mächtige Sonne verdeckten. Wolken, die immer dunkler und dichter wurden. Es ging so schnell, dass man ihnen sogar mit bloßem Auge dabei zusehen konnte, wie sie sich vermehrten. Offensichtlich würde sich bald der Regen ankündigen. Sie senkte ihren Blick und seufzte schwer. Gedankenverloren ließ sie ihren Blick zum Fluss wandern, der vor ihr strömte. Sie zog die Knie an ihren Körper und legte ihre Arme darum. Deprimiert stützte sie ihr Kinn auf die Knie und beobachtete das fließende Wasser. In letzter Zeit verbrachte sie viele Stunden hier. Hier fühlte sie sich einfach … wohl. Hier konnte sie ihre Gedanken und Gefühle baumeln lassen. Hier konnte sie für sich sein. Hier musste sie sich vor anderen nicht verstellen. Nicht so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Das war es nämlich ganz gewiss nicht. Geistesabwesend fixierte sie den Fluss. Der Fluss … Er war wie ein Fluss. Nie an einem Ort bleibend und immer wegfließend. Immer auf Zack; immer unterwegs. Stürmisch und ungeduldig. Einen Fluss konnte man nicht aufhalten, zu fließen. Unmöglich. Niemals würde er zum Stillstand kommen. Genauso unmöglich war es, ihn aufhalten zu wollen. Ihn zum Bleiben zu bewegen. Es würde ihn immer in die Ferne ziehen; egal, wie viel Mühe sie sich auch gab, ihn zu überreden, doch endlich zu Hause zu bleiben. Hier, bei ihr. Resigniert fuhr sie sich durch die Haare. Warum ... kannst du nicht wie ein stiller See sein? Mein See? Warum ausgerechnet ein Fluss? Warum … Shinichi? Sie war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie erst sehr spät bemerkte, dass sie Gesellschaft bekommen hatte. Eine kleine Taube war direkt neben ihr gelandet. Als sie Notiz von ihr nahm, brachte sie lediglich ein warmes Lächeln zu Stande. Wenn du schon der Fluss bist, dann wäre ich gerne ein Vogel. Dann könnte ich dir immer folgen, egal wo du auch hinfließen magst. Ich könnte mich so immer vergewissern, dass es dir gut geht und immer bei dir sein. Warum kann ich nicht einfach ein Vogel sein? Dass sie sich mit dem Vogel nicht in trauter Zweisamkeit befand, blieb ihr jedoch weiterhin verborgen. Ein kleiner Junge mit einer großen Brille und dunkelbraunen, zerzausten Haaren hatte sich direkt hinter einem Baum versteckt, der sich wiederum hinter ihr befand. Mit einem mindestens genauso deprimierenden Blick schaute er drein. Conan hatte gleich gemerkt, dass etwas nicht mit ihr stimmte, als sie behauptet hatte, sich am Nachmittag mit Sonoko zu treffen und angekündigt hatte, heute Abend nicht zu Hause zu essen. Sie war eine schlechte Lügnerin. Ihre Augen hatten etwas ganz Anderes ausgesagt als ihre Stimme, die sich bemüht hatte, eine gute Laune vorzutäuschen. Sie hatten ihm verraten, dass sie wieder an einem Tiefpunkt angelangt war. Es war wie ein stummer, verzweifelter Hilfeschrei gewesen, den nur er bemerkte. Und er hatte Recht behalten. Das war jedoch eine der wenigen Momente, wo er inständig gehofft hatte, nicht im Recht zu liegen. Eine der Fälle, wo er sich überhaupt nicht darüber freuen konnte und inständig gehofft hatte, sich zu irren. Er war kurz davor, selbst in Trauer zu versinken, doch riss sich gerade noch zusammen. Er musste jetzt für sie da sein! Als Conan konnte er sie nicht annähernd so trösten, wie er es mit seiner wahren Identität könnte. Außerdem würde sie sofort wieder ihre heile Fassade aufsetzen, um ihn nicht zu beunruhigen. Also lieber am Telefon, aber als er selbst, als persönlich, aber in einem falschen Körper. Mehr Möglichkeiten hatte er leider nicht. Durch dieses Vorhaben angetrieben zog er sein zweites Handy aus seiner Hosentasche. Er war weit genug entfernt, sodass sie ihn nicht doppelt hören würde. Eifrig stellte er auf dem Stimmentransposer seine eigene Stimme ein und tippte auf Ran, nachdem er sie auf dem Telefonbuch sofort gefunden hatte – schließlich stand sie ganz oben unter den »Favoriten«. Ran schrak hoch, als ihr Handy klingelte. Sie fischte es aus ihrer Handtasche heraus und sah auf dem Display ein Foto von Shinichi aufblinken. Ein mattes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, bevor sie auf den grünen Knopf tippte und den Hörer an ihr rechtes Ohr hielt. »Hallo Shinichi«, begrüßte sie ihn mit schwacher, aber dennoch erfreuter Stimme. »Schön, dass du dich auch mal wieder meldest.« »Tut mir leid; ich hatte viel um die Ohren gehabt. Wie geht es dir, Ran?« Er biss die Zähne zusammen und versuchte, so heiter wie möglich zu klingen. Alles andere wäre verdächtig gewesen. Doch er hatte nicht damit gerechnet, was jetzt kam. »Freunde vernachlässigt man nicht. Egal, wie viel man gerade um die Ohren hat. Ist ein kurzer Anruf oder eine kleine SMS alle paar Tage, die nur ein paar Minuten deiner wertvollen Zeit in Anspruch nehmen, schon zu viel verlangt?« Der hatte gesessen. Conan schluckte schwer und biss sich anschließend zerknirscht auf die Lippen. Sie war wirklich enttäuscht und verletzt. Mehr denn je. Und das war für ihn um ein Vielfaches schlimmer, als wenn sie lediglich sauer auf ihn gewesen wäre. Ihm wären sogar diverse Karateangriffe lieber gewesen als zu hören, wie enttäuscht sie von ihm war. Es kam so gut wie nie vor, dass sie am Telefon so offen darüber sprach, was sie von ihrer langjährigen Freundschaft erwartete. Klar machte sie ihm ab und zu Vorwürfe, warum er sich so lange nicht gemeldet hatte. Aber noch nie hatte sie auch nur ansatzweise ihre Freundschaft in Frage gestellt. Er wollte gerade ansetzen, um sich zu rechtfertigen, schloss seine Lippen jedoch seufzend wieder. Sie hatte ja Recht. Er war ein furchtbarer Freund. Dass Ran überhaupt noch an ihrer Freundschaft festhielt, grenzte an ein Wunder und war einfach an der Tatsache zurückzuführen, dass sie ein echter Engel war. Aber sie selbst war eben auch nichts anderes als ein Wunder. Ein wahrer Engel auf Erden. Und so sprach er die schlichtesten Worte aus, die er in diesem Moment am gerechtfertigsten hielt: »Es tut mir leid.« »Ist schon in Ordnung«, erwiderte sie prompt und sah zu Boden. »Sag mir lieber, wann du dich endlich mal wieder blicken lässt.« Abermals schluckte der geschrumpfte Oberschüler. Warum machte sie es ihm mit dieser Frage immer wieder unnötig schwerer als ohnehin schon? Es war doch auch sein sehnsüchtigster Wunsch, endlich wieder zu ihr zurückzukehren. Als Shinichi Kudo. Und jedes Mal, wenn sie ihn das fragte, zwang sie ihn gleichzeitig dazu, ihr eine herbe Enttäuschung zu bereiten. Auch, wenn er das weniger als alles andere wollte: Falsche Hoffnungen wollte er ihr allerdings noch weniger machen. Auf gar keinen Fall. Und so fiel seine Antwort genauso wie immer aus. »Das wird wohl noch eine Weile dauern. Ich kann hier einfach nicht weg; es tut mir sehr leid.« Verbittert biss sich Ran auf die Lippen. Das war ja vorherzusehen, und obwohl sie versucht hatte, keine Erwartungen zu stellen, tat ihr seine Antwort trotzdem jedes Mal auf‘s Neueste weh. Es war, als würde er immer wieder die alte Wunde mit einer scharfen Schwertklinge erneut aufreißen. Was ihr am meisten schmerzte: Dass es anscheinend nur sie war, der es etwas ausmachte, wenn sie sich so lange nicht sahen. Natürlich. Es hing doch auch allein von ihm ab, ob sie sich sahen oder nicht. Sie hatte überhaupt keinen Einfluss darauf. Leider. Sie fühlte sich so … schwach und hilflos. Wie schon so oft in letzter Zeit. Obwohl sie sich nie traute, darüber zu reden. Doch inzwischen hatte ihre Verzweiflung solche Ausmaße angenommen, dass sie sich nicht mehr länger zurückhalten konnte. »Sag mal Shinichi, wie viel liegt dir überhaupt noch an unserer Freundschaft?« Conan stockte der Atem. Es war, als würde er den Boden unter den Füßen verlieren. Entsetzt rief er in den Hörer die ersten Gedanken, die ihm entgegenschossen. »Wie kommst du denn jetzt darauf? Wie lange kennen wir uns nun schon? Natürlich liegt mir sehr viel an unserer Freundschaft; das weißt du doch!« Zeitgleich gestand er sich selbst jedoch ein: Eigentlich … ja nicht. Woher sollte sie das denn wissen? Er zeigte oder sagte ihr doch nie, wie viel sie ihm bedeutete. Er war ein Freund, der sich nie blicken ließ und sich nur telefonisch alle heiligen Zeiten einmal meldete. Kein Außenstehender würde unter solchen Umständen meinen, dass ihm Ran besonders wichtig war. Geschweige denn, dass er sie sogar mehr als alles andere auf dieser Welt liebte. Welch eine Ironie. Auf der anderen Seite wollte er es ihr aber auch nicht am Telefon von seinen Gefühlen berichten. Er wollte ihr dabei in die veilchenblauen Augen sehen, die er so sehr begehrte. »Warum kommst du dann nicht einfach? Du hast noch nie so lange für einen Fall gebraucht. Oder bist du inzwischen Agent geworden, der untertauchen muss? Weißt du … Ich weiß echt absolut nichts über dich zurzeit. Ich weiß nicht, wo du dich aufhältst; an was für Fälle du arbeitest; wie es dir wirklich geht, … Nichts. Weil du mir einfach nichts mehr erzählst! Es ist, als ob du mir nicht mehr vertraust. Dich von mir abschottest. Ich habe das Gefühl, dass wir uns immer mehr voneinander entfernen und uns zunehmend fremd werden. Und das macht mir Angst.« Während des Redens war sie in Tränen ausgebrochen. Lange hatte sie dagegen angekämpft, doch nun hatte sie den Kampf gegen diese übermächtige Kraft verloren. Schluchzend saß sie vor dem Fluss und weinte sich die Seele aus dem Leib. Und er war dafür verantwortlich. Er ganz allein. Er war doch wirklich das Letzte. Wie konnte er ihr nur immer wieder so etwas antun? Das hatte sie am wenigsten von allen Menschen auf dieser Welt verdient. Am allerwenigsten. »Ran … So ist das nicht, bitte glaub mir. Ich darf nicht über den Fall sprechen; weil er streng geheim ist. Ich darf nichts über ihn verraten, so lange er noch nicht abgeschlossen ist. Bitte … vertrau mir einfach und frage nicht nach. Ich bitte dich.« Seine sonst so besonnene Stimme hatte zu zittern begonnen. Auch er musste sehr mit sich selbst kämpfen. Am liebsten wäre er sofort zu ihr gerannt, hätte sie in den Arm genommen und ihr die gesamte Wahrheit offenbart. Gleichzeitig wäre das das Egoistischste, was er hätte tun können. Ihr sein Geheimnis zu verraten, damit vor allem er sich besser fühlen konnte, aber dafür Ran in Lebensgefahr bringen? Sie in diese gefährliche Sache mit hineinziehen? Nein. Das kam überhaupt nicht in Frage. Das war ein zu hoher Preis. Ein unbezahlbarer Preis, den er nicht bereit war zu zahlen. »Denkst du etwa, ich erzähle das weiter? Bei mir ist es gut aufgehoben. Ist es zu viel verlangt, erfahren zu wollen, an was mein Sandkastenfreund seit mittlerweile einem Jahr sitzt? Vielleicht können wir dir ja helfen. All die Polizisten und wir alle. Wir könnten dir doch unter die Arme greifen; mit vereinten Kräften könnten wir den Fall schneller lösen und du könntest endlich wieder heimkommen. Also spiel nicht weiter den Helden und versuch nicht, den Fall alleine zu lösen. Da du schon seit einem Jahr daran sitzt, beweist doch, dass du heillos damit überfordert bist!« In Rans Stimme war wieder ihre altbekannte Entschlossenheit herauszuhören. Das sah schlecht für ihn aus. Wenn sie sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ruhte sie nicht eher, bis sie die Sache erledigt hatte. Eine der zahllosen Charakterzüge an ihr, die er so sehr liebte. Doch in diesem Fall trieb sie ihn in den Wahnsinn. Denn so fiel es ihm nur noch viel schwerer, ihr weiterhin etwas vorzumachen. »Ich will dich nicht mit in diese Sache reinziehen. Ich muss das alleine schaffen. Bitte.« Eine Weile lang hörte er gar nichts. Es herrschte eine unheimliche Stille. Er lugte besorgt am Baum vorbei, wovor er stand. Sie saß immer noch regungslos dort. »Ran?« »Du steckst in Schwierigkeiten, hab ich Recht?« Verdammt. Kapitel 2: »Auch ich bin nur ein Mensch, der schwach werden kann ...« --------------------------------------------------------------------- ****Rückblick**** Wenn sie sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ruhte sie nicht eher, bis sie die Sache erledigt hatte. Eine der zahllosen Charakterzüge an ihr, die er so sehr liebte. Doch in diesem Fall trieb sie ihn in den Wahnsinn. Denn so fiel es ihm nur noch viel schwerer, ihr weiterhin etwas vorzumachen. »Ich will dich nicht mit in diese Sache reinziehen. Ich muss das alleine schaffen. Bitte.« Eine Weile lang hörte er gar nichts. Es herrschte eine unheimliche Stille. Er lugte besorgt am Baum vorbei, wovor er stand. Sie saß immer noch regungslos dort. »Ran?« »Du steckst in Schwierigkeiten, hab ich Recht?« Verdammt. ****Rückblick**** KAPITEL 2 »Auch ich bin nur ein Mensch, der schwach werden kann …« »Nein, wie kommst du denn da-«, wollte er sich scheinheilig herausreden und sie gleichzeitig beschwichtigen, doch seine Gesprächspartnerin brüllte so laut in den Hörer, dass er zusammenzuckte. »Lüg mich nicht an!« Sie krallte sich unbewusst an ihr Handy, als wäre dies der einzige Halt in ihrem Leben. Warum war sie bloß nicht früher darauf gekommen? Dass er beharrlich nichts über seinen Stand und seinen Aufenthaltsort verriet, konnte doch nur bedeuten, dass er in ernsten Schwierigkeiten steckte und niemanden mit hineinziehen wollte. Das sah ihm so verdammt ähnlich. Unbeirrt zog sie ihre Schlüsse. »Bestimmt wirst du verfolgt und es wird dir nach dem Leben getrachtet! Bestimmt musst du gerade auf der ewigen Flucht sein! Deswegen ging es dir nie wirklich gut, wenn wir uns getroffen haben die wenigen Male! Dieser enorme Stress schlägt offenbar gewaltig auf deinen physischen Zustand. Immer hattest du körperliche Beschwerden, warst nie fit und wirktest so gehetzt! Ich war so dumm. Ich hätte viel früher merken müssen, dass da etwas faul ist.« Nein, nein, nein! So ein verdammter Mist! Unter anderem hatte er genau das verhindern wollen. Dass sie darauf kommen könnte, dass er ernsthafte Probleme hatte. Nun, wo sie Gefahr gewittert hatte, würde sie sich so lange nicht mehr beruhigen, bis sie endlich die Wahrheit erfahren würde. Sie würde nicht eher ruhen, bis sie ihn in Sicherheit wusste. So war sie eben. So war sie schon immer gewesen. Er kannte sie besser als jeden anderen Menschen auf dieser Erde. Doch für sie musste er noch einen zugebenermaßen schwachen Versuch starten. Allein für ihre Sicherheit. Er konnte doch nicht einfach so aufgeben. »Das ist es nicht«, antwortete er resigniert und fuhr sich seufzend durch die Haare. »Warum kannst du mir dann nicht einfach erzählen, was mit dir geschehen ist?«, fragte Ran hartnäckig nach und bemerkte nicht, wie es inzwischen zu regnen angefangen hatte. Nicht nur das: Es zog ein regelrechter Sturm auf. Doch das war ihr so ziemlich egal. »Das erzähle ich dir ein anderes Mal, okay? Bei dir rauscht es schon. Du bist bestimmt gerade unterwegs und es zieht gerade ein heftiger Sturm auf, kann das sein? Sieh zu, dass du schnell wieder nach Hause kommst.« Die Oberschülerin biss sich die Zähne zusammen. »Lenk nicht vom Thema ab!« Ihre Tränen fielen unaufhaltsam. Schon allein, dass er sich rauszureden versuchte, verriet ihr, dass sie ganz nah dran war. Ganz nah an der Wahrheit. Sie musste nur noch ihre Hand ausstrecken und sie ergreifen. Diesmal würde sie ihn kriegen. Diesmal würde nichts dazwischenkommen. Diesmal kam er ihr nicht ungeschoren davon! »Sag mir endlich die Wahrheit: Du musst untertauchen, weil dich jemand umbringen will, hab ich Recht? Warum solltest du sonst nichts verraten dürfen?« Als an der anderen Leitung weiterhin Stille herrschte, fühlte sie sich in ihrer schlimmsten Befürchtung bestätigt. Sie zitterte regelrecht vor Anspannung. »Verdammt; warum hast du das nicht früher gesagt? Sag mir, wie ich dir helfen kann!« Nun verlor sie endgültig den Kampf gegen ihre Tränen. Neben der Sehnsucht und der Trauer über seinen Weggang kam nun ein ganz neues, viel schlimmeres Gefühl dazu. Angst. Sie hatte Angst. Solche Angst um ihren besten Freund und ihre große Liebe. Mit einem Mal wurde es gleißend hell in der Umgebung – danach folgte ein ohrenbetäubender Donner. Sie zuckte zusammen. Sie hatte schon immer Angst vor Gewittern gehabt. Aber mit der Angst um Shinichi … konnte selbst diese Angst es nicht aufnehmen. Nicht einmal annähernd. Denn Todesangst war ein ganz anderes Kaliber. Bitte lass das nicht wahr sein. Verzweifelt warf Conan seinen Kopf nach hinten und schlug damit gegen den Baum. Wie sollte er aus dieser Sache rauskommen? Sie war sich schon viel zu sicher. Es war unmöglich. Und noch einmal lügen? Diesmal benötigte es einer viel drastischeren, größeren Lüge; und so würde es ewig weitergehen. Ein Teufelskreislauf. Er hatte sich doch jetzt schon viel zu sehr in unzählige Lügen verstrickt und fand kaum noch einen Fluchtweg nach draußen. Alle möglichen Fluchtwege hatte er selber zugesperrt. Nein, diesen Weg wollte er nicht mehr länger beschreiten. Und dazu … hatte er auch nicht mehr die Kraft. Seine Schmerz- und Toleranzgrenze war erreicht. Es regnete schon so stark, dass er inzwischen von oben bis unten pitschnass war. Doch das ging ihm sowas von am Allerwertesten vorbei. Er dachte nur daran, dass sie inzwischen bestimmt auch total nass geworden war und unbedingt nach Hause gehen sollte, um nicht krank zu werden. Und bei so einem Gewitter war es äußerst gefährlich, sich hier aufzuhalten. Doch so wie es aussah, würde er sie nicht dazu bringen können, heimzugehen. Außer … »Du willst also wissen, wo ich mich gerade aufhalte?« Ran wurde hellhörig. War es nun wirklich soweit? Würde sie nun endlich erfahren, wo er sich aufhielt? War er endlich bereit, sich ihr anzuvertrauen? »Natürlich will ich das wissen!«, entgegnete sie ungeduldig mit tränenerstickter Stimme. »Versprichst du mir dann, nicht mehr zu weinen und danach sofort nach Hause zu gehen, bevor du krank wirst oder Schlimmeres passiert?« Verwirrt legte sie ihre Stirn in Falten. Aber … warum war er sich so sicher, dass sie gerade draußen saß und keine Anstalten machte, um nach Hause zu gehen? Woher nur? Doch diese Frage stellte sie ihm nicht. Viel mehr interessierte sie … die Wahrheit. Die Ungewissheit, die sie nun schon so lange quälte. Endlich hatte er offenbar vor, sie davon zu befreien. Leise hauchte sie die folgenden Worte, sodass er es gerade noch so verstand. »Ja, ich verspreche es. Alles, was du willst. Hauptsache, ich weiß endlich die Wahrheit und kann dir helfen.« »Dann dreh dich bitte um.« Wieder ein lauter Knall des Donners, der sie aufschrecken ließ. Diese Worte hatte sie doppelt gehört. Aus dem Hörer und direkt hinter ihr. Eindeutig. Das … das konnte doch unmöglich sein, oder? War er etwa hier ? Hier bei ihr? War er schon die ganze Zeit ganz in ihrer Nähe gewesen? Sie konnte keinen einzigen, klaren Gedanken mehr fassen. Die Gänsehaut übermannte sie. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Daran änderte sich nichts, als sie sich wie in Zeitlupe umdrehte und in das Antlitz eines siebenjährigen Grundschülers blickte. Ein Gesicht, das ihr mehr als nur vertraut war. Traurig sah er sie an. An der einen Hand sein Handy, an der anderen seine Brille. Nun gab es keine Zweifel mehr: Er war Shinichi. Conan war Shinichi. Sie erschrak, als er ihre Hand ergriff und sie eindringlich bat, bitte mit nach Hause zu kommen. Sie war noch viel zu benommen, um sich dagegen zu wehren. Deswegen stand sie bloß langsam auf und ließ sich wortlos von ihm führen. Sie achtete kaum auf den Verkehr; war mit ihren Gedanken ganz woanders. Was … hatte das alles bloß zu bedeuten? Wie war so etwas überhaupt möglich? Sie hatte es in der Vergangenheit zwar schon oft vermutet, aber nun die hundertprozentige Gewissheit zu haben, dass es tatsächlich wahr war: Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Doch … sollte sie nicht auch froh sein? War sie es nicht auch sogar ein bisschen? Schließlich wusste sie nun endlich, wo er die ganze Zeit über gewesen war. Bis vor wenigen Minuten hatte das doch für sie oberste Priorität gehabt: Zu wissen, wo sein Aufenthaltsort war. Und nun wusste sie es. Und doch … wollte kein Frieden in ihr einkehren. Keine Erleichterung. Dafür war sie einfach noch viel zu konfus und schockiert; viel zu viele Fragen gingen ihr durch den Kopf. »Du musst ganz schnell unter die Dusche; sonst wirst du wirklich noch krank!«, riss eine Kinderstimme sie aus ihren wirren Gedankengängen. Eine vermeintliche Kinderstimme. Gesprochen aber von einem fast erwachsenen Oberschüler. Und sie war so lange Zeit im Dunkeln getappt. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so dumm gefühlt. Sie konnte ihre eigene Stimme kaum verstehen; so leise klang sie gerade. Tief sah sie ihm in die Augen. In die Augen, die nicht zu einem kleinen Kind passten. Die viel mehr aussagten; von viel mehr Lebenserfahrung sprachen. Es waren tatsächlich seine Augen. Warum fiel ihr das erst jetzt auf? »Sag mir … warum?« »Ich werde dir jede einzelne Frage ehrlich beantworten. Nachdem du dich geduscht hast und in warme, trockene Sachen geschlüpft bist. Bitte tu das. Mir zuliebe.« »Aber du bist auch total nass!«, erwiderte sie und ihre mütterliche Ader kam wieder zum Vorschein. Augenblicklich wurde sie knallrot. Sie … konnten nicht mehr zusammen duschen. Und da fiel ihr ein, dass sie doch schon einmal gemeinsam geduscht hatten. Er hatte alles, aber auch wirklich alles, an ihr gesehen. Sie konnte nicht in Worte fassen, wie ungerecht sie das gerade fand. Grenzenlose Scham, unbändige Wut und pure Verzweiflung fielen mit einem Mal über sie herein wie eine gnadenlose Tsunamiwelle. Wie sollte sie sich ihm gegenüber nun verhalten? Was würde das alles nun für sie bedeuten? Wie sollte es nun weitergehen? Conan, der ihr inneres Chaos erahnen konnte, blickte sie noch eindringlicher an. »Ich werde dir alles erzählen. Ich werde hier bleiben und warten, bis du fertig geduscht hast. Ich werde nicht weggehen.« Anschließend fügte er mit Nachdruck noch ein leises »Bitte« hinzu. Langsam nickte sie. »Aber bitte zieh du dir deine nassen Sachen auch aus«, wisperte sie, holte frische Sachen von ihrem Schrank und begab sich ins Bad. Conan tat wie geheißen, befreite sich von seiner nassen Kleidung und legte sich ein Handtuch darüber. Seufzend sah er aus dem Fenster. Nun wusste sie Bescheid. Und er musste sich die richtigen Worte zurechtlegen, wie er ihr alles am besten beibringen sollte. Das würde ganz sicher nicht einfach werden. Aber da musste er nun durch. Das war das Mindeste, was er für sie tun konnte. Das war er ihr einfach schuldig. Nach einer halben Stunde saßen sie nebeneinander auf Rans Bett. Kogoro war mal wieder Mahjong spielen, doch das kam ihnen auch äußerst gelegen, denn nur so konnten sie sich ungestört über alles unterhalten. »Erinnerst du dich noch an den Tag, als wir gemeinsam beim ›Tropical Land‹ waren?«, begann Conan und durchbrach somit endlich die minutenlange Stille. Ran, die mittlerweile wieder etwas ruhiger geworden war und sich gesammelt hatte, nickte lediglich. Die Dusche hatte wenigstens ihren kleinen Zweck erfüllt. »Wie könnte ich diesen Tag vergessen? Du bist an diesem Tag spurlos verschwunden. Ich hatte schon damals ein ganz komisches Gefühl gehabt, als du weggelaufen bist. Es hat sich ja nun herausgestellt, dass ich mit meiner Intuition richtig gelegen habe.« Sie klang immer noch sehr heiser und auch ihre geröteten Augen verrieten, dass sie bis vor Kurzem noch von Heulkrämpfen geschüttelt worden war. Conan spürte sein Herz deutlich gegen seinen Brustkorb pochen. Wäre er damals doch nur nicht so leichtsinnig gewesen. Hätte er damals die Männer nicht verfolgt … Was wäre dann gewesen? Wie wäre dann sein Leben weiter verlaufen? Womöglich wäre er dann heute glücklich mit Ran zusammen. »Ich habe die zwei schwarz gekleideten Männer verfolgt, die mit uns auf der Achterbahn gesessen sind. Ich habe den einen bei kriminellen Machenschaften beobachtet. Leider bin ich so vertieft gewesen, dass ich den zweiten Mann direkt hinter mir nicht bemerkt habe. Er hat mich von hinten niedergeschlagen und wollte mich umbringen.« Entsetzt starrte Ran ihren Sandkastenfreund an. »Wie furchtbar!«, flüsterte sie betroffen. Nachdenklich fuhr Conan fort mit seinem Bericht. »Erschießen wollten sie mich aber nicht, weil ja noch überall Polizisten waren aufgrund des Mordfalls. Das war mein Glück. Also haben sie an mir ein neues Gift ausprobiert. Ein Gift, das mich töten sollte, aber keinerlei Spuren hinterlässt bei einer Obduktion. Also eigentlich die perfekte Mordwaffe. Aber anstatt dass ich ins Gras gebissen habe …« »… bist du geschrumpft.«, beendete Ran seine Erzählung über seine Verwandlung. Frustriert nickte Conan. »Als ich es dann irgendwann bemerkt habe, bin ich Professor Agasa über den Weg gelaufen. Und als ich ihn dann endlich davon überzeugen konnte, dass ich es wirklich war, hat er mir eindringlich geraten, niemandem von meiner wahren Identität zu erzählen. Denn mit jedem, der in dieses Geheimnis eingeweiht wird, wächst die Gefahr, dass die Männer in Schwarz darauf kommen könnten, dass ich noch am Leben bin. Noch glauben sie ja, dass mich das Gift umgebracht hat. Wenn sie aber die Wahrheit herausfinden, dann bin nicht nur ich in Gefahr, sondern auch alle, die mit mir in Verbindung stehen. Alle, die von meiner wahren Identität wissen, geraten dabei in die Schusslinie.« »Aber Professor Agasa weiß doch Bescheid. Du hättest es ruhig auch mir anvertrauen können; ich hätte dein Geheimnis gut gehütet.« Sie konnte nicht verhindern, dass schleichender Vorwurf in ihrer Stimme mitschwang. »Von allen … stehe ich dir am nächsten. Bei dir wäre es am riskantesten gewesen, wenn du von mir gewusst hättest. Und dich wollte ich unter keinen Umständen in Gefahr bringen. Ich wollte dich nicht mit in diese Sache hineinziehen. In diese Misere, in die ich mich selbst hineingebracht habe. Du solltest nicht für meinen Fehler büßen. Ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn dir aufgrund meiner Dummheit etwas zustoßen würde.« Als er diese Worte aussprach, sah er ihr tief und fest in die Augen. Dadurch, dass er keine Brille trug, sah Ran nun eindeutig Shinichi in ihm. In ihren Augen sammelten sich abermals Tränen. Sie hatte doch tief in ihrem Inneren gewusst, dass er bestimmt einen plausiblen Grund für sein Handeln gehabt hatte. Den hatte er schließlich immer. Und ihr wurde auch bewusst, dass er immer bei ihr gewesen war. Er war nie weg gewesen. Er war immer in ihrer Nähe gewesen und hatte sie beschützt. Ihr wurde warm ums Herz bei diesem Gedanken. »Shinichi …«, wimmerte sie leise und schenkte ihm ein trauriges Lächeln. Der kleine Junge erwiderte ihr Lächeln. Er beugte sich zu ihr vor und war ihrem Gesicht nun ganz nahe. »Bitte verzeih mir, dass ich dir immer solchen Kummer bereitet habe. Ich werde es wiedergutmachen.« Er legte seinen Kopf schief, während ein sanftes, aber selbstsicheres Lächeln seine Lippen schmückte. »Ich werde eines Tages zu dir zurückkehren. Das verspreche ich dir. Bis dahin möchte ich dich bitten … auf mich zu warten.« »Ich werde dir helfen. So gut ich kann. Damit du noch früher endlich wieder bei mir sein kannst.« Ihr entschlossener Ton erfüllte das Zimmer. Neue Hoffnung funkelte in ihren Augen. »Danke, dass du mir alles erzählt hast. Endlich weiß ich nun, wo du bist.« Ohne Vorwarnung schlang sie ihre Arme um seinen kleinen Körper und drückte ihn an sich. »Und natürlich werde ich auf dich warten. Egal, wie lange es auch dauern mag.« Eine Woge der Erleichterung überschwemmte ihn; erfüllte sein Herz mit Wärme, Zuversicht und Liebe. Dieses Gefühl war so überwältigend, dass selbst er den Tränen nahe kam. Und er weinte wirklich nie. Womit hatte er sie nur verdient? Er schloss seine Augen und erwiderte ihre Umarmung zärtlich. Bald werde ich wieder Shinichi Kudo sein. Und wenn es soweit ist, werde ich dir endlich richtig gestehen, was ich für dich empfinde. Und um deine Hand anhalten, damit wir endlich für immer zusammen sein können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)