Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 4: Müdigkeit -------------------- Kapitel 4 Müdigkeit Ohne einen Laut schnellte Mimoun in die Senkrechte. Aufmerksam sah der Geflügelte sich um, lauschte, doch auch er konnte nichts Bestimmtes sagen. Aber er spürte die angespannte Stille des Waldes. Langsam erhob er sich vollständig und schlich zu seinen Kleidern, schlüpfte so schnell hinein, wie es ihm möglich war. Kaum war er fertig, vernahm er in seinem Rücken leises Knacken und Knurren. Blitzschnell wirbelte er herum und sah drei Wölfe aus dem Dickicht treten. Vorsichtig trat Mimoun einen halben Schritt zurück und suchte den Wald ab. Auch wenn er sie noch nicht sehen konnte, er ahnte, dass sich dort noch weitere Tiere herumtrieben. „Wir sollten verschwinden.“, flüsterte er an Dhaôma gewandt und deutete ohne hektische Bewegung zum Biberdamm, begann sich vorsichtig, die Raubtiere immer im Blick, in die entsprechende Richtung zu bewegen. Dieser war längst auf dem Rückzug. Egal, wie wichtig es für den Schwarzhaarigen war, seine Kleider anzuziehen, er wusste, dass Sicherheit vorging. So war er schon am Eingang, als er die Wölfe sah. „Verflucht!“, wisperte er. Seine Hände zitterten. Mit Wölfen war nicht zu spaßen. Die Viecher waren lästig, schnell und ausdauernd in der Jagd. Lieber als in einen Holzhaufen würde er sich jetzt auf einen Baum zurückziehen. Da war er wenigstens sicher, dass sie ihn nicht erreichen konnten! Schon hatte er den Deckel geöffnet. „Mach schon! Nicht so lahm!“, presste er heraus, die Panik mühsam unterdrückend. „Klar.“, fauchte er angespannt und leise zurück. „Damit sie mich erst recht angreifen.“ Die Tiere waren näher getreten und zwei weitere traten aus dem Wald. Mimoun warf einen hastigen Blick zum Damm und schätzte die Entfernung ab. Es war nicht mehr weit. Kurz überlegte er und entschied sich dann für eine riskante Möglichkeit. Blitzschnell spannte er seine Flügel zu voller Spannweite auf und sprang mit einem lauten Schrei frontal auf die Wölfe zu. Als diese irritiert stoppten und zu überlegen schienen, ob sie dieser Beute noch gewachsen war, drehte Mimoun auf dem Absatz um und rannte die wenigen Meter zum Unterschlupf. Schon während der Geflügelte Kopf voran in die Höhle hechtete, sprang auch Dhaôma in das Loch, so dicht hinter ihm, dass er einfach auf ihm landen musste. Den Deckel hielt er über seinen Kopf und so fest es ging, bevor er den Ruck durch seine Arme gehen spürte. Hastig kroch er von Mimoun runter. „Los, Hanebito, halt den Deckel!“ Und schon machte er sich an die Aufgabe, die Äste zum Wachsen zu überreden. Das war schwierig, weil sie alle schon so lange tot waren, aber es war lebenswichtig, sonst würden diese Wölfe den Deckel ganz schnell lüften können. „Uff.“, kommentierte er das Gewicht, das plötzlich auf ihm landete, nachdem er schon so unsanft in diesem Stockstapel gelandet war. Dennoch verrenkte er sich, kämpfte sich wieder empor, um Dhaômas Anweisung zu befolgen. Mit seinem ganzen Gewicht hängte er sich daran. Von über ihnen ertönte lautes Schnüffeln und Scharren. „Dhaôma?“ Dessen Arme begannen zu leuchten, alle Zeichen auf einmal. Es dauerte schier eine Unendlichkeit, aber endlich, endlich wirkte die Magie. Endlich hatte er den Schlüssel zu totem Material gefunden. Und wie bei einem Weidenstock, der in die Erde gesteckt wurde, wieder Wurzeln und Blätter wuchsen, so rankten auch bei diesen Hölzern plötzlich Wurzeln in die Höhle. Winzige Blättchen wurden größer, Zweige flochten sich umeinander und verankerten sich, bis der Junge kaum noch Kraft übrig hatte. Die Zeichen flackerten, dann erloschen sie, hüllten sie in Dunkelheit. Von draußen kam Knurren und Scharren. Es waren mit Sicherheit mehr als fünf Wölfe. Hoffentlich hielt der Damm. Schwer atmend schloss Dhaôma die Augen. Ein Schweißtropfen löste sich von seinem Kinn, platzte auf seiner Hand. Er konnte keinen Muskel mehr bewegen. Nicht einmal auf die Umgebung konnte er sich noch konzentrieren. Alles verschwamm zu einem Gemisch aus Farben und Tönen, wobei er beides nicht mehr wirklich auseinander halten konnte. Es war zu viel gewesen. Und zu schnell gegangen. Und er hatte an diesem Tag schon zu oft diese Kraft eingesetzt. Bevor er es richtig wusste, war er auch schon gegen die Wand gesunken. Sein Bewusstsein war nahe dem Nichts. „Dhaôma?“, fragte Mimoun erneut, doch nun war nicht mehr der leicht gehetzte, sondern ein sorgenvoller Ton herauszuhören. Darauf vertrauend, dass die Magie des Jungen gewirkt hatte, ließ er den Deckel los und wandte sich seinem Gegenüber zu. Zaghaft berührte er ihn an den Schultern. Völlig erschöpft hing der Magier eher in seinen Händen. „Gut gemacht. Ruh dich jetzt aus.“, verlangte er, griff sich eine der Armschienen und wandte sich fest entschlossen dem Deckel zu. „Ab hier übernehme ich.“ Die Geräusche oben verlagerten sich. Die Raubtiere versuchten es nicht nur an der Stelle, an der ihre Beute verschwunden war. Mimouns Blick huschte durch die Dunkelheit von einer Geräuschquelle zur nächsten. Sollten diese Viecher tatsächlich durchkommen, hatten sie ein gewaltiges Problem. Nach Stunden, wie es schien, ließen die Tiere endlich von ihren erfolglosen Versuchen ab. Erst jetzt gestattete es sich Mimoun, sich aus seiner doch unbequemen Hocke zu erheben und erleichtert aufzuatmen. Nachsehen wollte er sowieso nicht, von daher konnte der Schutz so bleiben, wie er war. „Dhaôma?“, fragte er leise in die Dunkelheit, doch von seinem Wegbegleiter kam keine Reaktion. Er schlief, wie der Geflügelte erleichtert feststellte. Doch die Position an der Wand würde morgenfrüh sicher Rückenschmerzen bei ihm verursacht haben. Also quetschte er sich vorsichtig neben den Magier, immer darauf bedacht, ihn nicht zu wecken. Sanft zog er am Arm des Jungen, so dass dieser zur Seite kippte und, durch geschickte Führung geleitet, bequemer auf dem Schoß des Geflügelten weiterschlafen konnte. Mimoun zwang sich, die Nacht über wach zu bleiben, für den Fall, dass die Raubtiere zurückkamen. Doch es blieb alles still. Erst im Morgendämmern nickte auch er ein. Dhaôma erwachte mit einem gehörigen Schrecken. Unter sich spürte er Wärme, er sah Beine und fühlte einen fremden Atem über seinen Nacken streichen. Wie von der Tarantel gestochen fuhr er hoch. Und stieß sich den Kopf am Bieberbaudach. Mit einem unterdrückten Stöhnen sank er wieder in sich zusammen. Himmel, er fühlte sich schwach! Was war denn nur passiert? Und wie kam er dazu, mit – er hob den Blick und erkannte seinen Hanebito im Halbdunkel – jemandem zusammen zu schlafen? Das hatte er seit Jahren nicht mehr gemacht! Er musste hier raus. Dringend! Ohne nachzudenken, drückte er gegen den Deckel. Er ließ sich nicht öffnen. Auch nicht, wenn er sich dagegenstemmte. Und was hatten die Blätter da zu suchen? Hatte jemand den Ausgang zugestopft? Nur langsam dämmerte ihm, was in der letzten Nacht passiert war, und stöhnte erneut. „Das kann nicht wahr sein!“, murmelte er verzweifelt. Musste er wirklich Magie benutzen, um hier wieder herauszukommen? Er fühlte sich wie ein schwächliches Baby! Dennoch, Dhaôma wollte hinaus. Gerade jetzt war der sonst so gemütliche Bau ein schier unerträglicher Ort. So nutzte er die Magie, um die Zweige so zu verformen, dass sie einen schmalen Ausgang freimachten. Draußen war schon heller Tag und er verschreckte ein Rotkehlchen, als er sich ins Freie zwängte. Aufatmend streckte er sich und fuhr sich danach mit bleiernen Gliedern über das Gesicht. „Was zum Teufel?“, fragte er und starrte seine Hände an. Es waren schwarze Linien dazugekommen. Von dem gewunden Kreis auf seinem Handrücken führte nun ein Strich zu jedem Finger. „Wow.“, wisperte er beeindruckt. „Jetzt wundert mich gar nichts mehr.“ Das Entwickeln neuer Kräfte zog im Allgemeinen alle Energie aus einem heraus, weil man noch nicht gelernt hatte, die neue Magie zu lenken. Freude stieg in ihm auf. Es war zehn Jahre her, dass er eine neue Fähigkeit entwickelt hatte. Auch wenn sie nichts Großartiges war, es war fantastisch, dass in ihm noch versteckte Kräfte schlummerten. Auch Mimoun war durch die hektischen Bewegungen aufgeschreckt worden und hatte sich den Kopf an den Ästen hinter sich gestoßen. Hastig sah er sich um. Der Bau war noch geschlossen, die Wölfe waren also nicht zurückgekehrt und hier eingedrungen. Darum umso mehr verwirrt, beobachtete er Dhaôma dabei, wie dieser erst verzweifelt an dem verschlossenen Ausgang rüttelte und ihn dann magisch öffnete. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Vielleicht hatte der Magier ja so was wie Platzangst und es nur aufgrund einer größeren Angst vorübergehend verdrängen können. Aber warum sollte er sich das hier dann als Versteck aussuchen? Seufzend kroch er zum Loch, nur um feststellen zu müssen, dass der Ausgang für ihn definitiv zu klein war. „Dhaôma?“ Hoffentlich war der Kerl nicht sonst wo hingerannt. Dieser sah von seinen Armen auf. „Du bist wach?“ Hatte er nicht mitbekommen. Wohl wegen der panikartigen Flucht. Und dann ging ihm auf, dass der Eingang zu klein war für den Geflügelten. Schwimmen konnte er nicht, um den Unterwasserweg zu benutzen. Sollte das bedeuten, er musste wieder Magie nutzen? Das ging nicht! Er fühlte sich ja jetzt schon wie Matsch im Regen. „Ist das Messer noch da unten?“ Vielleicht gab es die Möglichkeit, die neu gewachsenen Ranken einfach durchzuschneiden, um den Deckel zu heben. Durch das Licht, das durch die Öffnung drang, konnte er sich wieder besser umsehen und so entdeckte Mimoun schnell den gewünschten Gegenstand. Er hob ihn auf und wog ihn nachdenklich in der Hand. „Gefunden. Ich hatte nicht vorgehabt, dein Bauwerk zu zerstören, aber wenn es dich nicht stört.“ Und schon setzte er das Messer an den Ranken an. Irritiert blickte Dhaôma nach unten. Wovon redete dieser Kerl? Nicht zerstören? Was störte ihn nicht? „Also kommst du alleine raus?“ Ein Achselzucken. „Früher oder später.“ Engagiert säbelte Mimoun drauf los. Sein Blick suchte die dünneren Stellen, riss mit bloßen Händen die gelösten Ranken zu Boden. Als das Loch endlich groß genug war, ließ er das Messer fallen und zog sich am Rand empor. „Hui. Na, hat ja doch länger gedauert.“ Gut gelaunt ließ Mimoun seine Füße noch in die Höhle baumeln und sah sich nach Dhaôma um. „Alles okay bei dir?“ Dieser hatte sich in der Zeit um das Frühstück gekümmert, was nicht ganz so einfach gewesen war wie sonst. Ohne Magie musste er sich auf seine Fähigkeit verlassen, Essbares zu finden! Und es war bei weitem nicht genügend für sie beide. „Fisch zum Frühstück.“, erklärte er mit wenig Begeisterung, während er sich von seinem Stein erhob. „Holst du ihn bitte aus dem Bau?“ Jetzt, wo er sich den Holzstapel ansah, stellte er fest, dass er das Ding beim nächsten Besuch dringend reparieren sollte. Falls er bis dahin nicht vollkommen zerstört war, jetzt wo jeder Zugang dazu hatte. Irgendwie sah der Magier leicht neben der Spur aus. Mit schief gelegtem Kopf betrachtete Mimoun sein Gegenüber aufmerksam. Auf seine Frage hatte er auch keine Antwort gegeben. Ob er sie überhaupt gehört hatte? Mit einem Satz sprang der Geflügelte wieder in die enge Höhle zurück und suchte nach dem Fisch. Nur knapp verfehlte er das Messer, das er schon völlig vergessen hatte. Nachdenklich wog er es in der Hand, bevor er es zusammen mit dem Fisch ans Tageslicht holte. Den geräucherten Fisch drückte er Dhaôma in die Hand. Seinen beschnupperte er vor dem Essen kurz. Fisch schmeckte am besten, wenn er wirklich frisch war, doch es gab grade nichts anderes. „Hier, noch ein paar Äpfel. Auch wenn sie sauer sind, besser als nichts.“ Dhaôma grinste, dann lehnte er sich zurück. Und wäre fast vom Felsen gekippt. Zum Glück fing er sich rechtzeitig. „Himmel!“, murmelte er, bevor er zu Boden rutschte und sich dort gegen den Felsen lehnte. Hier unten konnte er wenigstens nicht fallen. Zumindest nicht allzu tief. „Na, ob die Reise heute sicher ist?“, fragte er seinen Fisch, biss hinein und kaute nachdenklich. „Hanebito. Heute musst du wachsam sein, ja?“ Wieder musterte Mimoun den Magier nachdenklich. Wortlos legte er den Fisch beiseite und lehnte sich vor, legte Dhaôma eine Hand auf die Stirn. Nein. Fieber hatte er keines. Doch was war dann mit ihm los? „Wir können auch noch einen Tag warten und du ruhst dich aus. Auf einen mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an.“ Der Braunhaarige blinzelte, dann lachte er. „Mach dich nicht lächerlich. Es ist nur gehen, laufen, noch dazu am Ufer entlang. Und weit ist es auch nicht, nur soweit du es schaffst.“ Kichernd schüttelte er den Kopf. „Und Müdigkeit ist kein Grund, um nichts zu tun. Das wäre schrecklich langweilig, oder?“ Nein, er wollte heute weitergehen. Der Biberbau war nicht mehr sicher und falls die Wölfe zurückkamen, hatte es sich ausgespielt. „Notfalls lass ich mich vom Wasser treiben. Das ist ohnehin eine angenehme Art zu reisen.“ „Ich bin wieder fast völlig fit. Es könnte also tatsächlich weiter werden, als es dir lieb sein wird.“, unheilte Mimoun. „Aber du musst es wissen.“ Er griff nach seinem Frühstück und aß langsam. Sein Blick glitt über den stetig fließenden Fluss. Sich vom Wasser tragen lassen, sollte eine angenehme Art zu reisen sein? Da würden doch die ganzen Sachen nass werden. Aber Dhaôma hatte Recht. Zum Nichtstun verdammt zu sein, war ausgesprochen langweilig. „Na dann hol ich mal die Sachen.“ Und schon erhob er sich, um seine Rüstung, die Tasche des Magiers und alles andere aus dem Biberdamm zu bergen. Es dauerte nicht lange, bis sie alles fertig hatten, dann ging es los. Die frische Luft und das Laufen taten gut, weckten Dhaômas Lebensgeister und machten ihn munter. Nur leider hielt das nicht sehr lange. Das Bieberversteck war noch nicht lange außer Sichtweite, da spürte er die Erschöpfung schon wie Blei in den Gliedern. Sein Blick wurde starr, richtete sich auf den Boden, um keine natürlichen Stolperfallen zu übersehen, sein Kopf wehrte sich gegen die Müdigkeit. Eine Stunde später gab er nach. „Ich brauche eine Pause.“, deklarierte er und ließ sich rücklings einfach ins Gras fallen. „Verfluchte Müdigkeit…“, fügte er leise nur für sich hinzu. Mit einem leisen Lächeln, das sowohl Verständnis als auch 'ich hab es dir doch gesagt' ausdrückte, setzte sich der Geflügelte im Schneidersitz neben seinen Wegbegleiter. Seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die Natur, die sie umgab, um vor bösen Überraschungen sicher zu sein. Diese Situation war abzusehen gewesen, erinnerte ihn aber an eine ähnliche, die etwa zwei Wochen her war. Deshalb verbot es sich für ihn aus Prinzip, dem anderen diesbezüglich Vorschriften zu machen. Als Kind musste man halt noch seine Grenzen austesten. Dhaôma wäre wohl sofort eingeschlafen, wenn der andere sich nicht so nahe zu ihm gesetzt hätte. Nun hatte er zwar die Augen geschlossen, aber er konnte sich nicht entspannen. Sein Geist war wach. Und hing in einer Art Schwebe. Es war ihm nicht möglich, sich auf irgendwas zu konzentrieren. Irgendwann gab er auf. So hatte das keinen Sinn. Einfach herumzuliegen und Zeit zu vergeuden, war keine Option. Da konnte er auch weiterlaufen. Seufzend erhob er sich, streckte sich und gähnte herzhaft. „Genug Pause. Weiter geht’s.“ auffordernd sah er den Hanebito an. Dieser dachte nicht im Traum daran. Mit hochgezogener Augenbraue musterte er den Magier. „Vergiss es. Du bist nicht einmal ansatzweise ausgeruht und wirst in wenigen Minuten schon wieder völlig fertig sein. Komm schon. Willst du die Strecke in zehn-Meter-Etappen hinter dich bringen?“ Er streckte die Beine aus, wackelte mit den Füßen. „Außerdem bin ich Laufen nicht gewöhnt. Meine armen Füße.“, jammerte er gespielt. Es war gut, jemanden vorschieben zu können, wenn man nicht mehr laufen wollte. Abschätzig betrachtete der Magier sein Gegenüber, wog dessen Ehrlichkeit gegen den Tonfall und gegen seine Wortwahl ab. Er kam zu dem Schluss, dass er es für ihn tat. „Danke für dein Mitgefühl, aber es ist verschwendet. Ich denke, dass ich am besten weiß, was ich zu tun bereit bin.“ Herausfordernd verschränkte er die Arme vor der Brust. Bestätigend nickte Mimoun. „Ich weiß. Das dachte ich von mir auch vor nicht allzu langer Zeit. Aber sowohl du als auch mein Körper sagten mir nachhaltig, dass das dumm ist, was ich da tue. Warum kannst du jetzt ernst gemeinte Hilfsangebote einfach so abschlagen?“ Lässig lehnte er sich zurück. Er würde sich keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Kontrolliert atmete Dhaôma ein, bevor er zu lächeln begann. „Soll das heißen, dass du müde bist, obwohl du vorher so munter neben mir hergedackelt bist?“ „Oh. Ich wollte nur nicht, dass du Mitleid mit mir hast und allzu sehr Rücksicht auf mich nimmst.“, konterte Mimoun. „Also ist das alles nur Fassade?“, fragte der Braunhaarige. „Das ganze lockere Getue, die Entspanntheit und die Genesung? Die gute Laune etwa auch?“ Er seufzte. „Dir ist echt nicht zu helfen. Wenn es dir schlecht geht, hättest du das sagen sollen.“ Kaufte der Kerl ihm das jetzt etwa wirklich ab? „Das sagt der Richtige.“ Mimoun deutete auf sein Gegenüber. „Du solltest dich mal anschauen. Wenn du könntest, würdest du doch im Stehen schlafen. Warum kannst du nicht sagen, wenn es dir schlecht geht?“ „Ich bin müde. Das heißt nicht, dass es mir schlecht geht.“ Er löste die Arme voneinander und hob seine Tasche auf. Ein Blick aus Eis traf den anderen. „Aber fein. Wenn du so erschöpft bist, gehen wir zurück zum Bieberbau. Eine Nacht ohne Schutz ist keine erfreuliche Sache in diesem Wald. Und einen ganz neu zu bauen, würde zu lange dauern.“ Mimoun griff sich an den Kopf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Dieser Kerl schaffte ihn. „Nettigkeiten sind bei dir also vergebliche Liebesmüh. Danke für diese Information. Wird nicht wieder vorkommen. Versprochen.“, gab er ebenso eisig zurück, erhob sich und setzte sich in die ursprünglich eingeschlagene Richtung fort. Wenigstens hatte er das begriffen. Dhaôma seufzte und folgte ihm. Wenn es nur um Nettigkeiten gehen würde, hätte er keine Probleme, sie anzunehmen, aber er konnte es partout nicht ertragen, wenn jemand anderes Anspruch erhob, besser als er zu wissen, was gut für ihn war und was nicht. Seit er acht war, stand er auf eigenen Beinen. Das sollte auch so bleiben. Und genau dieser Gedanke ließ ihn diesmal länger durchhalten. Sturheit siegte bekanntermaßen. Und er konnte stur sein. Mimoun zog sich zurück. Er wich dem Magier zwar nicht offen aus, doch er weigerte sich, von sich aus ein Wort an ihn zu richten. Stur setzte er einen Fuß vor den anderen, den Blick immer geradeaus auf sein Ziel gerichtet. Wie sollte er je seine Schuld begleichen, wenn dieser... dieser Magier alles, was er ihm Gutes tun wollte, so in den Dreck zog? Wieso half ihm dieser Kerl, warum versuchte er offenkundig besser mit einem Geflügelten auszukommen, wenn er alles Freundliche von dessen Seite abblockte? Und warum war er selbst so enttäuscht über diese Entwicklung? Es war nur ein Magier. Es war einfach nur einer seiner Feinde. Am besten, er begann es wieder so zu sehen. Am besten betrachtete er ihn einfach wieder als gefährlichen Gegner. Er würde ihn nicht umbringen, wenn sich ihre Wege trennen sollten, und das Thema wäre damit erledigt. Nichts, was Mimoun dem Magier dann noch schulden würde. Ein Leben für ein anderes. Es war schon Mittag, als sie einen Felshang erreichten. Vielleicht sollte man es eher als Geröllhalde bezeichnen, denn genau so verhielt sich der Anfang der Hügelkette. Ein paar karge Pflanzen hatten nach dem letzten Erdrutsch versucht, sich zu etablieren, aber da es jedes Frühjahr erneut Schlammlawinen gab, hielten sie sich nicht lange. Oberhalb dieses Steinfeldes wusste Dhaôma von einem Graszelt mitten im Wald. Dort würden sie bis morgen bleiben können. Aber vorher hieß es noch, den Schotterhaufen zu erklimmen. Jetzt wäre es wirklich gut, fliegen zu können, dachte Dhaôma, bevor er einen fragenden Blick zu dem Hanebito warf. Immer noch hatte er kein Wort gesagt, auch keine Erklärung abgegeben. Er wartete darauf, dass der andere sagte, was er wollte. Das Laufen zehrte an seinen Kräften. Er war noch lange nicht so weit, es als selbstverständlich zu nehmen. Und noch weit davon entfernt, dass es nicht mehr so ermüdend sein würde. Tief atmete er durch, als sie an diesem Steinhaufen ankamen. Vor seinen Augen wuchs die Höhe um ein beträchtliches Maß, so dass es fast aussah, als könne er darauf direkt zu den Inseln klettern. Erschöpft wischte er sich mit dem Arm über das Gesicht und das Bild normalisierte sich wieder. Dass sie da rauf mussten, war klar. Auch der fragende Blick Dhaômas war ihm nicht entgangen. Dennoch machte er sich ohne ein Wort oder sonst eine Reaktion an den Aufstieg. „Also gehen wir weiter.“, wisperte Dhaôma für sich, grinste. Er konnte sehen, was für ein dummes Spiel sie hier spielten, wie kindisch sie sich verhielten, aber es war ihm unmöglich, einzulenken. Es war in seinem Kopf wie eine Fessel: Gib nicht nach! Also folgte er dem Hanebito, seinen Atem zur Ruhe zwingend. Unter seinen Schuhen glitten kleine Steinchen weg und ließen seinen Schritt unsicher werden. Von oben kamen auch immer wieder Steine gerollt, wenn der Hanebito einen lostrat. Was versuchten sie hier zu beweisen? Wollten sie sich umbringen, um dem Kampf untereinander zu entgehen? Wozu? Damit der Stolz nicht litt. Diese Einsicht kam zu spät, denn sie waren bereits mitten auf dem Feld, aber sie ließ den Kampfgeist aus Dhaôma entweichen. Eigentlich wollte er doch, dass der Hanebito sein Zuhause sicher erreichte. „Warte.“, sagte er schließlich. Laut, fest, überzeugend. Seine Schritte verharrten auf einem großen Felsblock. Mimoun hörte den Ruf und atmete innerlich erleichtert auf. Es bedeutete eine Pause und sei sie noch so kurz. Laufen war eine Qual, bergauf Laufen eine größere und wenn sich dabei auch noch Steinchen lösten und seinen Tritt unsicher werden ließen, war das fast die Hölle für seine schmerzenden Beine und Füße. Wortlos drehte er sich um, fixierte den Magier unverwandt. Noch immer kam kein Ton über seine Lippen. Stumm wartete er auf die nächsten Worte. Der Braunhaarige strich sich die Fransen aus der Stirn hinter das Ohr, wo sie genauso wenig blieben wie sonst. Seine Augen fixierten den anderen mit einem Ernst, der sich in seiner Haltung widerspiegelte. Nach einiger Zeit begann er zu lächeln und mit all der Ehrlichkeit, die in ihm war, sagte er: „Ich will keinen neuen Kampf zwischen dir und mir. Nicht, wenn es um so etwas Lächerliches geht wie verletzten Stolz. Ich habe genug von Hass.“ Der Geflügelte betrachtete den Magier wortlos. Betrachtete das Lächeln, ließ die Worte auf sich wirken. Sein Blick glitt zu Boden und er drehte sich wieder um. „Ich hatte nicht vor, gegen dich zu kämpfen. Ich gehe nur wieder nach Hause.“, sagte er leise und fast niedergeschlagen, bevor er seinen Weg fortsetzte. Es ist nur ein Magier, wiederholte Mimoun in Gedanken immer wieder. Es ist nur ein Magier. Lass dich nicht darauf ein. Nicht so kurz vor dem Ziel. „Und damit du genau dieses Ziel erreichst, ohne dir noch mehr zu tun, als dein Körper ohnehin schon abbekommen hat, dafür bin ich da.“, stimmte der Junge zu. „Komm her. Du trinkst etwas, wir ruhen uns ein paar Minuten aus und anschließend gehen wir ins Zelt.“ Von Anfang an hatte er nicht vorgehabt, an diesem Tag weiterzugehen als bis dorthin. Es wäre zu viel für seinen Patienten. Sein Schritt stockte. Unmerklich ballten sich seine Hände zu Fäusten, bohrten sich seine Fingernägel in den Handballen. „Wie du wünscht.“ Sein Weg führte ihn nun wieder ein Stück den Hang hinunter, den er sich gerade so mühsam erkämpft hatte. Mit seinem Blick dem Magier ausweichend, suchte er einen größeren Brocken, auf den er sich bequem setzen konnte. Es tat gut. Es war wirklich erleichternd nicht mehr auf den Beinen sein zu müssen. Wortlos und den Blick gen Boden vor Dhaômas Füßen gesenkt, streckte der Geflügelte die Hand nach dem Wasserschlauch aus. Dieser händigte ihm das Wasser aus und ließ dann den Blick über den Wald unter ihnen wandern. Eigentlich mochte er diesen Ort. Man hatte einen schönen Ausblick von hier. Es war fast immer warm, weil die Steine die gespeicherte Sonnenwärme kontinuierlich abgaben. Auch jetzt wirkte diese Wärme filternd. Für die Gefühle, die in ihm geschwelt hatten. Wieso hatte er sich wegen ein paar alberner Ideen so verhalten? Warum hatte er nicht nachgeben und zugeben können, dass er müde war, damit sich der Hanebito noch ein wenig ausruhen konnte? War es wirklich so schrecklich, wenn jemand in der Nähe war, wenn er schlief? Weil er es nicht mehr gewöhnt war? Weil er Angst hatte, sein Herz zu verlieren? Angst davor hatte, verletzt zu werden? So ein Unsinn. In erster Linie waren sie keine Freunde. Wenn der Hanebito erst wieder Zuhause war, würde er sich auf den Weg machen und einen Freund suchen, der ihm nicht das Herz brechen würde. Und es würde nicht so sein, dass er ihn vermisste, weil er ohnehin nicht sagen konnte, wer dieser Mensch eigentlich war. Alles, was er kannte, waren ein paar oberflächliche Augenblicke aus dem Leben eines Verletzten, der ihm immer noch nicht genug vertraute, um ihm seinen Namen anzuvertrauen. Der selbst auf Anfragen sein Leben und seine Gedanken nicht mit ihm teilen wollte. Also sollte er sein kindisches Verhalten ablegen. In ein paar Tagen war sowieso alles vorbei. Warum stimmte ihn der Gedanke so traurig? Ein leises, selbst verachtendes Kichern entwich ihm. Hatte er diesen Starrkopf von Hanebito etwa gern? War er noch zu retten? Wo er doch eigentlich erwarten musste, dass er die nächste Woche nicht mehr erlebte? Selbst wenn dieser Hanebito sagte, er würde nicht gegen ihn kämpfen, diejenigen, die ihn abholten, waren mit Sicherheit nicht so gutmütig. Dieses Kichern irritierte Mimoun und er sah auf. Beobachtete den Magier schweigend, ließ den Blick diesmal auf ihn gerichtet. Eigentlich wollte er fragen, ob alles okay war bei ihm, doch er wusste nicht, ob das unter Nettigkeiten zu zählen war. Und er hatte doch gesagt, so was würde nicht mehr vorkommen. Der Geflügelte rutschte von seinem Felsen herunter und setzte sich auf den Boden, lehnte sich dagegen. Sein Blick folgte dem des Magiers und glitt dann Richtung Himmel, folgte dem Flug der Inseln. Wie sehr sehnte er sich danach, wieder den Wind unter den Flügeln zu spüren. Zaghaft streckte er die Hand aus und versuchte winzige Luftströmungen zu ertasten, die sich bis nach hier unten zwischen die Felsen verirrt hatten. Mimoun drehte seinen Kopf wieder zu Dhaôma. „Ich versuche es möglichst nicht nett klingen zu lassen… Du solltest dich auch setzen.“ Dhaôma, aus den Gedanken gerissen, blinzelte ihn irritiert an, dann nickte er mit einem Lächeln. Hatte er das doch einfach vergessen. Himmel, dabei ging es darum, dass er sich ausruhte. Seltsamerweise hatte er seine Müdigkeit vergessen. Sie war noch da, lauerte am Rande seines Bewusstseins auf einen unachtsamen Moment, um wieder zuzuschlagen, aber er konnte sie unter Kontrolle halten. Dennoch ließ er sich auf den Felsen sinken, bis er lag. Den Rücken überstreckend, ruhte der Kopf auf dem Strang Haare, die ein Band zusammenhielt. Alle Viere von sich gestreckt, spürte er der Sonne nach, die hier gnadenlos herab brannte, bis sich eine Insel vor sie schob. Es tat gut, die Schwerkraft arbeiten zu lassen, all die Muskeln zu dehnen, die in der letzten Nacht in dieser unsäglichen Position verbracht hatten. Mimoun seufzte erleichtert und lächelte still. Also hatte er dieses dumme Kind nicht noch einmal verärgert. Es hätte ihn wahrscheinlich dazu bewogen, ohne den Magier einfach weiter in die eingeschlagene Richtung zu marschieren und einfach sein Glück zu versuchen. Seine Feinde sollten dieses Gebiet ja angeblich meiden, da dürfte es wohl keine so große Herausforderung werden. Erschöpft schloss er die Augen. Der Marsch hierher hatte ihn doch mehr ermüdet, als er erwartet hatte. Oder es war die Anspannung und der Frust, die gerade unter diesem Lächeln zerbröselt wurden. Mimoun hieb sich den Handballen gegen den Kopf. Jetzt ließ er sich tatsächlich schon wieder dazu hinreißen, den Magier als was anderes anzusehen, als er war: ein Feind. Sein Blick glitt über den hingestreckten Körper, der nicht weit entfernt von ihm lag. Mit einem erneuten Seufzen ließ er sich ebenfalls in die Waagerechte sinken und schloss die Augen. Ein wenig Dösen konnte sicher nicht schaden. Er würde ja nicht schlafen und dabei die Aufmerksamkeit auf die Umgebung verlieren. Die Insel war ein gutes Stück weitergewandert, als Dhaôma beschloss, dass es genug Pause war. Irgendwann heute mussten sie bei dem Graszelt ankommen. Besser früher als später, damit er sich noch ein separates Versteck suchen konnte. Als er zu dem Hanebito kam, um ihm zu sagen, dass es weiterging, fand er ihn schlafend vor. Sein Mund stand leicht offen, auf seiner Stirn lag eine tiefe Falte. Hatte er etwa selbst im Schlaf noch Sorgen? Oder waren es Schmerzen? „Hey, Hanebito, wach auf. Wir müssen weiter.“, leicht tippte er gegen die gesunde Hand. Der Geflügelte stöhnte gequält. Seine Hand schob sich langsam unter seinen Rücken und zog einen kleineren, spitzen Stein hervor. „Verdammt. Wie kann man auf so was einschlafen?“, murrte er und warf ihn mit wenig Elan in eine beliebige Richtung davon. Fluchend erhob er sich. Anfangs hatte dieses fiese Mineral dort nicht gelegen, da war er sich sicher. Es musste erst im Laufe des Nickerchens durch ungeschickte Bewegungen dort hingelangt sein. Er fühlte sich noch müder als vor der Pause und gähnte deshalb herzhaft, blinzelte schläfrig zu dem Magier empor. „Morgen.“, murmelte er. „Ja, Morgen.“, lachte Dhaôma. Die kleinen Augen in Verbindung mit den verstrubbelten Haaren, die er immer trug, schrieen laut das Wort ‚müde’. „Das nächste Plätzchen ist bequemer, versprochen.“ Er hielt ihm auffordernd den Wasserschlauch entgegen. „Und weit ist es auch nicht mehr.“ Statt nach dem Wasserschlauch umfasste Mimoun den Arm, in dessen Hand er sich befand, und zog sich hoch. Träge ließ er die Hand hinunter gleiten und griff als nächstes nach dem Wasserschlauch. „Entschuldige.“ Kurz entschlossen kippte er sich einen Schwung Wasser über den Kopf. Mit heftigem Schütteln versuchte er einerseits das überschüssige Wasser aus seinen Haaren als auch die bleierne Schwere aus den Gliedern zu bekommen. Vollkommen baff nach dem ungewöhnlichen Übergriff konnte Dhaôma nichts erwidern, als das Wasser schon die Strubbelhaare nach unten drückte. Es war so schnell, so flüssig gegangen. Er konnte sich nicht einmal rühren, als die Tropfen ihn trafen. Was… „Was sollte das denn?“, fragte er schließlich vorwurfsvoll, verlagerte das Gewicht auf den linken Fuß und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augenbrauen bildeten eine tiefe Furche auf seiner Stirn. „Der nächste Fluss ist noch ewig weit von hier entfernt!“ „Reg dich ab. Ist ja nicht alles. Ich verzichte auch auf meine nächste Ration.“, erwiderte Mimoun und reichte den Wasserschlauch zurück. Seine Finger fuhren durch das Haar und sammelten einige Wassertropfen auf, die er sich dann von der Hand leckte. Sein Blick glitt den Hügel hinauf. „Außerdem brauche ich als ungeübter Läufer für diesen Aufstieg meine volle Konzentration.“, lächelte er zuvorkommend. Lautlos seufzend rieb sich Dhaôma über die Nasenwurzel. Nur ruhig, es dauert nicht mehr lange, beruhigte er sich und sagte die Worte wie ein Mantra in seinem Inneren auf. Ohne eine Antwort packte er den Wasserschlauch in die Tasche zurück und begann den Aufstieg erneut. Zweimal blieb er stehen, um eine Pflanze zu pflücken und im Gepäck zu verstauen, ansonsten hielt er ein konstantes, meditatives Tempo. Nicht zu langsam, nicht zu schnell. Wenn er merkte, dass er zu viel Vorsprung hatte, blieb er stehen und wartete, um seinen Rhythmus dann wieder zu finden. Diese Art zu laufen war die einzige Möglichkeit für ihn. Es dauerte etwa eine Stunde, bis sie oben ankamen. Dann hieß es, einen sicheren Aufstieg über den Vorsprung zu finden, der noch etwa zweieinhalb Meter senkrecht über ihnen aufragte. Der Hanebito konnte mit dem gebrochenen Arm wohl kaum klettern. Ob es mit der Rüstung überhaupt möglich war, bezweifelte er sowieso. So suchten seine Augen nach einer Wurzel oder ein paar groben Felsen, auf die sie sich stellen konnten. Etwa zweihundert Meter weiter konnte er etwas Passendes erahnen und machte sich mit einem kurzen Kommentar dorthin auf. So wirklich hatte die kurze Dusche gegen die Müdigkeit nicht geholfen, dafür das Laufen umso mehr. Es war nicht immer einfach. Immer wieder rutschte ein Stein unter seinen Füßen weg und behinderte seinen Lauf. Doch der Magier nahm genug Rücksicht auf ihn, dass er nicht den Anschluss verlor. Dieser schien diesmal ausgeruhter zu sein als er. Dabei war das doch nur eine kurze Pause gewesen. „Oh nein.“, keuchte Mimoun ergeben und sah diese im Normalfall eigentlich nicht sehr hohe Wand vor sich aufragen. „Das ist nicht wahr.“ Dhaômas Kommentar hatte den Geflügelten in dessen Schock nicht erreicht. Unglücklich spreizte er die Flügel und versuchte wenigstens dieses kleine Hindernis zu überflattern, doch schon knapp über dem Boden zwang ihn das Ungleichgewicht wieder zur Landung. Völlig frustriert rammte er seine Faust gegen den Fels. Nicht einmal zu solch einer Kleinigkeit war er noch fähig! Hilflos sah er sich nach dem verschwundenen Magier um. Dieser befand sich etwas weiter weg von ihm und niedergeschlagen, trottete er in dessen Richtung. Dhaôma erreichte kurz darauf einen Ort, an dem er es schaffen konnte, dem Hanebito über diese Stelle hinwegzuhelfen. Mit einem Satz kletterte er auf einen großen, relativ flachen Stein und streckte sich. Er reichte geradeso an die Kante, die zwar brüchig aussah, aber von ein paar Wurzeln hoffentlich gehalten wurde. Dort konnte sich der andere auch festhalten und hochziehen. Geduldig wartete er, bis der Schwarzhaarige herangekommen war. „Du siehst echt fertig aus. Willst du doch was trinken?“ Bisher hatte er selbst nichts angerührt, sparte es für denjenigen auf, der verletzt war. „Nein danke. Mir geht es gut.“, murmelte Mimoun und wich dem Blick des anderen aus. Stattdessen begutachtete er das Konstrukt, das sich dieser zum Überwinden des Hindernisses gesucht hatte. „Ob das funktioniert?“ „Sicher funktioniert das. Du müsstest dazu allerdings deinen Stolz überwinden und auf meine Schultern steigen. Danach solltest du in der Lage sein, dich mit einer Hand hochzuziehen, oder?“, erklärte er, ohne ihn dabei anzusehen. Das Wasser verschwand ungenutzt wieder in der Tasche. „Was hat das mit Stolz zu tun, gut gemeinte Hilfe anzunehmen?“ Mimoun sah Dhaôma offen ins Gesicht. Tja, wenn er das nicht wusste, wer konnte ihm dann dieses Verhalten erklären? Aber Dhaôma lächelte ihn nur an. „Wirst du es tun?“, hakte er nach. „Tja. Um das herauszufinden, müsstest du erst einmal vor mir auf die Knie gehen.“, sprach der Geflügelte leichtfertig aus. „Sonst könnt ich auch gleich von hier unten da hoch klettern.“ Sein Blick wanderte wieder den Rand des Vorsprungs entlang. Na das würde ein Spaß werden. Dann ging ihm auf, wie das Gesagte in den Ohren des anderen klingen musste. „Verzeih.“ Diesmal fiel es dem Braunhaarigen schwerer, die Spitze zu übergehen, aber er schaffte es, sein Lächeln aufrechtzuerhalten. Und es wurde einfacher, als er die Entschuldigung hörte. „Kein Problem. Da ich dir keine große Erfahrung zuspreche, was Klettern betrifft, schiebe ich es der Ungeübtheit zu.“ Mit dem Rücken lehnte er sich gegen den Felsen, ging in die Knie und hielt dem anderen seine Hände entgegen. So ergab er eine Art natürliche Treppe. Sein Oberschenkel, seine Schulter, danach konnte er sich aufrichten und schon war es nach oben nur noch ein knapper Meter. Das sollte gehen. Mimoun lächelte dankbar, als er hörte, dass der Magier ihm seine Worte nicht übel zu nehmen schien. „Und du bist wirklich sicher, dass du mich tragen kannst?“, fragte er sicherheitshalber noch einmal nach, als seine Hand bereits auf der Schulter des Braunhaarigen ruhte und er seinen Fuß prüfend auf dem angebotenen Oberschenkel platzierte. „Es wäre nicht von Vorteil, wenn wir beide hier verletzt rumkrauchen.“ Dhaôma kicherte. „Hey, vergessen, dass ich dich in die Höhle getragen habe? Und da hast du nicht vorteilhaft dein Gewicht verlagern können, sondern warst sperrig wie ein halber Baum. Mit Blättern wohl gemerkt.“ Er zeigte verschmitzt auf die Flügel. „Beweg dich einfach langsam, dann sollte auch das Gleichgewicht kein Problem sein.“ „Ich weiß ja nicht, wie weit es war, aber hast du mich etwa die ganze Strecke durchgetragen?“, wollte er verblüfft wissen. Doch die Antwort wartete Mimoun erst gar nicht ab. Ab besten brachten sie dieses Hindernis so schnell es ging hinter sich. Langsam schob er sich nach oben, nutzte die leicht geöffneten Flügel als weitere Gleichgewichtshilfe, als er seine Hand gegen die Felswand drückte und den nächsten Fuß auf der Schulter des Magiers absetzte. Prüfend sah der Geflügelte auf Dhaôma hinab, bevor er sich weiter nach oben schob. Dieser antwortete auch nicht. Es war nicht wichtig, dass er wusste, dass er zweimal Pause machen musste. Stattdessen versuchte er abzuschätzen, wann er sich aufrichten musste, und gab sich große Mühe, das ohne großes Gewackel durchzuführen. Als seine Beine endlich durchgedrückt waren, konnte er aufatmen. Jetzt war die Gefahr, dass er zusammenbrach nicht mehr so groß. In derselben Geschwindigkeit wie Dhaôma sich streckte, suchte die Hand des Geflügelten nach oben hin immer wieder sicheren Halt, um eventuelles Ungleichgewicht kontrollieren zu können. Nachdem der Magier aufrecht stand, war es Mimoun endlich möglich sich einfach und ohne große Anstrengung über die Kante zu schieben. Erleichtert rollte er sich auf den Rücken und atmete tief durch. Diese Hürde war geschafft. Jetzt hieß es nur noch, seinen Begleiter hier hinauf zu befördern. Mimoun rollte sich wieder zum Rand hin und streckte einen Arm hilfreich nach unten. „Los. Komm.“ Dhaôma war, sobald das Gewicht von seinen Schultern genommen war, zusammengesunken. Was ein Kraftakt! Und er hatte die ganze Zeit über die Luft angehalten. Zumindest fühlte es sich so an. Seine Brust hob und senkte sich wie nach einem Dauerlauf. Kläglich sah er hinauf. „Meine Beine sind wie Gelee. Ruh dich da oben ein bisschen aus. Sobald ich kann, komm ich nach.“ Er lachte leicht verschämt. Wieso musste er so schwach sein? „Komm schon. Ausruhen können wir uns auch hier oben zusammen.“ Noch immer war der Arm auffordernd in Dhaômas Richtung ausgestreckt. „Oder hast du etwa Angst ich könnte dich Fliegengewicht nicht aushalten?“, grinste er hinterhältig. „Nein, ich habe Angst, dass meine Beine mich Fliegengewicht nicht tragen.“, gab der Junge zurück und schloss die Augen. Das Wort Fliegengewicht hatte er genauso ausgesprochen, wie es der Hanebito gemacht hatte. Leicht herausfordernd. „Sobald die wieder funktionieren, darfst du mich gerne hochziehen.“ Auch wenn er nicht begeistert von der Idee war. Er konnte gut klettern und der Hanebito war immer noch verletzt, auch wenn diesem das immer wieder zu entgehen schien. Mimoun zog nach einigem Zögern den Arm wieder nach oben und bettete seinen Kopf darauf, während er weiterhin den Magier beobachtete. Von dem bisschen Anstrengung so fertig zu sein war nicht normal. Doch er wusste ja nun aus hinreichender Erfahrung, dass sich dieser Kerl in solchen Situationen unter gar keinen Umständen helfen lassen würde. Der Geflügelte rutschte ein wenig auf seinem Platz herum, bis er eine angenehme Position gefunden hatte und ließ sich die Sonne auf den Rücken scheinen. Na gut. Würde er eben hier oben warten. Protestieren half jetzt sowieso nichts mehr. Dhaôma brauchte fast fünfzehn Minuten und eigentlich hätte er noch länger liegen bleiben wollen, aber der Wald versprach angenehmer zu sein. Zumal ihnen ja auch das Wasser ausging. Also rappelte er sich hoch, trank einen Schluck und rief hinauf: „Hanebito, fang!“ Und schon flogen erst der Wasserschlauch und dann der Rucksack hinauf. Mimoun, aus seiner warmen, angenehmen Stille gerissen, war so perplex, dass er zwar den Rucksack, aber nicht mehr den Wasserschlauch fangen konnte. Als er sich ruckartig aufrichtete, klatschte ihm das Ding ungebremst mitten ins Gesicht. „Danke für die Warnung.“, murmelte er und hielt sich die Nase. Dann wanderte sein Blick über die Kante nach unten. „Soll ich helfen?“, fragte er und reichte den Arm wieder nach unten. Dhaôma seufzte. Ihn wieder verärgern, indem er keine Hilfe annahm, wollte er eigentlich nicht, also nahm er für den letzten Schritt die Hand an. Er kletterte gut, wie sonst sollte er auf die Bäume kommen, auf denen er so gerne schlief? „Danke.“, sagte er dennoch und streckte sich. „Wie kannst du so schwer sein, wenn du so dünn bist?“ Ein bezeichnender Blick von Mimoun glitt über seine Rüstung. „Ich hab nicht die leiseste Ahnung.“, log er, ohne es auch nur ansatzweise zu verbergen. Auch Mimoun streckte sich einmal durch. Dhaôma war kein Fliegengewicht, wie der Geflügelte behauptet hatte. Dennoch gab er dem Magier nicht die Gelegenheit, nach dem Rucksack zu greifen. Mit der Tasche über der Schulter und dem Wasserschlauch in der Hand sah er sich um. „Das ist meiner.“, deutete der Braunhaarige auf den Rucksack. „Gib ihn mir bitte zurück.“ Da waren seine Samen drin und ein paar andere wichtige Dinge. Mimouns Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Er sollte dem Magier Vertrauen schenken, aber der traute ihm nicht einmal zu, eine Tasche sicher zu tragen. Als würde er das Ding zerstören wollen. Wortlos reichte er dem Magier seine Sachen zurück und setzte seinen Weg fort. Nicht diskutieren. Einfach die Sache endlich beenden. „Ein bisschen mehr nach Rechts.“, gab der Junge die Anweisung und seine Augen glitzerten amüsiert. Was war denn los mit dem Hanebito? Da war er so erpicht darauf, nach Hause zu kommen und ihm nicht zu trauen, aber ständig wollte er ihm helfen. Hatte er sich nicht vorgenommen, ihm eben nicht mehr zu helfen? Den Kopf leicht schüttelnd schlüpfte er in die Träger und folgte Mimoun. Es schien irgendwie so, als wäre er plötzlich zutraulich. Wie ein streunender Hund, der begriffen hatte, dass ihm nichts passierte und deshalb Angst um seinen Stand bei seinem Retter hatte – oder interpretierte er da zuviel hinein? Schon tauchte er wieder in den Wald ein. Kühle Stille empfing ihn und Dhaôma atmete befreit auf. Nichts gegen Wärme, aber der Wald ging ihm doch über alles. Der Geflügelte blieb kurz vor dem Wald stehen und ließ seinen Blick über das Dickicht streifen. Wälder waren nicht sein Zuhause. Mit seinen Flügeln konnte er sich nicht frei darin bewegen. Tief seufzend trat der Geflügelte wieder an die Seite des Magiers. Wenn dieser sagte, sie mussten hier lang, dann musste er wohl oder übel hier durch. Sein Blick glitt wieder über die Felsen hinter ihnen. „Hattest du nicht gesagt, bei den Felsen könnte ich meine Leute fliegen sehen und wieder nach Hause gehen können?“ Dhaôma nickte. „Aber nicht diese Felsen. Sie sind bei weitem nicht so gut belebt wie die Schlucht vor der kargen Zone. Die Wälder bieten zu viel Schutz, um gute Beute zu erlegen.“ Und weil das eigentlich nur seine Theorien waren, fügte er kichernd hinzu: „Vielleicht gefällt es ihnen hier auch einfach nicht, wer weiß das schon. Frag sie selbst, sobald sie sich zeigen. Im Übrigen dauert es noch mindestens zwei Tage, wenn wir in diesem Tempo weitergehen.“ Auch Mimoun lächelte. Wenn auch wehmütig. Nur noch zwei Tage. Das hatte er schon einmal gehört. Und das Ergebnis waren nun mittlerweile drei Wochen. „Beschrei es nicht.“, meinte er deshalb nur ohne erklärenden Zusammenhang. Noch immer hing sein Blick an den Felsen, wanderte höher zu den Wolken hinauf, die zwischen den Inseln trieben. Er konnte niemanden entdecken. Die Worte klangen weit weg, so blieb Dhaôma stehen. „Was ist? Komm.“ Und er wandte sich wieder zum Gehen in den Wald. Immerhin ging es nicht schneller, wenn sie einfach hier warteten. Trotz des Rufes hing Mimouns Blick noch einige Sekunden am Himmel fest, bevor er sich schließlich abwandte. Es brachte nichts, hier sinnlos herum zu stehen und die Zeit noch mehr zu verlängern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)