Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 33: Das wichtigste Ziel ------------------------------- Kapitel 33 Das wichtigste Ziel Amar war am nächsten Morgen zeitig wach. Und völlig verwirrt. Er lag an einem anderen Ort als sonst. Und der Rücken vor ihm war größer als der seiner Mutter. Und ohne Flügel! „Dhaôma!“, rief er, sprang auf und landete im nächsten Moment halb auf dem Braunhaarigen, halb auf dessen Kuschelpartner. Es gab ein erschrockenes Ächzen, das Amar zum Lachen brachte. „Aufwachen! Je eher du aufwachst, desto mehr können wir heute spielen!“ „Du kleiner…“, begann Mimoun, der vor Schreck hochgefahren war. Da streifte man durch die schönsten Träume und dann tauchte so ein Quälgeist auf. „Gib Ruhe. Manche wollen noch schlafen.“, knurrte er und seine Hände schossen flink vor, ergriffen den Jungen um die Hüfte und zogen ihn in eine schraubstockartige Umarmung. Um den Jungen bewegungsunfähig zu halten, nahm er auch seine Beine zu Hilfe. Dhaôma begann nach dem ersten Schreck zu lachen. Jetzt hatte er Ruhe, denn Mimoun würde den Störenfried nicht mehr loslassen, bevor er bereit war, aufzustehen. Dennoch war er jetzt wach. Und es war Frühling! Wie sollte er da liegen bleiben? „Mimoun.“, säuselte er liebevoll. „Stehen wir auf und gehen schwimmen?“ Und da war der Nächste. Den Mund missmutig verzogen, öffnete er ein Auge und schielte zu dem Magier. War das jetzt wirklich sein voller Ernst? Schien so. „Wage es nicht, wieder krank zu werden.“, verlangte er und entließ seufzend seine zappelnde Beute. „So etwas will ich nicht noch einmal mitmachen müssen.“ Er rollte sich auf den Rücken und zog das Fell bis über beide Ohren. Eigentlich wollte er noch nicht aufstehen. „Deshalb musst du ja mit. Damit ich danach wieder warm werden kann.“ „Du willst schwimmen gehen? Es ist immer noch Eis auf dem See.“, mischte sich Amar ein. „Durchgehend?“ „Das nicht, aber… Bist du nicht empfindlich?“ „Aber ich muss doch trotzdem ab und zu baden, nicht?“ Der Junge nickte verunsichert. „Kann ich mit?“ „Ich soll dich wärmen?“, fragte Mimoun noch einmal nach und lugte misstrauisch unter dem Fell hervor. „Nachdem ich die Temperatur des Wassers angenommen habe? Dir hat es hier oben wohl schon den Kopf vereist.“ Dennoch zwang er sich zum Sitzen. Jetzt war sowieso jede Hoffnung auf Schlaf verloren. Da konnte er auch genauso gut mit nach draußen gehen. „Aber trotzdem bist du warm.“ Dann wandte er sich an Amar. „Und du darfst nur mit, wenn du bei Mimoun bleibst. Ihr könnt beide nicht richtig schwimmen.“ Dieser ließ den Jungen gar nicht erst zu Wort kommen. Noch während er sich vollständig erhob, griff er nach dem Handgelenk des Jungen und schwang ihn sich auf den Rücken. „Ich pass schon auf ihn auf.“, versprach der junge Geflügelte und bückte sich. Er klaubte eines der Felle auf, um Dhaôma nach dem Bad darin einzuwickeln und hielt diesem anschließend die Lederplane auf. Dhaôma folgte leise. Noch war niemand wach, deshalb beeilten sie sich, nach draußen zu kommen. Sein Atem bildete weiße Wölkchen, so kalt war die Luft, und der Magier überlegte, ob er wirklich baden sollte, aber es war zu lange her, dass er sauber gewesen war. Deshalb zog er seinen Poncho eng um sich und sie beeilten sich, zum Wasser zu kommen. Kaum waren sie da, zog Dhaôma sich aus, warf seine Kleider einfach auf den Boden. Mit einem breiten, schelmischen Grinsen zu Mimoun hechtete er ins Wasser. Mit einem lauten, unterdrückten Quietschen schoss er wieder heraus, dann lachte er ausgelassen und machte sich auf den Weg zur nächsten Eisscholle. Dieser Weg musste reichen, immerhin musste er noch mal zurück. Mimoun stand nicht der Sinn nach einem Bad. Er blieb am Rand stehen und versuchte einerseits seinen Freund im Blick zu behalten, andererseits darauf zu achten, dass das Kind nicht zu weit hinterher watete. Bald nutzte er seine ganze Aufmerksamkeit für Amar, der schneller als erwartet vom Waten zum Paddeln übergegangen war. Doch er wollte ihm den Spaß nicht nehmen und so entledigte sich auch der junge Geflügelte schließlich seufzend seiner Kleidung und stieg in den See. Kleine, treibende Eisplättchen schob er beinahe sanft aus seiner Laufrichtung, während er dem kleinen Jungen folgte. Dhaôma erreichte unterdessen die Eisscholle. Sein Atem ging schnell und schnaufend, damit er die Kälte in Schach halten konnte, und so schnell es ging, machte er sich auf den Rückweg, tauchte noch ein paar Mal unter, bevor er Amar erreichte. „Du bist unartig.“, sagte er lachend und trat vor ihm Wasser. „Du hattest doch versprochen, bei Mimoun zu bleiben.“ Dieser schüttelte energisch den Kopf. „Er hat versprochen auf mich aufzupassen.“ Dann sah er sich nach Besagtem um, der nicht weit entfernt war. Dicht genug, um jederzeit hilfreich eingreifen zu können. „Außerdem ist er doch bei mir.“ „Ja, ja, schon g…gut.“ Kurz klapperten seine Zähne und er wusste, dass er schnell machen sollte, bevor ihn seine Kräfte verließen. „B…bis gleich…ch.“ Und damit machte er sich auf den Weg zum Ufer. „Mimo…Mimoun, du a…auch ganz untert…tauchen.“ Mit einem Achselzucken tat dieser, wie ihm befohlen. Nur kurz untertauchen. Und da sich Dhaôma nun auf dem Rückweg befand, griff er sich wieder Amar und trug ihn ebenfalls ans Ufer. Dieser war damit nicht einverstanden, wollte noch ein wenig im Wasser spielen. Diesmal ließ Mimoun ihm nicht seinen Willen. „Du bleibst bei mir, vergessen? Und ich geh jetzt auch raus.“ Dhaôma schüttelte sich so schnell er konnte – das hatte er von Mimoun gelernt, dann schlüpfte er in seine Kleider und legte sich das Fell um, das Mimoun ihm mitgebracht hatte. Jetzt zitterte er richtig, aber er war glücklich. Ein wenig ungeduldig wartete er darauf, dass auch die anderen sich wieder angezogen hatten, bevor er Mimoun bittend ansah. Das war wie immer: dieser Blick bedeutete, er wolle kuscheln. Ah. Welpenblick. Mimoun grinste und legte den Kopf schief. „Wirklich hier draußen, wo Wind geht oder doch lieber rein?“, fragte er zwar, trat aber bereits auf den Magier zu und breitete die Arme und Flügel einladend aus. Zufrieden kuschelte sich Dhaôma in die warmen Arme. Ja, Mimoun war noch nass und ein bisschen kühl, aber es dauerte nicht lange, da wurde es warm. Zumal die Flügel den Wind ausschlossen. Amar sah sich das kritisch an. Er wusste ja, dass diese beiden wirklich eng befreundet waren, aber das sah doch seltsam aus. Als wären sie viel eher Geschwister. Oder wie Asam und Leoni. Aber er sagte nichts, sondern wartete, bis sie sich in Bewegung setzten, um dann mit ihnen zurück zu gehen. Außer ihnen war nur Leoni wach, die Seren fütterte und ihnen einen guten Morgen wünschte. Die drei Jungen setzten sich zu ihr. „Dhaôma, deine Haare sind eingefroren.“, bemerkte sie besorgt. „Erkälte dich nicht.“ Daraufhin strich der braunhaarige Magier sich mit den Händen über seinen Kopf, taute das Wasser wieder und die Haare waren wieder nass. Jetzt lohnte sich das wenigstens, da sie nicht mehr einfrieren konnten. Kaum hatte Dhaôma seine Haare enteist, griff Mimoun nach dessen Fell und zog es soweit hoch, dass es auch die Haare mit bedeckte. Dann erhob er sich fließend. Es würde nicht mehr lange dauern, bis auch die anderen Hausbewohner erwachten. Und da er nun schon häufiger hier zu Besuch war, wusste er, wo sich die Speisekammer befand. Der junge Geflügelte griff sich Amar, damit dieser ihm half, alles für das Frühstück bereit zu machen. „Ich will aber, dass Dhaôma das noch mal zeigt.“, protestierte der Junge und sah den Magier mit großen Augen an. „Dazu müsste er seine Haare wieder einfrieren und das tut ihm nicht gut.“, widersprach Mimoun. Gut. Dhaôma könnte das auch mit einer Schüssel voll Wasser machen, aber das war nicht der Punkt. Der Junge sollte sich nützlich machen. Leoni protestierte, als ihr klar wurde, dass Mimoun das Frühstück bereiten wollte. „Du bist Gast.“, wies sie ihn darauf hin. „Du musst das nicht machen.“ Dieser grinste sie nur frech an. „Das ist schon okay, Leoni.“, sagte Dhaôma. Er lächelte über ihren Gesichtsausdruck. „Es ist nicht so, als wäre es viel Arbeit und er macht gerne anderen eine Freude.“ Sie bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick, bevor sie Amar dazu anhielt, zu helfen. Dieser wollte zunächst nicht so recht, doch als Dhaôma ihm versprach, dass er das mit Sicherheit noch einmal sehen würde, wenn der rechte Zeitpunkt gekommen war, beeilte er sich, Mimoun zur Hand zu gehen. Auch wenn die Familie Mimouns bei weitem nicht so zahlreich war wie diese hier, dauerte es auch hier nicht so lange, bis alles fertig war. Nun hieß es nur noch zu warten. Die Zeit, bis es soweit war, vertrieb sich der junge Geflügelte mit dem Baby. Schließlich hatte er sie auch seit einigen Wochen nicht mehr gesehen. Amar wandte sich derweil wieder Dhaôma zu. Um ihn davon abzuhalten, zu laut zu werden, spielte Dhaôma mit ihm ein Fingerspiel. Dabei mussten sie beide ein paar Nüsse in die Hand nehmen und der andere musste raten, wie viele es waren. Amar war gar nicht schlecht bei dem Spiel, zumal er sie danach beinahe alle knackte. Und dann erschienen die anderen nach und nach auf dem Plan. Zuerst Asam, der besorgt gewesen war, weil seine Frau nicht neben ihm gelegen hatte, als er erwacht war, dann die Kinder des Haushaltes, die sich an dem Spiel beteiligten, diesmal ohne die Nüsse zu knacken. Durch das Kinderlachen wurden schließlich auch die anderen wach, bis alle einträchtig am Tisch saßen. Amar erzählte von seiner Schwimmstunde und Dhaômas Auftauaktion, die anderen planten ihren Tag. Asams Schwestern würden sich der Jagdgruppe anschließen, um Wild aufzuspüren. Jetzt, da es Probleme gab, mussten alle mithelfen. Dhaôma würde noch einmal Addar behandeln und hatte kaum eine andere Möglichkeit, als die Kinder danach wieder zu bespaßen. Kurz gab er Mimoun zu verstehen, dass sie noch einmal reden mussten. Sobald er mit Addars Behandlung fertig war, wollte er wieder zurück zum Fluss. Inzwischen hatte er beschlossen, dass er sich eine weitere Verzögerung nicht leisten konnte. Mimoun entschied für sich, die Jagdgesellschaft zu unterstützen. Dhaôma würde mit dem Ältesten und den Kindern erst einmal beschäftigt sein. Worüber er wohl reden wollte? Vielleicht sollte das erst einmal geklärt werden, bevor er sich den Jägern anschloss. Mit einem Nicken machte er deutlich, dass er verstanden hatte und deutete mit dem Kopf fragend nach draußen. Dhaômas Antwort bestand darin, dass er seinen Poncho ergriff und aufstand. Mit einem entschuldigenden Nicken in die Runde ging er zum Ausgang und wartete auf Mimoun. Amar, der folgen wollte, wurde von seiner Mutter aufgehalten. Mit ein paar leisen Worten brachte sie ihn zur Raison. Draußen war es kalt und seine Haare noch nicht wieder ganz trocken, deswegen zog er den Poncho einfach über den Kopf, damit der Wind nicht so in den Ohren pfiff. Den paar mutigen, die um diese Uhrzeit ebenfalls schon draußen waren, nickte er begrüßend zu. „Addar hat Recht.“, begann er, sobald sie ganz alleine standen. „Egal, was ich mache, wenn ich mehrere Ziele gleichzeitig verfolge, dann bleiben sie alle auf der Strecke. Und ich denke, bevor ich diese Inseln weiter begrüne, muss ich den Frieden dauerhaft erhalten. Vielleicht bekomme ich dann sogar Hilfe. Und den Frieden bekomme ich mit den Drachen. Addar ist vorerst gesund und vor dem nächsten Winter muss ich wieder da sein, damit das auch so bleibt. Ich habe ihm ein Versprechen gegeben, dass er den Frieden noch erleben kann, deshalb…“ Er verstummte. Das war das eine Ziel, das sich einfach nicht nach hinten verschieben ließ. „Ist die Reihenfolge okay? Es würde bedeuten, dass du den ganzen Weg zum Fluss zurückfliegen musst. Und das möglichst schon übermorgen. Länger wird die Heilung nicht mehr dauern.“ Übermorgen. Mimoun verschränkte die Arme und dachte nach. Das würde bedeuten, dass er heute mit auf die Jagd gehen könnte. Dann hätten sie auch kleine Rationen für den Weg. Morgen würde er sich komplett schonen müssen. Vielleicht kleine Albernheiten mit den Kindern, obwohl diese ganz schön anstrengend werden konnten. Damit hätte er dann sicher genug Kraft, um die erste Etappe ohne Dhaômas Hilfe schaffen. So konnte sich dieser wieder erholen. Und für die restliche Strecke suchten sie sich entweder Unterstützung oder Dhaôma zauberte ein wenig. Nun musste er sich ja nicht mehr so zurückhalten. Aber wenn sie wieder an ihrem Ausgangspunkt waren… Es musste einen Weg geben, wie sie einerseits schnell vorwärts kamen, aber andererseits ihr Gepäck vernünftig mit sich führen konnten. Plötzlich ging ihm auf, dass der Magier ja noch neben ihm stand und auf eine Antwort wartete. Entschuldigend lächelte er. „Kein Problem. Kümmere du dich um seine Heilung. Ich kümmere mich schon um den Rest.“ „Mimoun, du siehst besorgt aus. Ist was?“ Der Braunhaarige hatte das Minenspiel seines Freundes beobachtet, jetzt war er unruhig. Drängte er ihn zu sehr? „Hab ich einen Fehler in meinen Gedanken?“ Nun legte sich Erstaunen auf die Züge des Geflügelten. Dann lachte er amüsiert. „Es ist alles in Ordnung. Ich überleg mir nur gerade, wie wir das alles schaffen.“ Und dann begann er aufzuzählen, damit sein Freund seinen Gedankengängen folgen konnte. „Heute austoben. Morgen viel ruhen. Übermorgen arbeiten. Und du schonst dich.“, bestimmte er schon einmal vorweg. „Ab dem Tag danach Hilfe anderer Geflügelter in Anspruch nehmen oder auf deine Kräfte zurückgreifen. Damit sollten wir den Rückweg schneller schaffen als den Hinweg. Das Problem ist nur die Zeit danach. Wollen wir so weiter verfahren? Und was wird mit unseren Sachen, die wir in dem Dorf gelassen hatten? Schleppen wir das alles mit?“ Ihm kam ein Gedanke. „Kannst du ein Boot bauen, dass schneller schwimmt als der Baumstamm damals? Wir brauchen ja nun nicht mehr auf Deckung achten.“ Das war ein interessanter Gedanke. Nur hatte er keine Ahnung, wie man ein echtes Boot baute. Und für den Fall, dass sie wieder einem Wasserfall begegneten… Das konnte man sicher mit einer kurzen Strecke des Fliegens lösen. „Ich kann es versuchen.“ Er lächelte, denn ihm gefiel der Gedanke immer besser. „Es dauert einige Zeit, aber wenn ich danach immer ein wenig besser mache, was nicht so gut läuft, dann sollte das schon irgendwie funktionieren.“ Und sie würden viel schneller vorankommen, als wenn er lief. Und dann konnten sie es gleich auch auf dem Großen Wasser benutzen. Wenn sie Glück hatten, dann waren sie noch bevor der Sommer starb dort. „Ich könnte dazu noch Paddel machen, dann kann ich dich vielleicht sogar abhängen.“ Es war ein Scherz und das zeigte sein Lachen. „Amar und Haru würde das gefallen!“ Wie im Spiel duckte sich Mimoun und spannte seine Flügel weit aus, die Finger zu Klauen gekrümmt. „Versuchs nur. Mir entkommst du ja doch nicht.“ Oh ja. Das würde ein Spaß werden. Sollte er es mal ruhig versuchen. „Nur dass du es weißt, ich werde es versuchen. Außerdem musst du weiterhin Briefbote spielen, nicht wahr? Da hab ich sogar eine reelle Chance.“ Dhaôma streckte ihm die Zunge raus. Es war nicht so, dass er glaubte, gewinnen zu können, aber jetzt würde er es wenigstens versuchen. Dann fiel ihm noch ein, was er machen wollte. „Bringst du bitte auch Holz mit? Ich wollte doch Janna beibringen, wie man Suppe kocht. Damit das Essen für Addar leichter verdaulich wird.“ Kaum war das Gesprächsthema wieder in ernstere Bahnen gerutscht, entspannte Mimoun seine Haltung wieder. „Natürlich.“, nickte er. Dann trat er einen Schritt auf seinen Freund zu und schob seine Hand unter dessen Poncho, befühlte dessen Haare. Noch immer nicht richtig trocken. „Na los. Rein mit dir.“, bestimmte er in sanftem Tonfall und hielt Dhaôma die Lederplane auf. „Oder gibt es noch etwas Wichtiges, das Klärung bedarf?“ „Nein. Nicht, dass mir was einfällt.“, grinste dieser. Und damit trat er wieder ein, woraufhin er sich mit einem vor Neugier sterbenden Amar konfrontiert sah. Er wollte ihm nicht sagen, was sie besprochen hatten. Das Kind würde Theater machen. Während die anderen aufräumten und sich für die Jagd bereitmachten, zog sich Dhaôma mit Addar und Leoni zurück. Es war Zeit. Amar erquengelte sich, dabei sein zu dürfen, denn er wollte soviel wie möglich von der für ihn so faszinierenden Magie miterleben. So wurde es ein wenig eng in dem winzigen Raum. Niemanden störte das. Einmal kam jemand, um sich zu verabschieden, doch weder Dhaôma noch Addar antworteten, denn sie waren in die Heilung vertieft. Später am Tag spielte der Magier wieder mit den Kindern, die testeten, wie tragfähig das Eis auf dem See noch war, und dann quietschend aufflatterten, wenn es nachgab. Dhaôma war dabei Schiedsrichter, wer am mutigsten war. Dann versuchten sie zu viert, ihn zu tragen, mussten aber bald aufgeben, was in einer obligatorischen Schneeballschlacht endete. Gegen Abend kehrten die Jäger zurück, die tatsächlich erfolgreich gewesen waren. Sie hatten ein paar schöne Steinböcke im nahen Gebirge erjagt. Sie wurden hoch gefeiert, immerhin würde das das Dorf für ein paar Tage satt machen. Und das nächste Highlight des Tages war das Lagerfeuer vor dem Haus des Ältesten und so lernte das gesamte Dorf, wie man Suppe kochte, denn das Fleisch musste dank der Kälte nicht sofort verarbeitet werden. Mimoun nutzte das Feuer, um für seinen Freund Vorräte zu machen, die sie mitnehmen konnten. So war es kein Wunder, dass Dhaôma am Ende des Tages sofort einschlief. Am nächsten Tag musste nicht mehr viel gemacht werden. Zusammen mit Janna, Eloyn und Addar sprach Dhaôma Salbenrezepte durch, die er geschrieben hatte, und stellte gewisse Verhaltensregeln auf, die man als alter Mensch zur Erhaltung der Gesundheit durchführen sollte, Mimoun half dabei, die Beute endgültig zu zerlegen und Luftzutrocknen. Danach legte Dhaôma die Insel schnee- und eisfrei, damit er mit Amar seinen Wettlauf machen konnte, was die anderen Kinder begeistert aufnahmen. Selbst einige der Jugendlichen machten mit, begeistert, dass man wieder laufen konnte, ohne seine Krallen in das Eis zu versenken. Dennoch war der geübte Dhaôma schneller. Sie nutzten ihre Beine einfach nicht genug. Nur Mimoun konnte ihm das Wasser reichen, ein Resultat daraus, dass er doch öfter mit dem Magier Schritt hielt. Und dann mussten sie den Kindern doch sagen, dass sie am nächsten Tag gehen würden. Mit Addar war das abgemacht und so konnte man die Kleinen schnell beruhigen. Aber dafür ertrotzte sich der kleine Amar, dass er bei seinen beiden Spielkameraden schlafen durfte. Schließlich wollte er möglichst viel Zeit mit ihnen auskosten. Mimoun blieb an diesem Abend ein wenig länger auf. Natürlich brauchte er Ruhe und seine Kraft für den nächsten Tag, doch auch er wollte möglichst viel Zeit nutzen. Zeit, die er unter Seinesgleichen verbrachte, Zeit, in der er nicht nur Dhaôma um sich hatte. Er saß unter dem Kirschbaum, der letztes Jahr von dem Magier wiedererweckt worden war, und beobachtete das Dorf, lauschte auf die Geräusche. Es wirkte alles so friedlich, so fernab des Krieges. Die einzigen Schwierigkeiten, mit denen die Leute hier zu kämpfen hatten, waren die Folgen des Winters. Ein scharfer Wind fuhr über die Insel und riss ihn aus seinen Gedanken. Es wurde Zeit, dass er sich zur Ruhe begab. In dem Raum schlüpfte er unter die Felle und kuschelte sich an Dhaôma, schlief fast augenblicklich ein. Die Nacht war kurz und traumlos. Zwar fühlte sich der junge Geflügelte noch nicht komplett ausgeschlafen, doch auch nicht mehr richtig schläfrig. Er wühlte kurz mit seiner Nase durch die Haare seines Freundes und erhob sich leise. Das Kind schlief noch und das sollte nach Möglichkeit noch ein wenig so bleiben. Darum bat er Dhaôma, noch ein wenig liegen zu bleiben. Auch heute bereitete Mimoun das Frühstück vor und wartete bis sich alle versammelt hatten. Addar war der Nächste, der aus seinem Raum trat. Kurz huschte sein Blick über die Lederplane, hinter der der Magier lag, und deutete mit einem kurzen Nicken nach draußen, bevor er sich in die entsprechende Richtung bewegte. „Ihr wollt also heute schon gehen.“, stellte er ruhig fest. Mimoun antwortete nur mit einem Nicken. Was sollte er auch schon groß sagen. Es war beschlossene Tatsache. „Seid vorsichtig. Hier in der Nähe gibt es ein Magierdorf.“ Der Blick des Alten suchte einen Punkt jenseits der Insel, der in der Richtung lag, in die sie wollten. „Ihr solltet ihnen vielleicht nicht zu nahe kommen. Macht einen großen Bogen um sie.“ Nachdem er das gesagt hatte, verschwand Addar ohne ein weiteres Wort wieder in der Hütte. Mimoun blieb noch einen Augenblick länger. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, aber er konnte nicht sagen, woran es lag. Schließlich trat auch er wieder ein. Damit Dhaôma wunschgemäß schnell vorwärts kam, verließen die beiden Freunde das Dorf schon kurz nach dem Essen. Sie wurden laut und zahlreich verabschiedet. Viele begleiteten sie noch ein Stück des Weges, doch nicht weit genug, um wirklich als Unterstützung zu dienen. Mimoun war ausgelassen, schlug einige Kapriolen und tobte trotz seines zusätzlichen Gewichtes durch die Luft. Es war egal. Nun konnte Dhaôma ihm ja im Notfall helfen. Nicht, dass er beabsichtigte, es soweit kommen zu lassen. Er drückte seinen Freund fest an sich und ließ sich einige Meter einfach fallen. Vielleicht mochte Dhaôma es als Spiel ansehen, als Übermut, aber insgeheim bezweckte der junge Geflügelte etwas anderes damit. Nahezu unmerklich hatte er seine ursprüngliche Flugroute geändert. Er wollte das Dorf, vor dem Addar ihn gewarnt hatte, umgehen, ohne dass der Magier überhaupt etwas von der Anwesenheit seines Volkes bemerkte. Mimoun wusste nicht, wie dieser da reagieren würde und ehrlich, er wollte es gar nicht erst austesten. Ein wenig fürchtete er sich davor, scheute die Zeit, in der sie bewusst zu den Magiern gehen würden. Etwas ließ ihn in seinem Spiel innehalten, ein Gefühl, eine unbestimmte Ahnung. Bevor er sich überhaupt richtig bewusst wurde, was los war, wurden sie von einer heftigen Windböe erfasst, die sie wie einen Spielball hin und her schleuderte. Krampfhaft presste Mimoun seinen Freund an sich, um ihn durch den starken Wind nicht zu verlieren, der sie mit sich riss, ohne ihnen eine Chance zu lassen. Der Geflügelte fluchte unterdrückt, während er darum kämpfte, in tiefere Luftschichten zu gelangen. Immer wieder verlor er dabei die Orientierung. Wo war unten? Als er es nach gefühlten Ewigkeiten endlich geschafft hatte, aus der Strömung zu gelangen, blieb ihm nicht mehr die Kraft für eine sorgfältige Orientierung. Die erstbeste kleine Lichtung in dem sich unter ihnen erstreckenden Wald, die ihm auffiel, steuerte er an und ließ sich dort auf die Knie sinken, nachdem er seinen Freund vorsichtig abgesetzt hatte. „Entschuldige.“, keuchte er atemlos. „Ich hätte besser aufpassen sollen.“ „Als ob das deine Schuld wäre.“ Dhaôma schüttelte den Kopf, was sich als großer Fehler herausstellte. Ihm war schwindelig von dem Kreiseln und Kopfstehen. Langsam setzte er sich hin. „Wow. Wie ihr das aushaltet. Echt beneidenswert.“ Er hielt sich den Kopf und ließ sich schließlich hintenüber fallen. Unter ihm schwankte noch immer der Boden, so dass er die Augen kurz zusammenpresste. Als er sie wieder aufmachte, sah er den Rauch über den kahlen Baumwipfeln aufsteigen. Die Augenbrauen zusammenziehend überbog er den Kopf nach hinten, um besser sehen zu können, bevor er ruckartig herumfuhr und sich hochstemmte. Was war das? Der Geflügelte hatte sich nicht aus seiner knienden Position bewegt und bewusst ruhig ein- und ausgeatmet. Mit geschlossenen Augen wartete er darauf, dass sein rasender Puls wieder langsamer ging. Die Aussage Dhaômas quittierte er nur mit einem müden, kurzen Grinsen. Sein Gehör war das Einzige, was sich noch auf etwas anderes als nur seinen Körper konzentrierte. So war das heftige Rascheln von Kleidung schon sehr verdächtig. Verwundert folgte er dem Blick Dhaômas und runzelte die Stirn. Dieser Rauch. Es musste ein Feuer in der Nähe sein. Schlagartig fiel ihm Addars Aussage wieder ein. Es musste sich um das Magierdorf handeln. Schon wollte er es nun doch ansprechen, wollte den Vorschlag unterbreiten, es zu umgehen, als das Stirnrunzeln tiefer wurde. Der Rauch wirkte nicht, wie von einem einfachen Feuer, so wie er es gewohnt war. Unruhe ergriff ihn, als er sich erhob. Was sollten sie tun? Die gleiche Frage stand Dhaôma quer ins Gesicht geschrieben. Im Grunde gab es für ihn nur eine Möglichkeit: da vorne hatte ein Blitz die Steppe in Brand gesetzt. Die Alternativen: Sommerbrand und Kriegsgeschehen kamen nicht in Frage oder waren ihm zuwider. Aber für einen echten Blitzschlag war es zu viel Rauch. Das dort vorne war großflächiger… „Mimoun, was ist das da?“ Vielleicht hatte der andere das gesehen. „Meinst du, jemand braucht unsere Hilfe?“ In seinem Bauch war ein seltsames Gefühl dunkler Vorahnung. Er wollte dort nicht hin. Ganz und gar nicht. „Soll ich nachgucken gehen?“, bot Mimoun an. In ihm stritten widerstrebende Gefühle. Wenn dort Magier waren, wollte er ihnen nicht begegnen. Aber wenn dort jemand in Schwierigkeiten steckte, musste man doch helfen. Dhaôma nickte geistesabwesend, doch dann zuckte er zusammen. „Geh da nicht alleine hin.“, sagte er. Das Gefühl in seinem Bauch war zu bedrückend. „Wenn es doch… Nein, nein, falls es ein Dorf ist, dann sind die Bewohner Magier und die würden dich töten, wenn sie dich sehen. Das kann ich nicht zulassen, hörst du?“ Er wandte sich ihm zu und sah ihm beschwörend in die Augen. Besser sie gingen einfach weg. Besser, sie mischten sich nicht ein! Dennoch sah es so aus, als würde etwas in Flammen stehen. In ungewollten Flammen. „Hat es hier gewittert?“, fragte er leiser, unsicher und wieder in die Richtung sehend, in der der Rauch aufstieg. Die Umgebung war feucht, stellte Mimoun mit einem Blick in die Runde fest. Ob es vom geschmolzenen Schnee stammte oder von einem Gewitter, konnte er nicht bestimmen. Aber von Gefühl her würde er die Frage bejahen. Die Luft fühlte sich danach an. Unglücklich grinste er. „Ich glaub schon. Aber warst du nicht unser Gewitterspezialist?“, versuchte der Geflügelte die Situation ein wenig zu lockern. Dhaômas Aussage bezüglich der Vorgehensweise der Magier traf seine eigenen Befürchtungen ziemlich genau. „Vielleicht sollte ich hingehen.“, murmelte er. „Mich greifen sie zumindest nicht gleich an.“ Aber große Lust hatte er nicht. Er glaubte zwar auch nicht, dass man ihn hier kannte, aber dennoch war die Ankunft eines Heilers mitten im Nirgendwo schon etwas seltsam, wo man die doch sonst immer in den Städten zusammenpferchte. Eigentlich wollte er gehen, aber er wusste, spürte, dass wenn er jetzt einfach floh, dass er sich ewig fragen würde, was dort passiert war, und ob er nicht vielleicht hätte helfen können. „Ich möchte da hin.“, sagte er schließlich entschlossen, auch wenn sein Gesicht nicht wirklich von Sicherheit gezeichnet war. Bittend sah er Mimoun an. „Kannst du dich bereithalten, falls ich weglaufen muss?“ Unruhig schlugen die Flügel leicht durch die Luft. Eine unbewusste Reaktion auf seinen inneren Kampf. Einerseits war es sicherer, wenn Dhaôma alleine ging. Sollte dort wirklich das Magierdorf liegen, vor dem Addar ihn gewarnt hatte, drohte seinem Freund dort schließlich keine Gefahr. Andererseits bedeutete der Rauch sicher nichts Gutes. Die Gestalt des Geflügelten straffte sich. Er hatte einen Entschluss gefasst und er lächelte zuversichtlich. „Ich werde mich bereithalten.“ „Das ist sehr beruhigend.“, murmelte Dhaôma und mit einem versichernden, aufmunternden Blick zu seinem schwarzhaarigen Freund machte er sich auf den Weg durch den Baumbestand. Lange musste er nicht laufen. Schon bald lichtete sich das Unterholz und durch die kahlen Stämme wurde das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar: die Häuser waren verbrannt, die Gärten in Asche und Matsch getaucht, Wasser floss in kleinen Rinnsalen über die zerstörten Kieswege, rosa gefärbt von dem Blut der Menschen, die überall herumlagen. Viele davon waren verkohlt und reckten grotesk vereinzelte Glieder in die Luft, andere waren zerrissen und zerfleddert und hingen über umgeworfenen Zäunen oder auf den verbrannten Dächern. Nicht weit vom Wald entfernt konnte der Junge einen zersplitterten Eisblock sehen, aus dem an einigen Stellen Blut tropfte. Die Enden von Flügeln ragten gerade so heraus. Doch die meisten Menschen hier hatten keine Flügel. Es waren Magier. Es gab keinen Zweifel, dass hier ein Kampf getobt hatte. In Dhaôma erwachte ein schier unerträgliches Gefühl. Es schnürte ihm die Kehle und die Brust zu und er spürte Tränen in seinen Augen brennen, als er wieder zurückwich. „Mimoun!“, wisperte er, doch es kamen kaum Töne hervor. Warum? Warum gab es immer noch Kämpfe? Konnten sie denn nicht sehen, dass die Erde sich freute, weil der Winter endlich vorbei war? Konnten sie sich nicht mit ihr freuen, dass sie noch am Leben waren? Mussten sie sich wirklich gegenseitig umbringen? „Mimoun!“ Schon rannen die ersten Tränen, trotzdem konnte er nicht wegsehen. Es war genauso wie damals, als seine Schwester gestorben war. Trotz des schrecklichen Anblicks hatte er den Blick nicht abgewandt. Kaum war der Magier aus seinem Sichtbereich verschwunden, schlich Mimoun ihm hinterher. Zwar besaß er weder sonderlich viel Übung noch Talent für eine derartige Aktion, dennoch schien Dhaôma ihn nicht zu bemerken. Als er ihn schließlich wieder sehen konnte, duckte er sich in das Unterholz und behielt ihn genau im Blick. Aus dieser Entfernung müsste er trotz des lichter werdenden Baumbestandes nicht zu sehen sein. Misstrauisch beobachtete der junge Geflügelte, wie Dhaôma einige Schritte zurücktaumelte. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht hören, ob jemand etwas zu ihm sagte, ob er etwas sagte. Vorsichtig schob er sich noch wenige Meter weiter nach vorn. Er wollte nicht von einer Flucht überrascht werden, sondern rechtzeitig eingreifen können. Dafür musste er seinen Freund für einen Augenblick aus den Augen lassen. Als er wieder zu dem Magier hinüber sah, bemerkte er das leichte Glimmen, das von ihm ausging und immer mehr an Intensität zu gewinnen schien. Der Geflügelte ließ alle Vorsicht fahren. Die Flügel dicht an sich gezogen, preschte er durch das Unterholz auf seinen Freund zu. Seine Augen suchten die drohende Gefahr, doch alles was sie erblickten waren Tod und Zerstörung. Seine Geschwindigkeit verringerte sich, bis er langsam neben dem Magier zum Stehen kam. Er hatte bereits einmal in einem Kampf gesteckt, hatte die Menschen um sich herum sterben sehen, aber ein Dorf so komplett ausgelöscht vorzufinden, war etwas anderes. Übelkeit stieg in ihm auf, als der Geruch von verbranntem Fleisch in seine Nase stieg. Schaudernd wandte er sich ab und Dhaôma zu. Mimoun schloss ihn in die Arme, was diesen nicht daran hinderte, mit Tränen auf das Grauen zu blicken. Sanft schob er seine Hand über dessen Augen. „Sieh nicht hin.“, flüsterte er. Lauter wagte er es nicht zu reden. Wagte es nicht, das Knistern der letzten Glutreste zu übertönen. Und den Rat, den er seinem Freund gegeben hatte, befolgte er selber nicht. Er ließ seinen Blick über die grausige Szenerie gleiten, nahm den ganzen Schrecken in sich auf, bis er etwas fand, das seine durch Schock zurückgehaltenen eigenen Tränen emporsteigen zu lassen. Dort lag eine Person, völlig verbrannt, zusammengerollt wie ein Fötus. Viel schlimmer jedoch war der kleine tote Leib, nicht ganz so schlimm zugerichtet, den sie in den Armen hielt. Minutenlang ließ sich Dhaôma die Hand auf seinen Augen gefallen, spürte der Wärme nach, die ein lebendiger Körper abgab. Ein Krieg zwischen Magiern und Hanebito. Wenn er daran dachte, dass er Mimoun auch so hätte sehen müssen… Zerfetzt oder wahlweise mit Hass in den Augen auf sich zurasend. Er versteifte sich und zitterte. Was für ein grausamer Gedanke! „Verfluchte Kämpfe!“, wisperte er und kämpfte sich dann aus der Umarmung. „Lass uns nach Überlebenden suchen. Vielleicht können wir jemanden retten!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)