Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 19: Gewitter -------------------- Kapitel 19 Gewitter Als die ersten Tropfen fielen, zog er sich ins Haus zurück. Und blickte in erschrockene Augen. Silia war ebenfalls schon wach. Sekundenlang starrten sie einander wie paralysierte Kaninchen an, bevor Dhaôma wieder einen Schritt zurück machte. Das löste den Bann. Silia wich zur einen Seite, Dhaôma zur anderen und so kamen sie ohne Probleme aneinander vorbei. Erleichtert hockte sich der Braunhaarige wieder in sein Bett und wartete, bis Mimoun wach oder wahlweise geweckt wurde. Dieser hatte auch heute nichts von der morgendlichen Wanderung seines Gastes bemerkt und schlummerte noch eine ganze Weile friedlich vor sich hin. In der Zeit der Wanderung hatte er sich angewöhnt bei Sonnenaufgang wach zu werden, da sich auch Dhaôma um diese Zeit zu regen begann. Wie schnell konnte man doch in alte Gewohnheiten zurückfallen. Als er schließlich erwachte, und das noch bevor seine Mutter einen Blick in den kleinen Raum werfen konnte, streckte er sich erst einmal ausgiebig. Da er ausgeschlafen hatte, versprach das heute ein besserer Tag als gestern zu werden. „Guten Morgen.“, begrüßte er ihn fröhlich. „Ich hatte gestern draußen Feuerholz deponiert und es vergessen. Bevor es Frühstück gibt, könnten wir was für dich herrichten.“ Nachdenklich blickte Dhaôma ihn an. Seit einiger Zeit war das stetige Prasseln des Regens auf dem Dach zu hören. Er bezweifelte doch stark, dass das Holz noch trocken genug war zum Brennen. Dennoch nickte er ihm zu. „Danke.“ Und weil er es kaum erwarten konnte, wieder hinauszukommen, fragte er noch: „Wie lange regnet es hier oben im Allgemeinen?“ Nun merkte auch Mimoun auf und hörte das Prasseln. Mit einem Stöhnen ließ er sich wieder zurückkippen und schlug die Hände vor das Gesicht. Na toll. Das Holz konnten sie erst einmal vergessen. „Je nach Wolkendichte und Jahreszeit kann es schon mal etwas dauern.“ Ruckartig setzte er sich auf. „Ob es uns mit aufgespannten Lederbahnen möglich wäre, Wasser für deine Pflänzchen zu sammeln und zu speichern?“ Amüsiert betrachtete sich Dhaôma seinen Freund. „Wie viele Lederbahnen habt ihr denn? Und wo willst du das Wasser speichern? Aber es wäre nicht schlecht, wenn im Sommer mehr zur Verfügung steht, wenn es da keinen Regen gibt.“ Nachdenklich stützte er das Kinn auf die Fäuste. „Mimoun, zeigst du mir, welche Kraft des Wassers sich noch in mir verbirgt? Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass ich mehr kann, als Eis schmelzen, aber ich weiß nicht, was. Wenn du es mir zeigen könntest, vielleicht kann ich dann Regen rufen.“ „Wir können zwischen den Bäumen ja einen weiteren Teich anlegen. Dort drunter liegt kein Teil des Labyrinths.“ Dennoch nickte er und begann grinsend mit einem Fingernagel die Zeichen auf Dhaômas Arm nachzufahren, hauchzart und federleicht. Dieser kicherte und zog den Arm weg. „Hey, die kann ich sehen!“ Mit Schwung stand er auf und zog sowohl Pelz als auch Hemd aus, bevor er sich mit dem Rücken zu Mimoun wieder hinsetzte. Gespannt wartete er. Dann, genauso hauchzart spürte er die Berührung im Nacken. Angefangen bei seinem Ohr bis zwischen die Schulterblätter und wieder ein Stückchen hinauf. Gänsehaut bildete sich angesichts dieser unvorhersehbaren Gemeinheit. Mimoun könnte ruhig ein bisschen mehr Druck ausüben, aber wer wusste schon, ob die Fingernägel ihn sonst verletzen würden. „Das ist für die Heilung.“, teilte er ihm mit, als er das flaue Gefühl im Magen überwunden hatte. Zwei parallele, waagerechte Linien beiderseits knapp unter dem Hals waren für die Zerstörung von tierischem Material. Weiter ging es hinunter und so schlimm kitzelig, dass Dhaôma lachen musste und sich weg wand. „Fies!“, kicherte er. Dabei war es gerade jetzt so spannend! „Oh ja. Ich bin ein böser Junge.“, lachte Mimoun und schlang einen Arm um Dhaômas Bauch, damit dieser sich nicht erneut weg winden konnte. Er dachte gar nicht daran, einen höheren Druck oder einen Fingerknöchel zu nutzen. Dies würde seinem momentanen ‚Opfer’ nur Linderung verschaffen. Dabei war dieses Spiel viel amüsanter. „Und sei nicht so laut. Ich weiß nicht ob meine Mädels schon wach sind.“ „Deine Schwester ist wach.“, gab der Junge zurück und versuchte, sich auf die Stellen am Rücken zu konzentrieren. Das war sowieso schon schwer bei den Wasserzeichen, aber hier und jetzt unmöglich. „Das ist nicht hilfreich!“, keuchte er, als ihm das Lachen wieder entglitt, das er versucht hatte, zu unterdrücken. „Ich weiß.“ Mimouns Grinsen wurde breiter. Noch einmal zog er die Wassertropfen auf Dhaômas Rücken nach. „Aber so macht es mehr Spaß.“ Verzweifelt versuchte Dhaôma sich gegen die Hand am Bauch zur Wehr zu setzen, doch er hatte dank der unterdrückten Lachattacken kaum eine Chance. „Was macht ihr da?“ Die Stimme kam unerwartet und ließ Dhaômas Nackenhaare sich aufstellen. Sofort war der Spaß vorbei, selbst die Empfindlichkeit seines Rückens war gegangen. Mimoun spürte und sah die Veränderung. Mit einem lautlosen Seufzen entließ er Dhaôma aus seinem Griff und wandte sich seiner Schwester zu. Der Blick, den er ihr zuwarf, sprach Bände. „Wir haben nur etwas nachgeguckt.“, erklärte er leise, ergriff Dhaômas Sachen und legte sie ihm um die Schultern. Anschließend erhob er sich und drängte seine Schwester weg vom Eingang. Lautlos ließ er die Lederplane wieder an ihren Platz gleiten und sein Blick wurde traurig. Dabei hatte er es gerade geschafft, dass sich Dhaôma endlich einmal entspannen konnte. Auch wenn von Anfang an klar war, dass dies nur von kurzer Dauer sein würde. „Verzeih. Haben wir dich gestört?“, wollte er wissen. Sein Blick glitt über die Lederbahn, die den Raum der Frauen abtrennte. „Mutter ist gerade draußen.“, erklärte sie knapp, bevor sie seine Frage verneinte. Und dann nickte. „Keine Ahnung.“ Mimoun lächelte wieder und zog sie in seine Arme. Wie ein kleines Kind klammerte sie sich an ihn. Ihr trauriges Gesicht konnte er nicht sehen, da sie es an seinem Hals verbarg, doch schnell stieß sie ihn von sich. „Es gibt gleich Frühstück.“ Mimoun nickte nur und betrat wieder seinen Raum, um dies auch Dhaôma auszurichten. Dieser hatte sich inzwischen angezogen und sah ihm mit gemischten Gefühlen entgegen. Er konnte spüren, dass er ihr ein Dorn im Auge war, und das lag nicht nur daran dass er Magier war. Sollte Mimoun sich jemals ein Mädchen suchen, würde sie dieses vielleicht genauso behandeln. Vielleicht interpretierte er da aber auch zu viel hinein. „Können wir auch was machen fürs Frühstück?“, wollte er wissen. Ihm behagte es nicht, dass die Mutter in den Regen hinausgegangen war und arbeitete. Mit knappen, befehlenden Anweisungen erklärte sie, wo er Geschirr finden und Essen holen konnte. Mimoun spürte die Stimmung mit jeder Sekunde angespannter werden und verabschiedete sich kurz. „Bringt euch bitte nicht um.“, bat er verzweifelt und trat in den Regen hinaus. Diesen über seinen Körper rinnen zu spüren, spülte nicht nur den Dreck von ihm. Kurzfristig vergaß er alle Sorgen und machte sich auf den Weg zur Senke. Auf dem Weg dorthin, kam ihm seine Mutter entgegen und er bat sie, dafür zu sorgen, dass die Hütte nicht komplett mit Blut besudelt war, bis er zurückkam. Diesen Wunsch konnte er als erfüllt betrachten, denn alle drei ihm wichtigen Personen saßen bereits um das vorbereitete Frühstück herum, ohne irgendwelche erkennbare Verletzungen. Dabei suchten Dhaôma und Silia den weitmöglichsten Abstand zueinander. Mimoun seufzte. Na, ob aus denen jemals Freunde werden konnten? Das Frühstück verlief in Schweigen und Mimoun war froh, als alles wieder weggeräumt worden war. Danach hängten die Frauen die Lederbahnen ab, die ihren Raum abtrennten, um mehr Platz zu schaffen. Bei dem Regen konnte man nicht draußen arbeiten. Aus Rücksicht auf Dhaôma ließen sie den Jungenraum weiterhin abgetrennt, um ihm die Möglichkeit zum Rückzug zu bieten. Dhaôma steckte den Kopf durch die Tür, um zu sehen, wie stark der Regen war. Er mochte Regen. Und wenn er ehrlich war, würde es ihn interessieren, wie es war, wenn der Regen auch unter den Füßen zu finden war. Als er den Kopf zurückzog, waren seine langen Haare bereits nass. „Mimoun, können wir wirklich einen Teich anlegen? Bei dem Regen dauert es auch nicht lange, bis er voll ist.“ Hätte er jetzt Wechselkleider, würde er hinausgehen, aber die Aussicht darauf zu frieren, hielt ihn davon ab. Das hier war kein warmer Regen wie bei ihm daheim im Wald. „So was Verrücktes hab ich ja noch nie gehört.“, kam es von hinter ihnen und wie ein ertapptes Kind fuhr Dhaôma herum. Dunkle, braune Augen sahen ihn verächtlich an. „Die Idee stammt von mir.“, ging Mimoun dazwischen. „Aber ich hab ja nur verrückte Ideen, nicht wahr?“, fauchte er und legte Dhaôma eine Hand auf die Schulter. Silia wich erschrocken und verletzt zurück. Schon wieder stellte sich ihr Bruder offensichtlich auf die Seite des Magiers und gegen sie. „Ich verstehe ja, dass du ihm nicht vertrauen willst, aber er ist mein Gast. Ein wenig mehr Höflichkeit würde ich mir schon von dir wünschen.“ Nun füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Du Idiot.“, schrie sie ihn an, stieß ihn beiseite und rannte in den Regen hinaus. Mimoun fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. „Verdammt.“ Dhaôma war ihr schon freiwillig ausgewichen, nun sah er Mimoun bedröppelt an. Es tat ihm ehrlich Leid. „Magst du ihr nicht nachlaufen?“, fragte er unsicher. Mimoun nickte zögerlich. Und schüttelte zeitgleich den Kopf. Dennoch verschwand er kurze Zeit später im Regen. Draußen hielt er Ausschau nach seiner Schwester, konnte sie aber nirgends entdecken. Doch dafür Zhanal. Hastig ging er auf ihn zu. „Hast du Silia gesehen? Wo ist sie hin?“ „Ja, ich hab sie gesehen. Was hat der Magier getan?“, brummte er mit zorniger Stimme. Mimouns Blick wurde traurig. „Dhaôma ist unschuldig. Ich hab etwas total Dummes getan. Mal wieder.“, gestand er kleinlaut. Zhanal musterte ihn kritisch und deutete schließlich auf die Hütte, in der auch Aylen und Jadya lebten. Schnell bedankte er sich und strebte auf die Hütte zu. „Darf ich reinkommen?“, fragte er in den leeren Vorraum hinein, noch immer im Regen stehend. Es vergingen nur Augenblicke, da schob sich eine Lederbahn beiseite und Aylen kam auf ihn zu. Ihr Blick ließ nichts Gutes vermuten, doch er wich nicht aus, als sie offensichtlich ausholte und ihre Fingernägel über seine Wange zog, dort vier blutige Striemen hinterließ. „Machst du nicht einmal mehr vor deiner eigenen Schwester Halt?“, verlangte sie zu erfahren, ohne ihm Einlass zu gewähren. „Was soll ich denn tun?“, fragte er hilflos. „Ich habe ihm versprochen, dass ich ihn immer beschützen werde. Und ich liebe meine Schwester wirklich über alles. Nichts wünsche ich mir mehr, als wenn sich diese zwei verstehen würden. Doch wenn Silia Dhaôma ohne Grund angreift, mit Worten und mit Gesten, auf wessen Seite soll ich mich denn dann stellen? Was soll ich da tun? Ich kann es nicht beiden Recht machen.“ Schweigend lauschte sie seinen Worten und musterte ihn stumm. Es vergingen viele Augenblicke, in denen keiner etwas sagte, bis sie schließlich zur Seite wich und ihn herein ließ. Dankend schlüpfte Mimoun ins Trockene und schüttelte den Regen im Vorraum von sich. Wortlos deutete sie auf die Lederplane, hinter der sie erschienen war. Mimoun schob sie beiseite und sah auf die beiden Mädchen herunter, die dort hockten. Silia lag heulend in Jadyas Armen. Auch in Jadyas Augen lag stiller Vorwurf, doch sie löste sich von ihrer Freundin und ließ die beiden Geschwister allein. Silia saß mit dem Rücken zu ihrem Bruder. Lange sagte keiner von ihnen etwas. „Sie haben Vater getötet.“, hörte Mimoun es leise zwischen Schluchzern. Sie versuchte sich im Griff zu halten und spielte mit ihrer Kette. „Ich weiß.“, erwiderte er ebenso leise und setzte sich nun endlich. „Er ist ein Magier.“ Auch diese Aussage konnte er nur bestätigen. „Er wird handeln, wie es für sein Volk üblich ist. Er wird mir das, was mir wichtig ist, wegnehmen.“ Nun rutschte er näher und zog sie sanft an den Schultern zurück, so dass ihr Rücken schließlich an seiner Brust ruhte. „Warum sollte er? Er hegt doch keinen Groll gegen unser Volk.“ „Du verstehst es nicht.“, fuhr sie auf und wirbelte herum. „Du bist nur mit ihm unterwegs. Du hast dich wochenlang nicht gemeldet oder hier vorbei gesehen. Und auch jetzt bist du nur in seiner Nähe. Ich bin für dich nicht mehr existent.“ Jetzt begriff Mimoun, worum es ging. Sanft lächelte er sie an, zog sie wieder in seine Arme. „Dummkopf. Dann sag mir das doch einfach. Aber quäl Dhaôma nicht deswegen. Er fühlt sich doch genauso alleine wie du. Und Silia. Du hast das Dorf im Rücken, das dich unterstützt und dich auffängt. Er hat niemanden.“ „Ich weiß.“, erwiderte sie schwach. „Das hast du gestern schon erzählt.“ Eine Weile sprach keiner von ihnen, spürte einfach nur die Nähe des anderen. „Warum hast du mich gehen lassen?“, fragte er schließlich zögerlich. „Warum hast du es nicht verhindert?“ Es dauerte wieder lange, bis sie darauf antwortete. „Ohne es selbst zu merken, drohtest du an deinen Gewissensbissen und Gefühlen zugrunde zu gehen. Wir haben doch gesehen, was mit Mutter geschah, als Vater starb. Ich hatte damals doch nur noch dich. Ich wollte nicht, dass du dasselbe durchmachst.“ Silia stemmte sich ein wenig ab, hielt den Blick aber gesenkt. Aus ihren braunen Augen drangen noch immer Tränen. Alle Dämme waren gebrochen. Sie redete sich alles von der Seele, was sie in den letzten Wochen belastet hatte. „Mutter ist aufgeblüht, als du von den Toten zurückgekehrt warst. Auch sie wollte nicht, dass du in dir selbst versinkst, so wie es ihr passiert ist. Also ließen wir dich gehen. Und dann kommst du nach Ewigkeiten doch wieder und schleppst gleich diesen Magier mit an. Du solltest nach Hause kommen, nicht er. Und anstatt dich zu freuen, endlich wieder bei uns zu sein, bemutterst du ihn wie ein Neugeborenes und gehst auf jeden los, der ihn auch nur schief anguckt. Hast du eine Ahnung, wie tief mich das verletzt hat?“ Nun war es Mimoun, der den Blick senkte. „Aber du konntest ihn von Anfang nicht leiden.“, brachte er das Gespräch wieder auf den Ursprung zurück. „Er ist ein Magier.“, erwiderte sie trocken. „So schnell werde ich ihnen nicht vergeben. Nur weil er dir soviel Gutes getan hat, ist er noch nicht tot.“ Verstehend nickte Mimoun und zog seine kleine Schwester wieder in eine Umarmung. „Er soll mir bloß nicht in die Quere kommen oder versuchen, sich bei mir einzuschmeicheln.“, nuschelte sie in sein Hemd. Mimoun nickte nur und wünschte sich gleichzeitig, der Tag möge mehr Stunden haben, damit er für alle da sein konnte, die ihn brauchten. Danach schwiegen sie. Mimoun rutschte ein Stück, um sich an die Mauer anlehnen zu können und hielt seine Schwester wie früher einfach nur im Arm. So vergingen die Stunden, in denen in dem Raum nichts weiter zu hören war, als ihr Atem und das Plätschern des Regens. Schließlich rutschte sie von ihm weg und wischte sich die Tränenspuren von ihrem Gesicht. „Gehen wir nach Hause.“, murmelte sie und zog ihn mit sich. Inzwischen hatte Dhaôma sich wieder in Mimouns Zimmer gesetzt und versuchte mit seiner Magie ein Loch in den Zahn zu stanzen. Das war so gut wie unmöglich, denn das harte Mineral gehorchte seinen Kräften überhaupt nicht. Irgendwann hatte er aufgegeben und Leuchtmoos wachsen lassen, damit er lesen konnte. Zum wohl hundertsten Mal las er das Buch über Drachenreiter, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Doch Mimoun kehrte nicht zurück. Und draußen regnete es noch immer. Unruhe wuchs in ihm. Offenbar machte Silia ihrem Bruder mehr Probleme seinetwegen, als es gut war. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Weich streifte er den Kaninchenpelz ab, dann trat er durch die Lederbahn. Schweigend grüßte er Cerel, bevor er in den Regen hinaustrat. Beinahe sofort spülte das Wasser ihm seine Haare ins Gesicht und er öffnete sie, um ihnen die Gelegenheit zu geben, sauber zu werden. Sein Weg führte ihn zu den Bäumen, die er umstreifte. Sie waren noch einmal aufgeblüht, wirkten kräftiger als zuvor. Eigentlich sollte er die anderen auch wecken, aber das war nicht gut, solange es so stark regnete. Die Blüten würden das nicht überleben. Irgendwann stand er am Rand und sah in die Tiefe. Durch den Regen sah er nicht einmal den Boden, geschweige denn in der Ferne die Berge, aus denen er und Mimoun vor einigen Wochen gekommen waren. Ziellos trugen ihn seine Füße einmal um die Insel herum, bis er wieder bei den Bäumen stand. Vielleicht wäre es tatsächlich besser, wenn er auszog. Er wollte nicht das Heim von jemandem zerstören. Und die Atmosphäre machte ihn befangen und unglücklich. Er hatte lange genug allein gelebt, um auch hier oben ganz alleine zu leben. Er brauchte auch kein festes Haus. Schon stand er vor dem Baum, der wohl als erstes gestorben war. In seinem Kopf entstand ein Bild und er lächelte. Schnell rannte er zurück, kam an Zhanal vorbei, der ihn finster ansah, doch es kümmerte ihn nicht. Erst vor der Hütte verlangsamte er seinen Schritt, bevor er sich schüttelte und hinein trat. „Entschuldigt.“, sagte er mit einer angedeuteten Verbeugung zu Cerel, dann verschwand er kurz nach hinten und kramte in seinen Samen. Mit fünf davon verließ er die Hütte wieder nach draußen. Zhanal wirkte irritiert. Es hätte ihn nicht weniger kümmern können. Vor dem Baum setzte er sich auf den nassen Boden und steckte vier der Samen in einem Halbkreis in die Erde, bevor er beide Hände darauf legte. Mit geschlossenen Augen ließ er sie wachsen, formte ihren Weg im Geist, den sie anstandslos nahmen. Der alte Baum zerfiel, wurde zu Dünger für sie, bis sie fast zwei Meter groß waren. Schließlich stoppte er seine Magie und besah sich sein Werk. Die verschiedenen Farbtöne der unterschiedlichen jungen Bäume harmonierten wunderbar und zeigten an, wie sie um- und ineinander verwachsen waren. Eine Bergkiefer, eine Roteiche, eine Sommerlinde und einen Bergahorn hatte er sich ausgesucht. Innerhalb war eine Höhle entstanden, in die er gerade so hineinpasste, wenn er die Knie anzog. Ermutigt von diesem Anblick begann Dhaôma auch die letzten Löcher zu verschließen, bis die Höhle dicht war. Dort rollte er sich zusammen. Er hatte viel zu viel Kraft verbraucht, aber es hatte sich gelohnt. Bald hatte diese Familie ihr Haus wieder für sich. Vielleicht, dachte er sich, vielleicht liegt es an mir, dass Familien nicht leben können, solange ich da bin. Immerhin war seine Familie auch nie glücklich mit ihm gewesen. Mimoun bedankte und entschuldigte sich bei Jadya und Aylen, bevor er seiner Schwester in den noch immer anhaltenden Regen folgte. Im eigenen Heim stehend, blieb Mimoun in dem nun vergrößerten Vorraum stehen und ließ seinen Blick über die Lederbahn gleiten, hinter der sich sein Raum befand. Doch er machte keine Anstalten, dort hineinzugehen. Es war besser wenn er hier blieb und seine Familie nicht wieder vor den Kopf stieß. Dhaôma war dort drinnen sicher. Cerel war der Blick ihres Sohnes nicht entgangen, auch dass er sich abwandte, ohne auch nur einen sichernden Blick hineingeworfen zu haben. „Er ist nicht da.“, erwähnte sie deshalb. Sofort horchte Mimoun auf und sah zwischen der Lederbahn, seiner Mutter und dem Ausgang hin und her. Zu gern wäre er jetzt aufgesprungen und hätte nach seinem Freund gesucht, doch das hätte ihm Silia nie verziehen, wie ein Blick von ihr deutlich machte. Er kommt zurecht, dachte sich der junge Geflügelte. Ihm wird nichts geschehen. Er muss es allein schaffen. Immer wieder sagte er sich diese Sätze auf, wenn er nicht gerade seinen Mädels half und dadurch abgelenkt wurde. Doch er saß wie auf Kohlen und erwartete Dhaômas Rückkehr. Es hörte gegen Abend auf zu regnen. Das fehlende Geräusch des rinnenden Wassers weckte Dhaôma. Seine Glieder waren Steif vor Kälte und er kroch aus seiner neuen Baumhöhle, um sich zu bewegen. Seine Seidensachen waren fast wieder trocken. Sehr praktisch dieser Stoff. Die Sonne blitzte durch ein paar Risse in der Wolkendecke und ließ die Blüten und Blätter leuchten. Es war ein herrliches Bild, wie die Regentropfen glitzerten. Frisch gewaschene Natur. Hungrig setzte er den letzten Samen in die Erde und ließ ihn wachsen, bis die Pflanze Früchte trug. Erdbeeren. Mimoun hatte sich welche gewünscht. Damit kehrte er schließlich in die Hütte zurück, die seine Gastfamilie bewohnte. Vorsichtig streckte er den Kopf herein und wäre fast wieder zurückgeprallt, als er den Blick der Schwester auffing. Warum konnte sie ihn nur nicht leiden? Weil er ein Magier war? Dennoch trat er ein, ließ sich seine Verunsicherung nicht anmerken. Bald hatte er das Problem nicht mehr. Ein kurzer Gruß zu der Mutter hinüber, dann ging er zu seinem Freund. „Hier.“, legte er die kleinen roten Früchte in Mimouns Hand, bevor er betroffen stehen blieb. Vier lange, verkrustete Striemen zogen sich über dessen Wange. War der Streit wirklich so heftig gewesen, dass sie ihn geschlagen hatte? Besorgt hob er die Hände, ließ sie aber unsicher wieder sinken, während er den Kopf senkte. Schließlich hob er ihn wieder. „Ist meine Zeit gekommen?“, fragte er leise. Mimoun sah sofort auf, als er die Schritte vernahm und Erleichterung legte sich auf sein Gesicht. Und es hellte sich noch mehr auf, als er die Erdbeeren sah. Schnell schob er sich eine in den Mund. Dhaômas betroffener Blick und seine Worte irritierten ihn. Langsam hob er die Hand und führte sie zu der Stelle, zu der auch der Magier greifen wollte. Es brannte leicht. Stimmte. Aylen hatte ihn ja geschlagen. „Es ist okay.“, erwiderte er und schloss vertrauensvoll die Augen, legte die Hände auf seinen Beinen ab. Sachte berührte der Magier die Wange und unter seinen Augen erglühten die Linien, als er der Wärme nachspürte. Unter der dünnen Seide konnten die beiden Frauen auch auf seinem Rücken ein Leuchten wahrnehmen. Die zerrissene Haut heilte sofort und Dhaôma spürte im gleichen Maße die Müdigkeit in seinen Gliedern wachsen. Er hatte definitiv zuviel gezaubert an diesem Tag. Schließlich zog er die Hand zurück. „Wenn du so weitermachst, werde ich mit dieser Magie noch genauso gut wie mit den Pflanzen.“, schmunzelte er. Schon strebte er dem kleinen Kabuff zu, um seinen Pelz zu holen. „Wäre das schlimm?“, fragte er und sah Dhaôma nach. Seine Finger waren kalt gewesen, selbst für ihn deutlich zu spüren. Sorge machte sich in ihm breit. Dhaôma war ohne Pelz draußen im Regen gewesen. Und das vielleicht über Stunden. Und er vertrug die Kälte hier doch so schlecht. „Werde bitte nicht krank. Sollen wir Feuer machen?“ Und schon war er dabei sich zu erheben. Vergessen waren die Erdbeeren. Vergessen war der Zorn der Schwester. „Das ist nicht nötig. Ich sagte dir bereits einmal, dass ich es gewöhnt bin, nass zu werden.“, erwiderte Dhaôma und packte seine Tasche zusammen. Nach dem Essen würde er gehen. „Außerdem ist das Holz immer noch nass.“ Er war schnell fertig und kam zurück. „Draußen hat der Regen aufgehört und morgen wird die Sonne scheinen.“, erklärte er ihm. Seit er beschlossen hatte, nicht mehr in diesem Haus zu leben, konnte er sich unerklärlicherweise leichter bewegen. Seine Schultern waren nicht mehr hochgezogen und er hatte keine Angst mehr davor, irgendetwas falsch zu machen. Es würde keinen Unterschied mehr machen. „Ja, mag sein.“, gab Mimoun zurück. Er setzte sich wieder, da sein Freund Recht hatte. Das Holz war noch immer nass und unbrauchbar. „Aber wenn ich mich nicht irre, herrschen bei dir andere Temperaturen.“ Er griff wieder nach den Beeren und schob sich die nächste Frucht zwischen die Zähne. „Wie gut sind eure magischen Fähigkeiten, wenn ihr krank seid? Könntest du dich leicht von Fieber befreien?“ Es freute ihn zu sehen, dass sein Freund ganz ruhig und entspannt war. „Ich weiß es nicht. Ich war noch nie krank, seit ich heilen kann.“ Amüsiert setzte er sich neben Mimoun und freute sich, dass diesem die Beeren so schmeckten. „Aber es wird Sommer, da ist es selbst hier oben wärmer, nicht wahr?“ Die Mutter stellte ihnen das Essen auf den Tisch. Es gab rohes Fleisch. Zum Glück nur noch an diesem Tag, dachte sich Dhaôma, als er mit unbewegter Miene aß. Danach konnte er wieder selbst für sein Essen sorgen. „Es würde mich trotzdem freuen, wenn du es nicht unbedingt ausprobierst.“ Dann verzog er mitfühlend das Gesicht. Da mussten sie sich dringend irgendetwas überlegen. So konnte es nicht weiter gehen. Und dass das Feuerholz durch Regen durchweicht wurde, machte die Sache nicht einfacher. Das Essen verlief wieder in drückendem Schweigen. Und Mimoun kam sich elend vor. Beide bedeuteten ihm viel. Beide wollte er um sich haben. Doch diese würden sich wohl nie verstehen. Schneller als sonst beendete er sein Mahl. Er wollte hier weg. Es schien fast, als wäre Silia noch wütender als vorhin. Als alle fertig gegessen hatten, stand Dhaôma auf. Er verbeugte sich vor Cerel und lächelte sie an. „Ich bedanke mich herzlich dafür, dass Ihr mir Unterschlupf gewährt habt. Das hat mir viel bedeutet. Ich werde Euch und Eure Kinder jetzt nicht mehr behelligen.“ Mit einem weichen Zwinkern richtete er sich wieder auf. Die erste Reaktion aller war Erstaunen. Silias Gesicht entspannte sich und drückte Zufriedenheit und Genugtuung aus. Mimouns dafür wandelte sich zu blankem Schrecken und er sprang auf, streckte die Hände in Dhaômas Richtung aus. Doch der Kloß, der sich in seiner Kehle gebildet hatte, verhinderte, dass er auch nur ein Wort sagen konnte. Dhaôma würde sie nicht mehr behelligen. Das hieß, er würde gehen. Aber… „Wo möchtest du hin?“, sprach Cerel die Frage aus, die ihren Sohn quälte. Sie war noch immer nur erstaunt. „Niemand sonst dürfte dir Unterschlupf gewähren.“ „Ich habe mir eine Höhle gebaut.“, sagte Dhaôma ernst. „Ich sehe doch, dass es nicht leicht für Euch und Eure Tochter ist, wenn ich bleibe. Und es reicht wirklich, wenn ich eine Familie zerstört habe. Eure soll nicht zerfallen, nur weil ich hier bin.“ Er wandte sich zu Mimouns Schlafkammer um und holte seine Tasche. „Mimoun, wenn du mich suchst, ich bin bei den Obstbäumen.“ Leise kicherte er. „Ist nicht zu übersehen. Es ist der einzige Baum, der nicht weiß blüht.“ Mimoun war gar nicht zum Lachen zumute. Den Blick gesenkt, krallte er seine Fingernägel in die Handflächen. Er spürte nicht, wie sie tiefer und tiefer in sein Fleisch eindrangen, wie das Blut aus den kleinen Wunden tropfte. Schlagartig wurde ihm eiskalt und der Kloß in seinem Hals weitete sich auf seinen ganzen Körper aus. Alles in ihm ballte sich zu einer kleinen schmerzhaften Kugel zusammen. Versagt. Das war alles, was er dachte. Er hatte versagt. Seinetwegen flüchtete Dhaôma erneut in die Einsamkeit, entfernte sich freiwillig von ihm. Damit er sich nicht zwischen ihm und seiner Schwester entscheiden musste? Konnte er das denn nicht selbst entscheiden? Seine Augen füllten sich mit Tränen, doch sie sahen nichts. Blicklos starrte er geradeaus. Wofür hatte er denn die ganze Zeit gekämpft? Warum hatte er das alles denn auf sich genommen? Wieso hatte er sich mit dem kompletten Dorf angelegt? Er spürte nicht, wie er in die Knie ging, spürte nicht die Arme seiner Familie, die ihn auffingen, bevor er endgültig zu Boden ging. Betroffen stand Dhaôma daneben. Er wusste nun gar nicht mehr, was er tun sollte. Er fühlte sich fehl am Platz. Mimoun hatte seine Familie, die ihn tröstete, da brauchte er ihn doch nicht mehr. Auch wenn er ihm liebend gerne ein paar aufmunternde Worte sagen würde. Bloß was? „Mimoun, mach dir keine Gedanken. Ich habe auch schon früher alleine gelebt. Das ist okay für mich. Und du kannst mich doch besuchen kommen. Ich bin nur ein paar Schritte hinter dieser Wand da.“ Ergeben schloss Mimoun die Augen und ließ den Tränen freien Lauf. Es war egal. Es war doch alles egal geworden. Der Weg, für den er sich entschieden hatte, war der falsche gewesen. Er hatte Dhaôma nicht retten können. Er verletzte seine Schwester. Warum hatte er es nicht dabei belassen, wieder zu Hause zu sein? Warum musste er nur erneut wieder auf die Reise gehen? Sanfte Finger glitten durch seine Haare. Doch er spürte nichts. Er blendete seine ganze Umgebung aus. Er wollte niemanden sehen, er wollte niemanden hören, keiner sollte hier sein. „Und wenn ihm das nicht reicht?“, fragte Cerel leise. So hatte sie ihren Sohn noch nie erlebt. Und auch Silia war geschockt. Ruhelos fuhren ihre Finger über seine Wangen und wischten die Tränen weg. Immer wieder flüsterte sie seinen Namen. „Was ist, wenn er dich genauso braucht, wie du ihn gebraucht hast auf eurer Reise?“ Der Braunhaarige sah auf Mimoun, in sich eine Verzweiflung, die er noch nie gespürt hatte. Er fühlte sich zerrissen. Einerseits war er an diesem Ort nicht willkommen, andererseits war Mimoun hier. Wenn Cerel Recht hatte, dann brach Mimoun gerade seinetwegen zusammen. Weil er Streit schlichten wollte, indem er ging. Weil er nicht wollte, dass diese Familie zerbrach. Weil Mimoun nicht wollte, dass er ging. Seine Hände zitterten vor Aufregung. Als die erste Träne sich löste, brach bei ihm ein Damm. „Was soll ich denn machen?“, fragte er bitter. „Ich kann hier nicht bleiben! Ich kann hier nicht atmen! Ihr redet kein Wort mit mir, Eure Tochter hasst mich und macht ihm Vorwürfe dafür! Niemand kann lernen, jemanden zu mögen, den er hasst! Ich weiß das. Ich habe es erlebt. Ich weiß, wie es ist, in einem Haus zu leben, in dem man nur geduldet wird.“ Er schluckte, presste die Augen zusammen und umklammerte seinen Rucksack. „Es war nie anders. Hier nicht und zu Hause nicht. Er hat ein Zuhause, das ihn liebt. Wenn ich ihm das kaputt mache, könnte ich mir das nie verzeihen!“ „Müssen denn alle Bemühungen von uns ausgehen?“, fragte Cerel. Sie konnte nachvollziehen, was in diesem Jungen vorgehen musste. „Mimoun hat gestern viel von dir erzählt. Wir wissen, dass du über private Dinge nicht gern redest. Gerade wir haben jetzt noch nicht das Recht, dich nach so etwas zu fragen. Und wenn du uns keine Fragen stellst, können wir nicht mit dir reden, weil wir nicht wissen, worüber. Wir wollen dich nicht verletzen. Wir haben Mimoun versprochen, es zu probieren. Aber du weichst immer aus, hältst dich zurück und gehst uns aus dem Weg, weil du uns oder unsere Reaktionen fürchtest. Viele von uns wollen es ernsthaft probieren, aber bist du überhaupt bereit dazu?“ Sie wandte ihren Blick von dem Magier ab und strich mit der anderen Hand Silia über den Kopf. „Andere Dinge brauchen einfach ihre Zeit. Mimoun hat so viel für dich geopfert und du machst es kaputt, indem du dich einfach abwendest, fliehst. Ich möchte dir keine Vorwürfe machen. Auch für dich ist es nicht einfach, das verstehe ich, aber bedenke, dass du nun nicht mehr alleine lebst und dein Handeln Folgen für andere nach sich ziehen kann.“ Dhaôma starrte sie an, seine Augen ganz weit. War es seine Schuld? Hatte er sich nicht genug bemüht? In ihm summte es. Was war wahr? Draußen krachte es. Ein Donnerschlag zerriss die Luft, dabei hatte es gerade aufgeklart. War es Wahrheit, was sie sagte? War er willkommen und konnte es nur nicht sehen, weil er dachte, dass er nicht willkommen war? Wieder ein Donnerschlag, dann prasselnder Regen. Er hatte sich zurückgehalten, damit sie ihn nicht für gefährlich hielten, damit sie keine Angst vor ihm hatten. War das falsch gewesen? Hatte er die Angst damit geschürt? Bildete er sich das nur ein, dass sie ihn ablehnten? Ihm wurde heiß, vor seinen Augen verschwamm alles und er machte einen taumelnden Schritt zurück, um sich festzuhalten. Bildete er sich die unterschwellige Aggressivität nur ein? Er fand eine Wand, an der er sich festhalten konnte. Kalt war sie, doch er spürte es kaum, denn seine Finger waren mindestens ebenso kalt. Was hatte Mimoun geopfert? Wieder krachte es und er zuckte zusammen. Das war nahe gewesen. Und laut. „Was hat Mimoun geopfert?“, fragte er. Seine Kehle war eng. Misstrauisch beobachtete Cerel den Magier. Was war mit ihm los? Ging ihm das so sehr zu Herzen? Auch sie hatte das erneute Gewitter bemerkt. Doch sie war in der letzten Zeit nicht draußen gewesen. Für sie war es nur eine kurze Pause zwischen zwei Wolkenbrüchen. „Das Vertrauen seines eigenen Volkes.“, antwortete sie dennoch bereitwillig. „Er hat uns berichtet, was man ihm antat und anzutun drohte, nur weil er mit dir befreundet ist. Aber es hat ihn nicht aufgehalten, oder? Er hat weiterhin für dich gekämpft. Selbst hier kämpfte er ständig für dich. Er stellte sich mehrfach gegen das ganze Dorf, redete uns immer wieder ins Gewissen.“ Die Hitze nahm zu. Das, was er am meisten befürchtet hatte, war eingetroffen. Er hatte Mimouns Leben zerstört. Dabei hatte er ihn nur retten wollen. Er hatte doch nur verhindern wollen, dass sein Bruder ihn umbrachte. Stattdessen hatte er es geschafft, Mimoun etwas Schlimmeres zu schenken als den Tod: Isolierung. Unmut. Hass. Seine Hände pressten sich auf seine Augen, Wind zerrte an den Lederhäuten der Hütte, als wolle er sie auseinander reißen. Wie in ihm Gewissensbisse dabei waren, ihn zu zerreißen. Sein Kopf drohte zu zerplatzen. Hier drin war nicht genügend Platz. Links von ihm war der Ausgang. Irgendwo auf der linken Seite. Als er ihn fand, krachte erneut ein Donnerschlag, Licht erhellte für Sekunden das Zimmer, bevor die Häute wieder davor fielen. Dhaôma rannte. Er flüchtete vor den verwirrenden Gedanken in seinem Kopf. Regen und Wind tobten um ihn herum, zerrten an seinen Kleidern und an seinen Nerven wie hungrige Wölfe. Dhaôma merkte erst, dass es sein Werk war, als er spürte, wie die letzte Kraft ihn verließ. Eigentlich hatte er zu den Bäumen laufen wollen, aber seine Füße versagten ihm den Dienst. Der Länge nach fiel er in den Schlamm und blieb einfach liegen. Die Magie wurde aus ihm herausgezogen, bis nichts mehr übrig war, bis er sich nicht mehr bewegen konnte. Doch auch nachdem die Magie verschwunden war, hörte das Gewitter nicht auf. Einmal gerufen, blieb es und tobte sich aus. Sie hatte den Magier gerade in Verzweiflung gestürzt, das sah Cerel. Hilflos schaute sie auf ihre Tochter. Sie hatte doch nur verhindern wollen, dass der Magier ging. Sie hatte doch nur ihren Sohn beschützen wollen. „Ich wusste es.“, murmelte Silia und streichelte Mimouns Haare. „Ich hab es dir doch gesagt. Er nimmt dich mir weg.“ Auch bei ihr liefen die Tränen. Noch immer zeigte ihr Bruder keinerlei Reaktionen und sie wusste nicht, was sie noch tun sollte. Warum konnte das Leben nicht wieder so einfach sein wie damals? „Du… du brauchst mich nicht mehr, oder?“ Ihre Stimme drohte zu brechen. „Du brauchst jetzt ihn.“ Wie konnte das sein? Wie konnte ihm ein Magier wichtiger werden als seine eigene Familie? Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Sie hatte es doch damals schon gesehen, als Mimoun das erste Mal zurückgekehrt war. Wie sehr er unter der Trennung litt. Wie hatte sie nur hoffen können, dass ihr Bruder wieder zur Vernunft kam? Vor allem jetzt, da der Magier hier im Dorf war. „Bringen wir ihn ins Bett.“, riss Cerel sie aus ihren Gedanken und abwesend nickte das Mädchen. Gemeinsam brachten sie den schlaffen Körper des Geflügelten zu seinem Lager und betteten ihn so vorsichtig wie möglich. Silia konnte nicht sagen, wie lange sie neben dem Lager ihres Bruders gehockt hatte. Irgendwann waren seine Tränen versiegt und er in einen traumlosen Schlaf gefallen. Leise erhob sie sich und verließ den abgetrennten Bereich. Sie sah, dass ihre Mutter bereits wieder alles in den Urzustand versetzt, ihren eigenen Schlafbereich abgetrennt hatte. „Er ist ein Heiler.“, begann Cerel wieder leise. Sowohl sie als auch ihre Tochter hatten gerade etliche Minuten damit zugebracht, einfach nur auf die Lederbahn zu starren, hinter der Mimoun schlief. „Nur er kann Mimouns Seele heilen.“ Widerstrebend nickte das Mädchen. Nun musste sie den Gedanken zulassen, gegen den sie sich die ganze Zeit gewehrt hatte. „Ich kann ihn trotzdem nicht leiden.“, merkte sie an und lief in den Regen hinaus. Sofort riss der heftige Wind an ihr und der Regen hatte eine Stärke, die ihr unangenehm war, doch sie musste sich beeilen. Was hatte der Kerl gesagt? Er hatte sich bei den Bäumen eine Höhle gebaut. Also wandte sie sich in die Richtung. Sie sah kaum ihre Hand vor Augen. Wie sollte sie da den Magier finden? Ziellos irrte sie umher, stieß gegen ein Hindernis und stürzte in den Schlamm. Lauthals fluchend rappelte sie sich auf Hände und Knie hoch und blinzelte in das Unwetter. Erstaunt identifizierte sie das Hindernis als den gesuchten Magier. Heftig rüttelte sie an seiner Schulter, um ihn zum Aufstehen zu bewegen, doch es kam keine Reaktion. Silia hatte kein Interesse, weiterhin bei diesem Gewitter draußen zu bleiben, ergriff ihn kurzerhand am Handgelenk und schleifte ihn zurück zu ihrem Heim. Cerel hatte am Eingang voller Sorge nach ihrer Tochter Ausschau gehalten. Dies war ein furchtbares Wetter, wo sich nicht einmal die stärksten Geflügelten vor die Hütte wagten. Als sie ihr Kind endlich entdeckte, eilte sie ebenfalls hinaus und gemeinsam wuchteten sie dem Magier in den Vorraum. Schwer atmend blickten sie auf den bewusstlosen Jungen herab. Was hatte Mimoun erzählt? In Extremsituationen hatten Magier keine Kontrolle über ihre Magie und es war Kräfte zehrend. Wie auf ein Stichwort hin sahen beide wieder zum Ausgang und schluckten schwer. Hatten sie ihn etwa so sehr unter Druck gesetzt? Besorgt sahen sich die beiden Frauen an und sahen schließlich wieder auf den Magier hinab. Mit einem heftigen Kopfschütteln zwang Cerel ihre sorgenvollen Gedanken in die hinterste Ecke. Mutmaßungen anzustellen, brachte nun nichts. Das mussten sie später mit dem Magier direkt klären. Gemeinsam befreiten sie den reglosen Körper von den nassen Sachen und wickelten ihn an Mimouns Seite in so viele Felle, wie sie entbehren konnten. Magier waren empfindlich. Hoffentlich schadete ihm dieser Zwischenfall nicht. Als sie nichts mehr tun konnten, legten sich auch die beiden Frauen schlafen. Doch während Cerel ziemlich schnell wegdämmerte, blieb Silia noch Stunden aus Sorgen wach. Schließlich erhob sie sich leise und schlich in den anderen Raum. Die reglosen Körper zog und schob sie solange, bis sie sich an Mimouns andere Seite quetschen konnte. Dort fand sie auch schließlich die nötige Ruhe zum Schlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)