High Angle – B-Side von Atsusa ================================================================================ Kapitel 10: Tanz der Geschwister -------------------------------- Nach der kürzlichen Schlechtwetterphase zeigte sich der Herbst nun endlich von seiner schönen Seite. Langsam wurden die Äste der Bäume kahl und braunes Laub kroch vom Wind getrieben über die Straßen und Wege. Tief hing die Herbstsonne und glänzende Spinnweben tanzten auf und ab. Und so wie der Herbst wieder in Fahrt gekommen war, war auch Tornados Stimmungstief wie weggeblasen. Sehr zum Unmut von Wendy. Je strahlender der blonde Italiener sie angrinste, desto stärker hingen ihre Mundwinkel. Und heute, an diesem wunder-, wunder-, wunderschönen Herbsttag war es besonders schlimm. Weiße, makellose Zähne im Sonnenlicht. Perfekt gestyltes Haar, zusammengehalten von einem rosafarbenen – PARDON! – lachsfarbenen Stirnband und eine Haltung, die der ganzen Welt entgegen schreien wollte: „Ich bin ein Gewinner! Seht mich an!“ Womit hatte sie das nur verdient? Es war kalt und ihre Nase lief, weil sie sich bei dem Duell von Hayate und Tornado an Halloween unterkühlt hatte. Eigentlich hatte sie heute den Aufsatz für die kommende Projektwoche über die Stadtgeschichte anfangen wollen, doch war ES schon wieder passiert. Es. Dieser nervige Typ, der sich als „der ehrenhafte Anführer der Drachenritter“ betitelte und der enthusiastischen Meinung war, dass Wendy ihn „un-be-dingt“ heute zum Training seiner kleinen Schwester in rhythmischer Tanzgymnastik mit Drachen begleiten sollte, denn „mia bellissima sorella Okarina“ würde sich ganz bestimmt darüber freuen, mal zusammen mit „Jetzt guck' nicht schon wieder so, es wird dir bestimmt gefallen!“-Wendy Bewegungsabläufe für das in zwei Wochen stattfindende Turnier zu üben, zumal „Hey, geh' doch nicht weg, bevor ich nicht alles erzählt habe!“-Wendy mit dem von Teamtechniker Angelo verbesserten Cleaver üben sollte, bevor sie sich erneut in ein „ritterliches Duell unter ehrenwerten Drachenkämpfern“ stürzen würde. Wendy seufzte und schnallte die längliche Tasche, in die der zusammengeklappte Drachen verstaut war, fester. Wie auch immer. Damit der Stirnbandheini endlich die Klappe hielt, hatte sie doch zugesagt. Und jetzt stand sie hier, vor der Turnhalle der Grundschule, auf die sie früher auch mal gegangen war und von deren Dach sie im Sommer trotz der berühmt-berüchtigten Wassereimer-Steh-Strafe des öfteren Wasserbomben auf vorbeigehende Passanten geworfen hatte. „Aha! Du kannst ja doch lächeln!“, konstatierte Tornado und kniff ihr in die Backen. Mist. Sie hatte sich gehen lassen! „Selbstverständlich kann ich meine unbändige Freude über diese überaus großzügige Einladung an diesem wunder-, wunderschönen Tag nicht verbergen!“, korrigierte sie seinen Enthusiasmus trocken. „Können wir es hinter uns bringen? Ich habe heute noch mehr vor als sinnloses Rumgehampel im windstillen Raum!“ Wendy öffnete die gläserne Eingangstür und trat ein. Der Geruch nach Turngeräten und Putzmittel lag in der Luft. Und dass die Heizung lief, machte ihren Schnupfen auch nicht gerade besser. Sie holte ein Taschentuch hervor und wollte gerade kräftig hinein schnäuzen, als ein spitzer Schrei sich anschickte ihr Trommelfell zu malträtieren. Die Tür fiel ins Schloss. Der Schrei verhallte und wurde zu einem Japser. Und als Wendy endlich genervt in die Richtung der Störung sah, erkannte sie auch deren Quelle. Ein kleines, blondes Mädchen, ebenso blauäugig wie der Teamchef und nicht minder gebräunt als dieser. Das war sie also. Das war die von ihrem Bruder heiß geliebte Okarina Balotelli, dieses elfenhafte, grazile und bezaubernde Wesen, das Balotelli stets in höchsten Tönen lobte. Nerviges, kleines Kreischbalg! „Bellissima! Was ist denn das für eine Begrüßung?“ Tornado breitete die Arme aus und ging auf seine Schwester zu, doch diese verschränkte die ihren und blies die Backen auf. „Toto, du bist doof! Ich mag dich nicht mehr!“ Demonstrativ stampfte das blonde Mädchen mit den roten Schleifen in ihrem zu Zöpfen gebundenem Haar mit dem Fuß auf und drehte den Kopf zur Seite. „Scusi!“ Er hob beschwichtigend die Hände und kniete sich zu ihr herunter. „Ich dachte wir hätten geklärt, dass ich heute jemanden zum Training mitbringe. Sei so nett und sag Wendy Buongiorno!“ - „Ma no!“ Wieder stampfte Okarina mit dem Fuß auf. „Du bist der aller-, allerdoofste Bruder auf der ganzen Welt! Ein richtiger Blöd-Bruder!“ Tornados allzeit präsentes Lächeln erstarb und er erwiderte weinerlich: „Ich habe doch nichts falsch gemacht, mia chiara sorella?“. Prompt schnellte der Finger des Mädchens hervor und deutete auf Wendy, die gerade herzhaft in ihr Taschentuch schnäuzte und nur mit halb geöffneten Augen die bizarre Szene zwischen den Geschwistern beobachtete. „Du hast gesagt, dass du mich heiraten wirst, wenn ich groß bin, Toto. Und jetzt...“, sie schluckte, „jetzt bringst du einfach eine andere mit!“. Mit einem Mal brach der Damm und Okarina begann heftig zu weinen, wie es Kinder in ihrem Alter des Öfteren taten. Wendys Augenbraue zuckte. „Komm mal wieder runter, Kleine, als würde ICH etwas von...“ - „Mach dir keine Sorgen, mia chiara sorella!“ Tornado nahm das heulende Bündel in seine Arme und strich ihm beruhigend über den Kopf. „Ich habe dir doch gesagt, dass Mamma und du die einzigen Damen seid, die ich jemals lieben werde!“ Das klang ja fast so, als ob der Teamchef... Nein. Darüber wollte Wendy gar nicht nachdenken. Und selbst wenn... Was ging sie das an? Und machte ihn das zu einem schlechteren Menschen? Eher nicht. Aber es würde zumindest erklären, warum er neben seinem lachsfarbenen Stirnband auch – das hatte sie neulich mit Schrecken feststellen müssen – auch rosafarbene Socken trug. Das Weinen klang dumpf gegen seine Brust und ebbte nur langsam ab. „Und du wirst sie auch wirklich nicht heiraten?“ Okarina blickte ihren Bruder mit großen, niedlichen Augen an, so dass Tornados Herz vor Freude große Sprünge machte und das übliche Grinsen wieder zurückkehrte. „Nein, nein! Wenn ich jemals eine Frau heiraten sollte, dann nur dich!“ DAS war ja fast schon zu offensichtlich. Das war kein Wink mit dem Zaunpfahl, das war ein Schlag mit einem Holzbrett mitten in die Fresse. Na ja. Wenigstens musste sie sich so keine Sorgen mehr machen, dass er irgendwann in einem „Dein Haar riecht heute besonders gut nach gebratenem Speck und Würstchen!“-Anfall über sie herfiel und ihre Jungfräulichkeit in Gefahr brachte. Sie seufzte laut. Genug Drama für heute. Fehlte bloß noch rosa-fluffige Hintergrundmusik und ein bisschen Glitzer, um diese Szene gebührend zu untermalen. Tornado tätschelte noch ein paar Mal den Kopf seiner Schwester, dann löste er die Umarmung und stand auf. Ein schwungvolles Zurückwerfen der Haare folgte, dann meinte er gewohnt pathetisch: „Wir haben schon genug getrödelt! Auf, auf zu neuen Ufern! Folgt mir!“. Schon als die ersten Töne von Johann Strauss' „An der schönen blauen Donau“ erklangen, war der Geschwisterstreit vergangen wie ein Sommergewitter. Und so wie nach einem heftigen Regenschauer die ganze Welt in malerischer Harmonie erschien, erkannte auch Wendy, dass Tanzgymnastik mit Drachen ganz und gar nicht albern, sondern eine ernst zunehmend und höchst ästhetische Art des künstlerischen Ausdrucks war. Sie saß auf dem Boden der Turnhalle und hatte beim Zusammenstecken Cleavers innegehalten, so sehr irritierte und faszinierte sie die Synchronizität, mit der Tornado und seine kleine Schwester Okarina ihre Drachen führten. Das achtjährige Mädchen war ein wahrer Meister im Umgang mit seinem einleinigen Drachen, der die Gestalt einer Hummel hatte und auch Bumblebee genannt wurde. Und Tornado, der mit der doppelten Leine von Icarus spiegelverkehrt in ihre Choreographie einstimmte, zeigte, dass auch Lenkdrachen dazu in der Lage waren im windstillen Raum allein durch erzeugten Gegenwind und rasche Bewegungen gesteuert zu werden. Eigentlich war die ganze Sache hier und heute ziemlich cool. Nein, Moment?! DAS hatte sie jetzt nicht wirklich gedacht, oder? Stirnbandheini hätte genau so gut ein – sie äffte seinen Tonfall nach – lachsfarbenes Tutu tragen und Pirouetten drehen können, so wie er rumsprang und -hampelte, immerzu sein strahlendes Lächeln zeigend, doch der Anblick zusammen mit seiner Schwester war so herzallerliebst, dass Wendy hätte Regenbogen erbrechen können. Warum musste sie ausgerechnet an so einen Typen geraten sein? Hätte der Anführer des Drachenclubs nicht wenigstens wie richtige Kerle Kickboxen betreiben können? Oder zumindest charakterlich nicht so selbstverliebt und extrovertiert sein können, sondern einfach nur cool und gelassen, wie sich das für einen Teamchef gehörte? Aber nein – er war eine Witzfigur! Genau wie Zeph, der alte versoffene Penner, Hayate, das männliche Mädchen für alles und Angelo... nein, Moment, an dem war gar nichts zum Lachen, sondern eher alles zum Heulen! Und das war noch nicht mal das schlimmste an der ganzen Sache. Noch schlimmer war nämlich, dass sie sich mittlerweile daran gewöhnt hatte. Und mehr noch: Es machte ihr sogar richtig Spaß ihre Freizeit mit dem Drachenclub zu verbringen. Sie schlug die Hand vor das Gesicht. Oh. Mein. Gott. Die Idiotie färbte langsam auf sie ab. Wohin sollte das bloß noch führen? Immerhin war sie erst drei Monate an der neuen Schule, von insgesamt drei Schuljahren, was hochgerechnet 36 Monate, 156 Wochen, oder auch 1095 Tage bedeutete, an denen sie – abzüglich Sonn- und Feiertagen, sowie Ferien, in denen sie hoffentlich weit weit weg verreisen würde – dem Einfluss des Clubs ausgesetzt war. Auslachen würden ihre Freunde sie! Besonders... Ihre Augenbrauen zuckten aggressiv. Nur nicht darüber nachdenken! Denn irgendwann würde schon noch der Tag kommen, an dem sie diesen, diesen – das konnte sie einfach nicht in Worte fassen – in Grund und Boden stampfen würde. Und dass dies ausgerechnet mit einem neuen Drachenclub sein würde, verschaffte ihr bereits jetzt ein kleines Bisschen das Gefühl von Genugtuung. „Du lächelst ja schon wieder so fröhlich, Wendy!“. Tornados verschwitztes Gesicht erschien direkt über ihrem und riss sie abrupt aus ihren Gedanken. Da hatte sie sich doch so sehr in ihr Kopfkino hineingesteigert, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie die Musik endete! „Fantastico! Ich bin höchst erfreut, dass dir unser kleiner Auftritt so sehr gefallen hat!“ Er wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß ab und setzte sich zu ihr. Okarina stand schweigend neben ihm und nippte an einer Apfelschorle. Auch sie war erschöpft, doch hielt sie das nicht davon ab, Wendy einen bösen Blick zuzuwerfen. Wendy streckte ihr die Zunge heraus und antwortete giftig: „Haltet euch mal nicht für so gut! Ich habe schon bessere Choreographien gesehen!“ Tornado legte den Kopf schief, ließ sein Zahnpastalächeln blitzen und entgegnete freundlich: „Prego? Gib' es schon zu, in Wirklichkeit liebst du unseren Tanz abgöttisch und kannst es kaum erwarten, es selbst einmal auszuprobieren, ma si?“ Wendy zuckte zusammen. Volltreffer. Die Schamröte stieg ihr ins Gesicht. „Na ja. Es ist nicht im geringsten so cool wie das richtige Drachensteigen, aber...“, sie druckste herum, „...es ist eine akzeptable Art des Ausdrucks, die ihr beide... beherrscht...“. Tornado lachte laut auf und klopfte ihr auf die Schultern. „Bene! Hast du das gehört, mia chiara Sorella? Wir haben einen neuen Fan gewonnen!“ Er sprang auf und reichte ihr die Hand. „Worauf warten wir dann noch? Jetzt bist du dran!“ Auf und ab im Walzerrhythmus. Links und rechts, immer die Schrittfolge beachten. Und nie stehen bleiben. Irgendwann hatte Wendy einfach aufgehört zu zählen, wie oft Cleaver zu Boden stürzte, sie wieder Anlauf nehmen und erneut den Takt finden musste. Kein Wind hielt den Drachen in der Luft, so dass es auch keinen Augenblick gab, in dem sie unaufmerksam sein durfte. Ihr Kopf schwirrte vor all den Richtungen, in die sie den Drachen steuerte. Hier gab es keinen Gegner, auf den man stets fixiert war. Hier gab es Höhen und Tiefen, Geraden, Schleifen, Wellen und Kreise. Und immerzu den Dreivierteltakt des Walzers, von dem sie ganz vergessen hatte, wie oft er schon aufgehört und wieder angefangen hatte. Ein guter Freund hatte einmal gesagt: „Drachensteigen ist wie ein Tanz! Es ist der Einklang zwischen Erde und Himmel, die ultimative Verschmelzung zwischen Drachen und Mensch!“. Noch vor drei Monaten hätte sie ihm dafür nur ein müdes Lächeln geschenkt, doch jetzt erkannte Wendy, wie falsch das gewesen war. Ja, Drachensteigen war ein Tanz. Und es war kein Wunder, dass sie bisher immer verloren hatte, so schlecht wie ihr eigener Rhythmus war! War das vielleicht der Grund dafür, dass es ihr bisher verwehrt geblieben war einen Kirit zu erschaffen? Wenn ja, dann war es jetzt wohl an der Zeit dies zu ändern. Sich treiben zu lassen, alles auszublenden außer Cleaver und sich selbst. Spüren, wie die Energie nach oben fließt. Dann würde doch sicher... Die Musik endete. Applaus von beiden Geschwistern. „Bellissima, das war unglaublich!“ Tornado konnte seine Freude nicht verbergen, stürmte auf sie zu und umarmte sie herzlich. Wendy schnappte nach Luft. DAS kam unerwartet! Okarina nickte verhalten. „Gut gemacht... für deinen ersten Versuch!“ „Fantastico! Ich kann es kaum erwarten mich erneut mit dir zu messen, Wendy!“ Tornados Stimme überschlug sich. „Ich wusste, dass es richtig war, dich für meinen Club anzuwerben! Assolutamente! Mit dir wird unser Team noch viel stärker werden!“ Herzklopfen. Auch wenn der Klammergriff reichlich ungewohnt für sie war, fühlte es sich doch gut an. Ein wohliges, warmes Gefühl in ihrer Brust. „Äh, danke?“ Zögerlich legte sie ihre Arme um seinen Rücken und erwiderte die Umarmung mit leichtem Druck. Nein, sie war nicht verliebt. Und erst recht nicht nach der indirekten Offenbarung, die ihr Teamchef ihr vor ein paar Stunden gemacht hatte. Es war eher... „Chef?“, begann sie verhalten. Tornado hielt inne und blickte sie immer noch euphorisch an. „Si?“ Wendy druckste herum. „Ich wollte nur... danke... sagen.“ Sie konnte ihn nicht ansehen. „Ich bin wirklich froh, dass ich Mitglied in deinem Drachenclub sein darf... Und...“, ihre Stimme begann vor Nervosität zu zittern, „...dass wir Freunde sind!“. Das Gesicht des Italieners entgleiste. Erschrocken löste er die Umarmung und wandte sich seiner Schwester zu. „Hast du das gehört, mia chiara Sorella?“ Okarina begann zu lächeln. „Si! Sie hat gesagt, dass ihr NUR Freunde seid!“ Wendy hielt sich die Stirn. Das war auch eine Art der Interpretation. „Ma si! Freunde... Freunde!“ Tornados Faust schnellte jubelnd nach oben. „Fantastico! Endlich gehört Wendy richtig in unser Team! Das schreit doch fast schon nach einer Gratispizza für alle, nicht wahr?!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)