Unser Trauerspiel von Skeru_Seven ================================================================================ 2. Teil ------- Irgendwie fühlte ich mich ausgeschlossen. Während unserer Theatergruppe waren Serafin und Kleo fast ununterbrochen dabei, sich scherzhaft zu kabbeln, was einerseits ziemlich das Vorankommen unserer Gruppe hemmte und andererseits mir furchtbar auf den Geist ging. Musste die ganze Welt mitbekommen, dass sich zwischen ihnen etwas anbahnte? Sogar die Kleinen stellten schon Vermutungen auf und die Mutigste von ihnen rief ihre Mitspielerinnen zu Wetteinsätzen auf, wann die beiden endlich zusammenkamen. Auch wenn wir zu dritt in den Pausen unterwegs waren, was nun öfter vorkam, weil ich Serafin nicht mehr mied und mich wieder mit Kleo versöhnt hatte, fühlte ich mich stellenweise wie das fünfte Rad am Wagen. Wenn sie sich wieder über Dinge unterhielten, die mich so gar nicht interessierten, dass ich nicht einmal einen kleinen Kommentar dazu abgeben wollte, fragte ich mich, was mich daran hinderte, einfach wegzugehen. Keiner zwang mich, bei ihnen zu sein. Früher hatte ich auch nicht immer mit Kleo die Zeit totgeschlagen und keiner verlangte von mir, dass Serafin und ich wieder zu unserer alten Vertrautheit zurückfanden. Trotzdem wollte ich mich nicht einfach geschlagen geben und das Weite suchen, dann hätte ich nämlich genau wieder das getan, was ich mir vorgenommen hatte, nicht mehr zu tun. Wegrennen; meinen unausgesprochenen Kummer in schlechten Ersatzdrogen ertränkt; keinen mehr an mich ran lassen. Zeitweise war ich wirklich ein unrettbarer Fall. „Hey, was ist los, schlecht gelaunt oder so?“ Kleo war aufgefallen, dass ich mich eher mit meinem Pausenbrot beschäftigte als mit ihrer Konversation über irgendwelche Metalbands, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Ich beschäftigte mich lieber mit Housemusik, egal wie oft sie mich zu bekehren versucht. „Nein.“ Aber das konnte sich mit etwas Pech bald ändern. „Ich geh mal kurz wohin.“ Rauchen konnte man nicht von heute auf morgen aufhören, zumindest hatte ich noch niemanden kennen gelernt, dem das tatsächlich geglückt wäre. Doch auch heute blieb ich nicht lange allein in der kleinen Ecke, denn Serafin war mir mit etwas Abstand gefolgt. Überrascht zog ich eine Augenbrau hoch. „Bist du jetzt doch Raucher geworden?“ „Nein, natürlich nicht.“ Er wedelte die Wolke, die auf ihn zutrieb, energisch auseinander. „Du bist nur wieder so komisch. Ganz ehrlich: Bist du neidisch oder eifersüchtig wegen Kleo und mir?“ Ich hatte mit einigem gerechnet, allerdings in Richtung „Du bemühst dich nicht“ und „Gib es zu, wenn du keinen Bock auf mich hast“, aber dass er annahm, dass ich in Kleo verliebt war und deswegen so eine bitterböse Miene zog, war fast schon lustig. Immerhin hätte ich viel gegeben, mich in ein Mädchen zu verlieben; nicht unbedingt Kleo, aber selbst das wäre mir lieber gewesen als meine momentane Orientierung, die ich gnadenlos unterdrückte. „Ich bin nicht eifersüchtig auf dich.“ Irgendetwas störte mich, aber ich konnte nicht genau benennen, was es war. Vielleicht, dass Kleo in der Theatergruppe mehr Wert auf Serafins Meinung legte als auf meine, obwohl sie beiden nur die Coleiter waren; vielleicht, dass ich erwartet hatte, Serafin würde sich mehr um den Neustart unserer Freundschaft bemühen statt Kleo Komplimente über ihre Haare zu machen, die aussahen wie jeden Tag auch. Vielleicht wollte ich auch einfach nur dasselbe wie die beiden durchleben und nicht dauernd dagegen ankämpfen, homosexuelle Gefühle zu entwickeln, die Im Endeffekt mit allen Mitteln beiseite geschoben wurden, bis sie schwiegen. „Oh, okay, dann hab ich das falsch verstanden.“ Peinlich berührt steckte er die Hände in die Hosentasche und setzte ein verunglücktes Grinsen auf, das mich so sehr an früher erinnerte, dass es mir einen Stich ins Herz verpasste. Einen viel zu heftigen, der mich dazu veranlasste, noch den Rest der Pause in der inoffiziellen Raucherecke zu stehen und mir den Kopf darüber zu zerbrechen. *** Ich hatte mir vorgenommen, den einen Satz nie zu benutzen, weil er meiner Meinung nach für dauerdepressive oder aufmerksamkeitsgeifernde Mittelschüler reserviert war, aber leider passte er gerade allzu gut. Ich hasste mein Leben. Und zwar nicht, weil ich irgendwelche Klausuren in den Sand gesetzt hatte, man meine Lieblingssendung aus dem Programm gestrichen hatte oder der Friseur meine Haare komplett verschnitten hatte. Solche Sachen wären noch irgendwie ertragbar gewesen und ließen sich wiedergutmachen. Mehr lernen, DVD Staffeln kaufen und Mütze aufsetzen. Die drei spontanen Austritte aus meiner Theatergruppe nahm ich auch nicht persönlich, obwohl sie mich störten, weil das unser Konzept wieder völlig über den Haufen warf. Mein Problem war, dass sich herauskristallisierte, was mir mein merkwürdiges Gefühl beim letzten ernsthaften Gespräch mit Serafin hatte sagen wollen. Und dass es nicht bei solchen gelegentlichen, leichten Gefühlsäußerungen blieb. Ich, der seit geraumer Zeit alle Gefühle, die ich für falsch oder problematisch hielt, in irgendeine dunkle Ecke sperrte und dann mit aller Macht zum Verstummen brachte, hatte mich schleichend, aber unwiderruflich in meinen ehemals besten Freund verliebt. Vielleicht schon, seitdem ich ihn das erste Mal seit Jahren gesehen hatte, vielleicht auch erst als Reaktion auf sein steigendes Interesse an Kleo. Ich wusste es nicht, aber das spielte auch keine Rolle, die Tatsache an sich war schon eine fürchterliche Katastrophe und ließ sich nicht mit Fluchen, Essen, Rauchen, Sex mit Lotta vertreiben. Ich war komplett hilflos gegen dieses Gefühl und dem Zwiespalt, ihn so nah wie möglich bei mir haben zu wollen und ihn gleichzeitig so weit wie möglich von mir wegzustoßen, um gar nicht erst in Versuchung zu gelangen, alles kaputt zu machen. Im Moment hasste ich mein Leben, aber mindestens genauso mich selbst. Was hatte ich Serafin versprochen? Mich nicht von dummen Gedanken leiten zu lassen. Und was war daraus geworden? Ich ließ mich von dummen, überflüssigen, verfluchten Gefühlen leiten, um die ich nie gebeten hatte. Es war zum Verzweifeln, daheim hockte ich nur noch in meinem Zimmer und schlug entweder wie ein Wahnsinniger auf die Matratze ein oder heulte mir tonlos die Augen aus, weil ich mich selbst so sehr anwiderte. Das schlimmste war trotz allem, dass ich Serafin fast jeden Tag sehen musste, wie er an Kleo klebte, ihr Hilfe bei Chemie anbot, obwohl sie viel besser war als er, ihr immer erfolglos seinen Lieblingskaugummi andrehen wollte, und dabei so wirken musste, als wäre es mir alles gleichgültig. Dabei hatte ich permanent das Bedürfnis zu schreien und irgendwen zu schlagen. „Marian, ich glaub, wir müssten noch mal über was reden.“ Kleo stand unübersehbar vor mir und wirkte nicht so, als würde sie mich einfach gehen lassen. Jetzt wurde ich schon vor dem Kunstunterricht abgefangen, was war heute wohl das Thema? Vielleicht brauchte sie Tipps, wie sie über ihren Schatten springen und Serafin endlich um ein richtiges Date bitten konnte. Da hatte sie sich die schlechteste Adresse ausgesucht. „Was gibts?“ Mein Rucksack war schwer wie Blei, ich müde und missgelaunt und in drei Minuten musste ich im Gebäude auf der anderen Seite des Geländes sein, weil ich ansonsten ins Klassenbuch verewigt wurde. Unser Lehrer kannte in solchen Angelegenheiten keine Gnade. „Ich mache mir Sorgen um dich.“ Diese Aussage wurde mir mit der Zeit lästig; früher hatte es doch auch keinen interessiert, wie es mir erging. „Aha.“ „Also eigentlich wir. Serafin und ich. Und Lotta, aber sie wollte eigentlich nicht, das du das weißt.“ Gut, also so gut wie alle Menschen, mit denen ich mehr redete als drei Worte fürchteten um mein Wohlbefinden und leider nicht zu Unrecht. Dummerweise konnte ich das nicht zugeben, sonst wurde ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit ausgequetscht, weshalb und wie man mir helfen konnte. „Ich will dir echt nicht zu nahe treten und dir vorschreiben, wie du zu leben hast, aber du hast in den letzten drei Wochen allein während der Schulzeit ein halbes Päckchen Kippen weggehauen, was du früher nicht gemacht hast. Dein Chipskonsum ist auch nicht mehr gesund. Und dann läufst du nur noch mit einer Miene rum, als wolltest du irgendwen töten. Die Kleinen sind schon zu mir gekommen, weil sie dachten, sie hätten etwas gemacht, was dir nicht passt. Bitte sag mir nicht, bei dir sei alles okay, dann muss ich dir nämlich wirklich eine reinhauen, weil wir deine Freunde sind und du mit uns reden sollst, wenn dich etwas bedrückt.“ Sie sieht aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen und meine Wut über ihre Dreistigkeit, sich in meine Angelegenheiten einzumischen, verraucht ganz schnell, denn sie macht das nicht aus reiner Bosheit. Sie machte sich Vorwürfe, dass ich ihnen nicht genug vertraute, dass ich mich ihnen öffnete. Statt sie also darauf hinzuweisen, dass ich mein Leben so führen durfte, wie ich es für akzeptabel hielt, seufzte ich nur leise, versuchte ihr nicht in ihr angespanntes Gesicht zu sehen und überlegte mir genau, was sie hören durfte. „Ich bin in jemanden verliebt, der das nicht erwidern wird.“ Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht haltlos weiterzuplappern und dabei zu verraten, dass ich nicht von einem Mädchen, sondern von Sera redete. Ihre Augen wurden groß wie der aufgehende Vollmond; ich wirkte auf meine Umwelt nicht wie jemand, der sich verliebte und dann wegen Liebeskummer den Kopf in den Sand steckte. „Das… tut mir Leid.“ Kleo rang um Worte. „Und… du bist dir ganz sicher? Vielleicht glaubst du das auch nur. Vielleicht mag sie dich auch und traut sich nur nicht, es zuzugeben. So wie ich.“ Sie sprach von Lotta, Kleo dachte allen Ernstes, ich sei in Lotta verliebt und dachte, ich hätte bei ihr keine Chance. Wenn es doch nur so einfach gewesen wäre. Mit Lotta hätte ich mich hingesetzt, sie direkt angesprochen und dann wäre das Problem vom Tisch. Aber bei Serafin… ich war nicht nur unglücklich verliebt, ich wollte nicht einmal verliebt sein, nicht in ihn. „Wahrscheinlich hast du recht.“ Es blieb mir nichts anderes, als Kleo in dem Glauben zu lassen, ich hätte Lotta gemeint. Zum Glück hatte sie nicht vermutet, dass ich sie meinte, sonst wären unsere Zusammenkünfte zu dritt noch unangenehmer als ohnehin schon. „ich muss in Kunst, sonst bekomm ich Ärger. Danke für deinen Rat.“ Den ich nicht anwenden würde. Ich war ja nicht lebensmüde. „Du schaffst das.“ Freundschaftlich klopfte sie mir auf die Schulter und ich floh fast in Richtung Kunstgebäude. * Für heute hatten wir eine Sondersitzung unserer Theatergruppe einberufen, um unserem Stück den letzten Schliff zu verleihen, die überflüssigen Rollen gerecht aufzuteilen und noch letzte Wünsche, Kritiken und Anmerkungen unsererseits unterzubringen. Zum Glück hatten wir nach Serafins grundehrlicher Bemerkung unser traditionelles Stück sein lassen und eine Variante gewählt, die man mit mehr als zehn Personen gut spielen konnte. Keine festgelegten Rollen und erzwungen gereimte Sätze mehr, sondern jeder verkörperte einen anonymen Charakter, der so reden durfte, wie es den Kleinen gefiel. Natürlich mussten sie gucken, dass sie nicht etwas völlig anderes erzählen als vorgegeben war, aber ich hing nicht über meinem Textbuch und korrigierte jedes Wort, das nicht so in der Vorlage stand. Aber obwohl wir die ganze Sache lockerer sahen als ein Lehrer, der auf alles Noten gab, mussten wir auf zusehen, dass das Stück in sich harmonierte und nicht wie ein zusammengeflickter Teppich aus wilden Ideen und Improvisationsspektakel wirkte. „Ich würde sagen, an der Stelle lässt Elisa eine kurze Pause, um ein bisschen die Spannung zu steigern.“ Kleo vermerkte es in ihrem Text und wartete, bis wir es ihr gleich getan hatten. „Aber nicht so lang, dass es aussieht, als hätte sie ihren Text vergessen.“ Ich kannte ein paar freche Kinder, die zogen die arme Elisa nachher nämlich wegen ihrem angeblichen Texthänger auf und das musste man nicht provozieren. Leider hielten diese Nervensägen nie die Klappe, egal wie oft ich ihnen sagte, dass sie gefälligst andere Leute in Ruhe lassen sollten. „Und was machen wir wegen den Kostümen? Wenn alle in Alltagskleidung da rumstehen, wirkt das doch nicht so gut.“ Kleo war in ihrem Element; durchplanen, Ideen verwerfen und neue an Land holen, ein Grund, weshalb sie mich gebeten hatte, sie als Coleiterin anzunehmen. Ich hatte nicht nein gesagt, weil Unterstützung in diesem Fall nie verkehrt war. „Wie wäre es mit dem Standard, komplett schwarz? Das hat jeder im Schrank.“ Man musste es nicht unnötig kompliziert machen. Und falls doch irgendeine von ihnen nur knallbunte Sachen trug, konnte man sich was leihen oder günstig im Laden kaufen und danach verschenken. „Nein, das macht jeder, find ich langweilig.“ Serafin schüttelte entschieden den Kopf und trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche. „Wir sollten uns etwas Kreativeres ausdenken.“ „Jeder in einer anderen Farbe?“ An den Klamotten wollte ich mich eigentlich nicht aufhängen, dafür standen noch genügend Ablauffragen auf der Tagesordnung und wir hatten schon sieben Uhr. Dank Serafins umfangreicher Lebensart hatten wir erst nach seinem Basketballtraining anfangen können, über unser Stück zu debattieren. Dieses Mal war Kleo nicht einverstanden. „Zu verwirrend, der Zuschauer sieht dann nur noch Regenbögen.“ Sie überlegte. „Wir haben zwei Gruppen. Was ist mit schwarz und wie?“ „Zu offensichtlich. Und man könnte meinen, wir bewerten die Gruppen damit. Wenn schon, dann alle in grau.“ „Ist jetzt auch nicht viel anders als schwarz“, warf Serafin in die Runde und ich stöhnte genervt. Wie gesagt, es gab Wichtigeres, worüber gesprochen werden musste. Wir entschieden uns, die Frage auf die nächste Probe zu vertagen und die Mädchen mit einzubeziehen, immerhin mussten sie damit einverstanden sein, und saßen trotzdem noch fast zwei Stunden zusammen, bis feststand, wer von welcher Seite kam, wo wir bestimmte Requisiten platzierten und wann das Licht ein- und ausgeschaltet wurde. Allein hätte man es sicher schneller entscheiden können, aber zu dritt kamen mehr Idee, teilweise richtig gute Ideen zustande, auf die man als einzelner nicht gekommen wäre, weil man schon sein festes Bild vor Augen gehabt hatte. „Ich bin fertig für heute, bis morgen Jungs.“ Kleo war so müde, dass sie nicht einmal die Gelegenheit ausnutzen, noch länger in Serafins Nähe zu sein. Aber sie ließ es nicht nehmen, ihn zum Abschied kurz zu umarmen, was sie bei mir nicht tat. Einerseits war ich überrascht, dass Serafin es zuließ, weil er früher jegliche Art von Körperkontakt immer übertrieben gemieden hatte, andererseits spürte ich die Eifersucht in mir, die nicht ruhen wollte. Hoffentlich merkte man mir nichts an. „Lass uns auch gehen.“ Die Schulleitung hatte uns ausnahmsweise erlaubt, die Räumlichkeiten für unsere Planung zu nutzen, aber länger als nötig mussten wir nicht hier herumsitzen, zumal die Stühle in der Aula keinen Preis für Bequemlichkeit gewinnen konnten. Außerdem sahen wir die Schule schneller wieder von innen, als einem lieb sein sollte. „Ach komm, wir haben doch Zeit. Außerdem weiß ich, dass du morgen erst zur dritten Stunde hier her musst, also erzähl mir nichts von früh schlafen gehen wollen.“ Er grinste mich auffordernd an und ich konnte einfach nicht nein sagen, obwohl ich es hätte tun sollen. Jede Minute, die ich länger mit ihm allein verbrachte, konnte mein dummes Geheimnis ans Tageslicht befördern. Andererseits blieb uns dann Raum, um an die alten Zeiten anzuknüpfen. Inzwischen hatte ich gar nichts mehr gegen die Idee, dass wir uns wieder näher kamen, so wie damals. Nur war mein Grund im Kindergarten rein freundschaftlicher Natur entsprungen, was ich momentan leider nicht mehr von mir behaupten konnte. Aus seinem Rucksack holte Serafin ungefragt zwei Flaschen Bier und eine Packung Salzstangen, die er gern in allen passenden und unpassenden Situationen knabberte, und ich fragte mich, was er damit bezwecken wollte. Männerabend in der Schulaula? Gab es noch irgendetwas zu klären? Hatte er vielleicht den Plan, mich abzufüllen und dann… nein, ausgeschlossen, für ihn existierte doch fast nur Kleo. Das Bier regte mich an, mit ihm über den Zeitraum zu sprechen, in dem wir uns aus den Augen verloren hatten, wir diskutierten, wer von uns den besseren Musikgeschmack entwickelt hatten, machten uns etwas über die überschminkten Zwerge aus der Mittelstufe lustig, und irgendwann gestand er mir nach langem Drumrumreden, dass er verliebt war. In zwei Personen. Mein Herz krampfte sich zusammen, aber ich machte gute Miene zum bösen Spiel, um nicht aufzufallen. Selbst mit Alkohol reagierte ich noch ekelhaft sensibel auf dieses Thema. Aus einem Bier wurden drei und ich spürte, dass ich zu viel getrunken hatte. Ich war nicht betrunken, aber dadurch, dass ich eher zur Zigarette statt zur Flasche griff und selten auf Geburtstagen war, die in Gruppenbesäufnissen endeten, war ich nicht sehr viel gewohnt. Ich lehnte also Serafins Angebot von Nachschub vorsichtshalber ab, holte mir stattdessen am Getränkeautomaten ein Wasser und leerte es eilig. Ich hatte Angst, in diesem Zustand zu viel zu reden, weil ich für meine Verhältnisse zu aufgedreht und sprunghaft war. Serafin wirkte geistig etwas abwesend, sodass ich ihm kurzerhand die Flasche wegnahm, um eine mögliche Katastrophe durch Kotzen oder nicht zu stoppendes Gequassel zu verhindern. Leider lehnte er es ab, etwas zum Neutralisieren zu sich zu nehmen. Es war schon fast elf, als wir uns nicht schwankend, aber doch etwas unsicher auf den Beinen aus der Schule schlichen. Ich hatte noch die letzten Überreste des Treffens weggeräumt, um den Lehrern keinen Grund zu bieten, uns nicht mehr unbeaufsichtigt dort arbeiten zu lassen. Mit Serafins Hilfe hatte ich nicht mehr rechnen können, der hockte die ganze Zeit über nur auf der untersten Treppenstufe zu den Klassenräumen, starrte vor sich ins Leere und dachte an etwas. Ich fragte lieber gar nicht, woran. Da der letzte Bus schon lange weg war und der Weg zu ihm nach Hause fast die doppelte Strecke bis zu mir nach Hause bedeutete, beschloss ich halb uneigennützig, ihn bei mir übernachten zu lassen. Unter meinem Bett lagerte eine Matratze, die konnte ich neben den Schreibtisch schieben und schon hatte er ein Bett für die Nacht. Während den zwanzig Minuten Fußmarsch schwieg Serafin, nur ab und zu seufzte er leise, gähnte etwas lauter oder stolperte über eine Unebenheit auf dem Bürgersteig. Ich war froh, als wir endlich bei mir waren und meine Mutter uns ohne Fragen zu stellen die Tür aufmachte. Allerdings erwähnte ich auch nicht, dass ich Serafin mitgebracht hatte, dann hätte sie noch ewig und drei Tage versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, immerhin war er drei Jahre lang Thema Nummer eins in all meinen Erzählungen des Kindergartenalltags gewesen. „Kannst du mir was zum Drüberziehen leihen?“, fragte mich Serafin, während er umständlich seine Turnschuhe auszog und sich schon mal seinen Kapuzenpulli samt dem T-Shirt über den Kopf zog. Der Anblick machte mich keinen Meter scharf, was mich beruhigte, immerhin hatte ich nicht vor, die ganze Nacht dagegen anzukämpfen, ihn zu überfallen. Ich fühlte einfach nur wieder dieses Stechen im Brustbereich und fragte mich, ob das wirklich Liebe sein konnte, dieses bittere Gefühl auf der Zunge und eine unerklärliche Traurigkeit, die sich bis in den letzten Winkel zog. Womöglich kam letzteres nur vom Alkohol, der manchmal die Menschen schrecklich emotional werden ließ. Mein Ersatzshirt für ihn war ihm natürlich meterweit zu groß, was mich nicht wunderte, immerhin wog Serafin fast dreißig Kilo weniger und war einen halben Kopf kleiner, obwohl er fast ein Jahr älter als ich war. „Gute Nacht.“ Ich hatte mich nur schnell von Schuhe und Hose befreit, war unter die Bettdecke gekrochen und suchte hinter dem Nachtschränkchen den Schalter für die Nachttischlampe. Zwar ahnte ich, dass ich noch zu unruhig war, um wirklich Schlaf zu finden, aber wenn ich es nicht wenigstens versuchte, war ich morgen ein furchtbar gelaunter Untoter. „Warte.“ Serafin erhob sich zögernd von seinem Schlafplatz und kauerte sich ungefragt zu mir auf meine Matratze. „Ich muss noch mit dir über was reden. Ist wichtig für mich.“ Nicht sein Ernst. Er sollte lieber ins Bett gehen. Außerdem fühlte ich mich noch angespannter, wenn er mir so nah kam, auch wenn uns momentan noch zwei Handbreiten und meine Decke trennten. „Was ist los?“ Bitte keine Geständnisse im betrunkenen Zustand, daran konnte er sich morgen vielleicht gar nicht mehr erinnern und es war nicht das, was ich haben wollte. „Hat das nicht Zeit bis morgen?“ „Wenn ich richtig nüchtern bin, trau ich mich wieder nicht, mit dir darüber zu reden.“ Er grinste betreten. „Ich glaub nicht, dass du gern von so was belästigt wirst.“ Alles in mir verkrampfte sich; warum musste er sich so umständlich ausdrücken und nicht einfach sagen, was ihm auf der Seele lastete? Ich war der letzte, der ihn für etwas fressen würde, immerhin war ich verrückterweise trotz allem froh, ihn bei mir zu haben. „Sag einfach, was Sache ist, wir müssen morgen noch in die Schule gehen.“ „Ich hab dir ja erzählt, dass ich ziemlich verknallt bin. In zwei Leute. Und ich weiß nicht, für wen von beiden ich mich entscheiden soll. Sie sind beide echt tolle Menschen, auch wenn ich die eine noch nicht so lange kenne.“ Dann war das eine bestimmt Kleo, sie hatte er erst kennen gelernt, seitdem er in unserer Stufe war. „Und die andere Person kennst du schon länger?“ Mir war irgendwie übel vor Nervosität; ich wünschte so sehr, dass er mich meinte, und wusste gleichzeitig, dass es nicht so sein sollte. Dass es vielleicht besser so war, wenn er meine Gefühle nicht erwiderte, weil das so vieles furchtbar verkomplizierte. „Ja, schon. Aber eigentlich ist es egal, wie lange man jemanden kennt, oder? Manche Leute kennt man seit immer und weiß trotzdem nicht so viel über sie wie über denjenigen, den man erst getroffen hat.“ „Wer… von wem redest du denn überhaupt? Dann kann ich dir vielleicht besser helfen“, brachte ich mühsam hervor; ich traute mich kaum, die Frage zu stellen, aus Angst, die Wahrheit aus seinem Mund zu hören. Jede Antwort konnte etwas zerstören, entweder unsere Freundschaft, die sich langsam entwickelte, oder meine Hoffnung, ihn allein für mich haben zu können. „Kleo natürlich, das ist ja klar. Und Lillith, mit ihr war ich schon in der Grundschule in einer Klasse. Lillith ist halt so unbeständig, da weiß man nie genau, woran man ist. Das macht sie natürlich auch so interessant, aber ich glaub, sie wäre niemand, der auf länger treu bleibt. Und Kleo… sie ist offen und ehrlich, nur weiß ich nicht, ob sie mich einfach nur als guten Kumpel sieht oder sich nicht traut, mir zu zeigen, dass sie gerne mehr von mir möchte.“ Es tat furchtbar weh zu hören, dass man nicht zum Kreis der Auserwählen gehörte, obwohl ich mich innerlich darauf eingestellt hatte, biss ich die Zähne aufeinander und verkrallte meine Finger in meinen Armen, um den übermächtigen Sturm von Enttäuschung, Verzweiflung und Hilflosigkeit irgendwie zu ertragen. In diesen Momenten halfen keine Suchtmittel, um mich zu beruhigen. Und Serafin saß weiter neben mir und redete mit einem verträumten Blick von seinen zwei Angebeteten und merkte nicht, wie ich innerlich litt und mit mir selbst kämpfte. Im normalen Zustand hätte ich es vielleicht geschafft, mich zu beherrschen, meinen Kummer hinunterzuschlucken und ihm zu lauschen, während er sich seine Unsicherheit von der Seele redete, aber in mir schwammen noch die Überreste des Biers, die mein rationales Denken einfach ignorierten und das taten, wonach mir in diesem Augenblick der Sinn stand. Ich packte Serafin fester als notwendig an den Schultern und küsste ihn einfach; mir war es gerade egal, ob er mich am nächsten Morgen dafür hassen würde und es in der ganzen Schule herumerzählte. Ich wollte nur einmal ehrlich zu mir sein und das bekommen, wonach ich mich nie zu fragen getraut hatte. Er hing starr und erschrocken in meinen Armen, erwiderte nicht, stieß mich aber auch nicht weg, was mich dazu aufforderte, noch mehr in die Offensive zu gehen. Seine Ringe drückten kühl gegen meine Unterlippe, ich spürte ganz schwach sein Herz schlagen und schmeckte noch die Kombination von Salz und Bier an seinem Mundwinkel. Dann kippte ich vorneüber und begrub ihn halb unter mir, kaum in der Lage, mich von ihm zu lösen. Noch immer blieb der verbale oder körperliche Protest aus, stattdessen merkte ich, wie sich seine Arme um mich klammerten und er zögerlich auf den Kuss einging. Trotz allem hatte ich nicht das Gefühl, einen großen Triumpf einzufahren, auch als wir uns voneinander lösten und wir einfach nur ineinander verschlungen dalagen und auf die Müdigkeit warteten. Ich wachte am nächsten Morgen mit leichten Kopfschmerzen, einem merkwürdigen Geschmack im Mund und allein in meinem Bett auf. Erst dachte ich, einen aberwitzigen Traum durchgestanden zu haben, der mir meine peinlichen Sehnsüchte offenbart hatte, doch als mein Blick zur Zimmeruhr glitt, um festzustellen, dass ich nicht verschlafen hatte, und dabei an Serafin hängen blieb, wusste ich, dass das alles äußerst real gewesen war. Mit angezogenen Beinen hockte Serafin auf seiner Matratze, hatte die Arme um die Knie gelegt und schaute ins Leere. Er wirkte müde, verwirrt und auch irgendwie ängstlich. „Sera?“ Mühsam setzte ich mich auf, rückte mein T-Shirt zurecht und wusste nicht, ob ich es wagen sollte, sonst noch etwas zu sagen. Er schreckte auf und sah mich an, nur um im nächsten Augenblick den Blick wieder auf seinen Bauch zu richten. Ohne Zweifel, er schämte sich ziemlich für das, was gestern passiert war. Und ich hatte die böse Ahnung, dass ich nicht ganz unschuldig war, dass er keine Gegenwehr gezeigt hatte. „Wegen gestern…“ Obwohl er es nicht zeigen wollte, zitterte seine Stimme hörbar. Sofort krochen Schuldgefühle in mir hoch, die sich wie Kletten festsetzten. Ich kam mir im Nachhinein wie ein Unmensch vor. „Es tut mir Leid, was ich getan hab“, sprudelte es aus mir heraus, auch wenn es nur die halbe Wahrheit war, immerhin hatte ich es auch genossen, meine wahren Absichten zu offenbaren. „Ich hätte dich nicht dazu zwingen sollen, das war total falsch von mir, aber ich hatte nicht mehr die volle Kontrolle über mich.“ Alkohol sei dank. „Es muss dir nicht leid tun, ich hab ja mitgemacht.“ Vor Scham wurde er rot und legte seine Stirn auf die Knie. „Ich weiß schon, wie ich mich wehren kann, wenn es sein muss. Ein Tritt und du hättest nichts mehr gemacht, wirklich. Aber… wenn ich zu viel trinke, werd ich komisch, zum Glück wird mir nie übel und ich hab auch keinen Filmriss, aber ich bin dann teilweise super anhänglich und lass dann fast alles mit mir machen, egal von wem es ausgeht. Das letzte Mal wars mit der festen Freundin von einem Kumpel, der hat mich danach richtig fertig gemacht, weil ich seiner Meinung nach seine Beziehung zerstört hab. Und das war nicht das erste Mal. Ich bin also selbst schuld, das so was passiert, weil ich mich immer überschätze, aber ich denk jedes Mal, dass ich mich endlich an den Alkohol gewöhne.“ Er sah wieder zu mir hoch. „Können wir das Ganze als einmaligen Ausrutscher verbuchen und nie wieder drüber sprechen, okay?“ Meine Miene entgleiste nun endgültig und enthüllte damit viel mehr, als jedes Wort hätte sagen können. Serafin wurde noch eine Spur bleicher und atmete tief durch. „War dir das ernst, das gestern Nacht?“ Ich konnte lügen, aber abkaufen würde er es mir nicht, jetzt nicht mehr. Also nickte ich betreten und wünschte mich selbst zum Teufel. Spätestens jetzt würde er mich verachten, wie es so viele Jungs machten, wenn man sich outete. Betrunken rummachen war etwas ganz anderes als dumme Gefühle hegen. „Okay, das ist… ich hab damit nicht gerechnet. Ich dachte, du wärst an solchen Sachen gar nicht interessiert und das gestern wär einfach nur… naja, passiert.“ Seine Finger zogen den Saum meines T-Shirts über seine Knie, während er nachdachte, wie er darauf reagieren sollte. „Ich weiß, dass geht mich nichts an und du musst mir nicht antworten, aber… bist du schwul? Oder machst du bei mir eine Ausnahme?“ Irgendwie wäre es mir lieber, wenn er mich in Grund und Boden gestampft hätte, weil ich ihn angefasst hatte, statt dass er mich mit nicht nachvollziehbarem Verständnis ausfragte, was in mir vorging. Ich merkte, dass er das nicht wissen wollte, um es am schwarzen Brett zu veröffentlichen, sondern um Klarheit zwischen uns zu schaffen. „Ja, ich steh auf Jungs, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Aber ich will das gar nicht, ich wäre lieber hetero und nicht so.“ „Seit wann weißt du es? Schon damals?“ „Nein, erst seit der Unterstufe.“ Und da hatte es mich so überrumpelt, dass ich es die ersten zwei Jahre einfach konsequent ignoriert hatte und jedem, der merkwürdige Empfindungen in mir wachgerufen hatte, aus dem Weg gegangen war. Danach hatte ich eine viel zu lange Zeit die Phase, in der ich geglaubt hatte, ich konnte damit leben, schwul zu sein. Dass es für mich richtig war, meinen Gefühlen nachzugehen und sie nicht einzusperren, bis sie gestorben waren. Alles ausgelöst von einem flüchtigen Bekannten aus meinem damaligen Sportverein, der mir völlig unverfroren für meine Bereitschaft, mich auf ihn einzulassen, ein Eis angeboten hatte. Jung, dumm und leichtsinnig wie ich war hatte ich angenommen, war auf den Geschmack gekommen und von da an fest überzeugt, mich auf dem richtigen Weg zu befinden. Von dem Typ hatte ich danach nie wieder etwas gesehen, was mir im Nachhinein immer noch ein ungutes Gefühl vermittelte. Er hatte mich gnadenlos benutzt, ohne dass es mir bewusst gewesen war. Weil ich mich auch zu diesem Zeitpunkt nicht getraut hatte, offen zuzugeben, wie es mit meiner Orientierung aussah, war zum einzigen offen schwulen Menschen an dieser Schule, nämlich Denny, gegangen, hatte nach einigem Hin und Her mit ihm geschlafen und war dadurch von „offiziell hetero“ in die Kategorie „heimlich homosexuell“ gewechselt. Ein merkwürdiges System, das Denny angelegt hatte, um alle ungeouteten Jungs untereinander bekannt zu machen und gleichzeitig zu verhindern, dass jemand nur vorgab, interessiert zu sein, um hinterher jemanden vor allen anderen bloßzustellen. Über diesen Weg war ich an Lazare geraten, einen komischen Kerl mit übersteigertem Selbstbewusstsein, der inzwischen gar nicht mehr auf unsere Schule ging, was gar nicht unrecht war. Hätte ich ihn heute noch sehen müssen, wäre ich wohl freiwillig von der Schule abgegangen. Er hatte mich zu wirklich dämlichen Sachen animiert, für die ich mich heute immer noch bis aufs Mark schämen würde, wenn ich mich nicht dazu entschlossen hätte, sie als fehlgeleitete Dummheit abzustempeln und auf sich beruhen zu lassen. Darunter fiel auch seine clevere Idee, auf dem Schulklo zu vögeln und sich dabei fast erwischen zu lassen, während er mir dabei so weh getan hatte, dass ich einfach nur noch weinen wollte. Nach der erschreckenden Erfahrung mit Lazare hatte ich noch am selben Abend vor dem Schlafengehen ein Gelübde abgegeben, mich nie wieder auf schnellen Sex mit irgendwelchen Kerlen einzulassen und mich von der Szene fernzuhalten, da sie mir nicht guttat. Seitdem hielt ich Ausschau nach Mädchen, mit denen ich vielleicht eine Beziehung führen könnte, wenn sie denn wollten, und war irgendwie an Lotta hängen geblieben. Ich bereute es bis heute nicht. In etwas kürzerer Form und ohne besonders emotionale Reaktionen ratterte ich Serafin diesen verkorksten Werdegang herunter, damit er zumindest eine Ahnung bekam, wie es sich abgespielt hatte, dass ich nicht freudestrahlend meine Veranlagung angenommen hatte und eigentlich den Großteil meines Lebens mit Verleugnen verbrachte. „Okay.“ Serafin machte einen spürbar überforderten Eindruck, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ich ihn gleich so vollkommen ins Bild setzte, probierte aber, seine Verwirrung durch ein Grinsen irgendwie zu überspielen. Nun sah er aus, als hätte er Zahnschmerzen. „Du siehst, ich hab nie darum gebeten, so zu sein, ich wollte eigentlich immer nur normal sein, so wie alle. Aber bei dir hab ich es nicht geschafft, es zu ignorieren“, rechtfertigte ich mich und klang dabei noch bitterer als zuvor. „Ich bin ziemlich armselig.“ Serafin hielt mein blödsinniges Selbstmitleid anscheinend nicht mehr aus, denn er stand eilig auf. Erst dachte ich, er würde jetzt tatsächlich schleunigst verschwinden, weil es ihm zu bunt und zu detailliert wurde und er mein Gejammere nicht mehr ertragen wollte, doch stattdessen kam er wieder zu mir auf mein Bett geklettert. Skeptisch sah ich zu, wie er selbst nicht genau wusste, wie er sich verhalten sollte, denn eigentlich nahm man an, dass er eher den Abstand wahren wollte, nachdem er so gut wie alle meinen dunklen Geheimnisse kannte, aber am Ende saß er neben mir und hatte fast unverfänglich einen Arm um meine Schulter gelegt. Ich fühlte mich wieder in unsere Kindergartenzeit zurück versetzt, als ich der Kleine war und Serafin ganz automatisch auf mich aufgepasst hatte, und mich an unserem letzten gemeinsamen Tag aufgemuntert hatte. Vielleicht fühlte er sich im Augenblick auch wieder ganz selbstverständlich verpflichtet, mir beizustehen, und nahm deshalb nicht fluchtartig Reißaus vor mir. Das Gewicht seines Arms wurde ein wenig von der Decke, die noch halb über meinem Rücken hing, gemildert, was gleichzeitig eine schwache, aber notwendige Barriere zwischen uns zog. Das hier war kein Rumgekuschel zwischen Verliebten; er wollte mich einfach ein bisschen beruhigen und mir zeigen, dass er trotz gestern Abend und meinem endlosen Gerede noch zu mir hielt. Dafür war ich ihm dankbar und es bedeutete mir viel mehr, als wenn er sich jetzt dazu durchgerungen hätte, etwas mit mir anzufangen, nur um meine Gefühle nicht komplett zu verletzten. „Und wie solls jetzt weitergehen?“, fragte ich nach einiger Zeit langem Schweigen und hoffte, dass kein „Erst mal gehen wir zum Unterricht“ als Antwort kam, denn soweit konnte ich noch allein denken. „Ich weiß es nicht. Wir werden sehen.“ Schön, dass er fast dieselben Worte benutzte wie ich vor ein paar Wochen. Da merkte ich nun am eigenen Leib, wie unbefriedigend eine solche Erwiderung sich anfühlte, wenn man auf Klarheit bestand. „Na dann.“ Ich seufzte unhörbar und überlegte, ihn langsam nach draußen zu komplimentieren, um Abstand und einen klaren Kopf zu bekommen. Doch zuerst musste ich noch etwas loswerden. „Nimm Kleo, die meint es wirklich ernst mit dir.“ Er brauchte einen Augenblick, bis er meinen plötzlichen Gedankensprung verstand, dann konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wenn du das meinst.“ Dann wurde er wieder etwas ernster. „Und was hast du jetzt vor? Gibts denn sonst noch jemand, den du… der für dich infrage kommt?“ „Ich werds mal mit Lotta versuchen.“ Doch statt mir zuzustimmen, erhielt ich nur ein vehementes Kopfschütteln. „Mach das nicht, Marian. Du weißt doch eigentlich, dass du sie nicht wirklich willst, oder? Und du musst ihr nicht auf diese Art das Herz brechen, das wäre nicht gerecht.“ Wie gerne hätte ich ihm scharf widersprochen, weil ich das für mich selbst entscheiden musste, doch ich konnte nicht abstreiten, dass an seinen Bedenken die Wahrheit haftete. Wenn ich etwas Ernstes mit ihr anfing oder unsere momentane Verbindung weiterführte, belog ich nur wieder mich selbst und tat außerdem auch ihr weh, weil sie merken würde, dass etwas fehlte. Genau das, was sie zu suchen schien. „Du hast ja Recht.“ Auch wenn ich es nicht gern zugab. Es war so erstaunlich, dass er nach diesem Desaster noch so ehrlich und unverkrampft mit mir umging; das war mehr, als ich hätte erwarten dürfen. Vielleicht fühlte er sich auch noch etwas schuldig, dass er mir zumindest für eine Nacht Hoffnungen gemacht hatte. Vielleicht machten sich auch endlich unsere gemeinsamen Jahre im Kindergarten bezahlt. * „Oh mein Gott, Marian, er hat mich gefragt!“ Kleo hibbelte so furchtbar aufgeregt vor mir herum, als hätte sie einen Gummiball verschluckt. Verständnislos betrachtete ich ihr denkwürdiges Tänzchen und wartete, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder verständliche Sätze zustande brachte. Die Leute auf dem Gang beobachteten uns, als hätten wir beide nicht mehr alle Tassen im Schrank, schenkten uns aber nicht unnötig viel Aufmerksamkeit. „Serafin… er will mit mir zusammen sein!“ So wie sie klang, konnte sie es selbst noch kaum glauben. Ich verkniff mir ein belustigtes Grinsen. „Mann, hat der lange gebraucht.“ Entweder war er in manchen Punkten so entscheidungsfreudig wie meine Mutter beim Bettwäschekauf oder er hatte befürchtet, mich gleich in die nächste Krise zu reißen, wenn er Kleo schon einen Tag nach unserer gemeinsamen Nacht einen Antrag unterbreitete. Ich hatte nicht vor, ihn nach seinen Gründen zu fragen. Zum Glück hielt sich die Eifersucht, mit der ich gerechnet hatte, stark in Grenzen, ich freute mich eher für Sera, dass wenigstens er nun jemanden an seiner Seite hatte, den er wirklich mochte. Außerdem war es Kleo und nicht eine von den verwöhnten Modepüppchen, mit denen man höchsten angeben, aber nicht glücklich werden konnte. Allein das machte die Sache deutlich ertragbarer. Für einen Moment stockte Kleo in ihrem aufgedrehten Gehampel. „Was meinst du damit?“ Dass sie überhaupt auf meine Aussage geachtet hatte, grenzte an ein Wunder. Ich hatte gar nicht angenommen, dass sie mir zugehört hatte, so wie sie gerade durchdrehte. „Ach, nichts.“ Wenn ich ihr erklärte, dass ich sozusagen Amor gespielt hatte, um Serafin vor einigem Kummer zu bewahren, wäre sicher ihr Bild vom großen, immer irgendwie unbeteiligt wirkenden Marian für immer nicht mehr dasselbe. Wobei sich das sowieso noch änderte, wenn ich ihr offen und ehrlich sagte, dass ich nicht an Frauen interessiert war. Aber das musste nicht heute sein, sie hatte nämlich schon genügend im Kopf, da musste ich mich nicht noch ihr aufdrängen und sie verwirren. Reichte, dass ihr Serafin mal wieder alle Sinne stahl. Lotta saß auf der Wiese vor dem Hauptgebäude und schrieb ihre Zusammenfassung für die nächste Bioklausur, als ich mich neben sie setzte und mit einem Räuspern auf mich aufmerksam machte. Überrascht fiel ihr der Kuli aus den Fingern, weil sie so vertieft in ihre Arbeit gewesen war, dass sie mein Näherkommen gar nicht bemerkt hatte. „Marian, erschreck mich doch nicht so.“ Verlegen sammelte sie ihre Utensilien wieder zusammen und legte sie beiseite ins Gras. Jetzt war der Moment, auf den ich mich seit Tagen vorbereitet hatte und vor dem ich nicht kneifen wollte. „Lotta, ich muss dir was sagen.“ Erwartungsvoll schaute sie mich an und ich kam mir wie ein Blödmann vor. Sie dachte bestimmt, nun kam die berühmte Frage, über die sich eine Frau freute. „Du bist ein ganz toller Mensch, ich mag dich sehr und ich wäre wirklich gerne mit dir zusammen, aber leider kann ich keine richtigen Gefühle für dich empfinden, weil ich nicht an Frauen insgesamt interessiert bin. Ich bin schwul. Es tut mir Leid, dass ich dir das erst jetzt sage, aber ich wollt es selbst nicht wahrhaben.“Und wieder klang das furchtbar steif und einstudiert, obwohl ich mir nicht notiert hatte, was ich ihr erzählen wollte. Aber wenigstens hatte ich es endlich über mich gebracht, ihr die Wahrheit zu sagen. Blieb nur abzuwarten, wie sie darauf reagierte. Ich traute es ihr ja eigentlich nicht zu, aber trotzdem befürchtete, dass sie mich zusammenstauchte, immerhin hatte ich durch meinen Selbstbetrug auch ihr etwas vorgespielt. Sie saß kerzengerade da und hoffte wohl, ich hätte mir einen makaberen Witz erlaubt. „Okay, das… ist jetzt merkwürdig.“ Natürlich war es merkwürdig, ich machte ihr keinen Vorwurf; immerhin hätte man aus ihrer Position wirklich denken können, ich wäre die ganze Zeit nur nicht sicher gewesen, ob ich tatsächlich eine Beziehung eingehen wollte. Wer vermutete hinter solchem Verhalten einen jungen Mann ohne Mut zu seinem wahren Kern? Sie ließ mich einfach sitzen; blitzschnell packte sie ihren Krempel in ihre Umhängetasche und lief davon. Etwas überrumpelt und mit einem schlechten Gewissen blieb ich zurück und fühlte mich schlecht. Ich konnte ihr nicht einmal böse sein, dass sie es anscheinend nicht akzeptieren wollte. Vielleicht beruhigte sie sich und wir konnten einfach befreundet sein. Vielleicht nahm sie es mir auch noch ewig übel, sie getäuscht zu haben, und wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Das wäre sich mit der Zeit herauskristallisieren. Seufzend erhob ich mich, klopfte mir die Grasreste von der Jeans und machte mich auf den Weg, um an meiner Lieblingsstelle mir eine Kippe anzuzünden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)