What have you done with me? von Sinistra ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Wind... Das ist das Erste, was er um sich fühlt. Eiskalt peitscht er ihm entgegen und hinterlässt ein Brennen auf seiner Haut, als würde er mit messerscharfen Klingen durch sein ungeschütztes, nacktes Fleisch schneiden. Als er den Mut aufbringt seine Augen zu öffnen, erblickt er das nur allzu vertraute Ödland um ihn herum. Trostlos ragen blattlose, verdorrte Bäume aus der rissigen Erde in den Himmel. Sie biegen sich ihm entgegen, als der Wind aufheult, scheinen nach ihm greifen zu wollen. Es ist Nacht... Der Himmel ist dunkel, kein Mond zu sehen. Und doch spendet eine unsichtbare Quelle schummeriges Licht, das vom schwarzen Himmel auf ihn herabfällt. Mein Gott, der Wind frischt erneut auf und nun sieht er sie auf sich zukommen... Aus der lila schimmernden Wolkenwand, die sich am Horizont auftürmt und vom Wind auf ihn zugetrieben wird, schlagen Blitze hinab auf die Erde. Sie zucken durch die schwere Luft und reißen krachend kleine Krater in den Boden vor ihm. Immer näher... Der Wind treibt die Wolken immer schneller voran, bis sie über ihm hängen und das drohende Grollen des Donners ihn einhüllt. Schutzlos ausgeliefert und voller Angst vor dem, was ihm droht, reckt er sein Gesicht gen Himmel... Ein erstickter Schrei entrang sich der Kehle des Jungen, der nun aufrecht im Bett saß. Die verschwitzten Hände ins Laken gekrallt, schaute er sich atemlos um. Das Zimmer lag noch im Dunkeln, das spärlich durchs Dachfenster einfallende Licht ließ die hinteren Ecken des kleinen Zimmers im Schatten. Fast meinte er ein leises, bedrohliches Knurren aus ihnen zu hören. Sein Herz begann in seiner Brust zu rasen. Nur Einbildung – alles nur Einbildung... nicht wahr? Seine Hand löste sich aus dem Laken und tastete nach dem Schalter der kleinen Lampe, die neben seinem Bett auf dem Nachttisch stand. Die zittrigen Finger fuhren hektisch über das glatte Holz und fanden schließlich den Schalter, legten ihn um. Mit einem leisen Klicken flackerte das Licht auf und erhellte die dunklen Ecken. Leer... Erleichtert atmete der Junge auf. Wie lange hatte er diesen immer wiederkehrenden Traum schon nicht mehr erleben müssen? Wie groß war schon die Hoffnung gewesen, dass er dieses Mal für immer verschwunden sein könnte? Seufzend ließ er sich auf sein Kissen zurücksinken und starrte die weiße Zimmerdecke über sich an. Von ihr baumelte ein von schwarzen und beigen Federn gezierter Traumfänger hinab. Er war wirklich schon kurz davor gewesen, an seinen Nutzen zu glauben. Verräter... Der Junge drehte mit einem tiefen Seufzer den Kopf zur Seite und schielte zum Wecker hinüber. "5:26", blinkte es ihm in roten Ziffern entgegen. Gerade mal eine halbe Stunde, bis das Gerät anfangen würde, ihn mit seinem aufdringlichen Piepton aus dem Bett zu scheuchen. Was solls... Er kroch aus dem Bett und schlurfte ins angrenzende Bad. Schlafen konnte er nun sowieso nicht mehr. Die Neonröhre über dem Spiegelschrank brauchte ein paar Anläufe, bis sie endlich ansprang und die Armaturen des Bades in ihr kaltes, steriles Licht tauchte. Als er in den Spiegel sah, blickte ihm ein blasser Junge entgegen. Die Ringe unter seinen müde dreinblickenden Augen zeugten von vergangenen schlaflosen Nächten. Das lange, schwarze Haar war zerzaust vom Kampf mit den Alpträumen, die sich still und heimlich in seinen Kopf schlichen, sobald es draußen dunkel wurde. Er drehte den Wasserhahn auf und ließ das kalte Wasser über seine Handgelenke fließen, bis er sich einigermaßen wach fühlte. Wie konnte er nur glauben, dass sich mit einem Umzug alle seine Probleme in Luft auflösen würden? Er hätte es besser wissen müssen. Die Angst saß schon zu tief in seinem Verstand - hat sich dort eingenistet wie ein hartnäckiger Parasit, der sich von seinen zahlreichen schmerzvollen Erinnerungen nährt. Nachdem er das Wasser abgestellt hatte, griff er zu der Bürste, die zusammen mit dem Zahnputzzeug auf der Ablage vor ihm lag, und begann unsanft durch sein Haar zu fahren bis seine Kopfhaut zu brennen begann. Was auch immer heute passieren würde, schlimmer konnte es nicht mehr kommen. Wie erleichternd... Frustriert vernahm er in diesem Moment das Piepen, das von seinem Zimmer herübergetragen wurde. Er wollte sich nicht anziehen, wollte nicht die Treppe hinunter und aus der Haustür und schon gar nicht zu seiner neuen Schule gehen. Er wollte einfach wieder ins Bett kriechen und die Augen schließen. Sollte ihn die Welt da draußen doch an seinem Hinterteil lecken... Doch das Piepen hörte nicht auf - im Gegenteil: Die Intervalle zwischen den Tönen wurden kürzer, bis sie schließlich in einen einzigen schrillen Ton mündeten, der sich unbarmherzig seinen Weg durch den Gehörgang des Jungen bahnte. Grummelnd schlurfte er zurück ins Schlafzimmer und drückte die Höllenmaschine aus, bevor er sich die abgetragene Jeans und den grauen Kapuzenpullover überstreifte, die noch vom Vortag über der Lehne seines Schreibtischstuhls hangen. Noch immer war ihm schleierhaft, wie seine Mutter sich dieses kleine Vorstadthaus hatte leisten können. Vermutlich wollte er auch gar nicht wissen, wie sie an das nötige Geld gekommen war – oder wie hoch ihre Schulden sich durch diesen wahnwitzigen Kauf aufgetürmt hatten... Ein Blick aus dem Dachfenster ließ ihn erahnen, dass über den Häusern der kleinen Stadt bald die Dämmerung anbrechen würde. Dieser verdammte Tag würde genauso grau sein, wie die unzähligen Tage davor. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass es Ende November ist... "Cassiel?", ertönte die hörbar aufgeregte Stimme seiner Mutter von unten, als er die unter seinen Schritten knarzende Treppe hinunter stapfte. Sie schien noch nervöser zu sein, als er selbst es war. "Wer sonst?", murmelte er und kletterte in der Küche auf einen der beiden Hocker, die am Tresen standen. Seine Mutter stand vor dem Herd und verbarg mit ihrem massigen Körper den Blick auf das, was sie da zusammenbraute. Doch der Geruch von gebratenem Speck ließ zumindest nichts allzu Schlechtes erahnen. Als sie sich mit der Pfanne in der Hand zu ihm umdrehte, lächelte er sie schwach an. "Für mich?" Sie nickte überschwänglich und schob mit dem Plastikpfannenwender das Rührei mit Speck auf den Teller, den sie schon auf dem Tresen vor seinem Platz drappiert hatte. "Lass es dir schmecken!", trällerte sie. "Soll ich dir ein Toast machen?" Er schüttelte den Kopf. "Lass gut sein, Mum. So viel Hunger hab ich morgens doch nicht..." Mit der Gabel stocherte er in der gelben Masse herum und registrierte dabei den gekränkten Blick seiner Mutter. Seufzend schob er sich einen Bissen nach dem anderen in den Mund, während sie mit ihrem breiten Hinterteil an der Anrichte gegenüber lehnte und ihn genau beobachtete. "Schmeckt gut", log er und sie lächelte zufrieden. Nie würde er freiwillig zugeben, dass die Angst ihm den Magen umdrehte, sobald er auch nur an den heutigen Tag dachte. Doch sie wusste es. Sie hatte schon immer gewusst, was in ihm vorging. "Du wirst schon sehen, dieses Mal wird alles besser werden!", versuchte sie ihn aufzuheitern. "Die Therapeutin hat gesagt, dass dir ein Neuanfang gut tun wird. Du wirst dich wunderbar einfinden, mein Junge." Wen will sie damit überzeugen? "Ja...", murmelte Cassiel nur und schob den letzten gelben Brocken in seinen Mund. "Ich komme zu spät, wenn ich jetzt nicht gehe", erklärte er dann und rutschte vom Hocker, um den Teller und das Besteck in der Spüle abzustellen. Der Blick seiner Mutter folgte aufmerksam jeder seiner Bewegungen. Aus ihm sprach stille Sorge. Cassiel drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. "Es wird schon werden, Mum", log er zurück – und sie beide wussten es. Im Flur trat er in die ausgelatschten Converse-Schuhe, eine Investition, auf die er zwei Monate hingespart hatte. Mein Gott, ihre Schulden mussten mittlerweile wirklich gigantisch sein. Seine Mutter stand in der Küchentür und hielt das Lunchpaket in der Hand, das sie fein säuberlich in Brotpapier eingeschlagen und mit einem Stück Schnur eingebunden hat. Sie steckte es in seinen alten Rucksack, den er sich mittlerweile über die Schulter geworfen hatte, und tätschelte ein letztes Mal aufmunternd seine Schulter, bevor sie ihn schweren Herzens in die Welt da draußen entließ. Das Wetter hatte sich in den letzten Tagen keineswegs gebessert, wie Cassiel feststellen musste, als ein leichter Nieselregen ihn draußen in Empfang nahm. Am Morgenhimmel hingen dicke, graue Wolken, die vom Wind langsam in Richtung Westen weitergetrieben wurden. Die jüngeren Kinder der Nachbarschaft rannten an ihm vorbei, während er im Regen an der Bushaltestelle wartete. Sie warfen ihm neugierige Blicke zu und wandten sich schnell wieder ab, sobald er ihren Blicken mit dem seinem begegnete. Jemand wie er passte nicht in ihre heile kleine Vorstadtwelt, er war das neue schwarze Schaf unter ihnen, über das ihre Mütter sich am Telefon vermutlich bereits schamlos das Maul zerrissen. Dort, wo du herkommst, existieren keine schwarzen Schafe, nicht wahr? Ja... In dem heruntergekommenen Viertel seiner früheren Stadt waren sie alle gleich – waren sie alle grau. Ein bitteres Grinsen huschte über sein Gesicht. Hatte das Leben dort womöglich doch noch etwas Gutes gehabt? Doch jedes Mal, wenn er die Menschen um sich herum nun betrachtete, wenn er sah, wie geschniegelt und gestriegelt sie hier durch die Straßen stolzierten, überkam ihn eine übermächtige Woge von Neid und Resignation. Nie würde er so sein können wie sie. An der neuen Schule würden sie ihn verstoßen wie einen reudigen Straßenköter. Als der Linienbus eine gute Viertelstunde später endlich um die Ecke bog und vor seiner Nase anhielt, war Cassiel bereits durchnässt bis auf die Haut. Scheißwetter.... Scheißtag. Er wrang notdürftig seine Jacke aus, als der Busfahrer ihn skeptisch musterte. "Du musst trotzdem stehen, Junge. So kannst du dich unmöglich auf einen der Stoffsitze setzen. Hast du denn keinen Regenschirm?", fragte er und in seiner Stimme schwang ein kaum hörbarer Unterton mit. Mitleid? Verachtung? Cassiel konnte es nicht genau sagen, doch er hatte keine andere Wahl, als trotzdem in den Bus zu steigen. Wie gern würde er einfach an der Bushaltestelle stehen bleiben, sich für einige Stunden irgendwo verkriechen und dann wieder nach Hause zurückkehren. Er konnte sich doch den ganzen Ärger von vornherein ersparen. Glaubst du das wirklich? Sie würden es schneller bemerken, als du bis zehn zählen kannst. Und deine Mutter? Sie wäre maßlos enttäuscht. Würde dich schlagen – oder weinen – oder beides. Willst du das, Cassiel? Willst du das?? Murrend bezahlte er den horrenden Fahrpreis, stellte sich, trotz einiger freier Plätze, in den mittleren Teil des Busses und klammerte die von der nassen Kälte ganz klamme Hand um die Stange neben sich. Die Grundschüler und Teenager, die sich auf den Sitzen um ihn herum in fast unerhörter Weise flätzten (die dreckigen Schuhe gegen die Rückenlehne des Sitzes vor ihnen gestemmt – wie konnte der Fahrer das übersehen?), musterten ihn abfällig. Teilweise hörte er leises Kichern von den Jüngeren. "Hey!", rief schließlich ein Jugendlicher aus den hinteren Reihen zu ihm herüber. Starr richtete Cassiel seinen Blick vor sich auf den Boden. Was ich nicht sehe, kann mir nichts tun. Was ich nicht sehe, ... "Heeeey!", erklang die tiefe Stimme wieder, diesmal nachdrücklicher. "Dreh dich gefälligst zu mir um, wenn ich mit dir rede! Du da vorne, der in dem grauen Pulli!" Er zuckte zusammen. Okay – nun war Leugnen wohl sinnlos. Cassiel war gemeint... wer auch sonst? Widerwillig drehte er sich um, wobei er die Halt gebende Stange immer noch umklammert hielt. "Was ist?" Eigentlich wollte er selbstsicher klingen, herausfordernd. Doch was da aus seinem Mund kam, glich mehr dem Piepsen einer verängstigten Maus. Sein Gegenüber erhob sich grinsend von den Sitzen und hangelte sich lässig an den Haltestangen entlang zu ihm hinüber. Nun, da er fast vor ihm stand, hatte Cassiel vollen Blick auf seine Erscheinung. Er war nicht allzu viel besser gekleidet als Cassiel selbst. Unter dem einfachen, dunkelgrünen Sweater ließen sich seine Muskeln erahnen. Die enge, helle Jeans war an den Knien sichtbar zerschlissen und die bräunlichen Turnschuhe waren sicher einmal weiß gewesen. Trotz allem umgab den Jungen die fast schon erhabene Aura eines Raubtieres. Sein lauernder Blick schien auf Cassiel festgetackert zu sein, wanderte an seinem Körper auf und ab. In ihm lag ein Ausdruck, den Cassiel nicht zu deuten vermochte, und das machte ihn verdammt nervös. "Ich hab dich hier noch nicht gesehen", bemerkte sein Gegenüber nun und fügte mit einem verächtlichen Grinsen hinzu: "Wo kommst'n du her?" Cassiel brachte kein Wort heraus. Die Hand, die sich noch immer an die Stange krallte, zitterte kaum merklich. Der abfällige Ton in der Stimme des Größeren machte ihn rasend, ebenso wie seine eigene Unfähigkeit, dem etwas entgegenzusetzen. Der Junge beugte sich zu ihm vor, bis sein Mund direkt neben Cassiels Ohr war, seine Hand ergriff die Haltestange nur wenige Zentimeter über Cassiels eigener. Cassiel wollte zurückweichen, doch hinter ihm waren die Sitze. An seinem Ohr ertönte wieder die tiefe Bassstimme, zu einem bedrohlichen Flüstern gesenkt, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte. "Verpiss' dich wieder in die Gosse, aus der du gekrochen bist. Ich kann dich hier nicht gebrauchen. Niemand kann das. Verstanden?" Als er keine Antwort bekam, packte er mit der freien Hand Cassiel am Kragen. Das Zittern des Kleineren war nun nicht mehr zu übersehen, doch nun mischte sich in seine Wut über diese Erniedrigung auch ein Anflug von Angst. "Verstanden?", wiederholte der Andere sich zischend und brachte sein Gesicht direkt vor das seines Opfers. Der Blick der Augen, in die Cassiel gezwungenermaßen starrte, war wild. Fast schon irre. Er wird dir sämtliche Zähne rausschlagen. Du hast es verdient. Straßenköter! Tatsächlich sah Cassiel mit Entsetzen, wie der große Kerl seinen Kragen losließ und die Hand zur Faust ballte. Er kniff die Augen zusammen, bereit für den drohenden Schmerz – doch dieser blieb aus. Stattdessen erklang eine weitere Stimme. Ihr ruhiger, aber bestimmter Klang war so nah, dass Cassiel erneut zusammenfuhr. "Lass ihn los, Fintan, er hat dir nichts getan." Als Cassiel spürte, dass sein Peiniger von ihm abließ, öffnete er die Augen einen Spalt weit. Es war der Junge, der bis vor wenigen Sekunden noch den Sitz direkt bei der Tür belegt und das Geschehen still beobachtet hatte. Nun stand er neben Fintan und hielt dessen Arm mit seinen langen, dünnen Fingern fest. "Halt dich da raus, Ramin!" Fintan spuckte den Namen förmlich aus, doch die Tatsache, dass er einen weiteren Schritt von Cassiel zurückwich, zeugte von dem Respekt, den er vor Ramin zu haben schien. Dabei sieht er gar nicht so Respekt einflößend aus, schoß es Cassiel durch den Kopf. Auf den ersten Blick war der Junge, der nun kopfschüttelnd seine schwarze Brille zurecht rückte, durch und durch sympathisch. Er war ein bisschen kleiner als Fintan, überragte Cassiel jedoch immer noch um mindestens fünf Zentimeter. Sein hellblaues Hemd war bis zum Kragen zugeknöpft und die dunkle Jeans wurde von einem breiten Ledergürtel auf den schmalen Hüften gehalten. Er stammte eindeutig nicht aus schlechtem Hause. Jetzt trat er – wohl vorsichtshalber – zwischen Cassiel und Fintan, der sich inzwischen schnaubend abwandte, um betont lässig auf seinen Platz zurückzuschlendern. "Alles okay?", erkundigte sich Ramin und musterte Cassiel prüfend. Dieser nickte nur kurz und rang sich mühsam ein leises "Danke dir" ab. Lächelnd streckte Ramin ihm die Hand entgegen. Sein Griff war erstaunlich fest, als er Cassiels Hand schüttelte. "Ich bin Ramin. Tut mir Leid, dass wir uns so kennen lernen müssen, Cassiel. Ich meine – du bist doch Cassiel oder?" Sofort zog der Angesprochene seine Hand zurück, als hätte er in glühende Kohlen gefasst. "Woher – woher weißt du...?", fragte er misstrauisch. Doch Ramin lachte nur. "Tut mir Leid, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Du bist nur der einzige Neue, den ich heute Morgen hier sehe. Und ich bin der Schulsprecher der Schule, auf die du gewechselt bist. Außerdem bin ich in deiner neuen Klasse. Ich bin der, den sie immer auf die Neuen ansetzen", fügte er mit einem schmalen Grinsen hinzu und bedeutete Cassiel, sich zu ihm zu setzen. "Vergiss den Busfahrer." Innerlich atmete Cassiel auf. Wenigstens für den ersten Tag schien er in Sicherheit zu sein. Der Schulsprecher war mittlerweile wieder ruhig geworden. Seit einigen Minuten sah er nun schon schweigend aus dem Fenster und schien sich nicht weiter um den Neuen zu scheren. Erst als der Bus vor der Schule hielt, kam wieder Regung in den schlaksigen Jungen. "Wir sind da", erklärte er knapp und griff seinen Rucksack, um aufzustehen. Cassiel erhob sich ebenfalls widerwillig und ließ sich von der gröhlenden Schülermenge aus dem Bus drängen. Nachdem Ramin gerade für ihn eingetreten war, schien er unwichtig für sie geworden zu sein. Kein schwarzes Schaf mehr – nur noch eine graue Maus. Als er durch das eiserne Tor auf den Schulhof trat und das große, alte Gebäude vor sich aufragen sah, überkam ihn wieder die Nervosität vom frühen Morgen und er blieb unschlüssig stehen. Irgendwo da drinnen würde auch Fintan sein, der sich vor wenigen Sekunden an ihm vorbeigedrängt hatte. Wie aus Versehen hatte er ihn dabei angestoßen, doch der Blick, den er dabei über seine Schulter geworfen hatte, hatte etwas anderes gesagt. Vielleicht konnte Cassiel ihm aus dem Weg gehen. Vielleicht schaffte er es sogar, ihm für den Rest des Tages nicht einmal mehr zu begegnen. In Gedanken ging er schon alle möglichen Verstecke durch. Bücherei – Toilette – leere Klassenräume... Wie feige du doch bist, Köter... Eine Berührung riss ihn aus seinen Gedanken. Ramin stand neben ihm und klopfte auf seine Schulter. "Komm schon. Ich hab' keine Lust, zu spät zu kommen", meinte er und packte Cassiels Unterarm, um ihn hinter sich her zu ziehen. Als sie sich zwischen den Gruppen von Schülern hindurchschlängelten, die über den Schulhof verteilt standen, überkam Cassiel ein Gedanke, der in seinem Kopf rotierte und immer bedrohlicher zu werden schien, je näher sie dem Schulgebäude kamen. Kein Zurück mehr, Straßenköter. Kein Zurück! In der Schule selbst waren die Flure noch relativ leer. Nur die älteren Schüler, zu denen auch sie selbst gehörten, standen an den großen Fenstern, einige saßen auf den Fensterbänken, und unterhielten sich angeregt. Ramin ging langsam an den Schülern vorbei, von denen einige ihm hinterher riefen. "Morgen, Ramin!" "Hey, hast du schon mit dem Direktor gesprochen? Es ist echt wichtig, das weißt du!" "Was wird aus der Halloweenfeier, die wir planen wollten?" "Ramin, kommst du Samstag mit? Komm schon, das wird sicher lustig!" Die meisten Stimmen ignorierte der Schulsprecher. Er schien jeden Morgen so empfangen zu werden. Cassiel kam nicht umhin, ihn ein wenig zu bewundern. Wie gern wäre er so gelassen, fast schon gleichgültig gegenüber den Dingen, die andere Menschen ihm immer wieder an den Kopf warfen. Ramin steuerte nun zielstrebig zwei Jungen an, die sich lauthals mit einem hübschen, schlanken Mädchen unterhielten. Als sie näher kamen, hörte Cassiel einige anzügliche Bemerkungen und Scherze heraus, die die Jungen breit grinsend von sich gaben. Doch sein Begleiter schien das Ganze gar nicht so lustig zu finden. Mit einem energischen Ellenbogenstoß verschaffte er sich Platz zwischen einem der Jungen und dem Mädchen. "Morgen!", grüßte er leicht angesäuert und blickte die Jungen fast schon strafend an. Das blonde Mädchen kicherte leise und erwiderte seinen Gruß, bevor ihr Blick auf Cassiel fiel. "Wen hast du denn da mitgebracht? Ist das der Neue?", wollte sie wissen und beäugte Cassiel neugierig. Als Ramin nickte, streckte sie, wie auch er vorhin im Bus, dem Neuen die Hand hin. Dieser zögerte, sie zu schütteln. Noch nie war er einem so hübschen Mädchen näher als einen Meter gekommen. Sie ließ die abgewiesene Hand wieder sinken und hob die Augenbrauen. "Komm schon, nicht so schüchtern, Kleiner", bemerkte sie , nicht ohne leisen Spott in der Stimme, und schürzte beleidigt die Lippen. Als ob das so einfach wäre, wollte er entgegnen, doch er blieb stumm und wandte sich verlegen ab. Und dann fiel sein Blick auf das Gesicht, welches er für die nächste Zeit sicher nicht mehr vergessen würde. Fintan stand mit einer Reihe ebenso finster wirkender Gestalten an der gegenüber liegenden Wand und redete in gedämpftem Tonfall auf sie ein. Als er sich Cassiels Blick bewusst wurde, verzerrte sich sein Mund zu einem Grinsen und er zuckte mit dem Kinn in seine Richtung. In der Geste lag eine offensichtliche Drohung. Wir sind noch nicht fertig miteinander, wart's nur ab! Cassiel schrumpfte innerlich um mindestens zehn Zentimeter, als er sich mit dieser aggressiven Geste konfrontiert sah. Hoffentlich gab es in dieser Schule nicht so etwas Grausames wie – Pausen. Und wenn doch, würde er während dieser höchstwahrscheinlich durch die Hölle gehen müssen. Eine Folge lauter Töne unterbrach seine düsteren Gedankengänge. Eilig schloß er sich Ramins Freunden an, als die Glocke die Schüler in ihre Klassen trieb. Ramin deutete im Klassenraum auf einen Stuhl, ziemlich in der Mitte des großen Raumes. "Der ist frei", erklärte er und setzte sich dann neben das hübsche Mädchen in die zweite Reihe. Cassiel schob sich zwischen den Tischen hindurch zu dem ihm zugewiesenen Platz und ließ seinen Rucksack auf die Erde fallen, bevor er sich auf dem harten Stuhl niederließ. Fintan schien ebenfalls in diese Klasse zu gehen – er saß in der hintersten Reihe, die Füße in seinen braunen Turnschuhen dreist auf den Tisch gelegt. Cassiel drehte sich nicht um, doch er spürte ganz genau den Blick in seinem Nacken – wusste, dass wieder dieses raubkatzenähnliche Grinsen von vorhin auf den schmalen Lippen lag. Als kurz darauf der junge Mathematiklehrer der Klasse den Raum betrat, verstummte das kollektive Gemurmel. Während die Unterrichtsstunden vergingen, fiel es Cassiel von Minute zu Minute leichter, das Gefühl der Beobachtung beiseite zu schieben. Und wenn es auch von ihm selbst unbemerkt blieb: Fintans aufmerksamer Blick folgte ihm unentwegt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)