Stark von Scribble ================================================================================ Kapitel 1: ----------- "Du brauchst keine Angst zu haben." "Hab ich nicht." "Hier sind die besten Ärzte und -" "Ich hab keine Angst!" "Ach, Prinzessin, das ist ganz normal ..." "Sei still!" Ärgerlich blickt Leah zu ihrem Vater, dann zu dem Schlauch, der in ihre Armbeuge führt und schließlich zu der Flasche, aus der eine durchsichtige Flüssigkeit dort hineintropft, ganz langsam. Das Mädchen beginnt auf seiner Unterlippe zu kauen. Nur eine kleine Operation, nichts weiter. Ganz viele kriegen einen Blinddarm raus oder die Mandeln und die überstehen das auch alle. Leah hat keine Angst. Nicht sie. Sie hatte noch nie Angst vor so etwas. Trotzig hebt sie den Blick zur weißen Decke. Hier ist sowieso alles weiß. Das Bett, das Laken, die steife Decke und das harte Kissen. Die Kittel der Ärzte , die sagen, alles würde gut werden. Papas Gesicht. Leahs rechtes Bein ist auch weiß, wie immer. Nur nicht mehr lange. Papa runzelt immer noch die Stirn und in seinen Augen ist so viel Mitleid, dass Leah am Liebsten schreien würde. Sie braucht kein Mitleid. Alle haben sie Mitleid. In der Schule, in der Verwandtschaft, im Krankenhaus. Was hilft das? Was soll das helfen? Soll das ihre Krankheit heilen? "Es tut weh ...", flüstert Leah und schließt die Augen. Sie sagt das so oft. Es ist fast schon ein Teil von ihr. Wie ein Freund, der immer auf ihrer Schulter sitzt, aber er grinst eigentlich fies. Papa streichelt ihr über die Haare. "Mein tapferes Mädchen." Das sagt er immer. "Nicht mehr lang." Aber das ist neu. Er sagt es trotzdem oft. Ganz oft. Seit sie beide wissen, was man machen wird. Natürlich wird das Bein nicht mehr weh tun. Wie soll etwas weh tun, was nicht da ist? Wie soll es wehtun wenn man es abschneidet? Ein ganzes Bein! Ihr ganzes Bein! "Ich will meinen Hund." Papa wird ein bisschen hektisch, er steht auf und sucht überall nach dem Stofftier. Leah schaut wieder an die Decke und versucht an nichts zu denken. Vor allem nicht daran, was danach sein wird. "Da ist er." Papa lächelt verkrampft und gibt Leah den fleckigen Stoffhund. Fest drückt das Mädchen ihn an sich und vergräbt die Nase zwischen den großen, plüschigen Ohren. Eigentlich ist sie zu alt dafür. Aber sie ist auch eigentlich zu jung für ihre Krankheit. Eigentlich ist sie vieles. Eigentlich ist das hier auch alles nicht so schlimm. Tief durchatmen. Ein und aus. Sie hat keine Angst. Keine Angst, keine Angst. Schritte sind auf dem Flur zu hören, die immer näher kommen. Leah verkrampft sich und krallt die Nägel in das zottelige Fell ihres Hundes. Doch die Schritte verklingen wieder. Sie hat noch ein bisschen Zeit, lockert den Griff um ihr Stofftier. Es tut ihr fast Leid ihm weh zu tun. Armer Hund. So heißt er schon immer. Einfach Hund. Leah weiß nicht wieso er anders heißen sollte. Sie ist zufrieden damit. Es ist ganz einfach, so wie wenn man eins und eins zusammenrechnet. Sehr viel einfacher als hier zu liegen und zu warten. Leahs Herz springt als wäre es in einen Käfig enigesperrt und würde raus wollen. Sie atmet den vertrauten Duft von zuhause ein, der an ihrem Hund hängt, und die Frage kriecht an sie heran und schiebt sich in ihren Kopf. Ob Leah eingesperrt sein wird? Bevor sie krank geworden ist hat sie gerne Fußball gespielt, aber dann ging es nicht mehr. Es wird auch nie wieder gehen, da können die Ärzte sagen, was sie wollen. Sie weiß doch dass man zwei Beine braucht dafür. Und alle anderen werden sie auslachen. Langsam verschwimmt Leahs Sicht und sie dreht sich von ihrem Vater weg, damit er die feuchten Augen nicht sieht, gegen die das Mädchen mit aller Macht ankämpft. Sie weint nicht. Sie weint nie. Sie ist doch nicht schwach. Sie ist stark. Das sagen sie alle. Was für ein starkes Mädchen. Nur ein starkes Mädchen kann das so gut machen wie sie. Aber was soll man denn auch sonst machen? Leah hat doch keine Wahl. Sie kann nur versuchen damit irgendwie klarzukommen. Und nicht so viel darüber nachzudenken, warum ihr das passiert. Warum man ihr das antut. An Gott glaubt Leah jetzt nicht mehr. Ein Gott der sie liebt, der hätte sie gesund gemacht. Sie fühlt sich verraten von ihm. In der Schule haben ihr die Lehrer gesagt dass Gott einem immer hilft und einen liebt, man soll nur brav sein und fleißig beten und auf seine Eltern hören. Aber trotzdem liegt sie hier. Und Gott hat ihr nicht geholfen. Leah versteht nicht, weshalb er sie nicht lieben soll, und so ist doch ganz klar, dass es ihn gar nicht geben kann. Alle ihre Freunde glauben noch an ihn und halten sich die Ohren zu wenn Leah ihnen sagt, dass es ihn nicht gibt. Deswegen macht sie das nicht mehr, aber tief in ihrem Inneren weiß sie es trotzdem. Sie hofft dass die anderen es nie verstehen müssen. Es fühlt sich manchmal leer und einsam an. Als hätte sie einen Begleiter verloren. Die Tränen sind weg und Leahs Kopf tut weh. Immer schneller klopft ihr Herz, die Zeit rennt, ihr Herz rennt. Sie will rennen. Aber sie kann es nicht. Das Leben ist ungerecht. Und Gott gibt es nicht. Ganz heiß wird dem Mädchen und abermals schließt es die Augen, als könnte das diese grausam weiße Welt ausblenden. Einfach vergessen. Warum kann sie nicht einfach vergessen? "Ich will nicht ...", flüstert Leah ihrem Hund zu. Papa hört das nicht. Er sagt auch nichts. Er hat nur seine Hand auf ihre Schulter gelegt. Aber sie scheint ihr schwer, nicht tröstend. Leah macht Papa so unglücklich seit sie krank ist, und jetzt ist es am Schlimmsten. Am Liebsten will sie doch einfach nur gesund sein. Es tut ihr Leid dass alle Angst um sie haben müssen. Sie will es so gerne wieder gut machen, aber sie kann es nicht. Sie kann es einfach nicht. Da hört sie die Tür, dann Schritte. Eine Schwester stellt sich an das Bettende, wo das Schildchen mit Leahs Namen darauf klebt. Ihr Herz schlägt so schnell, es tut weh. "Es geht jetzt los." Leah richtet sich kerzengerade auf, wirft den Kopf herum auf der Suche nach einem Fluchtweg. Nein, das kann nicht sein! Sie will nicht! Sie kann nicht! Die Panik in ihr greift über, und Leah hört sich selbst aufschreien. Ihr ist schon ganz komisch zumute, doch sie will trotzdem hier weg, sie schlägt die Decke zurück. Es ist ihr egal dass sie dieses Hemdchen anhat. Sie braucht einfach nur ihre Krücken. Oder den Rollstuhl. Leah wird es schon irgendwie schaffen wegzukommen. Sie muss! "Leah!", ruft Papa. Die beiden Schwestern halten sie fest. Sie sind sanft, aber drücken Leah zurück auf die Mtratze, was das schmerzhafteste ist, was sie ihr antun können. Es tut nicht weh, aber ... es tut ihr weh. Irgendwo in ihr drin. Eine Schwester deckt sie zu. Leah sieht ihr in die Augen. "Bitte, bitte nicht", fleht sie. Ihre Stimme ist erstickt und zittert. Leah hat keine Angst. Sie will nur niemandem Umstände machen. Das praktischste ist es doch, wenn sie nicht operiert wird. Sie darf nicht operiert werden. Leah hat keine Angst. Sie hat keine Angst. Die Frau lächelt traurig. "Es geht nicht anders, meine Kleine." Da beginnt Leah wirklich zu weinen. Sie kann gar nichts dagegen tun. Es passiert ganz plötzlich. Genau das, was sie die ganze Zeit nicht gemacht hat, nicht seit sie krank geworden ist. Sie hat es sich vorgenommen niemals zu heulen. Das zeigt wie schwach sie ist. Leah will nicht schwach sein. Aber hier liegt sie und weint. Und weiß, dass sie Angst hat. Sie hat mehr Angst als sie jemals in ihrem Leben gefühlt hat, und die Angst presst alles aus ihr heraus. Tränen aus ihren Augen, die Luft aus ihre Lungen, die Hoffnung aus ihrem Herzen. Sie rollt sich zu einer kleinen Kugel zusammen. Papa tätschelt ihr den Kopf. Er ist sprachlos, sie weiß das. Es tut ihm so Leid, er weiß selbst nicht einmal, was er sagen soll. Manchmal sagt er ihr Worte, die sie beruhigen sollen, aber Leah hat das Gefühl, er beruhigt sich damit nur selber. Und wenn er sagt dass sie keine Angst haben muss macht er alles nur schlimmer. Die Bremsen vom Bett werden gelöst. Es beginnt zu rollen. Leah weint lauter, sie heult förmlich auf. Papa beginnt wieder zu murmeln. Leah hört ihm nicht zu. Sie fühlt sich schuldig, klammert sich an ihren Hund und spürt ihr Herz. Es schlägt so schnell, sie hat das Gefühl, es könne ihr jetzt einfach davonspringen, und dann würde man es auf dem Gang jagen müssen. Diese Vorstellung hätte sie sonst grinsen lassen. So hält sie sie nur davon ab noch einmal aufzuheulen. Stattdessen weint sie ihr Kissen nass. Am Liebsten will sie beten. Aber sie weiß ja eigentlich selber dass kein Gott sie erhören kann, den es nicht gibt. Sie ist ja nicht blöd. Sie hat ja auch von Anfang an gewusst dass etwas ganz und gar nicht stimmt mit ihrem Bein, egal, was man ihr erzählt hat. Und egal, was die Ärzte sagen. Sie weiß ganz genau dass ein Leben mit nur einem Bein nicht geht. Wie soll das gehen? Alle werden sie anstarren. Sie wird nichts mehr machen können. Keinen Sport. Und wie soll sie ordentlich laufen? Sie wird Krücken brauchen. Oder so eine Prothese. Darauf fällt doch keiner rein. Jeder wird es sehen. Immer. Jeder wird es sehen. Jeder wird wissen dass sie krank ist. Dass das kranke Bein weg ist, aber nur ein Bein zu haben ist ja auch eine Krankheit. Ob sie ein Kleid trägt oder eine Hose. Jeder wird es sehen. Dagegen kann Leah gar nichts machen. Das Bett rollt weiter. Ihr Herz schlägt weiter. Gibt es einbeinige Prinzessinen? Wird sie noch immer Papas Prinzessin sein? Bestimmt nicht. Sie will ihn gerne fragen, aber sie hat das Gefühl an jedem Wort in ihrem Hals würde sie ersticken. Sie kann nur weinen. Und Angst haben. Nur Angst. Sie atmet immer schneller. Ihre Hände werden taub. Finger streicheln sie. Ihr ist schwindelig. Das Bett fährt viel zu schnell. Es kommt Leah vor als würde es gleich irgendwo runterrollen. Und dann würden sie alle sterben. Sie will keine Angst haben. Sie ist doch stark. Wenn sie nicht stark ist, wie soll sie überleben? Sie will nicht sterben. Leah weint auch ihren Hund nass. Sie stehen jetzt vor der Tür wo Papa nicht mit reindarf. Es ist so weit. Jetzt muss er gehen. Leah krallt sich an seine Hand. Ihre letzte Chance. Sie kann dort nicht rein. Sie kann es nicht. Sie hat Angst und sie weint, sie weint ganz schrecklich. Sie ist nicht stark. Sie wird sterben. "Papa, bitte, nein!", schreit sie. "Lass sie mich nicht mitnehmen!" Die Schwestern lösen ihren Klammergriff von seiner Hand. Papa sieht aus als würde er ihr am Liebsten die Operation abnehmen. Sein Gesicht verzerrt sich wie damals als er sich mit dem Messer ganz, ganz tief in den Finger geschnitten hat, weil er die Zwiebel nicht getroffen hat. "Ich warte auf dich, Prinzessin", flüstert er. Er bringt kaum einen Ton heraus. Er nimmt ihren Hund und es scheint als würde er sich jetzt an ihm festhalten. Leah streckt die Arme nach ihnen aus. Das Bett fährt weiter. Durch die Tür. Papa steht nur da, ohne sich zu rühren. Der Abstand zwischen ihnen wird größer. Die Tür geht zu. Papa ist weg. Ihr Hund ist weg. Sie ist allein, ganz allein. Leah starrt auf das Glas, das von schwarzen Streifen überzogen ist, die ein Karomuster bilden. Man kann nicht durchsehen, es ist ganz weiß. Milchglas heißt es, das weiß sie. Papa hat ihr gesagt dass man es Milchglas nennt, wenn man durch ein Glas nicht durchsehen kann. Leah hat damals gelacht, es erschien ihr eine ulkige Vorstellung. Jetzt weint sie nur weiter. Die Tür schneidet sie von der Außenwelt ab. Das Glas lässt alles verschwinden, es sperrt sie aus. Sie kann den Blick nicht abwenden. Die Schwestern reden sanft mit ihr, doch Leah kann nur auf diese Tür starren und weinen. Nicht einmal die Worte darauf kann sie entziffern. Alles verschwimmt, egal, wie lange sie sich die Augen wischt. Ihr schwindelt. Sie weiß nicht mehr, was sie tun soll. Sie hat solche Angst. Sie wird wahnsinnig vor lauter Angst. Das Bett fängt wieder an zu rollen. Weiter den Gang entlang. Weg von der Türe. Leah will nicht weg von dieser Türe. Und sie will ihr kaputtes Bein behalten. Die alte Kuckucksuhr in ihrem Wohnzimmer kann man doch auch nicht mehr richten, aber deswegen schneidet man sie nicht irgendwo ab und wirft sie fort, oder? Wieso also muss man ihr Bein wegwerfen? Sie will kein Freak sein. Sie will nur Leah sein. Sie will doch nur ein ganz normales Leben haben. Und Fußball spielen. Und Papas Prinzessin sein. Plötzlich werden die Türen aufgestoßen. Mit großen Augen sieht sie auf die Gestalt, die da durch den Gang rennt. Schneller als alle anderen, die hinterher laufen und schreien. Es ist Noel. Sie erkennt es an der Art wie sein Haarschopf beim Laufen hinter ihm herweht. "Leah!", ruft er laut. Sie starrt ihn einfach nur an. Was macht Noel hier? "Leah!" Seine Stimme schallt durch den Gang. Die schimpfenden Erwachsenen haben ihn fast erreicht, doch da ist er schon an ihrem Bett. Vielleicht reagieren sie nicht schnell genug, aber vielleicht lassen die Schwestern Noel auch einfach gewähren, als er zu ihrem Bett tritt. Noel schiebt seine Hand in ihre und schaut sie an. "Du brauchst keine zwei Beine. Du bist schön. Ganz egal was ist." Ganz still sieht sie ihn an. Die Leute erreichen ihn. Seine Hand entgleitet ihr, man zerrt ihn hinter sich her. Er hat hier nichts verloren. Hier darf niemand sonst rein. "Leah!", schreit Noel wieder, und er lächelt, während man ihn wegbringt. "Das linke Bein ist eh dein Starkes!" Dann schließen sich die Türen hinter ihm. Erneut. Leahs Herz klopft jetzt anders, und ihre Hand fühlt sich ganz warm an. Noels Worte fühlen sich ganz warm an. Das Bett rollt weiter. Um die Ecke. Leah rührt sich nicht, sie weint auch nicht, sie starrt nur vor sich hin. Wenn sie nicht weint, heißt das, sie ist stark? Wenn sie stark ist, dann kann sie das hier überleben. Sie muss sich jetzt auf eine Liege legen. Über ihr flammen die hellen Lichter auf. Ärzte sind da und reden leise, die Schwestern lächeln und reden ihr gut zu. Leah ist ganz, ganz still. Sie hat Angst, und sie will eigentlich gerne wieder weinen. Es ist so anstrengend die Tränen in sich zu behalten. Sie fühlt sich ganz und gar nicht stark. Aber vielleicht kann sie es doch sein, für Papa und für Noel. Damit die zwei lächeln, wenn sie sie das nächste Mal sieht. Noels Lächeln sieht sie vor sich, als man ihr die Maske auf das Gesicht legt. Er denkt, dass sie stark ist. Und in der letzten Sekunde bevor es schwarz wird, schwört Leah, auch stark zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)