Frau Luna und Herr Mundus von Gecco ================================================================================ Die Begegnung ------------- Frau Luna und Herr Mundus Eines Morgens öffnete ein Mädchen ihre Augen. Sie lag in dem hölzernen Bett, in dem sie seit Anbeginn ihrer Zeit aufgewacht war und an dem ein kleines, metallenes Schild funkelte. Feine, geschwungene Linien zierten dessen glänzende Oberfläche und bildeten den Namen „Frau Luna“. Frau Luna war an diesem Tag voller Tatendrang. Sie schlug ihre Bettdecke schwungvoll beiseite und beschloss sofort aufzustehen. Ihr Zimmer war ein schlicht eingerichteter Raum, in dessen Mitte ein dunkelgrau-schwarz gefleckter Kater spielte. Sein Name war Mister Maus. Frau Luna hatte sich diesen Namen ausgedacht und fand ihn auf unerklärliche Art und Weise passend. Es schien ein recht normaler Tag zu werden, so normal wie jeder andere. Mister Maus schmuste sich an Frau Lunas Hand und sie ging zum Kühlschrank, um ihm etwas zum Essen hinzulegen. Danach schlurfte sie wie gewohnt zu ihrer goldenen Kiste neben dem Kamin und öffnete sie. In dieser „Schatztruhe“ - wie Frau Luna sie liebevoll nannte - befanden sich immer die wunderlichsten Gegenstände. Mister Maus holte sich sein Lieblingswollknäuel heraus und Frau Luna starrte leicht bedrückt in die Kiste. Darin lagen dieselben Gegenstände, die sich schon immer dort befunden hatten. Normalerweise erfreute sich Frau Luna an diesen, doch heute war etwas anders. In ihr hatte sich ein sonderlich ungewöhnliches Gefühl breit gemacht und irgendetwas zog sie wie magisch an. Aber Frau Luna traute sich nicht, der Sache auf den Grund zu gehen. In ihrem Kopf wisperte ihr eine leise Stimme sanft zu: „Komm, sieh' es dir an! Es war schon immer da und es wird immer dort sein! Du willst doch auch wissen, was es ist!“ Und wie Mister Maus sein Wollknäuel auf dieselbe Art und Weise durch das Zimmer rollte, auf die er es an jedem Tag machte, da stand Frau Luna auf und beschloss ihrer Neugier endlich nachzugeben. Es gab einen Vorhang in ihrem Zimmer, den sie stets umgangen hatte. Denn wo ein Vorhang ist, da will jemand die Sicht auf etwas verdecken. Aber was? Frau Luna war sich seit jeher sicher, dass ein unvorstellbar hässliches Wesen hinter diesem Vorhang hauste. Der reine Anblick dieses Monsters hatte tausende Menschen um den Verstand gebracht und sie, Frau Luna, sollte das böse Wesen bewachen. Es war ihr recht unerklärlich, warum sie daran glaubte, denn den Vorhang geöffnet oder gar ihr Zimmer verlassen, das hatte sie nie. Frau Luna näherte sich langsam dem Vorhang. Mister Maus, von diesem ungewöhnlichen Ereignis leicht verwirrt, tat es ihr gleich. Langsam und mit zittrigen Händen schob sie den Stoff zur Seite. Sie erblickte für den Bruchteil einer Sekunde eine gräulich-weiße Landschaft und zerrte den Vorhang sofort wieder zu. Ihr war, als hätte sie jemand angestarrt, auch wenn sie nichts als die weiße Landschaft gesehen hatte. In Frau Lunas Kopf stiegen viele, schillernde Gedankenblasen auf und zerplatzten, bevor sie sich fassen konnte. Doch ein Gedanke blieb bis zuletzt: Das unvorstellbar hässliche Wesen hatte sie angestarrt. Allerdings war es von einer guten Fee unsichtbar gezaubert worden, damit es keinen Schaden mehr anrichten konnte. Seitdem zog es mit einem riesigen Pinsel umher, um die Landschaft weiß zu streichen. Welchen Sinn eine solche Beschäftigung hatte, war Frau Luna gänzlich unklar, doch sie musste es herausfinden. Dieses seltsame Rätsel beschäftigte Frau Luna einige Tage, bis sie eines Abends beschloss, ihr Haus doch zu verlassen. Sie lebte nun schon seit so vielen Jahren in ihrer kleinen Holzhütte und hatte es nie gewagt, einen Fuß vor die Tür zu setzten. Das war auch recht verständlich, bedenkt man, dass in ihrer Vorstellung draußen ein großes, unsichtbares Monster die Landschaft mit einem riesigen Pinsel weiß strich. Und wer begegnet schon gerne einem solchem Biest? Frau Luna öffnete langsam die Haustür und schritt hinaus in die weiße Ebene. Mister Maus blieb mit verwirrtem Blick in der Türschwelle stehen und beobachtete das seltsame Verhalten des Mädchens. Diese wandte ihren Blick gegen Himmel und staunte nicht schlecht, als sie dort tausende, glitzernd leuchtende Augen sah, die gutmütig auf sie herabblickten. Frau Luna rief den Augen zu: „Wer seid ihr?“ Doch sie erhielt keine Antwort. Sie versuchte es erneut, aber die Augen reagierten nicht. Frau Luna begann wild zu gestikulieren und rief immer lauter, doch es kam keine Antwort. Langsam wurde es Abend und sie ging wieder nach Hause, um sich schlafen zu legen. Es fiel ihr zum ersten Mal in ihrem Leben schwer einzuschlafen. Wilde Gefühle tobten in ihr und eine zitternde Unruhe machte sich breit. Existierte der fremde Streicher? Er war ihr nicht begegnet. Hatten die Augen sie bemerkt? Geantwortet hatten sie nicht. Aber Frau Luna war sich jetzt sicher: Sie war nicht allein. Frau Luna träumte diese Nacht von einem Jungen, der eine wundersame, grüne Landschaft entlang schlenderte. Seine Klamotten waren leicht zerrissen und voller Erde. Sie sah von oben auf ihn herab und folgte jedem seiner Schritte. Er gefiel Frau Luna. Sie hatte nie zuvor einen anderen Menschen gesehen und bewunderte die Ästhetik, die in seinen Bewegungen lag. Im Gesicht des Jungen spiegelte sich ein ungewohnter Charme und warme Herzlichkeit. Doch plötzlich drehte er sich um und starrte direkt in Frau Lunas Augen. Sie wollte verlegen wegblicken, doch sie konnte nicht. Stattdessen sah sie, wie der Junge ihr zuwinkte und etwas rief. Aber Frau Luna vernahm keinen Laut. Sie war taub, wollte es ihm verständlich machen, doch sie hatte keine Lippen zu sprechen. Sie war so stumm wie taub und musste dem armen Jungen zusehen, der wild gestikulierend vor ihr herum sprang und schließlich traurig verschwand. Frau Luna erwachte. Mister Maus lag eingerollt neben ihr im Bett und öffnete neugierig sein rechtes Auge. Das Mädchen schien ihm an diesem Morgen seltsam zerstreut. Als sie sich aufraffte, sprang auch Mister Maus auf und schmiegte sich an ihre Hand. Das hieß so viel wie: „Hattest du einen schlechten Traum? Ich habe Hunger.“ Frau Luna sah ihn traurig an, während sie ihm einmal mit der Hand über das Fell strich und einen kleinen Fisch in den Napf legte. Den Fisch nahm sie aus ihrem Kühlschrank, der sich - wie ihre Schatztruhe - nie zu leeren schien. Doch Frau Luna kannte es nicht anders und so hinterfragte sie auch nie. Nach einigen Minuten des Trübsal-blasens, begriff sie, dass diese Beschäftigung keinesfalls hilfreich war und schnappte sich die Klamotten vom Vortag. Sie schritt erneut aus ihrem Haus und sah in den Himmel. Die Augen waren noch immer da und blickten neugierig auf sie herab. Aber es waren nun einmal Augen und Augen können nicht hören oder sprechen. Frau Luna dachte nach und hatte plötzlich eine Idee. Sie lief zurück in ihr Haus, öffnete die goldene Kiste und fand, was sie suchte. Mister Maus sah noch aus den Augenwinkeln, wie Frau Luna mit einem schwarzen Stift stolzierend aus dem Haus eilte. Das Mädchen schrieb in großen Buchstaben die Worte: „ICH BIN FRAU LUNA. WER BIST DU?“ auf den Boden. Sie starrte in den Himmel, aber die Augen blieben unverändert. Was sollten sie auch tun, es waren nun einmal Augen und Augen können nur sehen. Fünf Minuten später war Frau Luna so langweilig, dass sie: „ICH HABE EINEN KATER, ER HEIßT MISTER MAUS.“, hinzufügte. Sie malte noch ein Bild von ihm daneben und begutachtete zufrieden ihr Werk. Langsam wurde es Nacht und Frau Luna ging nach Hause. An diesem Abend legte sie sich wieder mit gemischten Gefühlen schlafen. Sie träumte erneut von dem Jungen. Er rannte eine grüne Lichtung entlang, eine Tasche fest an sich gepresst. Am Ende der Lichtung blieb er stehen, sah sich kurz um – wobei er Frau Luna ein strahlendes Lächeln schenkte - und kletterte auf einen Baum. Oben angekommen öffnete er seine braune Ledertasche und holte ein Blatt Papier heraus. Er zückte einen Stift und schrieb: „Hallo Frau Luna, ich bin Herr Mundus. Ich habe einen Hund, er heißt Zimt. Wir beide erkunden gerne die Gegend. Wir erleben viele Abenteuer. Erst vor ein paar Tagen fanden wir eine große Höhle. Ich habe dort von dir geträumt. Du strahlst so silbern und rein. Das habe ich noch nie gesehen. Ich habe sowieso noch nie so strahlend helles Land gesehen. Wo kommst du her?“ Er heftete das Papier an die Baumspitze und begab sich auf den Rückweg. Frau Luna erwachte. Und noch bevor Mister Maus die Augen öffnen konnte, sprang sie vergnügt auf und holte ihren Stift aus der Kiste. Sie fütterte ihren Kater und stürmte nach draußen. In großen, geschwungenen Buchstaben erzählte sie die Geschichte, wie sie sich auf die Suche nach dem weißen Streicher machen wollte und auf die Augen stieß, die sie beobachteten. Sie erzählte von ihrem Leben in der kleinen Holzhütte und den wundervollen Dingen, die in ihrer Schatztruhe lagerten. Sie war so aufgeregt, dass sie die Zeit beim Schreiben völlig vergaß. Die Nacht stand kurz bevor und Frau Luna brach im Satz ab, gespannt, was ihr neuer Freund ihr diese Nacht antworten würde. Die beiden schrieben sich einige Nächte lang, sie hatten sich nun einmal eine Menge zu erzählen. Eine erschreckende Ähnlichkeit verband die Kinder. Weder Herr Mundus, noch Frau Luna konnten genau sagen, wo er oder sie herkamen oder wann sie zum ersten Mal einen Fuß auf ihr Land gesetzt hatten. Als das Wort „Familie“ fiel, verstummte die Musik ihrer Stifte kurz und eine bedrückende Stille senkte sich über die beiden. Keiner hatte je darüber nachgedacht, doch sie schienen schon immer allein gewesen zu sein. Ihre reine Existenz war den beiden unerklärlich und ohne Sinn. Doch Frau Lunas Worte hetzen bald wieder über die Landschaft und verbrauchten mehr und mehr Platz auf der weißen Ebene. Stück für Stück wandelte sich der Boden in ein schwarzes Gewirr aus Buchstaben, bis eines Tages das komplette Land beschrieben war. Ihre Heimat hatte jeglichen Glanz verloren und sog das Licht der Augen um sie herum auf wie ein schwarzes Loch. Frau Luna setzte sich auf ihre Türschwelle und begann zu weinen. Sie hatte den ganzen Tag lang in ihrem Haus nach Papier gesucht, aber keines gefunden. Wie sollte sie so mit Herrn Mundus schreiben? Nach all den Jahren hatte sie endlich einen Freund gefunden und kaum begonnen, sollte alles wieder vorbei sein? Frau Luna vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und schluchzte bitterlich. Sie spürte, wie Mister Maus sie leicht von der Seite anstupste und wollte ihn wegschubsen. Doch ihre Hand legte sich auf ein Fell, das definitiv nicht zu Mister Maus gehörte. Es war länger und struppiger. Frau Luna blickte zur Seite, aber da war niemand. Ein unsichtbares Fell? Ihr entfuhr ein halb erstickter Schrei, als sie reflexartig ihre Hand zurückzog: Es musste der Streicher sein! Und bevor sie den nächsten Gedanken fassen konnte, ertönte eine sanfte Stimme: „Was weinst du, mein Kind?“ Frau Luna zuckte zusammen, ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Hab' keine Angst, mein Kind. Ich will dir nichts Böses, aber warum hast du meinen schönen Garten so verwüstet?“ Frau Luna stotterte leicht verwirrt, dass sie mit einem Freund geschrieben hätte und es keinesfalls ihre Absicht gewesen sei, seinen Garten zu verwüsten. Der Streicher fragte darauf vorsichtig: „Ein Freund, sagst du? Wie kannst du einen Freund haben, mein Kind? Du bist das einzige Wesen, das ich in all den Jahren hier getroffen habe.“ Da erzählte Frau Luna ihm von ihren Träumen. Sie erzählte von Herrn Mundus und Zimt, von ihren Abenteuern und dem Schicksal, das die beiden zu verbinden schien. Und noch bevor sie ihre Worte beendet hatte, vernahm Frau Luna ein leises Wimmern neben ihr. Sie fragte, ob alles in Ordnung sei, doch der Streicher schnitt ihr das Wort ab: „Nichts ist in Ordnung. Du hast einen Freund gefunden und du sollst ihn nicht verlieren! Ich habe zu vielen Menschen Leid angetan und wer weiß, wie viele tausend mehr es gewesen wären, wenn du mich nicht hierher gebracht hättest. Du bist ein gutes Kind.“ Frau Luna war leicht verwirrt, doch der Streicher klärte sie auf: „Es gibt Dinge, über die können wir nicht entscheiden. Niemand hatte mich gefragt, ob ich das grausame Monster sein möchte, das ich bin. Doch es ist meine Pflicht und meine Bestimmung. Ich musste mein ganzes Leben lang der Kreatur im Spiegel entgegenblicken und das Grauen der Menschen um mich herum ertragen. Bis ich eines Tages dein Land gefunden habe und mich hierher flüchtete. Keine Angst, keine Schreie. Ich wollte nun auch mich selbst überwinden und die Grässlichkeit im schwarzen Spiegel deiner Landschaft nicht mehr ertragen. Also begann ich, die Ebene weiß zu streichen. Doch jetzt ist das Land wieder schwarz und ich muss meine Hässlichkeit erneut ertragen. Aber du bist nie schreiend vor mir geflüchtet. Ich war hier schon immer fern von verzweifelten Menschen und ich werde auch keine weiteren zulassen. Weißt du was? Was hältst du davon, wenn ich dir dein Land wieder weiß streiche?“ Frau Luna war leicht verwundert und nickte benommen. Sie konnte das seltsame, fremde Wesen nicht sehen und das war anscheinend auch gut so. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie nahm ihren weißen Schal ab und beschrieb ihn: „Alles schwarz. Noch 15 Nächte.“ Sie sah in die Richtung, in der sie den Streicher vermutete und streckte ihm den Schal entgegen. „Kannst du den für mich tragen? So, dass die Schrift lesbar ist?“ Der Streicher nahm ihr den Schal ab und band ihn sich um. Frau Luna floss eine Freudenträne über die Wange und sie umarmte das Wesen, das ihr eine Ewigkeit lang Angst eingejagt hatte. „Vielen Dank, Streicher!“ „Das ist also mein Name? Streicher?“ Und auch wenn Frau Luna es nicht sehen konnte, lächelte der Streicher zum ersten Mal in seinem Leben. Jeden Tag ging Frau Luna nach draußen und suchte nach dem Monster. Drei Nächte später traute sich sogar Mister Maus aus der kleinen Holzhütte und die drei freundeten sich an. Frau Luna strich täglich die Zahl auf dem Schal durch und ersetzte sie durch eine kleinere, bis ihr plötzlich eine schwarze, geschwungene Null entgegen strahlte. Dem Streicher entging das nicht und er sagte zu Frau Luna: „Es war sehr schön mit dir und Mister Maus, aber ich bin alt und muss rasten. Geh' du nur und schreibe mit deinem Freund, ich werde solange ruhen.“ Das Monster legte den Schal auf Frau Lunas Fensterbank und trottete davon. Frau Luna berichtete Herrn Mundus genau, was vorgefallen war. Dieser erzählte ihr, dass er sich, als sie fort war, unter die anderen Wesen in seinem Lande gemischt hatte. Es gab unzählig viele von denen, allesamt sahen sie Herrn Mundus ähnlich, doch keiner war wie er. Er betonte, wie viel angenehmer ihm die Gesellschaft von Frau Luna doch sei und wie sehr sie ihm gefehlt habe. Er hatte sie sogar so sehr vermisst, dass er den Wesen von ihr erzählt und über den sonderbaren Mann geredet hatte, der Frau Luna so bereitwillig half. Und als Frau Luna nach 15 Tagen erneut ihr Land schwarz geschrieben hatte, da tauchte der Streicher erneut auf und übermalte ihr Werk. Manchmal gefiel dem Streicher ein Wort oder eine Zeichnung besonders gut und er beschloss, sie stehen zu lassen. Und wer genau hinsieht, erkennt heute noch Frau Lunas lieblich geschwungenen Linien, die den Mond seit jeher zieren. So lebten Frau Luna, Herr Mundus und der Streicher immerfort und erzählten der Ewigkeit die Geschichte des Glücks, das zu denen kam, die unterschiedlicher nicht hätten sein können... und doch bangte die Ewigkeit von Zeit zu Zeit mehr um ihre Kinder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)