Blind von SeishiroSumeragi (Holly x Rico) ================================================================================ Kapitel 8: Let Down ------------------- Das Blatt zitterte in den Händen des Violinisten, als er zu Ende gelesen hatte. Alles um ihn herum drehte sich. Langsam ließ er sich auf den Sessel sinken, um dem Schwindelgefühl in seinem Kopf Herr zu werden. Dieser Songtext… er war… Rico konnte kaum klar denken, unbändige Freude durchströmte ihn und eine Woge puren Glücks durchlief seinen gesamten Körper. Konnte es vielleicht sein, dass Holly… vielleicht auch nur im entferntesten… doch Gefühle für ihn hegte? Dass er die seinen eventuell sogar erwiderte? Der Dunkelhaarige konnte es einfach nicht fassen – wenn das wirklich stimmte… Wie lange hätte er dann umsonst gelitten? Wie lange umsonst die halbe Welt belogen? Früher hatte er sich selbst immer und immer wieder jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer, jeden Gedanken an eine gemeinsame Zukunft untersagt. Denn die Enttäuschung wäre zu groß gewesen, das Leid zu unerträglich, um länger in Hollys Nähe bleiben zu können. Doch er konnte nicht verleugnen, dass es auch immer wieder Momente gegeben hatte, in denen es ihm besonders schwerfiel, alles nur als freundschaftliches Verhalten abzutun. Wenn Holly ihn manchmal so warmherzig und nahezu liebevoll anlächelte, wenn er auf der Bühne mit ihm tanzte oder ihn auszog – langsam und genüsslich, wenn er ihn wie zufällig berührte oder sich besorgt um ihn kümmerte. Rico konnte auch jedes Mal den Blick des Sängers auf sich spüren, wenn er mit Benni rumalberte. Bisher hatte er es als Einbildung und Wunschdenken abgetan, um sich selbst davon abzuhalten, irgendwelche Dummheiten zu begehen. Doch inzwischen war er sich dessen nicht mehr so sicher. Auch das Essen am gestrigen Abend erschien nun in einem ganz neuen Licht. Doch ehe er sich darüber Gedanken machen konnte, wie er nun auf Holly reagieren sollte, hörte er, wie die Badezimmertür aufging. Eilends legte er den Zettel mit den Lyrics auf die Kommode und wandte sich wieder seiner halb gepackten Tasche zu – auch wenn er sich kaum auf den Inhalt konzentrieren konnte. Nur Sekunden später stand Holly in der Tür. Er war vollkommen nackt – abgesehen von dem Handtuch um seine Hüfte. Der Violinist konnte es sich nicht verkneifen, seinen Blick kurz über den Körper des Sängers wandern zu lassen, ehe er sich leicht errötend abwandte. „Wenn du willst, kannst du auch noch duschen, bevor wir uns mit den anderen treffen. Noch ist es im Bad warm.“, meinte Holly ausgelassen, während er ein frisches T-Shirt aus seinem Schrank zog. „Äh, ja. Gute Idee.“ Rico hoffte, dass der Sänger seine Nervosität nicht bemerkte. „Du weißt ja, wo die Handtücher sind.“ Während Rico das Schlafzimmer verließ, musste er den Drang unterdrücken, loszurennen. Er war einfach viel zu aufgeregt und nervös. Vielleicht hätte er den Songtext doch lieber nicht lesen sollen… Doch dieser Gedanke verflüchtigte sich so schnell, wie er gekommen war. Immer wieder klang ihm der Text in den Ohren und er spürte, dass er jetzt dringend etwas Abkühlung nötig hatte. Wie sollte er sich nur in Zukunft auf Konzerten konzentrieren können? Das fiel ihm bei manch anderem Song der Instanz schon schwer – aber wenn sie wirklich diesen Song live spielen würden… Nachdem Rico die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich dagegen und atmete tief durch. Diese kleine Notiz ganz unten auf dem Zettel, die scheinbar nur hastig hingekritzelt wurde, ging ihm nicht aus dem Kopf. „2. Gesangspart?“ hatte da gestanden. Also hatte Holly vor, nicht nur Backing Vocals einzubringen, sondern einen aktiven zweiten Part… Die Vorstellung, was ihm beim Schreiben des Songs durch den Kopf gegangen sein musste, war einfach atemberaubend. Zu gut passte der Text auf ihre derzeitige Situation und auf Ricos Gefühle, als dass er sich länger davor verschließen konnte. Langsam drückte er sich von der Tür ab und begann gedankenverloren, sich auszuziehen. Er musste mit Holly darüber sprechen. Und zwar bald. Sonst würde er noch durchdrehen, denn dieser Text ließ ihn jetzt schon nicht mehr los. Doch zuerst würde er in Ruhe duschen, um wieder einen klaren und vor allem kühlen Kopf zu bekommen. Unglaublich, dass er es wirklich in Betracht zog – aber Rico machte sich ernsthaft darüber Gedanken, Holly alles zu gestehen… Das hätte er nie für möglich gehalten. Hätte ihm gestern jemand gesagt, was ihm jetzt gerade durch den Kopf ging, hätte er denjenigen ausgelacht und für verrückt erklärt. Doch nun war es tatsächlich so weit. Er würde Holly seine Liebe gestehen. Diesen Entschluss hatte er gefasst, noch während er wieder aus der Dusche kam. Er würde erst einmal das Treffen mit der Band abwarten und sehen, ob Holly den anderen schon von „Blind“ erzählen würde – was sehr wahrscheinlich war. Dann müsste er immerhin nicht zugeben, dass er ihn einfach gelesen hatte, ohne um Erlaubnis zu fragen. Wenn er noch nichts sagen würde, dann… würde Rico ihm eben doch gestehen, dass er den Song bereits gelesen hatte und mit ihm über seine Gefühle reden wolle. Der Rest ergibt sich dann schon irgendwie, dachte sich der Dunkelhaarige zuversichtlich. Nachdem auch er mit duschen fertig war, packte er weiter seine Tasche, um sich irgendwie zu beschäftigen und nicht in die Verlegenheit zu kommen, dass Holly bemerkte, wie euphorisch er war. Doch natürlich gelang ihm das nur teilweise. Als Holly (nun vollständig bekleidet) zu ihm ins Schlafzimmer kam, hob sich sogleich die Augenbraue des Sängers. „Was grinst du denn so? Ist irgendwas passiert, was ich nicht mitbekommen habe?“ „Äh, nein. Ich hab irgendwie… einfach gute Laune. Ich weiß auch nicht wieso.“ Rico lachte verlegen und tat die Bemerkung mit einer schnellen Handbewegung ab. „Okay…“ Der Sänger schien nicht wirklich überzeugt zu sein und sah ein wenig misstrauisch zu seinem Bandkollegen herüber. „Ganz wie du meinst. Was ich aber eigentlich fragen wollte… Wann wollten wir uns nachher noch mal mit den Jungs treffen? Um drei?“ „Um 14 Uhr bei David. Soll ich dir auch noch die Adresse geben?“ Der Dunkelhaarige grinste Holly an, der sogleich auf das Spiel einging. „Nein, immerhin musst du fahren. Da brauch ich seine Adresse nicht zu kennen.“ Rico streckte dem Sänger die Zunge raus und beide fingen gleichzeitig an zu lachen. Die restliche Zeit verbrachte sie damit, Hollys Wohnung mal wieder ein bisschen auf Vordermann zu bringen. Der Sänger protestierte zwar, doch Rico blieb ebenso starrköpfig und letztlich einigten sie sich darauf, wenigstens ein bisschen aufzuräumen sowie die Wäsche und den Abwasch zu erledigen. Trotz allem waren sie die ganze Zeit ziemlich ausgelassen und alberten viel herum, weshalb sie doppelt so lange für alles benötigten. Und obwohl sie dadurch letztlich sogar spät dran waren, kamen sie dennoch halbwegs pünktlich bei David an. Benni steckte ohnehin im Stau und würde wohl erst in einer halben Stunde ankommen… Die anderen nutzten die Zeit deshalb, um schon mal in Ruhe ein Bierchen zu trinken und ein bisschen Smalltalk zu betreiben. Als ihr Cellist dann auch endlich eintraf und eine Flasche Bier in Händen hielt, wandten sie sich den wichtigeren Themen zu und somit auch dem eigentlich Grund ihres Treffens. Rico und Holly waren in der vergangenen Woche nicht untätig geblieben und hatten so einige Ideen zu Papier gebracht, von denen jedoch noch keine vollständig überarbeitet war. Es waren quasi alles Rohdiamanten, die noch geschliffen werden wollten. Und während man hier etwas veränderte, dort etwas rausstrich und manch Einfall gänzlich über Bord warf, verging die Zeit wie im Flug. Erst als Holly D. sich irgendwann nach hinten fallen ließ und mit Erstaunen feststellte, dass es inzwischen 18 Uhr war, merkten auch die anderen Instanz-Mitglieder, wie lange sie hier schon hockten und auf einmal wunderte sich keiner mehr, dass die Konzentration jedes einzelnen allmählich nachließ. „Hier um die Ecke hat letztens eine neue Bar eröffnet. Was haltet ihr von einem gemütlichen Feierabendbier, um den Abend ausklingen zu lassen?“ Grinsend fügte der Drummer noch hinzu: „Ich hab auch ein Gästezimmer, falls jemand zu tief ins Glas guckt.“ Gegen diesen Vorschlag hatte keiner etwas einzuwenden und so machte sich die gesamte Band auf den Weg. Rico ahnte nicht, dass dieser vermeidlich ausgelassene Abend noch eine unangenehme Wendung für ihn nehmen würde… Doch zunächst war die Stimmung unbekümmert und sorglos. Es wurde viel erzählt – alte Geschichten wurden wieder heraus gekramt und über so manch Missgeschick auf ihren bisherigen Touren gelacht. Das Unheil nahm erst seinen Lauf, als Holly auf Toilette musste. Es dauerte eine ganze Weile, bis Oli sich irgendwann laut fragte, ob er wohl ins Klo gefallen sei. Bei Rico meldete sich sofort wieder die Sorge zurück; er wurde unruhig und starrte immer wieder Richtung Herrentoilette. Allerdings waren die Türen von ihrem Tisch nicht direkt einzusehen, was den Violinisten nur noch nervöser machte. Er wollte gerade dazu ansetzen, etwas zu sagen, als Holly in sein Blickfeld kam. Jedoch nicht allein. Das Herz des Dunkelhaarigen zog sich schmerzhaft zusammen, als Holly in Begleitung einer Frau auf ihren Tisch zukam. Sie gestikulierte ein wenig beim Erzählen und beide fingen an, zu lachen. Wer auch immer sie war – sie war wirklich hübsch; das konnte der Geiger nicht abstreiten. Doch diese Tatsache machte es nur umso unerträglicher, Holly mit ihr zu sehen. Als der Sänger schließlich wieder an dem Tisch der Instanz ankam, blieb er stehen und sah gut gelaunt in die Runde. „Ich möchte euch jemanden vorstellen. Das ist Sotiria. Sie ist die Sängerin von 'Eisblume'.“ Dann wandte er sich an die Schwarzhaarige und stellte seine Bandkollegen der Reihe nach vor, die höflich grüßten. „Und… ihr kennt euch schon länger?“, fragte Benni dann, der offensichtlich – ähnlich wie der Rest der Band – etwas verwirrt von dem plötzlichen Erscheinen der Sängerin war. „Haha, nein. Wir haben uns gerade beinahe über den Haufen gerannt und sind eher zufällig ins Gespräch gekommen.“ Holly lachte gut gelaunt. „Ach so. Na, dann setz dich doch, Sotiria.“ David machte eine einladende Geste auf den noch freien Platz am Tisch, während Holly sich bereits wieder auf den seinen setzte. „Wenn ich euch nicht bei eurer Männerrunde störe… dann nehm ich das Angebot natürlich dankend an.“ Sotiria lächelte und Rico fragte sich, ob ihr wohl bewusst war, dass sie allein damit wahrscheinlich dem ein oder anderen Mann gehörig den Kopf verdrehen konnte. Der Violinist schluckte und biss die Zähne zusammen, als er sah, wie sich Sotiria direkt neben den Sänger setzte. Ihm selbst war es nicht vergönnt, neben Holly zu sitzen, da er bereits von Benni und Micha flankiert wurde. Er hatte sich einfach zu früh auf seinem Platz niedergelassen, nachdem sie die Bar betreten und sich für diesen Tisch entschieden hatten. Diesen Fehler bereute er nun umso mehr. Am schlimmsten war es jedoch für ihn, sich nichts anmerken zu lassen. Denn immerhin durften die anderen nicht mitbekommen, dass seine gute Laune so plötzlich mit dem Erscheinen der Sängerin in Schmerz umgeschlagen war. Der Violinist spürte auch einen Funken Eifersucht in sich aufkeimen, den er, so gut es ging, zu unterdrücken versuchte. Doch dies fiel ihm im Verlaufe des Abends immer schwerer. Besonders, da Holly seine Sitznachbarin auf dieselbe warmherzige Weise anlächelte, wie er ihn am gestrigen Abend angesehen hatte. Und auch dieses wunderschöne, ausgelassene Lachen… Rico hatte das Gefühl, er schenkte es ihr mindestens einmal zu viel. Sein Herz schrie sofort nach Vergeltung, dass sie den Sänger nicht verdient hätte und er hatte tatsächlich Mühe, ihre Persönlichkeit objektiv zu bewerten. Sie schien ganz nett zu sein und auch die anderen Instanz-Mitglieder kamen gut mit ihr aus – zumindest hatte es den Anschein. Doch Ricos Herz wollte in diese Situation am liebsten nur ein oberflächlich höfliches Geplänkel hineininterpretieren. Als sähe die Wahrheit ganz anders aus. Leider musste sich der Violinist jedoch eingestehen, dass er wohl der einzige war, der so dachte. Denn die anderen schienen tatsächlich immer noch genauso gut gelaunt zu sein wie zuvor. Als Sotiria dann irgendwann meinte, dass sie sie ruhig „Ria“ nennen könnten, weil es einfacher und kürzer war und die meisten ihrer Freunde das auch taten, konnte sich Rico kaum noch beherrschen. Jetzt fing sie schon mit Spitznamen an! Er wusste insgeheim, dass er ihr wohl ziemlich Unrecht damit tat, aber er konnte es kaum ertragen, wie Holly ihren Namen aussprach und sie ansah. Wie sie – fast schon etwas schüchtern und doch auf gewisse Weise aufreizend und betörend – zurück lächelte… Doch hatte er geglaubt, dies sei schon das Ende der Fahnenstange, so musste er miterleben, wie sehr er sich irrte. Denn die nächste Frage Hollys riss ihm quasi den Boden unter den Füßen weg. „Hast du nicht Lust mal einen Song mit uns zusammen zu machen? Ich hab in letzter Zeit an einem gearbeitet, bei dem ich gerne einen zweiten Gesangspart hätte. Leider haben wir ja keine Frau in der Band, deswegen wollte ich den Song schon beiseite legen. Aber du wärst, glaub ich, genau die Richtige dafür; deine Stimme würde super zu dem Stück passen.“ „Klar, gerne.“ Sotiria war sofort begeistert, was man auch an ihrem strahlenden Lächeln sah. „Ich fühle mich wirklich geehrt, dass du mich so einschätzt, Holly. Es würde mich wahnsinnig freuen, mal mit euch zusammenzuarbeiten.“ Rico war sprachlos. Er konnte nicht glauben, was er da gerade vernommen hatte. Seine bis vorhin noch so heile Welt fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Er musste sich ernsthaft zusammenreißen, um Holly nicht regelrecht entgeistert anzustarren. Und enttäuscht. Denn das war das einzige, was er in diesem Moment fühlte, in dem er einerseits so verletzt und andererseits so betäubt war, dass er sich vollkommen benommen fühlte: Enttäuschung. Wie hatte er nur denken können, dass Holly etwas für ihn empfand? Wie konnte er nur glauben, dass dieser – oder auch nur irgendein anderer – Text für ihn bestimmt war und von ihm handelte? Warum nur tat Holly ihm das an? Diese Frage beherrschte sein Denken, als er fast etwas zu hastig aufstand und sich mit den Worten, ihm wäre nicht gut, entschuldigte. Schnellen Schrittes ließ er seine Bandkollegen und Sotiria hinter sich und wollte gerade Richtung Toiletten abbiegen, als er innehielt und sich dann stattdessen zur Tür wandte. Allein die Vorstellung der Beengtheit der Toilettenkabine war eine Qual, die sein Leid nicht unbedingt verbesserte. Zwar hätte er dort seine Ruhe und könnte sich einschließen und versuchen, die Welt – insbesondere Holly und Sotiria – auszusperren, doch der Gedanke an frische, kühle Nachtluft, Dunkelheit und den Straßenlärm, der ihn vielleicht ein wenig ablenken würde, waren wesentlich erträglicher. Auch wenn Rico nicht wusste, ob das eine gute Idee war, so war sie denn immer noch besser, als sich auf der Toilette zu verstecken, wie ein Teenie in der Pubertät. Als er die Tür öffnete und ihm die kühle Luft entgegenkam, wusste er, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Wenigstens kam er hier weniger in die Versuchung, seinen Tränen, die hinter seinen Augen brannten, freien Lauf zu lassen. Denn wenn er mit verheultem und verquollenem Gesicht wieder zu seinen Jungs ging, konnte er das schlecht erklären. Nicht einmal mit Benni konnte er reden. Normalerweise half ihm das wenigstens ein bisschen, doch jetzt konnte er schlecht mit seinem langjährigen Freund unter vier Augen sprechen. Tief durchatmend und gegen die Tränen anblinzelnd legte der Violinist den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel hinauf. Die Sterne sah man kaum und auch der Mond spendete ihm keinen Trost. Warum nur hatte er sich eingebildet, dass Holly diesen Song vielleicht für ihn geschrieben hatte? Warum hatte er nie daran gedacht, dass der Sänger einzig und allein durch die Erfahrung, die er nach seinem Unfall, als noch nicht klar war, ob er sein Augenlicht zurückerlangen würde, auf die Idee gekommen war, diesen Song zu schreiben? Doch die Frage, die ihn noch mehr beschäftigte, war eine gänzlich andere: Wieso hatte Holly ausgerechnet Sotiria gefragt – eine Frau, die er seit nicht mal drei Stunden kannte? Bedeutete ihm persönlich der Songtext denn so wenig? Der Dunkelhaarige spürte, wie ihm allein der Gedanke daran, die Brust zusammenschnürte. Sein Herz verkrampfte sich immer mehr, seine Seele schien nach wie vor völlig betäubt. All das Glück, was er in den letzten Stunden empfunden hatte, umgab ihn wie ein riesiger Scherbenhaufen. Und jede einzelne Scherbe schien sich nahezu höhnisch und quälend langsam in ihn zu bohren. Rico ließ sich gegen die Hauswand sinken und spürte, wie ihm der Schmerz immer mehr Kraft entzog. All das Leid, all die Verzweiflung von früher kamen nun wieder mit voller Wucht zurück. Hatte er die letzte Woche noch als die schönste seines Lebens bezeichnet, so war dies nun das grausame Erwachen aus dem Traum, der für so wenige Tage sein Leben war. Doch in ihm regte sich neben all dem Schmerz auch noch etwas anderes… etwas, das er kaum zu unterdrücken vermochte. Etwas, das er in dieser Intensität noch nie gespürt hatte und das immer stärker wurde, je länger er litt. Als sich dann plötzlich die Tür der Bar öffnete und Holly zum Vorschein kam, wurde das Gefühl noch stärker. Rico atmete tief durch. Er wandte sich ab und war sich bewusst, dass er jetzt lieber gehen sollte. Doch der Sänger war schneller und packte ihn am Handgelenk. Ricos Körper versteifte sich augenblicklich, während er versuchte, ruhig zu atmen. „Ein Glück erwisch ich dich noch. Ich dachte schon, du wärst vielleicht einfach gegangen…“, meinte Holly beinahe erleichtert; aber auch ein wenig Unbehagen schwang in seiner Stimme mit. Er schien fast ein bisschen verunsichert – ziemlich ungewöhnlich für den sonst so selbstsicheren Sänger der Instanz. „Lass. Mich. Los.“ Rico betonte jedes einzelne Worte und sprach enorm ruhig. Zu ruhig. Verwirrt sah der Angesprochene seinen Bandkollegen an, kam seiner Aufforderung jedoch nicht nach. „Was ist mit dir los, Rico? Ist alles in Ordnung? Du benimmst dich irgendwie seltsam…“ Das war's. Das war zu viel! Rico riss sich von dem Sänger los, wirbelte herum und holte noch in der Drehung aus. Er traf Hollys Wange mit voller Wucht und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Der Sänger, der nicht mit dem Schlag gerechnet hatte, machte einen unkontrollierten Schritt nach hinten. „Hier. Das Geld für meine Drinks.“ Rico hatte wenigstens noch so viel Anstand, ihm einen Zehneuroschein hinzuwerfen, den er aus seiner Hosentasche zog. „Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!“ Mit diesen Worten wandte er sich erneut ab und rannte in Richtung Davids Wohnung davon. Wer benahm sich hier denn bitte seltsamer!? Die ersten Tränen liefen dem Violinisten über die Wangen und ließen seine Sicht verschwimmen. In ihm loderte unbändige Wut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)