Blind von SeishiroSumeragi (Holly x Rico) ================================================================================ Kapitel 5: Loving you is suicide -------------------------------- Es dauerte nicht allzu lange, bis alle noch fehlenden Mitglieder der Instanz sich in Hollys Zimmer versammelt hatten. Und Rico sollte tatsächlich recht behalten mit seiner Vermutung: auch sie sahen das ganze weniger positiv und waren besorgt um ihren Frontmann und Sänger. Zwar waren ihre Bedenken bezüglich Hollys derzeitigem Zustand nicht so schlimm wie die des Violinisten; aber derart kämpferisch, wie der Sänger sich zeigte, konnten auch die anderen nicht denken. Dennoch schaffte Holly es irgendwie, die gesamte Band mit seinem Optimismus anzustecken und im Verlaufe des Vormittags wurde die Stimmung im Krankenzimmer zunehmend ausgelassener. Selbst Rico brachte zwischenzeitlich ein Lachen zustande – auch wenn es nicht ganz ehrlich klang. Um die Mittagszeit gingen Benni, Rico und die anderen dann aber in die Cafeteria. Zum einen weil sie Hunger bekamen und zum anderen weil Holly noch einige Untersuchungen über sich ergehen lassen musste. Während sie aßen, unterhielten sie sich über Belanglosigkeiten und ganz banale Dinge, nur um sich nicht daran erinnern zu müssen, warum sie hier waren. Doch irgendwann wusste keiner mehr, was er noch erzählen sollte, da sie sich in den vergangenen Tagen ohnehin recht häufig gesehen hatten und es so kaum Neuigkeit auszutauschen gab. So entstand eine unangenehm drückende Stille, die Rico nicht unbedingt behagte. Sein Herz begann erneut, sich zusammenzuziehen. Er wusste, welches Thema nun automatisch folgen würde und wollte es doch nicht wahrhaben. Deshalb entschuldigte er sich mit den Worten, er müsse mal auf die Toilette und stand fast etwas zu hastig auf. Die anderen nickten nur wortlos und sahen ihm besorgt nach. Rico folgte schnellen Schrittes der Richtung, in die das Schild ihn wies, wurde jedoch schon nach wenigen Metern wieder langsamer. Die Vorstellung der beengten Toilettenkabine war nicht unbedingt berauschend und so verließ er stattdessen das Krankenhaus und setzte sich auf eine Bank nahe dem Eingang. Sein Blick wanderte unstet über die ausladende Parkanlage des Hospitals. Eine Weile saß er dort, ohne dass er hätte sagen können, wie lange genau. Doch dann wurde seine Aufmerksamkeit von einer Person abgelenkt, die er aus den Augenwinkeln auf sich zukommen sah. „Darf ich mich setzen?“ Es war Benni. Er war neben der Bank stehengeblieben und sah irgendwie besorgt aus. „Natürlich. Warum fragst du?“ Rico sah zu ihm auf und machte eine einladende Geste auf den freien Platz neben ihm. „Hätte ja sein können, dass du lieber allein sein willst.“ Der Cellist ließ sich neben seinen Bandkollegen sinken und sah ihn von der Seite her an. „Tut mir leid. Ich brauchte einfach ein bisschen frische Luft, wollte den Kopf ein bisschen frei kriegen…“ Rico sah zu Boden und räusperte sich. „Und ich wollte nicht darüber reden, dass…“ Doch seine Stimme erstarb und so blieb der Satz unvollendet. „Schon okay. Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen.“ Benni lächelte, doch nach wie vor lag Besorgnis in seinen Augen. „Die Sache geht dir ziemlich an die Nieren, was?“ „Mhm…“ Rico nickte. Er biss sich auf die Unterlippe und ließ seinen Blick über die Bäume schweifen. „Ich mach mir einfach Sorgen; das ist alles. Aber Holly, er… ihn scheint das überhaupt nicht zu interessieren, was wir denken. Er glaubt einfach, dass alles schon irgendwie wieder gut wird… Als wären wir in irgendeinem Schundroman, wo nach dem dramatischen Höhepunkt alles in einem Happy End gipfelt und alle glücklich sind. Friede-Freude-Eierkuchen sozusagen.“ Er schnaubte; doch innerlich krampfte sich sein Herz erneut schmerzhaft zusammen und es kostete ihn einiges an Mühe, dies nicht zu zeigen. Einerseits wütend, dass Holly die ganze Sache so locker nahm, andererseits verzweifelt, weil er sich immer noch so sehr um den Sänger sorgte und von Schuldgefühlen regelrecht zerfressen wurde, knetete er seine Hände und starrte ziellos umher. Benni antwortete nicht sofort, sondern beobachtete seinen Freund stattdessen eine Weile schweigend. „Ich kann dich ja verstehen, Stolzi. Mir… eigentlich uns allen geht es nicht anders – wir machen uns genauso Sorgen. Aber ich denke nicht, dass Holly das so egal ist, wie du glaubst. Wahrscheinlich macht er sich mindestens ebenso viele Gedanken um die Zukunft wie wir, aber er wird nicht wollen, dass wir uns seinetwegen Sorgen machen müssen. Deshalb spielt er den Starken. So ist er nun mal.“ Der Cellist lächelte aufmunternd. „Außerdem wäre er nicht unbedingt erfreut, wenn er wüsste, dass du immer noch nichts gegessen hast. Denn so fertig, wie du aussiehst, ist deine letzte Mahlzeit wohl mehr als ein paar Stunden her, hm? Und ausruhen solltest du dich auch lieber ein bisschen. Holly reißt mir den Kopf ab, wenn ich kein Auge auf dich hab und er erfährt, wie blass du heute warst.“ Irgendwie schaffte er es ein leichtes Grinsen auf sein Gesicht zu zaubern. „Hm… wahrscheinlich.“ Rico lächelte Benni matt an, doch es war offensichtlich ein gezwungenes Lächeln. „Aber ich hab wirklich keinen Hunger. Also mach dir keine Sorgen; ich werd Holly schon nichts davon erzählen.“ „Aber du musst doch mal was essen! Du kannst nicht den ganzen Tag hungern, nur weil deine Gedanken sich einzig und allein um Holly drehen. Wie soll er wieder gesund werden, wenn er weiß, dass deine Sorge dich zerfrisst? Du kennst doch Holly – er wird dann die ganze Zeit Angst haben, dass du zusammenklappst deswegen. Und unter solchen Umständen ist an Genesung ja wohl nicht zu denken. Also bitte, Stolzi… als Hollys und dein Freund: tu es nicht nur für dich selbst, sondern auch für Holly.“ „…“ Rico schwieg und wandte den Blick wieder ab. Benni hatte recht, das wusste er. Doch allein der Gedanke an Essen bereitete ihm Übelkeit. Und wie sollte er auch an etwas anderes denken als an Holly? Das ging nun mal nicht so einfach, wenn man jemanden derart liebte. Aber das konnte Benni natürlich nicht wissen… woher auch? Seufzend schüttelte er den Kopf. „Na schön… gehen wir erst mal wieder zu den anderen. Sonst geben die noch eine Vermisstenanzeige auf.“, meinte Rico und erhob sich schwerfällig. Er fühlte sich immer noch ziemlich ausgebrannt und wäre am liebsten keine Sekunde von Hollys Seite gewichen. „Keine Sorge, nicht nur ich hab gesehen, dass du offensichtlich nicht auf Klo musstest.“ Der Anflug eines Lächelns bildete sich erneut auf Bennis Lippen, während auch er aufstand und Richtung Krankenhauseingang lief. Rico folgte ihm. „Hab mich wohl ziemlich seltsam verhalten, was?“ Benni wollte gerade etwas darauf erwidern, als sie verwundert stehen blieben. Eine Schwester kam ihnen auf dem Weg Richtung Cafeteria entgegen. Sie schob einen Rollstuhl vor sich her, in dem Holly saß; hinter ihr liefen die anderen Mitglieder der Instanz. Für einen Moment setzte Ricos Herzschlag aus. Er konnte sich nicht rühren, wirre Gedanken und Befürchtungen fluteten sein Gehirn und machten es einmal mehr unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Unsicher machte der Dunkelhaarige einen Schritt nach vorn; er schwankte leicht, wobei er nicht wusste, ob es am Schlaf- und Nahrungsmangel oder am Chaos in seinem Inneren lag… oder einfach an beidem. Benni warf ihm einen besorgten Blick von der Seite zu. „Rico?“ Er wollte eigentlich noch mehr sagen, doch dazu kam er nicht, denn der Angesprochene stürzte auf Holly zu und kniete sich vor ihn. Seine Hände lagen auf den Knien des Sängers, in seinen Augen standen Sorge, Erschöpfung und Verwirrung gleichermaßen. „Ist alles in Ordnung mit dir, Holly? Was ist passiert?“ Es war ihm egal, ob seine Stimme einen fast schon hysterischen Klang hatte und was die anderen denken mussten. Er wollte einfach nur, dass es Holly endlich besser ging, doch seine Befürchtung war eine gänzlich schlimmere. Benni war inzwischen ebenfalls zu der Gruppe gestoßen. Die Krankenschwester hatte erst erschrocken angehalten, als der Violinist auf ihren Patienten zustürmte, doch nun stellte sie sich neben ihn und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Es war die Schwester, die ihm am Morgen den Weg zu Hollys Zimmer beschrieben und ihm erzählt hatte, was geschehen war. „Keine Sorge, Herr Schwibs. Es ist alles in Ordnung.“ „Ich habe diese nette, junge Dame gebeten, mich zu euch zu bringen, weil ich dachte, dass uns allen vielleicht ein bisschen frische Luft ganz gut tun würde, ehe ihr wieder geht.“ Holly lächelte. „Und da ich momentan schlecht allein durch die Gegend irren kann, macht sich ein Rollstuhl einfach besser.“ Hörbar erleichtert atmete der Violinist auf. Seine Fantasie war mit ihm durchgegangen – weiter nichts. Er schüttelte den Kopf. „Und ich dachte schon…“ „Aber vielleicht sollten Sie sich doch etwas ausruhen, Herr Schwibs. Sie sehen wirklich nicht gut aus.“, gab die Schwester zu bedenken. „Es geht mir gut. Wirklich. War nur der Schreck.“ Rico versuchte sich an einem Lächeln, doch der Versuch war nicht unbedingt mit Erfolg gekrönt. „Ab hier übernehmen wir dann. Ich werde auch dafür Sorge tragen, dass Herr Loose wieder auf sein Zimmer kommt, wenn wir unsere kleine Spazierfahrt beendet haben.“ Das Grinsen schien ihm nun schon wesentlich besser zu gelingen, denn die Schwester lachte, ehe sie wieder an ihre Arbeit ging. Die kleine Gruppe machte sich langsam auf den Weg nach draußen und unterhielt sich schon wieder über ganz andere Themen. Doch zuerst musste Holly ihnen ausführlich Bericht erstatten, was die Untersuchungen bisher ergeben hatten und ob schon eine etwas sicherere Diagnose von den Ärzten bezüglich seiner Sehkraft gestellt worden war. „Soweit scheint bei mir alles heil geblieben zu sein, bis auf die paar kleineren Blessuren und Kratzer; das haben jetzt auch diverse andere Untersuchungen bestätigt. Ich muss mich wohl noch ein bisschen schonen und vor allem wird sich in den nächsten Tagen herausstellen, wie schlimm meine Kopfverletzungen wirklich sind. Also an und für sich nur gute Nachrichten.“ Der Sänger grinste und auch wenn Rico kurz davor war, ihm wieder einmal zu widersprechen, hielt Benni ihn mit einem kurzen Kopfschütteln davon ab. Auch die anderen schwiegen, was das Augenlicht ihres Frontmannes betraf und freuten sich stattdessen, dass wenigstens der Rest in Ordnung war. Lautlos seufzend schob Rico den Rollstuhl vor sich her und versank in Gedanken, während die anderen schon wieder lachten und Witze machten. Vielleicht hatte Benni ja wirklich recht und Holly wollte wirklich nur den Starken spielen, um ihnen keine Sorgen zu bereiten. Aber andererseits… er kannte Rico und wusste, dass er so bei ihm eigentlich nur das Gegenteil erreichte. Und wie schafften die anderen Mitglieder der Instanz es nur, jetzt schon wieder so fröhlich und gewohnt miteinander umzugehen, als würden sie sich nur ganz normal im Studio oder auf ein Bier treffen? Wahrscheinlich war es keine mangelnde Fürsorglichkeit, sondern eher eine Art Aufmunterungsversuch für Holly. Vielleicht wollten sie ihm einfach zeigen, dass er sich keine Gedanken um sie machen musste und gleichzeitig dafür sorgen, dass er seine eigene Unsicherheit für einen Moment vergaß… Doch dazu war Rico nicht imstande – nicht jetzt, nicht unter diesen Umständen. Nach einer Weile verabschiedeten sich die anderen dann von Rico und Holly. Auf ihre Frage, ob Rico noch mit in eine Bar kommen wolle, entschuldigte sich der Violinist mit den Worten, er wolle lieber nach Hause und sich noch ein wenig erholen. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, doch dem Dunkelhaarigen war auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen. Die anderen schienen es jedoch zu schlucken, denn Benni nahm ihn zum Abschied mit verständnisvollen Augen in den Arm, ehe auch er den anderen folgte. Rico winkte der kleinen Gruppe, ehe er sich wieder Holly zuwandte. „Dann wollen wir mal. Ab zurück aufs Zimmer.“ Er lächelte matt, auch wenn er wusste, dass der Sänger es eh nicht sehen könnte. Es herrschte ein kurzes Schweigen zwischen ihnen; Rico wartete auf eine Reaktion Hollys, doch die kam nicht. Und das beunruhigte den Violinisten erneut. „Holly?“, fragte er besorgt. Er kniete sich vor den Sänger hin und sah zu ihm auf. Als er jedoch bemerkte, was der Grund für sein Schweigen war, bildete sich das erste ehrliche und warmherzige Lächeln auf seinen Lippen seit Holly sich das letzte Mal von ihm verabschiedet hatte. Der Sänger war eingenickt – wahrscheinlich war das alles doch ein wenig zu viel für ihn gewesen. Rico schob den Rollstuhl so leise er konnte zurück zum Eingang des Krankenhauses und hoch in Hollys Zimmer. Dort legte er den Sänger zusammen mit einer Schwester zurück auf sein Bett und deckte ihn zu. Nachdem die Schwester das Zimmer wieder verlassen hatte, setzte er sich auf den Stuhl an dem er auch am Morgen schon gesessen hatte und betrachtete Holly eingehend. Sein Gesicht – oder zumindest das, was man davon sehen konnte – wirkte ruhig und entspannt. Vorsichtig strich der Violinist ihm über die Wange und lächelte erneut. „Immer willst du den Starken spielen, damit wir uns keine Sorgen machen… aber du bist doch auch nur ein Mensch.“ Ihm war nicht einmal bewusst, dass er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte. Doch eigentlich war es nur ein Flüstern gewesen, das nun regelrecht im Raum schwebte… Als Holly erwachte, wusste er nicht sofort, wo er war. Das erste, was er bemerkte, war dieser typische Krankenhausgeruch – eine Mischung aus Desinfektionsmitteln und Krankheit. Langsam erinnerte er sich, wie sich die anderen von ihm verabschiedet hatten, nachdem sie in der Parkanlage spazieren waren. Danach musste er wohl eingenickt sein. Doch dann stieg ihm noch ein anderer Geruch in die Nase. Er war nur sehr schwach und kam ihm dennoch sehr vertraut vor. Als der Sänger sich ein wenig widerwillig streckte und vorsichtig aufsetzte, spürte er, dass etwas auf seinem Bett lag. Oder jemand. Er war jedenfalls nicht allein im Raum. Sein Geruchssinn sagte ihm, dass sich die Person wohl relativ mittig auf seinem Bett befand. Etwas überrascht stellte er fest, dass die Ärzte nicht übertrieben hatten: seine anderen Sinne ersetzten ihm sein Augenlicht erstaunlich schnell. Es war ihm vorhin schon aufgefallen, als er mit den anderen unterwegs gewesen war. Auch Geräusche und Stimmen nahm er wesentlich klarer und deutlicher war als zuvor. Oder vielleicht war er sich dessen auch einfach nur mehr bewusst, da er sich momentan nicht auf seine Augen verlassen konnte. Vorsichtig tastete Holly nun mit der Hand das Laken entlang, bis er gegen ein Hindernis stieß. Es handelte sich um den Arm eines Menschen. Scheinbar schlief jemand mit verschränkten Armen auf seinem Bett. „Rico?“, fragte er leise und berührte die Person sanft an der Schulter. Als der Angesprochene zusammenzuckte, zog Holly instinktiv die Hand zurück. „Holly? Du bist ja wach.“ Es war eindeutig Rico. Wer auch sonst. Aber er hörte sich ziemlich verschlafen an und auch ohne etwas sehen zu können, war Holly klar, dass er völlig fertig sein musste. Die Stimme eines Menschen verriet viel über dessen Gemütszustand – besonders wenn man, so wie Holly momentan, darauf angewiesen war, Leute an ihrer Stimme zu erkennen. Holly lächelte. „Ja, bin gerade aufgewacht.“ Er hörte ein leises Rascheln und nahm an, dass Rico sich aufgesetzt hatte. „Was machst du noch hier? Ich dachte, du wolltest dich zu hause ausruhen.“ Zuerst schwieg der Violinist. Er schien zu überlegen, wie er antworten sollte. „Als könnte ich das. Mich ausruhen, meine ich…“ Er seufzte leise. Holly konnte die Erschöpfung, aber auch die immer noch vorhandene Sorge Ricos hören. „Ich wollte einfach noch bei dir bleiben.“, meinte der Dunkelhaarige dann etwas leiser. Holly schüttelte nun ebenfalls seufzend den Kopf. „Also wirklich, Stolzi. Du kommst noch um vor Sorge. Mir wäre es, offen gesagt, auch lieber, wenn du dir mal eine Auszeit nehmen würdest. Fahr nach Hause, mach dir irgendwas vernünftiges zu essen und leg dich ein bisschen auf's Ohr. Das wird dir gut tun. Und dann sieht die Sache auch gleich viel besser aus, glaub mir.“ Wieder lächelte der Sänger, diesmal aufmunternd und warmherzig. „Nein.“ Ricos Reaktion kam fast ein wenig zu schnell und so biss er sich verlegen auf die Zunge. Verdammt! Holly hatte ohnehin schon genug von seiner offensichtlichen Zuneigung mitbekommen. Wenn das so weiter ging, würde er bald nicht nur ihm einiges zu erklären haben. „Mir geht’s gut. Wirklich. Ich mach mir halt einfach Sorgen um dich und das kann ich auch nicht so ohne weiteres abstellen.“ Diesmal war seine Stimme betont ruhig und er hoffte, dass dem Sänger nicht allzu sehr auffiel, wie wichtig es ihm war, hier zu bleiben. „Außerdem kann ich zu Hause eh nicht schlafen.“, murmelte er dann mehr zu sich selbst, als an Holly gewandt. Ein kurzes Schweigen trat ein, das von Holly nach einigen Momenten jedoch wieder gebrochen wurde. „Rico?“ „Hm?“ Offensichtlich war der Violinist ein wenig in Gedanken versunken. „Mal abgesehen davon, dass du dir viel zu viele Gedanken um meinen Zustand machst… Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?“ Holly wirkte sehr ernst, das Lächeln auf seinen Lippen war verschwunden. „Du bist die ganze Zeit schon so still – besonders vorhin, als wir draußen waren. Du hast kaum ein Wort gesagt. Und dass du dich schon immer mehr um das Wohl anderer gesorgt hast, als um dein eigenes, weiß ich ja. Aber momentan bist du regelrecht…“ Er schien kurz nach einem passenden Wort zu suchen, doch ihm fiel keines ein. „… weiß auch nicht. Jedenfalls benimmst du dich so, als würde mein Zustand irgendwas in dir auslösen oder dich an irgendetwas erinnern, an das du nicht denken willst oder vor dem du Angst hast. Ich möchte nicht sagen, dass du dich komisch verhältst, aber irgendwas ist doch los mit dir… Was bedrückt dich?“ Überrascht, dass dem Sänger diese Tatsache nicht entgangen war und auch ein wenig wütend auf sich selbst, dass er sie nicht besser verschleiert hatte, sah Rico Holly eine Weile nur schweigend an. Er überlegte, wie er am besten darauf reagieren sollte, ohne Holly vor den Kopf zu stoßen, ihm eine billige Ausrede aufzutischen oder zu viel von sich bzw. seinen Gefühlen zu verraten. Keine leichte Aufgabe. Doch Holly schien sein Schweigen auch als eine Art Antwort aufzufassen und sich sein eigenes Urteil zu bilden. „Wenn du nicht darüber reden willst, ist das okay, Stolzi.“ Er deutete ein Lächeln an, das jedoch nicht allzu überzeugend ausfiel. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. „Aber ich mach mir wirklich Sorgen. Es ist nicht besonders… gesund all seinen Kummer in sich hineinzufressen und zu versuchen, allein damit klarzukommen. Wozu hat man denn schließlich Freunde?“ Es sollte wohl offensichtlich ein Versuch sein, ihn aufzumuntern, doch bei den Worten des Sängers zog sich Ricos Herz nur noch weiter zusammen. Wie sollte er denn mit den anderen – oder mit irgendwem – darüber reden? Er konnte ja schlecht zugeben, dass er in einen Mann verliebt war, noch dazu in den Frontmann ihrer Band… Die Reaktion der anderen wollte er sich lieber nicht ausmalen. „Ich… komm schon klar. Du brauchst dir wirklich keine Gedanken zu machen.“ Rico versuchte so beschwichtigend wie möglich zu klingen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. „Werd lieber selbst erst mal wieder fit.“ Das Lachen klang selbst in seinen eigenen Ohren hohl und gespielt. Nach einer kurzen Pause räusperte er sich. Die entstandene Stille war mehr als unangenehm. „Aber ich sollte auch langsam nach Hause.“ Eigentlich wollte er am liebsten gar nicht weg von Holly, doch das hätte er nie begründen können. Und jetzt brauchte er etwas Zeit zum Nachdenken, da die Frage Hollys ihm immer noch auf der Seele brannte. Die Frage, auf die er ihm keine ehrliche Antwort geben konnte. Doch es war nicht so, dass er nicht darüber reden wollte… Eigentlich würde er nichts lieber tun, als sich von dieser Last zu befreien, indem er mit jemandem darüber sprach. Doch mit wem? Er kannte niemandem, dem er genug vertraute, der auch nur ansatzweise Verständnis dafür hätte. Zumindest war er fest davon überzeugt und er hatte keine Lust, es darauf ankommen zu lassen – dazu waren ihm seine Freunde und die Band viel zu wichtig. „Natürlich, wenn du dich ein bisschen ausruhen willst, kann ich das verstehen; wie gesagt: es wäre mir ohnehin lieber. Und es ist ja auch nicht wirklich gemütlich hier.“ Holly versuchte offensichtlich, die Stimmung irgendwie ein wenig aufzulockern. Doch es wollte ihm nicht so recht gelingen, da er selbst nicht ganz davon überzeugt war, was er da sagte. Rico schwieg auf seine Worte hin und betrachtete den Sänger nur nachdenklich. Er war bereits aufgestanden, bewegte sich jedoch keinen Schritt von Hollys Bett weg. „Du wirst dich doch ausruhen, oder Stolzi?“, fragte letzterer nun wieder völlig ernst, da auch er bemerkt hatte, dass die Stimmung wohl so gedrückt und angespannt blieb. Erneut räusperte sich der Violinist. „Klar. Ich werd mich ein wenig auf's Ohr hauen, sobald ich zu Hause bin.“ Doch der Dunkelhaarige wusste schon in dem Moment, als er die Worte aussprach, dass sie eine Lüge sein würden. Holly schien genau dies auch zu ahnen, denn er ließ nicht locker. „Versprichst du mir das? Du hast wahrscheinlich nicht besonders viel geschlafen. Immerhin siehst du aus wie eine wandelnde Leiche, wenn ich den Worten der Schwester Glauben schenken kann.“ Ein wenig verstimmt, verdrehte der Dunkelhaarige die Augen. Toll… die Krankenschwester hatte auch noch brav alles ausgeplaudert… Da konnte er seine mühevoll aufgebaute Fassade auch gleich einreißen. Innerlich über dieses Plappermaul von Krankenschwester grummelnd, seufzte er theatralisch. „Von mir aus. Ich verspreche es.“ „Das will ich hoffen. Sonst mach ich hier so lange Terror, bis die mich rauslassen und ich persönlich dafür sorgen kann, dass du ins Bett kommst.“ Holly deutete ein Lächeln an. So zweideutig, wie es für Rico klang, hatte er es wohl offensichtlich nicht gemeint. Sein Lächeln war kein Grinsen und es kam auch sonst kein dummer Kommentar dazu. Doch er schien sich der Zweideutigkeit seiner Worte auch nach dem kurzen Schweigen Ricos nicht bewusst zu sein. „Also dann… ich komm dich morgen wieder besuchen.“, meinte der Dunkelhaarige schnell. Er wollte jetzt nur noch raus aus diesem verdammten Zimmer, raus aus dem verdammten Krankenhaus und an die frische Luft. Er brauchte erst mal wieder einen kühlen Kopf… „Aber… du musst doch nicht jeden Tag hier herkommen. Das ist doch ein viel zu weiter Weg.“, protestierte Holly noch. „Außerdem muss ich dich dann ja jeden Tag ertragen – ob ich das aushalte?“ Das Grinsen, was sich auf seinen Lippen zeigte, war – wenn auch nur gespielt – nur ein weiterer Versuch, die ganze Situation irgendwie aufzulockern. Und die Tatsache zu überspielen, dass er sich mehr Sorgen um Rico machte, als er zugeben wollte. Doch eigentlich war die Aussicht, ihn bald wiederzusehen, durchaus angenehm – das konnte er, zumindest vor sich selbst, kaum verleugnen. Wenn da nicht dieser bittere Beigeschmack wäre, dass er dem Violinisten viel zu viele Sorgen und Umstände bereitete… „Ach was. Das macht mir nichts aus. Bis dann.“ Allein der Umstand, dass Rico nicht weiter auf seine Bemerkung einging, sorgte bei Holly dafür, dass er sich gleich wieder Gedanken machte, was mit seinem Bandkollegen los sein könnte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es ihm sehr wohl etwas ausmachte, wenn Rico jeden Tag den ganzen Weg von seiner Wohnung in Dresden bis hierher und wieder zurück fahren würde… und das nur wegen ihm. Rico erging es derweil nicht anders: schnellen Schrittes lief er durch die Gänge des Krankenhauses, stieß drei Mal fast mit anderen Patienten und Schwestern zusammen und wurde erst wieder langsamer, als er endlich vor dem Eingang stand und ein leichter Wind angenehm über sein Gesicht strich. Verdammt… Warum musste Holly aber auch ausgerechnet in solch einer Situation so direkt fragen, was mit ihm los sei? Und diese blöde Bemerkung hatte Erinnerungen in ihm wachgerufen, die er für mehr als unpassend in ihrer momentanen Lage hielt. Allein dadurch herrschte erneut ein heilloses Durcheinander aus Gedanken und Emotionen in seinem Inneren. Holly wusste doch ganz genau, an was Rico denken würde, wenn er davon sprach, dass er „persönlich dafür sorgen“ würde, dass er ins Bett kommt… Und da sie nur wenige Stunden vor dem verhängnisvollen Unfall miteinander geschlafen hatten, kamen die Erinnerungen daran erst recht hoch – und zwar sehr intensiv. Doch da er sich immer noch ungemein Sorgen um den Sänger machte, konnte er die Bilder und Gefühle, die das Geschehene mehr oder weniger unfreiwillig Revue passieren ließen, nicht einmal genießen. Trotzdem würde Holly das nicht verstehen. Er sah die Sache viel zu locker – egal, ob Benni nun recht hatte oder nicht. Holly war zu leichtgläubig. Das war Ricos Meinung. Und genau das machte ihm so sehr zu schaffen… Aber er konnte es dem Sänger ja nicht mal vernünftig begreiflich machen, da er sich sonst selbst verraten würde; und seine Fassade wollte er um jeden Preis aufrecht erhalten. Das allein fiel ihm schon schwer genug. Aber noch schwerer wurde es, wenn er mit Holly allein war. Auch noch in Momenten wie diesen. Dann war er jedes Mal kurz davor, alle Vorsicht und Vernunft in den Wind zu schlagen und seinem geliebten Holly alles zu sagen. Ihm einfach alles zu gestehen. Doch bisher hatte er sich immer zusammenreißen können. Mit viel Selbstbeherrschung hatte er es ein ums andere Mal geschafft – irgendwie. Doch Holly machte es ihm nicht gerade leicht… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)